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GEGENWIND/724: Buchvorstellung - Genozid? Oder kein Genozid? Deutschland und Namibia


Gegenwind Nr. 347 - August 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

BUCH
Genozid? Oder kein Genozid?
Deutschland und Namibia

von Reinhard Pohl


Mit den Kolonien und der Kolonialgeschichte ist es so eine Sache: In der Kolonialzeit haben die Kolonialmächte, auch Deutschland, immer darauf hingewiesen, wie fortgeschritten ihre Wirtschaft und Gesellschaft ist, wie primitiv dagegen die der Kolonien. Und natürlich, wie gut gemeint die Kolonialherrschaft ist, wie verwerflich dagegen der Widerstand Einheimischer, die Rebellion, der Aufstand. So auch in Namibia, "Deutsch-Südwest" genannt: Deutsche errichteten Siedlungen, beschlagnahmten Vieh und Land, vertrieben die Einheimischen in unfruchtbarere Gegend, natürlich nur mit dem Ziel, das unterentwickelte Land zu entwickeln. Und diese fingen an, sich zu wehren - der deutsche Kommandant befahl die unnachsichtige Verfolgung.

Was passiert ist, ist eigentlich seit langer Zeit klar: Es gab eine typische Kolonialherrschaft. Es gab dagegen Widerstand, in Deutschland "Aufstand" genannt. Und es gab einen Vernichtungsbefehl an die deutsche Kolonialarmee, "Schutztruppe" genannt, der auch umgesetzt wurde.

Damit tun sich alle Kolonialmächte schwer, wenn sie heute dazu Stellung nehmen sollen, Schulbücher freigeben, mit den Politikern umgehen, die Nachfahren der damaligen Opfer sind. In Deutschland gab es aber zwei Besonderheiten: Das Vorgehen der deutschen Kolonialtruppen wird als "Genozid" (im Sinne des türkischen Genozids von 1915/16) eingestuft. Und die historische Aufarbeitung erfolgte in zwei Systemen, in der BRD und in der DDR. Das vorliegende Buch vergleicht die Geschichtsschreibung der beiden deutschen Staaten von 1948 bis 1990.

Zunächst waren die Bedingungen für eine Aufarbeitung denkbar ungünstig: Im Deutschland der 20er Jahre überwog die Meinung, der Versailler Vertrag wäre "ungerecht", die von den Siegermächten diktierte Erklärung, dass Deutschland zur Verwaltung von Kolonien unffähig sei, deshalb Großbritannien und Frankreich sowie Südafrika einspringen müssten, falsch. Zwar wurden einige Verbrechen verurteilt, diese Urteile aber in der Nazi-Zeit wieder aufgehoben, die Täter rehabilitiert. Zwar fand die Bewegung zur Rückgewinnung von Kolonien keinen Rückhalt in der Partei, dürfte. aber ihre Propaganda entfalten - und einige in Deutschland lebende Afrikaner wurden nur deshalb nicht im Konzentrationslager umgebracht, weil sie als Darsteller in Kolonialfilmen gebraucht wurden und so den Krieg überlebten.

Nach dem Krieg hatten in der BRD, aber auch in der DDR die traditionellen Historiker und Vertreter der Kolonialherrschaft die Mehrheit. In der DDR änderte sich das bald durch "Anweisung von oben": Die deutsche Kolonialherrschaft sollte kritisch gesehen werden, und das geschah auch. Ab den 60er Jahren war es Konsens, dass die deutschen Kolonialtruppen 1904 bis 1908 einen Völkermord begangen hatten.

In Westdeutschland hielten sich die Verteidiger der Kolonialherrschaft länger. In den 60er Jahren gab es auch hier kritischen Nachwuchs von den Universitäten, aber die Erwähnung des Völkermordes hatte dann zusätzlich das Problem, dass es sich ja um "DDR-Propaganda" handelte - allerdings zeigt die Autorin auch, dass der Austausch von Texten und Erkenntnissen, von Belegen und Dokumenten größer war als von beiden Seiten berichtet. Das von der sowjetischen Armee nach Moskau gebrachte Kolonialarchiv wurde allerdings später der DDR übergeben, dort hatten westdeutsche Historiker nur Zugang, wenn sie von der DDR-Regierung eine entsprechende Erlaubnis bekamen. In Westdeutschland war die Debatte aber auch ein "Generationenkonflikt" der neu ausgebildeten gegen den vor 1945 ausgebildeten Historikerinnen und Historikern.

Ab 1984 wurde dann die Geschichtsschreibung objektiver und damit auch ähnlicher. Deutsche Historiker wurden sich mehr und mehr einig, dass die "Genozid"-Definition von 1933 auch in Namibia erfüllt worden war. Diskutiert werden bis heute noch Feinheiten, wie die Bedeutung der Tatsache, dass der Vernichtungsbefehl von der Reichsregierung ausdrücklich nicht genehmigt, sondern widerrufen wurde. Aufgrund der damals langen Nachrichtenwege war die Vernichtung aber weitgehend schon erfolgt, als der Widerruf in Namibia eintraf.

Diejenigen, die die deutsche Kolonialpolitik verteidigten, wurden seit 1984 immer weniger und fanden sich später nur noch in einschlägigen rechtsextremen Organisationen. Die sprechen, wie in rechtsextremen Kreisen üblich, von der "These vom Völkermord", aber das kennt man aus der Szene. Das die Bundesregierung sich mit diesem wie mit anderen Genozides schwer tun, liegt daran, dass Entschädigungsforderungen aus einem Genozid nicht verjähren. Eine interessante Darstellung zweier Geschichtsschreibungen, die dann nach langer Zeit und vor allem nach dem Tod aller Zeitzeugen zusammengefunden haben.


Christiane Bürger: Deutsche Kolonialgeschichte(n).
Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD.
transcript, Bielefeld 2017, 318 Seiten, 39,99 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 347 - August 2017, Seite 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2017

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