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GEGENWIND/632: Buchbesprechung - Die deutsche Schuld. Die Vernichtung der Armenier vor hundert Jahren


Gegenwind Nr. 319, April 2015

Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Die deutsche Schuld
Die Vernichtung der Armenier vor hundert Jahren

von Reinhard Pohl


Am 24. April wird weltweit der 100. Jahrestag des Genozids an den Armeniern begangen. In den meisten Ländern der Welt ist dieser Gedenktag bekannt, vielerorts auch gesetzlich als Gedenktag verankert.


Bereits direkt zu Beginn der Vernichtung der Armenier war die Welt alarmiert. Am 24. April 1915 wurden in der damaligen türkischen Hauptstadt Istanbul mehr als 2000 führende Vertreter der armenischen Minderheit verhaftet und deportiert, außerdem beschloss die Regierung (damals wegen des Krieges mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet) die Deportation der gesamten armenischen Bevölkerung. Bereits kurz danach richteten die Alliierten Schreiben an die Regierung: Dieses Vorgehen würde nach Kriegsende als Verbrechen verfolgt, denn es sei beispiellos und damit ein "crime against humanity", ein "Verbrechen gegen die ganze Menschheit". Deshalb sei auch die gesamte Menschheit zur Verfolgung berechtigt und aufgerufen.

Bereits damals gab es die heute auch zum zweiten Völkermord in der Geschichte der Menschheit sattsam bekannte Relativierung und Rechtfertigung: Das Bündnis der "Mittelmächte" wurde durch Deutschland angeführt. Deutschland behielt sich auch vor, Erklärungen der Alliierten im Namen des Bündnisses zu beantworten. Und so wurden die englischen und französischen Erklärungen nach Berlin geschickt, dort übersetzt, beantwortet und wieder rückübersetzt. Diese deutschen Antworten schickte die türkische Regierung anschließend nach London und Paris.

Und siehe da: Aus dem "Verbrechen gegen die Menschheit" wurde auf Deutsch ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Und gerechtfertigt wurde das Verbrechen mit Vorwürfen, es gäbe Armenier, die mit dem (russischen) Feind paktieren würden oder sich später dazu entschließen könnten, deshalb müsste die gesamte Bevölkerung entfernt werden. Im übrigen sei es eine innere Angelegenheit des Osmanischen Reiches.

Die Deportationen sollten offiziell dazu dienen, die armenische Bevölkerung im Süden, also dem heutigen Nordirak und Nordsyrien, neu anzusiedeln. Zwei Punkte klären aber schnell, dass das nur eine taktisch motivierte Behauptung war. Denn deportiert wurden nur Frauen und Kinder, während die Männer zu Beginn der Deportationen abgetrennt und exekutiert wurden. Und die Frauen und Kinder wurden in etwa 30 Konzentrationslager gebracht, die in Wüstengebieten lagen, wo eine "Neuansiedlung" schon klimatisch vollkommen unmöglich war. Von 2,1 Millionen Angehörigen der christlichen Minderheit kamen mindestens 1,5 Millionen ums Leben. Einigen gelang die Flucht hinter die russischen oder englischen Linien, die britischen Truppen standen damals im Südirak und in Palästina. Frauen und vor allem Kinder wurden aber auch an die Bevölkerung als Sklaven verkauft und zwangsislamisiert, auch der spätere Staatschef Atatürk hatte eine armenischen Adoptivtochter, die er als Baby aus dem Krieg mitbrachte.


Nur gerechtfertigt?

Deutschland erklärte später, auch anhand von Unterlagen des Auswärtigen Amtes, man habe das Verbrechen tolerieren müssen, weil man auf die Türkei als Verbündeten im Weltkrieg angewiesen gewesen wäre. Das Osmanische Reich habe russische, aber auch britische (indische, australische) Truppen gebunden, die sonst gegen Deutschland eingesetzt worden wären.

Der Autor Jürgen Gottschlich, früher taz-Korrespondent in der Türkei und heute freier Journalist, bezweifelt das. Nach seinen Recherchen ging die deutsche Komplizenschaft viel weiter. Denn die türkische Armee war damals durchsetzt mit deutschen Offizieren, die nicht nur als "Berater", sondern zunehmend als Befehlshaber fungierten.

Der Autor beschreibt ausführlich die schwierige Quellenlage. Das Archiv des Auswärtigen Amtes ist mit zehntausenden Dokumenten zum Genozid gefüllt, diese sind zugänglich, in der Regel sogar online für alle. Diese belegen allerdings vor allem, dass viele Diplomaten täglich über die Einzelheiten des Völkermordes berichteten, oftmals mit negativen Kommentaren. Teils forderten sie von ihren Vorgesetzten ebenso eindringlich wie vergeblich, das schreckliche Verbrechen zu stoppen, und gingen auch realistischerweise davon aus, dass Deutschland das täglich gekonnt hätte. Dagegen ist das Archiv der Reichswehr nicht mehr zugänglich, sondern 1945 bei russischen Bombenangriffen auf Berlin vernichtet worden. Das türkische Archiv ist erhalten, aber nur "offiziell" freigegeben: Man muss jedes Dokument, das man sehen will, klar benennen (also wissen, dass es dies gibt) und beschreiben, warum man es sehen will. Alle Anträge, die der Autor gestellt hat, wurden von türkischer Seite abgelehnt.

Dennoch hat der Autor viele Belege dafür zusammen getragen, dass zumindest viele der in der Türkei eingesetzten deutschen Militärs die Vernichtung der Minderheit mit vorschlugen, mit planten, mit durchführten - mit Wissen und Billigung der Führung in Berlin. Der Chef der deutschen Militärmission, General Otto Liman von Sanders, griff als Gegner in die Deportationen ein und verhinderte auch die Vernichtung der Armenier von Izmir (damals Smyrna). Aber seine Begründung war, dass die knappen Kapazitäten der Eisenbahn für militärische Zwecke benötigt wurden, an dem Leben der Zivilisten selbst lag ihm nichts. Dagegen sprach sich sein Stellvertreter, Fritz Bronsart von Schellendorf, offen und auch an seinem Chef vorbei für die Vernichtung der Minderheit aus. Auch der Marineattaché der deutschen Botschaft, Hans Humann, war für die Vernichtung. Drei Monate nach Beginn des Völkermordes heftete er einen Vermerk ab: "Die Armenier werden - aus Anlass ihrer Verschwörung mit den Russen! - jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich."

Anhand aller militärischen Unterlagen kann man landesweit nachvollziehen, dass die "Verschwörung mit den Russen" eine vorgeschobene Behauptung war: Es fehlen sämtliche Befehle zur Bewegung von Truppen, die bei einer tatsächlichen Verschwörung von immerhin mehr als 2 Millionen Menschen hinter den eigenen Linien da sein müssten, aber nicht sind. Die deutschen (und auch türkischen) Truppen waren hinsichtlich dieser Zivilbevölkerung tatsächlich ohne jede Sorge. Widerstandshandlungen sind zwar dokumentiert, aber nur an wenigen Punkten und immer erst nach Beginn der konkreten Maßnahmen der Vernichtung.


Rückschau

Es gibt auch viele Belege, die in der Rückschau eine deutsche Verantwortung zeigen. So flohen die Verantwortlichen für den Völkermord nach der Kapitulation des Osmanischen Reiches nach Berlin. Ein deutsches U-Boot brachte sie zunächst in die damals deutsche Ukraine, von wo aus sie auf dem Landweg weiter reisten und Asyl bekamen. Der Hauptverantwortliche Talaat wurde später in Berlin von einem armenischen Studenten erschossen. Im Prozess in Berlin gab der Täter an, aus Vergeltung wegen des Genozids, dem auch seine Familie zum Opfer gefallen sei (was sich bestätigte) den Hauptverantwortlichen Talaat erschossen zu haben. Allen Zeugen aus der Reichswehr-Führung, die damals in der Türkei Dienst getan haben, wurde von der Regierung die Aussagegenehmigung verweigert, der Täter nach nur drei Tagen freigesprochen.

Der Operationschef des türkischen Heeres, Otto von Feldmann, schrieb 1921 in einem Zeitungsartikel: "Es soll und darf aber nicht geleugnet werden, dass auch deutsche Offiziere - und ich selbst gehöre zu diesen - gezwungen waren, ihren Rat dahin zu geben, zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete im Rücken der Armee von Armeniern frei zu machen", was natürlich wieder so tut, als wäre es eine militärische Maßnahme gegen unsichere Teile der Zivilbevölkerung gewesen, während die Deportationsbefehle aber ausdrücklich alle Armenier im gesamten Reich, unabhängig von der Entfernung zur Front oder tatsächlicher Vorwürfe betrafen.


Bewusstsein für ein beispielloses Verbrechen

In der Zeit der Weimarer Republik gab es kein Bewusstsein dafür, dass die türkische Regierung 1915/16 ein bis dahin beispielloses Verbrechen organisiert hatte. Ursache dafür war der Weltkrieg selbst, der im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung vor allem eine Katastrophe für das eigene Land bedeutete.

Außerdem gab es damals einen weit verbreiteten Rassismus, der Türken von vornherein eine vorzivilisatorische Rohheit unterstellte, so dass "türkische Verbrechen" nicht mit den Maßstäben zivilisierter Gesellschaften gemessen werden dürften.

Es waren Juristen, die sich Gedanken darüber machten. Vor allem der Jurist Lemkin, als polnischer Jurastudent Beobachter des Talaat-Prozesses in Berlin, bemühte sich später als US-Jurist darum, die Ausrottung der Armenier als "Verbrechen eigener Art" zu definieren. Die damalige Politik benutzte ein neues Fremdwort dafür, den unjuristischen Begriff "Holocaustos", ins Englische als "Holocaust" eingemeindet. Lemkin stellte dem den Begriff "Genozid" entgegen, eine Internationale Juristenkonferenz 1933 in Madrid, veranstaltet vom Völkerbund, verabschiedete diese Definition. Danach war die Ausrottung der Armenier 1915/16 ein Verbrechen neuen Typs, das "Genozid" genannt wurde. Es wurde definiert als die Absicht, eine Minderheit "als solche" auszurotten, also kulturell und physisch, und zwar geplant von einer Regierung oder einer vergleichbaren Formation. Die Zahl der Getöteten spielt in dieser Definition keine Rolle. Wichtig ist, dass das Verbrechen des Genozids als "unverjährbar" eingestuft wurde, Nachkommen können sich also auch hundert Jahre später mit Entschädigungsforderungen zu Wort melden.

Insofern wird verständlich, dass die Bundesregierung bis heute davor zurückschreckt, eine eigene Beteiligung näher zu untersuchen oder gar das Verbrechen beim Wort zu nennen. Ähnliches Verhalten kann man übrigens beim Umgang mit dem "Herero-Aufstand" im damaligen Südwest-Afrika beobachten - Namibia erhielt zwar über lange Jahre großzügige Zahlungen, die aber als "Entwicklungshilfe", nicht als "Entschädigung" deklariert wurden.

Das Tabu in der heutigen Türkei ist noch größer als das in Deutschland. Darum geht es dem Autor aber nicht, das ist Gegenstand zahlloser anderer historischer Studien.

Der Autor will die deutsche Verantwortung zeigen. Dazu holt er auch weit aus, rekapituliert die deutsche "Orient-Politik" seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts. Deutschland als erst 1871 gegründeter Nationalstaat war eine führende Industriemacht auf der Welt, aber im Gegensatz zu Großbritannien, Frankreich, Russland und USA, sogar im Gegensatz zum kleinen Portugal ohne Kolonien. Hier gab es verschiedene Strömungen, die ein Kolonialreich in Afrika, aber auch im Osten (Ukraine) oder eben im Orient, auf dem Gebiet des maroden Osmanischen Reiches vorschlugen. Es gab zeitweise auch Konzepte, sich beim Zerfall des Reichen mit der armenischen Bevölkerung zu arrangieren und mit deren Hilfe Gebiete aus dem Osmanischen Reich herauszulösen. Letztlich entschied man sich für das Bündnis mit der "jungtürkischen" Bewegung, mit der letztlich dreiköpfigen Gruppe, die ab 1912 diktatorisch regierte.

Bereits im Vorfeld des Krieges, aber nach Kriegsbeginn verstärkt versucht das Kaiserreich, im Bündnis mit der türkischen Führung den "heiligen Krieg" auszurufen, mit dem Muslime in Russland und Indien aufgerufen wurden, sich gegen die christlichen Kolonialherren zu erheben. Das bildete den Hintergrund der Pläne, in der Türkei die christliche Minderheit auszurotten, deren Ursprung noch immer ungeklärt ist. Vermutlich ist die Idee innerhalb des "Komitees" entstanden, das von Enver und Talaat geführt wurde, jedenfalls wurden beide später von einem türkischen Gericht wegen der Planung und Durchführung des Völkermordes zum Tode verurteilt.

So lautet der Vorwurf des Autors auf "Beihilfe". Auch diese verjährt nicht. Deshalb fordert der Autor die Bundesregierung auf, mindestens einen hochrangigen Vertreter zur Gedenkfeier am 24. April nach Eriwan zu schicken.


Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Ch. Links Verlag, Berlin 2015, 343 Seiten, 19,90 Euro.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 319, April 2015, Seite 25 - 27
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2015

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