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GEGENWIND/649: Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen


Gegenwind Nr. 327 - Dezember 2015
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

ANTIFA
Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen

Von Günther Stamer


Anfang November jährte sich das Auffliegen der Morde des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zum vierten Mal. Aus diesem Anlass wurde in den Räumen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Schleswig-Holstein in Kiel die Ausstellung "Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen" gezeigt.


Auf der Abschlussveranstaltung wurde in einem Podiumsgespräch kritisch beleuchtet, was seit 2011 an Aufarbeitung geschehen ist - in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und im Münchener Strafverfahren gegen mutmaßliche Unterstützer*innen des Terrornetzwerkes. Daran nahmen teil Birgit Mair, Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung Nürnberg, die die Ausstellung konzipiert hat, Björn Elberling (Foto rechts), der als Nebenklageanwalt am Münchener NSU-Prozess seit Mai 2013 beteiligt ist, und Ibrahim Arslan, Opfer und Überlebender der rassistischen Brandanschläge in Mölln 1992.

In den Jahren 2000 bis 2007 wurden in Deutschland zehn Menschen durch Nazis des NSU ermordet oder Opfer von Mordanschlägen. Anstatt Nazis zu suchen, hatte die Polizei mit ihren Ermittlungseinheiten "Halbmond" und "Bosporus" allein das migrantische Umfeld der Opfer verdächtigt (Stichwort "Dönermorde"). Ein Beispiel ist die Kölner Keupstraße: Damals wurde gegen die betroffenen Ladenbesitzer der Vorwurf erhoben, sie hätten den Nagelbomben-Anschlag selbst verübt, um von der Versicherung Geld für den Schaden zu bekommen. Bei dem Anschlag wurden 22 Menschen verletzt, mehrere davon lebensgefährlich.


Verstrickungen des Verfassungsschutzes

Mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse versuchten herauszufinden, wie es geschehen konnte, dass die Terrorserie so lange unaufgeklärt blieb. Dabei kamen haarsträubende Tatsachen zu Tage. Ein Beispiel: Wenige Tage, nachdem die Polizei nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos begonnen hatte, in Richtung NSU zu ermitteln, ordnete ein Referatsleiter im Dienstgebäude des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln an, umfangreiche Akten einer Geheimdienstoperation im Umfeld des NSU zu vernichten. Die geschredderten Akten bezogen sich auf die rechtsextreme Gruppe "Thüringer Heimatschutz" und ihre Verbindung zum Verfassungsschutz. Der NSU soll aus der Gruppe hervorgegangen sein. Dieses Beispiel war nur die Spitze des Eisberges. Im Laufe der Ermittlungen kam heraus, dass die V-Leute des Verfassungsschutzes tief mit dem terroristischen Untergrund verstrickt waren; es gab kaum eine Gruppe rund um den NSU, die nicht von Geheimdienst-Spitzeln angeführt oder gegründet worden war.

Birgit Mair zur Ausstellung: im ersten Teil stehen die Mordopfer im Mittelpunkt und gibt ihnen in Wort und Bild ihre Identität zurück. Zu Wort kommen auch deren Angehörige, die nicht nur den Verlust ihrer Ehemänner, Väter, Söhne oder Brüder zu beklagen haben, sondern sich mit jahrelangen Beschuldigungen über angebliche kriminelle Verstrickungen ihrer Angehörigen konfrontiert sahen. Der zweite Teil der Ausstellung beleuchtet die Neonaziszene der 90er Jahre und deren Verbindungen und Hilfeleistungen an die NSU sowie die politischen Hintergründe der Verstrickungen der Verfassungsschutzorgane und die polizeilichen "Ermittlungspannen".

Der Kieler Anwalt Björn Elberling, der seit zweieinhalb Jahren als Nebenkläger den Münchener Prozess begleitet, erwartet im Fortgang des Prozess keine große Aufklärung. "Er ist frustrierend und führt weit weg von den Opfern der NSU. Die Bundesstaatsanwaltschaft tut alles, um an ihrer NSU-Trio-These festzuhalten und hat offensichtlich keinerlei Interesse, den wahren Umfang des Nazi-Terror-Netzwerkes aufzudecken." Mehr Aufklärung erwartet er von dem neuen Bundestags-Untersuchungsausschuss, wo weitere Hintergründe über die Rolle des Verfassungsschutzes zu erwarten sind. Im Bundestag laufen derzeit die Vorbereitungen für den zweiten NSU-Untersuchungsausschuss. 29 Rechtsanwälte, die im NSU-Prozess Nebenkläger vertreten, fordern, dass im Zentrum des Ausschusses die Frage stehen soll, welche Rolle das V-Leute-System des Verfassungsschutzes für die Entstehung des NSU und dessen Unterstützungsstrukturen gespielt hat. Die Anwälte verweisen darauf, dass sie bei dem Prozess in München von V-Mann-Führern sowie V-Leuten gleichermaßen belogen worden seien. Zudem hätten sie Anhaltspunkte, dass nachrichtendienstliche Erkenntnisse, die es ermöglicht hätten, die Morde zu verhindern, ignoriert worden seien.

Ibrahim Arslan, Überlebender der rassistischen Brandanschläge in Mölln, sagte auf der Veranstaltung: "Als ich das von der NSU gehört habe, kam die ganze Erinnerung wieder hoch. Als ob ich wieder in dem brennenden Haus wäre." Über die Anwälte habe er Kontakt zu den Opfern und Überlebenden aufgenommen. "Ich wollte meine Solidarität zeigen. Denn ich weiß, was die da durchmachen. Falsche Ermittlungen, falsche Verdächtigungen haben uns alle krank gemacht." Er engagiert sich für Opfer, organisiert Gedenkfeiern und half u.a., in Köln, als 2004 eine NSU-Nagelbombe in dem Friseursalon der Brüder Yildirim in der Keupstraße explodierte. Zusammen mit einer Keupstraßen-Initiative dreht er einen Dokumentarfilm für Schulen zu dem Bombenattentat.

Weitere Infos zur Ausstellung:
www.opfer-des-nsu.de
www.istbb.de

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Quelle:
Gegenwind Nr. 327 - Dezember 2015, Seite 12-13
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2015

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