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GEGENWIND/611: Kiel, Rheinland ... - Zum 70. Todestag Richard Sorges


Gegenwind Nr. 314 - November 2014
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Kiel - Rheinland - Frankfurt/M. - Moskau - Schanghai - Tokio
Zum 70. Todestag Richard Sorges

Von Günther Stamer



Am 3. November 1918 ziehen 5-6.000 Matrosen, Soldaten und Arbeiter durch die Straßen Kiels mit dem Ziel, die gefangenen Marine-Kameraden im Gefängnis in der Feldstraße zu befreien. An der Ecke Karlstr./Brunswiker Str. stellen sich Soldaten den Demonstranten in den Weg, um sie am Vordringen zum Gefängnis zu hindern. Es kommt zum Schusswechsel. Sieben Tote und 29 Verletzte auf Seiten der Demonstranten bleiben zurück und die Demonstration löst sich auf.


Unter den Demonstranten befindet sich auch Richard Sorge. Im Januar 1918 - nach seiner Entlassung aus dem Heeresdienst - war er als 22-Jähriger nach Kiel gekommen, um an der Universität Staatswissenschaft zu studieren. Hier nahm er Kontakt zu den Unabhängigen Sozialdemokraten auf, arbeitete in der Partei mit und gründete eine Gruppe sozialistischer Studenten. Als Aktivist der USPD sprach er bei Versammlungen, wo er die Notwendigkeit betonte, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern. Kieler Matrosen, die sich dem Kampf für die Beendigung des Krieges Verbunden fühlten - so wird berichtet -, holten Richard Sorge zu einem Vortrag "in größter Heimlichkeit bei geschlossener Türen" in die Kasematten der Außenbefestigungswerke Friedrichsort.

Nun war es also geschafft: Am Abend des 4. November ist Kiel in der Hand der Matrosen, Soldaten und Arbeiter. Die revolutionäre Bewegung breitet sich schnell über große Teile des Deutschen Reiches aus. Öffentliche Gebäude werden besetzt, Gefangene befreit und Räte gewählt, denen die Exekutivgewalt übertragen wird. Am 9. November erreicht die revolutionäre Welle Berlin: Kaiser Wilhelm II. muss abdanken, Prinz Max von Baden tritt als Reichskanzler zurück und übergibt die Regierungsgeschäfte an den Vorsitzenden der SPD, Friedrich Ebert. Am 10.11. wird der "Rat der Volksbeauftragten" gebildet.

Mitten im revolutionären Geschehen ist Richard Sorge. Neben seiner praktischen politischen Tätigkeit führt Richard Sorge sein Studium fort; zusätzlich hat er eine Stelle als Assistent am Kieler "Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft" inne (ab 1934: Institut für Weltwirtschaft) und veröffentlicht eine wissenschaftliche Untersuchung "Die Reichstarife des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine" (mit der er an der Uni Hamburg 1919 promoviert). In den Jahren 1918 bis 1922 wird an diesem Institut intensiv über ökonomische und soziologische Fragestellungen in Hinblick auf die Arbeiterbewegung diskutiert und publiziert. Das politische Spektrum der hier Forschenden reicht von der SPD über USPD, KPD bis zu den Rätekommunisten der KAPD. Hochschullehrer und Studierende beteiligen sich auch an praktischer Bildungsarbeit, in "Matrosenzirkeln", halten dort vor Matrosen und Arbeitern Vorträge zu Wirtschaftsfragen.

Fünfundzwanzig Jahre später sollte Richard Sorge wieder im Zentrum welthistorischer Ereignisse stehen. Als Kundschafter für die Sowjetunion leistete er einen bedeutenden Beitrag für den Sieg der Anti-Hitler-Koalition über den deutschen Faschismus.

Aus Anlass seines 70. Todestages lohnt ein Blick auf seinen bemerkenswerten Lebenslauf.

Geboren 1895 bei Baku (heutiges Aserbaidschan) als Sohn einer Russin und eines deutschen Spezialisten für Ölbohrmaschinen der schwedischen Firma Nobel kehrt er 1898 gemeinsam mit der Familie nach Deutschland zurück. Der Großvater von Richard Sorge, Friedrich August Sorge (1828-1906), war ein enger Vertrauter von Marx und Engels; in der bürgerlich-demokratischen Revolution 1848/49 wegen Beteiligung an militant-revolutionären Aktionen (in Abwesenheit) zum Tode verurteilt wurde er später Leiter der amerikanischen Sektion der I. Internationale.

Im Oktober 1919 tritt Richard Sorge der KPD bei. Im gleichen Jahr folgt er seinem Doktorvater Kurt Gerlach von Kiel an die TH Aachen, verliert dort aber 1920 wegen der aktiven Teilnahme an bewaffneten Abwehrkämpfen gegen den Kapp-Putsch seine Assistentenstelle. 1922 Veröffentlicht er "Rosa Luxemburg's Akkumulation des Kapitals - Bearbeitet für die Arbeiterschaft", der später weitere Arbeiten über ökonomische Probleme des Imperialismus folgen. 1923/24 ist er Dozent am Institut für Sozialwissenschaften der Uni Frankfurt/Main (dem Vorläufer des Instituts für Sozialforschung).

Ende 1924 schlägt Richard Sorges bis dahin andauernde Ambivalenz von wissenschaftlicher und praktischer Tätigkeit dann doch eindeutig ins Politische. Er wird Mitarbeiter des Büros der Kommunistischen Internationale in Moskau. Als Instrukteur reist er in viele Länder, um den dort agierenden kommunistischen Parteien z.B. beim Aufbau von Betriebszellen zu helfen. Bei seiner Arbeit für die Komintern begegnet er auch General Bersin, der Chef der Verwaltung Aufklärung der Roten Armee war. Im Ergebnis vieler Gespräche wird Sorge dann "Kundschafter". Seit 1929 ist er dann als sowjetischer Kundschafter tätig (zunächst in China, ab 1933 in Japan). Er leitet die Kundschaftergruppe "Ramsay", die die Aggressionspläne des deutschen Faschismus und des japanischen Imperialismus aufklärt und seit dem Frühjahr 1941 mehrfach Warnungen vor dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion nach Moskau funkt. Bereits Ende März 1941 informiert Sorge darüber, dass Hitler nach dem Ende der Kriegshandlungen im Westen den Überfall auf die Sowjetunion auslösen werde. Am 20. Mai informiert er, dass der Überfall in der Hauptstoßrichtung Moskau am 20. Juni erfolgen werde. Am 15. Juni präzisiert ein Funkspruch exakt Tag und Uhrzeit: "Der Überfall wird am 22. Juni in aller Frühe auf breiter Front erfolgen." Ähnliche Informationen hatte die sowjetische Führung auch durch die Widerstandsgruppe "Die rote Kapelle" (Schulze-Boysen-Hamack) erhalten. Doch Stalin ignoriert diese Informationen.

Die Gruppe Ramsay deckt auch die japanische Absicht auf, 1941 zuerst im Pazifik die USA anzugreifen (Pearl Harbour), und nicht die Sowjetunion. Am 14. September 1941 Kriegsvorbereitungen auf die USA zu konzentrieren. An zwei Fronten zu kämpfen, war Japan nicht in der Lage, also war die Sowjetunion vor einem japanischen Angriff sicher. Diese Analyse Sorges kann Stalin nicht mehr übergehen: Große Teile der Fernost-Armee werden eiligst nach Moskau verlegt, die Hauptstadt kann verteidigt werden, ab November 1941 ist die Kriegslage stabilisiert, im Dezember beginnt die sowjetische Gegenoffensive.

Richard Sorge wird am 18. Oktober 1941 in Tokio verhaftet, zum Tode verurteilt und am 7. November 1944, dem 27. Jahrestag der Oktoberrevolution, hingerichtet.

In der Sowjetunion hört man nach dem Krieg zunächst nichts über den außerordentlichen Beitrag Richard Sorges und seiner Kundschafter zum Sieg über den deutschen Faschismus und japanischen Militarismus. Erst 1964 wird das Schweigen gebrochen und werden Sorge und seine Aufklärer als "Helden der Sowjetunion" geehrt.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 314- November 2014, Seite 26-27
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2014


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