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GEGENWIND/706: Falsch abgestimmt? - Pass entziehen!


Gegenwind Nr. 344 - Mai 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Kommentar
Falsch abgestimmt? Pass entziehen!

von Reinhard Pohl


In der Türkei fand es jetzt Abstimmung zu einer grundlegenden Verfassungsänderung statt: In Zukunft soll der Präsident (und theoretisch auch möglich: die Präsidentin) von der Bevölkerung gewählt werden. Er soll dann die Regierung bilden, einen Regierungschef (Ministerpräsidenten) soll es nicht mehr geben. Das Parlament soll am gleichen Tag gewählt werden, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass der Präsident dort eine Mehrheit hat. Aber der Präsident soll auch mit Dekreten regieren können, außerdem hat er das Recht, das Parlament jederzeit aufzulösen.

Soweit, so schlecht.

Offiziell hat Erdogan die Abstimmung mit etwas mehr als 51 Prozent der Stimmen gewonnen. Sicher ist dies nicht, denn es gab viele Unregelmäßigkeiten. Rund 2,5 Millionen Stimmzettel, die nicht von der Wahlkommission kamen, wurden nachträglich (entgegen dem türkischen Wahlgesetz) zugelassen und als "Ja-Stimmen" gewertet, sie gaben den Ausschlag.

Türkinnen und Türken im Ausland waren stimmberechtigt, Deutschland organisierte relativ großzügige Möglichkeiten, Wahllokale auch außerhalb von Botschaft und Konsulat einzurichten. Hier stimmten rund 63 Prozent für, rund 37 Prozent gegen die Verfassungsänderung. Allerdings ging die große Mehrheit der hier lebenden türkischen StaatsbürgerInnen nicht zu den Wahlen, so dass die Zahl der Ja-Stimmen tatsächlich nur 29 Prozent der Wahlberechtigten beträgt.

Viele rufen jetzt: Skandal!

Wie soll man damit umgehen, dass Hunderttausende in der Demokratie leben, aber gegen die demokratische, für die autoritäre Verfassung stimmen? Konkrete Vorschläge kamen jetzt vor allem aus der CDU. Alle hier lebenden Türkinnen und Türken, die zwei Staatsangehörigkeiten haben, sollen eine verlieren. Hier geboren Kinder sollen in Zukunft nicht mehr beide Staatsangehörigkeiten (die der Eltern und die des Geburtslandes) behalten dürfen, sondern sollen sich als junge Erwachsene in Zukunft wieder zwischen Land und Familie entscheiden.

Wie viele "Doppelstaatler" haben denn an der Abstimmung teilgenommen? Das ist nicht bekannt: Wahlgeheimnis. Wie viele "Doppelstaatler" haben denn mit "Ja" gestimmt? Das ist nicht bekannt: Wahlgeheimnis. Also: alle bestrafen?

Der Vorschlag der CDU-Politiker erinnert an deren Vorbild. Auch Erdogan argumentiert so, nur umgekehrt: Alle, die mit "Nein" gestimmt haben, sind in seinen Augen "Verräter" und "Terroristen". Er hat nur (noch) nicht verlangt, ihnen die Staatsangehörigkeit zu entziehen. Das fordern jetzt die "Brüder im Geiste" von der CDU, auch im Landtagswahlkampf in Schleswig-Holstein.

In Kiel hat jetzt der türkisch-stämmige CDU-Ratsherr Cetim Yildirim die Konsequenzen gezogen: Er trat aus der CDU aus und in die SPD ein - und begründete das mit der periodische Debatte über doppelte Staatsangehörigkeit- und Zweifel an der Loyalität und Rechtstreue der Einwanderer aus der Türkei.

Richtig Ist, über die Verfassungsänderung und die 29 Prozent Zustimmung aus Deutschland zu diskutieren. Schäbig ist es, jedes Ereignis zum Anlass zu nehmen, die hier lebenden Einwanderer aus der Türkei zu diffamieren und ihre Rechtstreue pauschal in Frage zu stellen.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 34 - Mai 2017, Seite 3
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2017

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