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GEGENWIND/739: Buchvorstellung - Ein unermüdlicher Kämpfer


Gegenwind Nr. 350 - November 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Buchvorstellung
Für eine antifaschistische Erinnerungskultur:
Ein unermüdlicher Kämpfer

von Holger Czitrich-Stahl und Siegfried Prokop


Jörg Wollenberg blickt auf Spurensuchen und Spurensicherungen als Lebenswerk zurück

Jörg Wollenberg wurde ausgerechnet am 30. Januar 1937 geboren und feierte 2017 seinen 80. Geburtstag. Er kann auf ein arbeitsreiches Leben als unermüdlicher Kämpfer für eine demokratische und antifaschistische Erinnerungskultur zurückblicken. Geboren wurde er 1937 im ostholsteinischen Ahrensbök. Hier wurde er 1945 Augenzeuge des Todesmarsches von Auschwitz-Häftlingen.


Dieses Erlebnis bestimmte fortan sein politisches, wissenschaftliches und pädagogisches Leben. Er hat nie aufgehört, den Spuren des verbrecherischen NS-Systems nachzugehen, sie aufzudecken und zu sichern. Damit gehört Wollenberg zu den wichtigen Aufklärern unserer Zeit über die finstersten Jahre der deutschen Geschichte und ihrer furchtbaren Folgen für die Welt. Dieses immerwährende Forschen, auch auf dem Gebiet der Arbeiterbewegung und der Arbeiterbildung, führte ihn nach Bielefeld und nach Lage/Lippe, nach Nürnberg und schließlich an die Uni Bremen, wo er von 1978 bis zu seiner Emeritierung 2001 wirkte. Sein aufklärerisches Wirken wurde u.a. vom Marxismus Rosa Luxemburgs beeinflusst und führte ihn mit prominenten Kollegen wie Wolfgang Abendroth, Arno Klönne, Walter Fabian, Jürgen Kuczynski, Karl Heinz Roth oder Hermann Glaser zusammen. Dieser Einfluss schlägt sich in einer Fülle von Veröffentlichungen zur Geschichte der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung, zur politischen Bildung sowie zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nieder. Einiges ist von der "Oral history" beeinflusst, denn das Schicksal der "kleinen Leute" ließ Jörg Wollenberg nicht links liegen. In seinem Geburtsort Ahrensbök bei Lübeck trug er wesentlich zur Errichtung einer Gedenkstätte zum Todesmarsch der Auschwitz-Häftlinge bei. In dem Doppelband sind Beiträge aus den letzten 50 Jahren versammelt. Sie dokumentieren Wollenbergs geschichtspolitisches und pädagogisches Engagement in der Weiterbildung und als Grenzgänger der deutschen Zeitgeschichte. Unter Einbeziehung von Zeitzeugen als Subjekte der Aufklärung und am Beispiel von Exkursionen und Auslandsreisen werden Etappen und Fehlwege der deutschen Geschichte vorgestellt und kommen Konzepte und Hoffnungen für ein "anderes" Deutschland zu Wort.

Der Doppelband ist anspruchsvoll gestaltet, in großem Format (240 x 297 mm) und mit zahlreichen farbigen Abbildungen und in Hard Cover - Fadenbindung. Ergänzt wird er durch eine DVD mit weiteren Beiträgen und Filmauszügen. Arbeiterveteranen aus Bremen, die nach 1945 am Aufbau des Landes beteiligt waren, kommen zu Wort. Resigniert heißt es in einem dieser Interviews aus dem Jahre 1983: "Das ist nicht das Deutschland, für das wir gekämpft haben." (S. 9)

In den beiden anspruchsvoll und farbig gestalteten, mit unzähligen Fotos, Presseartikeln und Dokumenten illustrierten Bänden bietet uns der Verfasser einen Überblick über sein Schaffen während der vergangenen 50 Jahre. Der 1. Band trägt den Titel "Krieg der Erinnerungen. Von Ahrensbök über New York nach Auschwitz und zurück." Wie er in seinem eigenen Vorwort klarstellt, plädiert Jörg Wollenberg angesichts neuer rückwärtsgewandter Interpretationen zum Faschismus oder zum I. Weltkrieg für eine "neue Ermittlung". Damit knüpft er an Peter Weiß und Alfons Söllner an. Die öffentliche Verarbeitung des "Sündenfalls" von 1933 erzeugt noch immer Kontroversen. Die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg, erlebt seit den "Schlafwandlern" rückwärtsgewandte Interpretationen, die die Erinnerungsschlachten um den 8. Mai 1945 übertreffen.

Wollenberg ist ein zutiefst standsicherer Gegner der Relativierung der NS-Verbrechen ebenso wie der Gleichsetzung von Faschismus und realem Sozialismus. Er beschreibt treffend die neue vergangenheitspolitische Wende in der Bundesrepublik mit den Denkfiguren von den "zwei Diktaturen", die das Land nach dem Untergang der DDR zu bewältigen hat: die Gleichsetzung von Hitler und Stalin und damit die Relativierung der Verbrechen der Nazis. Es sei kein Zufall, dass nach der "Epochenwende von 1989/90" der Traum vom starken Staat und von der vereinten homogenen Nation erneut Köpfe und Herzen eroberte und sich aktuell in beängstigenden Wahlergebnissen für eine deutschnational-völkische AfD niederschlägt.

Die Singularität des NS-Regimes und seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit steht für ihn nicht ein Iota zur Disposition, ebenso wenig wie die demokratisierende historische Rolle der Arbeiterbewegung, besonders dann, wenn sie einig handelte. In diese sozialistische Tradition einer pluralistisch-demokratischen und zugleich klassenkämpferisch bewussten Arbeiterbewegung gehört Jörg Wollenberg. Deshalb konfrontiert er uns mit der NS-Vergangenheit seines Heimatortes Ahrensbök, mit dem Todesmarsch von Auschwitz, mit Reisen in die Ukraine, nach Polen, Paris oder Kuba. Dass der ehemalige UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim erhebliche braune Flecken durch seine Tätigkeit als Nachrichtenoffizier der Wehrmacht in Griechenland besaß, dokumentiert Wollenberg mit Nachdruck. In diese bewusste Geschichtsvergessenheit der herrschenden Politik passt umstandslos die außenpolitische Hinwendung der geeinten Bundesrepublik Deutschland seit der Ära Kohl zu einer aggressiveren Politik.

Schon am 30. Juni 1995 ergab sich auf dem Experimentierfeld Balkan die Möglichkeit, sich das dritte Mal im 20. Jahrhundert als "kriegsverwendungsfähig" zurück zu melden. Zu den hier angebotenen Themen breitet Wollenberg ein überaus reichhaltiges Material aus, worauf in diesem Rahmen nicht detailliert eingegangen werden kann. Aber hervorheben möchten wir den "Anhang 1: Die 'roten Kapos' - auch im Kulturbereich 'rotlackierte Nazis' und 'willige Vollstrecker' der SS?" Befragt wurde im Februar 2008 ein bedeutender Zeitzeuge, der ehemalige Buchenwaldhäftling Stéphane Hessel, dem durch einen riskanten Identitätstausch das Leben gerettet wurde. Auf dem Aktenblatt des Häftlings Nr. 10 0003 steht: "Gestorben am 20.10.1944". Verbrannt wurde aber nicht die Leiche von Hessel, sondern die des an Typhus verstorbenen Michel Boitel, dessen Identität nun Hessel als Deckname benutzte. Hessel beschreibt die Rolle der Funktionshäftlinge äußerst differenziert. Den "roten Kapos" blieb letztlich keine Wahl - sie mussten "ein Gleichgewicht zwischen großer Menschlichkeit und großer Brutalität" herstellen. (S. 257) In Buchenwald gelang es, dass die kriminellen (grünen) Häftlinge in den Kapo-Funktionen von den politischen (roten) Häftlingen verdrängt werden konnten. Aus der Sicht von Hessel war dies ein großer Vorteil.

Neben weiteren Spurensuchen der NS-Verbrechen führt uns der Autor in die Zeit des Spanischen Bürgerkriegs von 1936-1939, wo uns der junge Willy Brandt und andere Freiwillige auf Seiten der Republik begegnen, aber auch Kämpfer, die ihr Leben verloren. Die den Texten an die Seite gestellten Fotos und Dokumente vertiefen den Eindruck, am Beispiel Spaniens auch das bedrückende Gefühl der Niederlage, Verfolgung und der lange verweigerten Vergangenheitsbewältigung. Wie auch andere Projekte fand dieses den Weg in die Öffentlichkeit; Wollenberg trug seine Recherchen und Informationen zusammen als Ausstellung, als Veranstaltungsreihe der Volkshochschule, als Sommerschule usw., um seinem eigenen Anspruch an Volks- und Weiterbildung Rechnung zu tragen. Seine immer wieder aufgenommene Erinnerungsarbeit zum Spanischen Bürgerkrieg wird eindrucksvoll und vielfältig dokumentiert.

In seinem Vorwort zeichnet Karl Heinz Roth die Spurensuche von Wollenberg nach, die diesen in einen "Krieg der Erinnerungen" hineinführte. Er findet die aus Anlass des 80. Geburtstages vorgelegte Synthese von Forschung, von pädagogischem Impuls und politischer Publizistik beeindruckend. Wollenberg habe eine Antwort auf die Hypotheken der Elterngeneration gefunden, die keineswegs leicht war und ihm auch keineswegs immer nur Zustimmung einbrachte. Wollenberg geht auch auf einen vergessenen Historikerstreit in der DDR ein. Jürgen Kuczynski hatte 1957 das Buch "Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie" veröffentlicht, das in der DDR eine heftige Kontroverse auslöste. Er wies an Hand von zugänglichen Akten und Presseberichten nach, dass auch die Linken in der noch geeinten SPD die Kriegsgefahr nicht rechtzeitig einschätzten und es im August 1914 versäumt hatten, die Notwendigkeit einer Trennung und Gründung einer gereinigten, marxistischen Partei zu erkennen. Unter denen, die Kuczynski widersprachen, war auch Alfred Meusel mit seinen "Kritischen Betrachtungen zu dem Buch von J. Kuczynski". Der Akademie Verlag stellte wegen der "Revisionismus"-Bezichtigung den Vertrieb des Buches ein. Der Autor des Lehrbuch-Bandes 9 (Deutschland 1897/98-1917) Fritz Klein erwähnte Kuczynskis Buch mit keinem Wort, was sich "gelernte DDR-Bürger" erklären können. Warum aber übersah "Schlafwandler"-Autor Christopher Clark das Buch des "linientreuen Dissidenten"?

Band 2 formuliert "Die andere Erinnerung. Spurensicherung eines widerständigen Grenzgängers". Dabei handelt es sich stärker als im ersten Band um seine kritische Interventionen in laufende Debatten, um Versuche, bedeutende, aber leider vergessene Vertreter der Arbeiterbewegung der Amnesie der Nachgeborenen zu entreißen, aber auch um Reflexionen eines "Grenzgängers" und - so schreibt er selbst über sich - eines "Außenseiters der Zunft" der Historiker, zumal als Linkssozialist und Antifaschist. Er erweist Ada und Theodor Lessing, Arno Klönne, Walter Fabian, aber auch unbekannteren Opfern des Faschismus seine Referenz. Am Beispiel der "Führerstadt" Nürnberg wird die systematische staatliche Eskalation der Judenverfolgung im Kontext der "Arisierung" der Wirtschaft, auch als "Entjudung" in der Sprache des Bösen dekretiert, dem heutigen Leser vor Augen geführt: Insgesamt befanden sich um 1930 583 von 2374 Unternehmen in Nürnberg in jüdischer Hand, rekonstruierte Wollenberg. Mindestens 230 davon wurden "arisiert", es fehlen allerdings vielfach Dokumente, die die Dunkelziffer erhellen könnten. Darunter befanden sich Unternehmen der Fahrradindustrie wie "Hercules", oder Werke wie "Camelia", die der Quelle-Chef Schickedanz "übernahm". Auch die späteren Warenhäuser "Hertie" und "Kaufhof" aus dem Hause Tietz fielen der Arisierung anheim, die in Nürnberg besonders scharf und niederträchtig durch den NS-Gauleiter und "Stürmer"-Herausgeber Julius Streicher vorangetrieben wurde. Dies wurde ihm sogar nach geltendem Nazi-Unrecht als Willkür ausgelegt und beendete dessen Karriere im Faschismus. Die Perspektive der Opfer der NS-Terrorpolitik gegenüber den deutschen Juden repräsentieren die ausgewerteten Tagebücher des Hamburger Rechtsanwalts und Kunsthistorikers Kurt Fritz Rosenberg (1900-1977), die ebenfalls im 2. Band angesprochen werden. Wie ein aufklärerischer Philosoph wie Theodor Lessing bereits 1925 von rechtsstehenden Kollegen wie Max Scheler, Eduard Spranger oder Edmund Husserl als "verderblich" für die Erziehung der Jugend angesehen wurde, was ihm 1926 die Lehrtätigkeit kostete, gehört sowohl zu den Auswüchsen einer deutschnationalen akademischen Hauptströmung, die 1933 vielfach ihren Weg in den NS-Staat fand, als auch zur Vorgeschichte der Machtübertragung an Hitler.

Die dem 2. Band beigelegte DVD enthält neben zahlreichen Dokumentationen seiner Ausstellungen, Videobeiträge und Rundfunksendungen zahlreiche Textbeiträge, die teils unveröffentlicht sind bzw. in den Textbänden nicht berücksichtigt werden konnten. Eigentlich bildet sie den dritten Band der Erinnerungsedition und steht stärker unter dem Eindruck der Methoden der "Oral history". Das macht ihren besonderen dokumentarischen Wert aus. Wie schreibt Karl Heinz Roth in seinem Vorwort über Jörg Wollenberg: "Das Ziel der Erwachsenen- und Arbeiterbildung sind selbstbewusste, mündige und kritikfähige Menschen, die sich dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichtet wissen und entsprechend handeln". Jörg Wollenbergs 2-bändige Erinnerungen sollten uns ein Lehrbuch sein. Der Doppelband stellt ein gelungenes Werk dar. Ihm sind zahlreiche Leser zu wünschen.


Jörg Wollenberg, Krieg der Erinnerungen - Von Ahrensbök über New York nach Auschwitz (Band 1). Sujet-Verlag, Bremen 2016, 313 Seiten, 40 Euro bei Bestellung beim Verlag.

Jörg Wollenberg, Die andere Erinnerung - Spurensicherung eines widerständigen Grenzgängers (Band 2). Sujet-Verlag, Bremen 2017, 356 Seiten plus DVD, 50 Euro.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 350 - November 2017, Seite 20 - 22
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2017

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