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GEGENWIND/631: Wie geht strahlenminimierter Rückbau?


Gegenwind Nr. 319 - April 2015
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Wie geht strahlenminimierter Rückbau?

Von Karsten Hinrichsen, Brokdorf


Im Antrag der Fa. Vattenfall für den Rückbau des AKW Brunsbüttel werden nur wenige konkrete Zahlenangaben gemacht. Es wird kein Massenflussdiagramm für den Verbleib der radioaktiven Stoffe ausgelegt und keine Nuklidvektoren (welche Nuklide, welche Menge und Konzentration) für die verschiedenen Anlagenteile angegeben, obwohl diese Angaben zu den Unterlagen gehören, die ausgelegt werden müssen.


Warum Vattenfall ohne diese Angaben durchkommt?

Dazu habe ich folgenden Erklärungsversuch: Die AKW-Betreiber können derzeit von den Atomaufsichtsbehörden NICHT gezwungen werden, einen Abrissantrag zu stellen. Umweltminister Habeck ist mit einem entsprechenden Antrag im Bundesrat gescheitert. Er sollte unbedingt einen neuen Versuch starten.

Bei dieser Sachlage ist die Atomaufsicht in Kiel froh, dass Vattenfall überhaupt einen Antrag auf Abriss gestellt hat. Aber Kiel traut sich nicht, die Offenlegung der gesetzlich vorgeschriebenen Unterlagen zu erzwingen.

In Paragraph 6 Abs. 1 der Strahlenschutzverordnung (StrlSchVO) steht als übergeordnetes Prinzip die Strahlenminimierung: "Wer eine Tätigkeit nach Paragraph 2 Abs. 1 Nr. 1 plant oder ausübt, ist verpflichtet, jede unnötige Strahlenexposition oder Kontamination von Mensch und Umwelt zu vermeiden."

Dem widersprechend wurde von der damaligen rotgrünen Bundesregierung der Paragraph 29 in die StrlSchVO eingefügt. In Absatz 1 heißt es dort: "Der Inhaber einer Genehmigung ... darf radioaktive Stoffe sowie bewegliche Gegenstände, Gebäude, Bodenflächen, Anlagen oder Anlagenteile, die aktiviert oder kontaminiert sind ... als nicht radioaktive Stoffe nur verwenden, verwerten, beseitigen, innehaben oder an einen Dritten weitergeben, wenn die zuständige Behörde die Freigabe erteilt hat ..."

Wie die Freigabe zu erfolgen hat, wird dann auf sehr komplizierte Weise festgelegt.

Die Freigabe nach Paragraph 29 StrlSchVO widerspricht dem Paragraphen 6 StrlSchVO fundamental, weil sie die Verteilung von (gering) radioaktiv belasteten Materialien in die Umwelt gestattet.

Eines ist sicher: ohne eine Freimessung bleibt die Strahlenbelastung für Mitarbeiter, Anwohner, Umwelt geringer. (Auf die Art und Weise der Freimessung will ich hier nicht eingehen. Aber es ist klar: Von uns, Tüv und Atomaufsicht steht niemand daneben, um das zu kontrollieren.)

Hinzu kommt, dass die Dekontaminierung eine Schweinearbeit ist. Dabei werden zusätzlich ins AKW eingebrachte Materialien radioaktiv verstrahlt: Sand zum Sandstrahlen, Wasser für Hochdruckreiniger, Arbeitswerkzeuge, Masken, Strahlenschutzanzüge usw. Und wehe, wenn die Schutzanzüge und Masken bei der Arbeit undicht werden!

Beim Dekontaminieren fallen radioaktive Stoffe (Stäube, Gase) an, die nur teilweise herausgefiltert werden; denn Filter sind teuer und müssen (end)gelagert werden. Stäube und Gase gelangen also zum Teil mit dem Abwasser und der Abluft in die Umgebung. (Die enorme Höhe der beantragten Emissionen wird physikalisch/technisch nicht begründet.) Es ist zu befürchten, dass durch den Abriss pro Jahr mehr Radioaktivität in die Umwelt gelangt als beim Leistungsbetrieb - ein Unding!

Die teilweise von radioaktiven Stoffen (mit welchem Wirkungsgrad?) gereinigten Materialien wandern dann in Stahlschmelzen (strahlende Kochtöpfe und Zahnspangen), auf Deponien, in den Straßenbau, auf Felder und Gewässer, wo sie unsere Nahrungsmittel kontaminieren.

Diese Belastungen für Menschen und Natur sind vermeidbar, wenn eben NICHT dekontaminiert wird, sondern die ausgebauten Anlagenteile (nuklidfreie Gebäudeteile ausgenommen) nach Zerkleinerung direkt in endlagerfähige Fässer/Gebinde/Container gestellt werden.

Das Bundesumweltministerium hat in seiner Begründung für die Einführung des Paragraphen 29 im März 2001 in schonungsloser Offenheit dargelegt: "In die Abwägung ... fließen ... Überlegungen der Risikoakzeptanz ein. Dabei müssen auch wirtschaftliche Erwägungen, z. B. die Kosten der Endlagerentsorgung, einbezogen werden."

Zugespitzt formuliert hat sich der Gesetzgeber so entschieden: Die Vermeidung von Kosten für die Betreiber geht vor Strahlenschutz.

Um welche Mengen an radioaktivem Material es geht, möchte ich noch kurz erläutern:

Aus dem AKW Neckarwestheim sollen ca. 9.700 Tonnen radioaktiv belastetes Material freigemessen werden. Das entspricht einem (Endlager)Volumen von lediglich gut 1000 m3 (das ist ein Würfel von 10 m Kantenlänge, das spezifische Gewicht von Stahl ist ca. 7,8 g/cm3).

Bei der Festsetzung niedrigerer Grenzwerte für das Freimessen (dazu ist die Atomaufsicht befugt, und unser heftiger Widerstand könnte sie dazu ermutigen) würde entsprechend weniger radioaktiv belastetes Material in den normalen Wirtschaftskreislauf entlassen; es ist dann per Gesetz nicht mehr radioaktiv.

Welch Anachronismus: Nach dem SuperGAU in Fukushima versuchen die Japaner vernünftigerweise, radioaktive Stoffe von Häusern, Straßen, Gärten zu entfernen und in Plastiksäcken zu lagern. Und wir haben nichts Besseres zu tun, als radioaktives Material, dass nur ein geringes Volumen einnimmt, in der Umwelt zu verteilen.

Es folgt eine Abschätzung der durch die Freimessung zu erwartenden Krebstodesfälle pro Jahr. Durch die natürliche Strahlenbelastung von 1 mSv/a sind in einem Land mit 80 Mio. Menschen ca. 8.000 Tote pro Jahr zu erwarten. Würde die durch Freimessung akzeptierte Dosis von 10 µSv/a alle (das ist eine sehr konservative Annahme) Deutschen treffen, würden ca. 80 zusätzliche Tote pro Jahr zu beklagen sein sowie eine noch erheblich größere Anzahl von Krebs- und anderen Erkrankungen.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 319 - April 2015, Seite 16-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2015

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