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GEGENWIND/725: Für einen europäischen Bürgerkonvent


Gegenwind Nr. 347 - August 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Internationales
Für einen europäischen Bürgerkonvent

von Karl-Martin Hentschel


Die EU befindet sich nach dem BREXIT und der wachsenden Skepsis gegen Brüssel und die Dominanz der Deutschen in der Krise. Durch die Wahl von Macron zum französischen Präsidenten hat die Debatte um die Zukunft der EU an Fahrt gewonnen. Aber nicht an Klarheit. Vorschläge für eine europäische Verfassung wie der von Ulrike Guérot [1] werden intensiv diskutiert. Gleichzeitig jedoch wird die Idee einer stärkeren Integration hin zu einem Nationalstaat Europa weiterhin von der Mehrheit der Bürger*innen der EU abgelehnt. [2] Der Kommissionspräsident Juncker hat Anfang 2017 gleich fünf mögliche Szenarien vorgelegt.

Der Weg entscheidet über das Ziel

In dieser Situation gewinnen Gedanken wie die von Armin Steuernagel [3] an Bedeutung. Ihn beschäftigt nicht mit der Frage, wie die zukünftige Verfasstheit Europas aussehen soll. Ihn interessiert viel mehr der Weg, auf dem wir zu einer Verfassung kommen können, die von möglichst vielen Menschen Europas akzeptiert wird. Seine Kernthese lautet: Bei der Erstellung der neuen europäischen Verfassung kommt es nicht nur darauf an, was drin steht, sondern entscheidend wird auch sein, ob und wie es gelingt, die Bürger*innen dabei von Anfang bis Ende zu beteiligen. Sie müssen das Gefühl bekommen, dass das "ihre" Verfassung ist - er nennt das "Emotional Ownership".

Dabei geht es nicht nur um Akzeptanz - also darum, dass eine erneute Pleite wie nach dem letzten EU-Verfassungskonvent vermieden wird, als die Verfassung in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden scheiterte. Vielmehr glaubt er, dass auf diese Weise auch eine völlig andere Verfassung entstehen wird. Bei dem letzten Verfassungskonvent von 2001-2003 fehlte die Beteiligung der Bürger*innen weitgehend. Es war nicht mal klar, dass darüber abgestimmt werden sollte. Die vorgelegte Verfassung hatte 448 Artikel und war nicht dafür gedacht, dass die Wähler*innen (sprich: normale Menschen) sie verstanden und lasen. Im Bewusstsein des Konvents ging es viel eher darum, eine Verfassung zu schreiben, die vom Europäischen Rat - also den Regierungen der Nationalstaaten - gebilligt werden sollte und dann in den Parlamenten abgestimmt würde - nicht aber eine Verfassung, die vom Volk gelesen und über die per Referendum abgestimmt werden sollte.

Es war daher völlig überraschend, dass am Schluss neun EU-Staaten beschlossen, ein Referendum durchzuführen. Und als die Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterten, beschlossen die Regierungen den Vertrag von Lissabon eben nicht als Verfassung, sondern als Staatsvertrag, obwohl dieser fast den gleichen Inhalt wie zuvor die Verfassung hatte. Damit wurde das Votum der Bürger übergangen.

Nun stellt sich also die Frage: Was könnte man auf Basis dieser Erfahrungen anders machen. Wie könnte eine Verfassung entstehen, an der die Bürger*innen von Anfang an beteiligt werden und die am Schluss auch noch in Volksabstimmungen gebilligt wird? Um das zu erreichen halte ich drei Kriterien für den Verfassungsprozess erforderlich:

Repräsentativität - dazu muss der Verfassungskonvent - der Bürgerkonvent - direkt gewählt werden und muss sowohl die Bürger der EU, die Regionen und die heutigen Nationalstaaten angemessen repräsentieren.

Beteiligung der Bürger*innen - nur so kann die Emotional Ownership gewährleistet werden, nur so wird aus einem Verfassungskonvent ein Bürgerkonvent und nur so kann eine Verfassung der Europäer entstehen und eine EU, die von möglichst vielen als ihre EU akzeptiert wird.

Demokratische Legitimität - die Verfassung muss in einer Volksabstimmung ratifiziert werden und nicht durch die Parlamente.

Der Artikel 48 des Lissabon-Vertrages enthält bereits die Verpflichtung, bei ordentlichen Vertragsveränderungen einen Konvent abzuhalten. Aus Sicht von Mehr Demokratie stellte es daher bereits einen Bruch des Europarechts dar, dass die Maßnahmen zur Eurorettung ohne Konvent beschlossen wurden. Dies lässt sich aber nicht vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen, weil das Europarecht keine Verfassungsbeschwerde kennt. Aber der Artikel 48 kann sowieso nur einen ersten Ansatz bieten. Tatsächlich müsste ein Konvent in wesentlichen Punkten demokratischer gestaltet werden als dort vorgesehen. Deswegen wird es von zentraler Bedeutung sein, ob es gelingt, den Artikel 48 zu überwinden.

Der Bürgerkonvent und die demokratische Legitimität

Europa ist heute vor allem ein Zusammenschluss von Regierungen, die ihre Macht nur sehr ungern abgeben. Eine Neufassung der setzt deshalb eine große politische Mobilisierung bei Bürger*innen, Zivilgesellschaft, Parteien und Parlamenten und eine breite politische Debatte voraus, bei der sich viele Bürger*innen einbringen können.

Das Ziel einer solchen Mobilisierung sollte die Einberufung eines direkt gewählten repräsentativen Verfassungskonvents sein - einberufen durch die Bürger*innen der EU - also ein Bürgerkonvent. Ein direkt gewählter Konvent wird am ehesten die Kraft haben, sich über Bedenken und Blockaden der Nationalpolitiker aus allen politischen Richtungen hinwegzusetzen und eine echte europäische Verfassung zu schaffen. Das Ergebnis muss dann in einer europaweiten Abstimmung dem Souverän, also den Bürgerinnen und Bürgern vorgelegt werden.

Die Einberufung

Bereits die Einberufung des Bürgerkonvents sollte durch eine öffentliche Debatte vorbereitet werden. Diese Debatte sollte durch große Foren unter Beteiligung von NGOs, Gewerkschaften und Verbänden in allen Staaten der EU vorbereitet werden mit dem Ziel, das Projekt unter breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft zu diskutieren. Danach sollte der Prozess durch eine europaweite Volksabstimmung in allen EU-Staaten über die Einberufung des Konvents gestartet werden. Dieser Beschluss sollte die Einberufung des europäischen Bürgerkonvents enthalten und einige Regeln festlegen, die den Bürger*innen die Sicherheit geben, dass der gesamte Prozess bis zuletzt in den Händen der Bürger*innen liegen wird.

Ergebnisoffenheit und Wahrung der Souveränität der Nationen

Damit nicht der Eindruck entsteht, dass den Menschen eine Verfassung durch die Eliten oder die großen EU-Staaten aufgedrückt wird, müssen drei Prinzipien im Beschluss für die Einberufung stehen:

Es muss von Anfang an klar gestellt werden, dass der Prozess ergebnisoffen ist. So sah das Einberufungsreferendum für den Verfassungskonvent in Zürich 1999 vor, dass bei Ablehnung der Verfassung eine Verlängerung des Konvents möglich ist, so dass die Bürger*innen nicht vor eine Alles-oder-Nichts-Entscheidung gestellt werden.

Auch das Ergebnis selbst soll offen sein. So könnte es sein, dass als Ergebnis eine Verfassung für einheitliches Europa vorgelegt wird. Es ist aber auch denkbar, dass am Ende ein Europa der Regionen und unterschiedlichen Geschwindigkeiten steht, bei dem sich die Bevölkerung jedes Mitgliedstaates für die Integrationsstufe entscheidet, die sie für angemessen hält.

Keine Nation wird gezwungen, eine Verfassung zu akzeptieren, der sie nicht mit Mehrheit zustimmt. Deshalb steht am Schluss des Verfassungsprozesses eine Volksabstimmung in allen Staaten der EU.

Die Zusammensetzung des Bürgerkonvents

Der Bürgerkonvent sollte aus zwei Hälften bestehen, die getrennt gewählt werden und die gemeinsam und getrennt tagen können. Die eine Hälfte, die Bürgerkammer, sollte repräsentativ nach Verhältniswahl gewählt werden. Die Verteilung der Sitze sollte nach europäischen Parteilisten repräsentativ erfolgen. Allerdings sollte das Wahlverfahren sicherstellen, dass nach Wahlkreisen gewählt wird, so dass jeder Staat mindestens einen Wahlkreis bildet und mindestens eine*n Abgeordnete*n stellt. Die andere Hälfte des Konvents bildet die Vertretung der Nationalstaaten. Hier sollten alle Staaten jeweils durch zwei Abgeordnete vertreten sein, die direkt gewählt werden.

Zusätzlich braucht es eine Regelung für die Staaten, die den Status eines Beitrittslandes haben. Diese Staaten könnten ebenfalls Abgeordnete entsenden, die aber nur als Beobachter und Berater fungieren. So wurde es auch bei dem Verfassungskonvent 2002/2003 gehandhabt.

Der Verfassungsentwurf

Nach Abschluss des Beratungsprozesses wird der fertige Verfassungsentwurf verabschiedet. Er muss in beiden Hälften (Kammern) des Bürgerkonvents eine Mehrheit bekommen. Da aber anschließend eine Volksabstimmung in allen Staaten stattfindet, gibt es auf den Konvent sowieso einen hohen Druck, Konsense zu finden, die möglichst in allen Staaten mehrheitsfähig sind. Knappe, Kampfabstimmungen würden das nur erschweren.

Der endgültige Verfassungsentwurf kann auch an einigen strittigen Stellen Alternativen versehen, über die dann bei der Abstimmung über die Verfassung ebenfalls abgestimmt wird. Alternativen, die von einem Drittel der Mitglieder des Konvents unterstützt werden, müssen zur Abstimmung gestellt werden.

Der endgültige Verfassungsentwurf kann auch optionale Regelungen enthalten, die ein Europa mit unterschiedlichen Integrationsstufen ermöglichen. Werden solche in die Verfassung aufgenommen, dann können die Mitgliedsländer anschließend autonom entscheiden, ob sie den optionalen Regelungen beitreten, nicht beitreten oder später beitreten wollen.

Ratifizierung

Die Ratifizierung (also das Referendum am Schluss) sollte durch das Volk aller Nationalstaaten und nicht durch die Regierungen oder die Parlamente erfolgen.

Dazu findet eine europaweite Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf statt, die in allen Mitgliedsstaaten am gleichen Tag stattfinden sollte. Beitrittsländer können ebenfalls an der Abstimmung teilnehmen. Deren Ergebnisse zählen aber nicht zum Gesamtergebnis. Sie sind nur ein Referendum darüber, ob die Bevölkerung die Verfassung und einen Beitritt billigt. Die Ratifizierung der Verfassung bedarf einer europaweiten Mehrheit der Bürger*innen. Außerdem muss es eine qualifizierte Mehrheit aller Staaten geben, um die Verfassung zu verabschieden. Denkbar wäre z.B. eine Mehrheit von zwei Dritteln.[4]

Bei der Abstimmung über Alternativen soll es möglich sein, für mehrere Alternativen zu stimmen und ggf. auch Präferenzen zu vergeben, wie das in der Schweiz üblich ist. Die Entscheidung über eine Alternative hat keine Auswirkung auf die Gesamtzustimmung zur Verfassung.

Wenn die doppelte Mehrheit für die Verfassung nicht zustande kommt, ist die Verfassung abgelehnt. Dann muss neu beraten werden.

Kommt die doppelte Mehrheit zustande, so tritt die Verfassung für alle Länder in Kraft. Die Länder, in denen es keine Mehrheit gegeben hat, können entscheiden, ob sie der neuen EU beitreten wollen oder andere vertragliche Beziehungen zur EU aufnehmen wollen.

Der Bürgerkonvent - Arbeitsweise und Bürgerbeteiligung

Der gewählte Konvent bekommt durch die Einberufung und seine Wahl den Auftrag, einen Entwurf für eine EU-Verfassung zu erarbeiten. Es ist dabei wichtig, dass von Anfang an Vertrauen in die Bürger*innen gesetzt wird. Der Konvent kann nur erfolgreich sein, wenn er der Konvent der Bürger*innen Europas ist. Misstrauen gegen die Bürger*innen und ihre Beteiligung führt als Reaktion zu Misstrauen der Bürger*innen gegen die Politik und schadet dem Prozess.

Autonomie

Alle weitergehenden Regeln für die Arbeit sollte der Konvent in öffentlicher Sitzung selbst entscheiden. Allein die Tatsache, dass am Schluss über das Ergebnis in allen Mitgliedsstaaten abgestimmt wird, wird dazu führen, eine für die Bürger*innen verständliche bürgernahe Verfassung zu entwerfen, konsensorientiert zu arbeiten und den Prozess der Bürgerbeteiligung aktiv zu organisieren. Diese Bürgerorientierung kann auch als Lernprozess zwischen dem Konvent, der Zivilgesellschaft und den Bürger*innen organisiert werden, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Eine weitgehende Regelungsautonomie kann diesen Lernprozess erleichtern und befördern.

Kein Zeitdruck

Um eine aktive Bürgerbeteiligung zu ermöglichen, darf die Arbeit im Konvent keinem Zeitdruck unterliegen. Die Entscheidungen dürfen erst nach ausgiebiger Diskussion aller Standpunkte getroffen werden. Zum Beispiel wurde bei der erfolgreichen Verfassungsrevision in Zürich 1999-2005 dem Konvent fünf Jahre Zeit bis zur Vorlage der Verfassung gegeben.

Transparenz

Die Arbeit des Konvents sollte so transparent wie möglich unter intensiver Nutzung der digitalen Medien gestaltet werden. Das Plenum des Konvents sollte grundsätzlich und die Arbeitsgruppen sollten zumindest überwiegend öffentlich tagen. Die öffentlichen Sitzungen sollten in allen Teilnehmerstaaten und allen offiziellen EU-Sprachen von öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten live übertragen werden. Die Entwürfe, Arbeitspapiere und Zwischenstände sollen im Internet einsehbar sein. Anregungen und Eingaben aus der Bevölkerung im Rahmen der Beteiligungsprozesse sollten ebenfalls im Internet einsehbar und ihre Bearbeitung durch den Konvent sollte nachvollziehbar verfolgt werden können.

Bürgerbeteiligung

Anregungen aus der Bevölkerung sollen während des gesamten Beratungszeitraums eingebracht werden können und berücksichtigt werden.

Steuernagel schlägt vor, den aktiven Beteiligungsprozess zyklisch zu organisieren: Nach internen Beratungsphasen folgen dann jeweils Kommunikationsangebote zu den vorgelegten Vorschlägen bzw. Entwürfen. Diese werden dann wieder geprüft und ggf. eingearbeitet und dann erneut diskutiert. So entstehen mehrere Beratungs- und Rückkopplungszyklen.

Dabei sollten Kommunikationsangebote auf unterschiedlichem Niveau gemacht werden. Die folgenden Beispiele mit unterschiedlicher Beteiligungsintensität stammen vor allem aus den Erfahrungen in Mexico City und Zürich:

Bürger*innen können Kommentare im Internet zu vorgelegten Entwürfen abgeben - Online-Editing.[5]

Es werden periodisch Online-Befragungen, Telefoninterviews und Befragungen auf der Straße zum Konventsablauf und zum Inhalt der Verfassung durchgeführt. Die Teilnehmer*innen geben ihre Email-Adresse an und bekommen Rückmeldungen. Während des Beratungen für die Verfassung von Mexico City wurden 45.000 Interviews durchgeführt.

Öffentliche Versammlungen in allen Staaten bzw. Regionen - evtl. auch Beteiligungsforen mit Arbeitsgruppen, die Stellungnahmen erarbeiten.

Schriftliche Stellungnahmen von Einzelpersonen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, Fachverbänden, NGOs und anderen Organisationen.

Offizielle Anhörungen im Konvent von Fachverbänden, NGOs und Lobbygruppen.

Änderungsvorschläge auf Internetplattformen (online-petition-tool), die nach Stichworten selektiert und von anderen unterstützt werden können.

Bei 10.000 Unterstützer*innen werden sie separat publiziert. Der Konvent erarbeitet eine Stellungnahme, die allen Unterstützern zugemailt wird.

Bei 100.000 Unterstützern erhalten die Initiatoren die Möglichkeit, ihre Vorschläge in einem Ausschuss des Konvents selbst zu präsentieren.

Bürgeralternative: Findet ein Vorschlag 1 Million Unterstützer*innen, dann findet eine Konventsdebatte darüber statt, an der die Initiatoren teilnehmen können.[6] Kommt es nicht zur Übernahme des Vorschlags oder zu einem Kompromiss, dann wird der Vorschlag als Alternative bei der Volksabstimmung zur Wahl gestellt.

Bildung von repräsentativ ausgelosten Bürgerforen, die Stellungnahmen erarbeiten.

Diese Stellungnahmen könnten in einem gelosten europäischen Bürgerforum [7] zusammengefasst werden, das Alternativvorschläge zum Konventsentwurf formulieren kann. Kommt es nicht zu einer Übernahme oder einem Kompromiss, können diese als Alternativvorschläge beim Volksentscheid abgestimmt werden. Die Mitglieder des Forums müssten Kosten- und Aufwandsvergütungen bekommen.

Bei allen Beteiligungsprozessen sollte beachtet werden, dass die Bürger*innen, die sich beteiligen, eine inhaltliche Stellungnahme und später eine angemessene Rückmeldung über die Berücksichtigung ihres Vorschlages bekommen.

Ergebnisse und Auswirkungen

Es liegt in der Natur der Sache, dass bei einem offenen Prozess, wie er hier vorgeschlagen wird, die Ergebnisse nicht vorausgesagt werden können. Der folgende Vorschlag erfolgt aber aus der Überzeugung heraus, dass aktive Bürgerbeteiligung von tausenden und hoffentlich hunderttausende Menschen eine Art höherer Vernunft zum Tragen bringt, dass also die Ergebnisse besser sind, als wenn Experten nur unter sich beraten.

Dafür gibt es gute Gründe. Denn die Erwartung einer Volksabstimmung am Ende und die Beteiligung von vielen Menschen führen nach allen Erfahrungen nicht zu faulen Kompromissen, sondern sind oh mutiger und verantwortungsvoller als das, was professionelle Politiker sich trauen, zu formulieren. Gerade die Schweiz als das Land, in dem am häufigsten Volksentscheide den Kurs bestimmen kommt es immer wieder zu überraschenden Entscheidungen, wie die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene, die Finanzierung einer Grundrente für alle vor allem durch die Reichen, oder die Aufnahme des Tierschutz in die Verfassung als erstes Land der Welt. Solche Entscheidungen würden in Deutschland auf massiven Widerspruch und vernichtende Kritiken stoßen - obwohl jeder weiß, dass es dafür große Mehrheiten in der Bevölkerung gibt.

Auch wenn die Ergebnisse nicht vorausgesagt werden können, möchte ich einige Punkte benennen, bei denen ich glauben dass sie im Rahmen einer solchen Diskurses Mehrheiten und Sympathien finden würden:

Demokratie

Ich bin überzeugt davon, dass der Wunsch nach mehr Demokratie eine große Rolle spielen wird. Aber Demokratie bedeutet eben nicht nur Wahlen und daraus resultierend Koalitionen. Demokratie bedeutet starke Instrumente um die Bürger*innen nicht nur bei Wahlen, sondern auch zwischendurch zu beteiligen. Sie bedeutet auch Dezentralisierung der Entscheidungen durch Stärkung der Kommunen und damit der Demokratie vor Ort, Konsensfindung in strittigen Fragen, echte Chancengleichheit und vieles mehr.

Eine solche Verfassung wird mit Sicherheit das Parlament stärken, die Bürgerbeteiligung oder auch die direkte Demokratie ermöglichen bzw. ausweiten und die Konsensfindung in strittigen Fragen befördern. Deswegen denke ich, dass das Ergebnis eines Bürgerkonvents kein Zentralstaat im Sinne Frankreichs oder der USA sein wird, sondern eher eine dezentral organisierte Konsensdemokratie wie die Schweiz.

Verständliche Sprache

Ich bin überzeugt davon, dass ein Bürgerkonvent eine Verfassung vorlegen wird, die nicht nur für die juristische Fachwelt, sondern für viele Menschen in der EU verständlich wird. Mehr Bürgerbeteiligung wird auch dazu führen, dass die Verfassung überschaubarer, besser lesbar, klarer gegliedert und von möglichst geringem Umfang sein wird.

Mögliche Inhalte einer EU-Verfassung

Über die Inhalte einer EU-Verfassung bzw. neuer EU-Verträge wird natürlich der Bürgerkonvent autonom entscheiden. Aber aufgrund der Erfahrungen mit direkter Demokratie spricht alles dafür, dass ein Bürgerkonvent dazu beitragen wird, dass zentrale Themen wie Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Naturschutzes, der Korruptionsbekämpfung und anderen Fragen des Gemeinwohls angemessen in die Verfassung aufgenommen werden - auch wenn damit zu rechen ist, dass starke Wirtschaftslobbys dagegen arbeiten werden.

Fazit

Mit den alten Ideen und Konzepten wird keine Krise zu bewältigen und keine EU der Zukunft zu bauen sein. Die Rückverlagerung aller Kompetenzen auf die Nationalstaaten scheint wenig sinnvoll. Bestimmte Problemstellungen verlangen nach enger internationale Zusammenarbeit, wie zum Beispiel die Themen Menschenrechte, Frieden, soziale und ökologische Mindeststandards oder Verkehr. Alle weiteren politischen Felder müssen nicht, können aber gemeinsam gestaltet werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger dies wünschen.

Sicher ist, dass die Struktur der heutigen Nationalstaaten nicht einfach auf die EU übertragen werden kann. Dagegen sprechen etwa die fehlende oder eingeschränkte europäische Öffentlichkeit sowie die Tatsachen, dass es kein "europäisches Volk", kaum europaweite Medien, keine lebendigen europäischen Parteien und eine unterentwickelte europäische Zivilgesellschaft gibt. Hinzu kommen die Probleme durch die Sprachenvielfalt.

Wirklich demokratieschädigend aber ist die derzeitige Praxis, immer mehr Kompetenzen von den schon zunehmend undemokratischen Nationalstaaten auf die noch undemokratischere EU zu verlagern. Die Kontrolle der Macht wird noch schwieriger, der Lobbyeinfluss ungleich größer, die Exekutive noch dominanter. Hinzu kommt ein typisches Problem großer Staatsgebilde mit Zentralgewalt: Zentralistische Lösungen werden heterogenen Verhältnissen und unterschiedlichen Lebensrealitäten kaum gerecht.

Ein demokratischer Bürgerkonvent ist nur eine Idee, um die schwierige Aufgabe der Demokratisierung der EU zu bewältigen. Wenn es zu einem Konventsverfahren kommt, muss gewährleistet sein, dass es sich um mehr als eine Schein-Beteiligungs-Veranstaltung handelt, nach der eine Verfassung bzw. neue EU-Verträge letztlich zur Ratifizierung durch die Parlamente gedrückt werden, Die große Chance eines fair gestalteten Konventsverfahrens liegt auf der Hand: Indem wir die Weisheit und die Kreativität der Vielen nutzen, indem wir das Beste in den handelnden Menschen ansprechen, durch konsequent demokratische Verfahren werden wir bei der Weiterentwicklung der transnationalen Demokratie vorankommen.


Anmerkungen

[1] Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2016

[2] Thomas Raines, Matthew Goodwin und David Cutts: Europa - ziehen wir (noch) an einem Strang? Was Bevölkerung und Eliten wirklich über die EU denken - eine repräsentative Umfrage. Europa Programm Forschungsbericht, Juni 2017

[3] Armin Steuernagel: Emotional Ownership (Citizens Emotional Constitution Making Process) - Lessons from Philadelphia, Reykjavik, Mexico City and Zurich. April 2017

[4] Bei der Verabschiedung der Verfassung der USA 1787 trat diese nach Ratifizierung durch Volksabstimmungen in neun von dreizehn Staaten in Kraft Die anderen Staaten traten teilweise erst Jahre später bei. Durch ein solches Verfahren haben Staaten, die dagegen votieren, kein Veto - was für die Abstimmung ein wichtiges Argument sein kann. Das Problem war nämlich, dass - ähnlich wie heute in der EU - in den meisten Staaten die Parlamente der neuen Verfassung zustimmen mussten, und in vielen Staaten lokale Politiker nicht bereit waren, Kompetenzen an eine Zentralregierung abzugeben. Deshalb setzten die Befürworter einer starken Zentralregierung im Konvent in mehreren Kampfabstimmungen durch, dass nicht die Parlamente, sondern extra dafür gewählte Verfassungskonvente - also praktisch die Bevölkerung selbst - über die neue Verfassung abstimmen sollte, und diese in Kraft treten sollte, wenn mindestens 9 von 13 Staaten dieser zustimmen würde.

[5] Dieses Verfahren hat in Mexico City nicht funktioniert, da es keine ausreichende Rückkopplung gab.

[6] In Mexico City (9 Millionen Einwohner) bekamen ab 5000 Unterzeichnern alle Unterzeichner eine ausführliche Analyse des Vorschlages. Ab 10.000 konnte der Petent seinen Vorschlag 3 Mitgliedern der drafting group präsentieren. Ab 50.000 (4 Petitionen) konnte der Petent seinen Vorschlag dem Bürgermeister präsentieren.

[7] Gute Erfahrungen mit einer gelosten Versammlung gab es bei der erfolgreichen Verfassungsänderung in Irland 2015, wo die Mehrheit des Konvents nicht gewählt sondern aus normalen Bürgern ausgelost wurde

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Quelle:
Gegenwind Nr. 347 - August 2017, Seite 66 - 71
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2017

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