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GEGENWIND/720: Buchvorstellung - Flucht vor Naturkatastrophen und Klimaänderung


Gegenwind Nr. 346 - Juli 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Buchvorstellung
Flucht vor Naturkatastrophen und Klimaänderung

von Reinhard Pohl


Geht es um Flüchtlinge, wird meistens über Verfolgung und Krieg, Diktatur und korrupte Regierungen diskutiert. Natürlich, die meisten Flüchtlinge in Deutschland kommen aus Syrien, Irak, Afghanistan, Nigeria und anderen Ländern, wo die Verfolgung und der Krieg offensichtlich ist. Aber immer öfter sind es auch Umweltprobleme, die die Menschen dazu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen.


Der neue "Atlas" versucht, solche Ursachen der Migration weltweit zu erfassen. Das ist schwierig, denn oft gibt es keine eindeutigen Unterlagen. Menschen verlassen ihre Heimat aus verschiedenen Gründen, oft ist es die Summe mehrerer Gründe, die den Ausschlag gibt.

So glauben viele, sie wüssten, warum Menschen aus Syrien oder Afghanistan fliehen: Man sieht die Gründe ja in der Tagesschau. Wenn man genauer hinschaut, erkennt man noch weitere Ursachen. So hat die Klimaänderung durch die Erwärmung der Atmosphäre dafür gesorgt, dass es in den letzten zwanzig Jahren im Norden Syriens immer trockener wurde. Immer mehr Bauern mussten ihr Land aufgeben, vom Nordosten in den Südwesten des Landes ziehen. Die Diktatur litt mehr und mehr darunter, dass die Ölpreise sanken und gleichzeitig die eigene Korruption, das Außer-Landes-Schaffen von Geld, gleich blieben: Für die "Klimaflüchtlinge" gab es keine Unterstützung am neuen Ort, keinen Wohnungsbau, keinen Anschluss an Strom, Wasser und Abwasser, keine Kurse zur Umschulung, keine Unterstützung bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Es gab Slums und Arbeitslosigkeit. Gerade in diesen Vierteln gab es 2011 die ersten und die heftigsten Demonstrationen, auf die die Regierung mit Bombardierungen aus der Luft reagierte.

Ähnlich in Afghanistan: Auch hier führte die Klimaänderung zu einem immer trockener werdenden Norden des Landes. Das Land hat keine Regierung in unserem Sinne des Wortes, sondern es hat "Minister", die als Waffenstillstands-Bündnis von Milizführern fungieren. Sie regieren das Land nicht, sie verhandeln miteinander und plündern das Land aus. Die Bevölkerung wird sich selbst und den Milizen überlassen.

In dem Atlas geht es nicht nur um Trockenheit, sondern auch um andere Naturereignisse und Katastrophen. Es geht um Trockenheit rund um den Aral-See, es geht um den großen und einige kleinere Tsunamis, es geht um die Reaktorkatastrophe von Fukushima. Es geht um Trockenheit in Ostafrika und um Enteignungen von Land, das für Exportprodukte "gebraucht" wird - dann werden einheimische Bauern auf schlechteres Land verdrängt.

Viele Menschen, die vor Naturkatastrophen oder Umweltkatastrophen fliehen, fliehen nur ein kleines Stück. Sie werden auch, je nach Regierung, evakuiert und untergebracht. Weit öfter als bei Kriegen bleiben sie im eigenen Land, und sie haben auch weniger Probleme mit der Rückkehr, falls sich die Lage wieder normalisiert und sie Hoffnung haben, dass das Ereignis nicht wiederkehrt.

Es gibt aber auch Länder, wo das nicht funktioniert. Im Atlas wird beispielhaft Haiti vorgestellt: Dort gab es nicht nur einen verheerenden Wirbelsturm, auch die Regierung ist zusammen gebrochen, und es sind internationale (brasilianische) Truppen eingerückt, dazu eine Vielzahl von Hilfsorganisationen, die ihre Tätigkeiten kaum koordinieren. Das führt bei einem Teil der Bevölkerung dazu, dass sie im Land selbst keine Zukunft mehr für sich sehen. Die einfachste Auswanderung geht in Richtung der Dominikanischen Republik, die auf der gleichen Insel liegt, dort leben auch Landsleute, nur die Grenze ist geschlossen. Wer etwas besser gestellt ist, kann nach Panama-Stadt oder nach Bogota fliegen. Von dort aus reisen viele nach Quito und Lima weiter. Und ganz im Osten von Peru, bei Iberia, gibt es Möglichkeiten, direkt nach Brasilien zu gelangen oder über Bolivien nach Brasilien (Rio Branco) zu kommen. Dort siedeln sich viele Haitianer neu an, nachdem die ersten verbreitet haben, dass dieser Grenzabschnitt kaum kontrolliert wird und die Ansiedlung auf keine gesetzlichen Hindernisse stößt. Gleichzeitig zeigen diese Erforschungen von Migrationsströmen, dass das viel näher liegende Caracas komplett gemieden wird. Auch hier gilt, dass Information eine wichtige Währung bei der Migration ist.

Der Atlas befasst sich nicht nur mit Migration, sondern auch mit Rückkehr-Migration. Beispiele sind hier New Orleans, dass fünf Jahre nach dem Hurricane, für den die gesamte Stadt evakuiert werden musste, in niedrig gelegene Stadtteile wie Lower Ninth Ward nur 34 Prozent der ursprünglichen BewohnerInnen zurückgekehrt sind, während es in einem Stadtteil wie New Orleans East 79 Prozent sind. Insbesondere die armen und die schwarzen EinwohnerInnen, das entspricht sich häufig, sind zu mehr als 30 Prozent nicht zurückgekehrt, sondern leben an anderen Orten. Das betrifft vor allem Familien mit Kindern und alte Menschen, weil die öffentlichen Dienstleistungen auch fünf Jahre nach der Katastrophe noch nicht wieder hergestellt waren. Das macht ja bekanntlich weniger Schlagzeilen als das Ereignis an sich.

Der Atlas liefert auch Prognosen. So gibt es auf Seite 84 eine Weltkarte, dort sind fast alle Länder nach der "Wahrscheinlichkeit von Umweltmigration" verschieden eingefärbt. Am wahrscheinlichsten ist die Umweltmigration in Saudi-Arabien, Sudan und Südsudan sowie dem Tschad. Riskant aus Sicht der Umweltprobleme bleibt das Leben in Marokko, Syrien, Tansania oder dem Somaliland - ohne die Berücksichtigung möglicher anderer Probleme. Falls also irgendwann der Krieg in Syrien endet, werden viele syrische BesucherInnen entdecken, dass in bestimmten Gebieten aus anderen Gründen keine Landwirtschaft mehr möglich ist, ebenso wie Menschen aus Marokko, die nicht wegen eines Krieges gekommen sind.

Der Atlas zeigt auch Veränderungen. So zeigt eine Karte Äthiopien, Somalia, Kenia und den Südsudan, und zwar mit den traditionellen Wander-Routen der viehhaltenden Nomaden. Und es wird gezeigt, in welche Gebiete die Wanderung mit Vieh inzwischen nicht mehr möglich ist, welche Routen also nicht mehr funktionieren. Denn bei Gefahr für das Vieh besteht in kürzester Zeit auch Gefahr für Kinder und Alte, und dann ist die Gefahr für die Erwachsenen auch nicht mehr kalkulierbar. Inmitten dieser Routen liegt Dabaab, gerne als "größtes Flüchtlingslager der Welt" charakterisiert. Aber dieser Atlas zeigt eben, dass die tatsächlichen Probleme komplexer sind.

Es ist leider so, dass in der Politik andere Kriterien gelten. Kaum jemand, die oder der sich zu Afghanistan oder Syrien äußert, hat wirklich alle Faktoren im Blick, die das Leben dort bestimmen. Gerade interessengeleitete Äußerungen von Innenministern versuchen, neun von zehn Faktoren auszublenden. Damit kommt man aber nie zu realistischen Bildern.


Dina Ionesco / Daria Mokhnacheva / François Gemenne: Atlas der Umweltmigration. Oekom Verlag, München 2017 (gleichzeitig auf Französisch und Englisch erschienen). 169 Seiten, farbig im Großformat, 22 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 346 - Juli 2017, Seite 63 - 64
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2017

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