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GEGENWIND/744: Vor 100 Jahren - "Hoch der Massenstreik! Auf zum Kampf"


Gegenwind Nr. 352 - Januar 2018
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Vor 100 Jahren
Kiel, Januar 1918: "Hoch der Massenstreik! Auf zum Kampf!"

von Günther Stamer


Nach der erfolgreichen Oktoberrevolution in Russland beschloss der 2. Sowjetkongress am 8. November 1917 das "Dekret über den Frieden". In ihm wird die Fortsetzung des Weltkrieges als "das größte Verbrechen an der Menschheit" angeklagt und allen kriegsführenden Völkern und Regierungen wird vorgeschlagen, sofort Verhandlungen über einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen aufzunehmen. Das Dekret wandte sich somit nicht nur an die Regierungen sondern auch an die Bevölkerungen der am Krieg beteiligten Länder und forderte sie auf, in ihren Staaten entschlossen für die Beendigung des Krieges zu kämpfen.


Tatsächlich nahm die deutsche Regierung das Angebot der Sowjetregierung an und am 3. Dezember wurden in Brest-Litowsk Verhandlungen aufgenommen, die Mitte Dezember in ein Waffenstillstandsabkommen mündeten. Mitte Januar 1918 legte die deutsche Delegation der Sowjetregierung dann ihre Forderungen für eine Beendigung des Krieges vor: Von Russland sollten Polen, Litauen, ein Teil Belorusslands, die Ukraine sowie Teile Estlands und Lettlands abgetrennt werden. Statt eines militärischen Sieges setzte das kaiserliche Deutschland jetzt auf einen diplomatischen "Raubfrieden" im Osten um alle verfügbaren Kräfte auf den Westen zu konzentrieren.

Als Reaktion auf dieses Manöver verstärkten die Linken in Deutschland ihre Agitation unter den Arbeiter*innen für einen "gerechten Frieden". Die Spartacus-Gruppe (Liebknecht/Luxemburg) innerhalb der USPD orientierte in ihren "Spartacus-Briefen" auf die Beendigung des Weltkrieges durch den revolutionären Sturz von Kaiser und Kapital auf dem Wege politischer Massenaktionen und Massenstreiks. Im Spartacus-Brief vom Januar 1918 heißt es. "Der allgemeine Friede lässt sich ohne Umsturz der herrschenden Macht in Deutschland nicht erreichen. Nur im offenen Massenkampfe um die politische Macht, um die Volksherrschaft und die Republik in Deutschland, lässt sich jetzt das erneute Auflodern des Völkermordens und der Triumph der deutschen Annexionisten im Osten und Westen verhindern. Die deutschen Arbeiter sind jetzt berufen, die Botschaft der Revolution und des Friedens vom Osten nach dem Westen zu tragen."

Ende Januar 1918 kam daraufhin im gesamten Deutschen Reich zu Streiks und Aktionen für die Beendigung des Krieges - so auch in Kiel.

Am 25. Januar traten etwa drei Viertel der Belegschaft der Friedrichsorter Torpedo-Werkstätten in den Streik. Diesem Streik schlossen sich die Beschäftigten der Kieler Germania-Werft und weiterer Kieler Rüstungsbetriebe an. Am 29. Januar versammelten sich etwa 30.000 Arbeiter zu einer politischen Kundgebung auf dem Wilhelmsplatz - und das gegen den erklärten Willen von Gewerkschafts- und SPD-Seite, die nach wie vor an ihrer "Burgfriedenspolitik" festhalten wollten. Reichsweit beteiligten sich über eine Million Arbeiter*innen an diesen Aktionen. Am 30./31. Januar erreichte die Bewegung in Berlin ihren Höhepunkt. Daraufhin verhängten die Militärbehörden den verschärften Belagerungszustand über Berlin und stellten die größten Rüstungsbetriebe unter militärische Leitung.

Otto Preßler aus Kiel erinnert sich

Otto Preßler, Jungarbeiter auf der Germaniawerft Kiel, seit 1914 Mitglied der SPD und Leser der "Spartacus-Briefe", erinnert sich: "Im August 1914 standen uns die Haare zu Berge, als wir unsere 'Schleswig-Holsteinische Volkszeitung' ins Haus bekamen. Da stand alles andere drin als das, was wir gelernt hatten von den Alten im Betrieb und in der Organisation. Wir waren doch zu Antimilitaristen erzogen worden. Aber am 5. August stand in der 'Volkszeitung': 'Es ist berechtigt und es ist notwendig und es ist gut, wenn Deutschland sein Schwert zieht. Entweder untergehen, nachdem wir das letzte gewagt haben oder siegen und ganz Europa befreien, das ist nunmehr die Losung. Wir wollen den Frieden. Aber die Franzosen wollen ihn nicht. Und darum müssen sie jetzt mit harten Schlägen niedergezwungen werden. Ist das geschehen, so soll die ganze Stoßkraft des Verteidigungskrieges gegen die Halbmongolen im Osten sich richten.' Wir hörten von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, vor allem Liebknechts Reichstagsrede im Dezember 1914. Und wir haben rebelliert. Daraufhin hat uns der sozialdemokratische Parteivorstand in Kiel ein 'Regulativ' vorgelegt. Wir durften nicht gegen die Kriegspolitik eintreten. Zuwiderhandlungen hätten ein Hausverbot in den Jugendheimen zur Folge."

Da Otto Preßler regelmäßig die "Spartacusbriefe" las, wirkte er trotz der Drohungen der rechten SPD-Führung weiter im antimilitaristischen Sinne unter seinen Arbeitskollegen auf der Werft und unter den Kameraden, denn auch er wurde Mitte 1915 eingezogen und musste "ins Feld".

Unmittelbarer Anlass der Kieler Streiks in den Rüstungsbetrieben Ende Januar 1918 war die Einberufung mehrerer Vertrauensleute zum Heer. Am 29. Januar versammelten sich 30.000 Kieler Arbeiter zu einer Kundgebung auf dem Wilhelmsplatz. Auf dieser Kundgebung klang schon der Wille zur revolutionären Veränderung durch. Es wurde der Ruf erhoben, dem Beispiel der Arbeiter in Russland zu folgen und auch in Kiel Räteorganisationen zu bilden. Dieser Vorschlag wurde mit großer Begeisterung angenommen und es wurde der erste Kieler Arbeiterrat gebildet.

Als politisches Sammelbecken der kriegsablehnenden Linken hatte sich in Kiel die USPD herausgebildet. Sie umfasste Anfang 1918 etwa 1.000 Mitglieder, was ziemlich genau der Zahl entsprach, die die SPD an Mitgliedern verloren hatte. Die Ordnungsmacht reagierte auf die Gründung der Parteiopposition umgehend und verhaftete die führenden Genossen bzw. zog sie zum Kriegsdienst ein. Das hatte zur Folge, dass ein großer Teil der führenden Kieler USPD-Funktionäre gar nicht unmittelbar an der Kieler Novemberrevolution beteiligt waren. Allerdings stellte die USPD mit Lothar Popp und Karl Artelt die Vorsitzenden des Kieler Soldatenrates. Karl Artelt war im März 1917 einer der Streikführer auf der Germaniawerft gewesen und dafür zu sechs Monaten Haft verurteilt worden - anschließend hatte man ihn zum Militär eingezogen und für sechs Monate nach Flandern geschickt. Seit dem Frühjahr 1918 war er aber wieder in Kiel und wurde als Spezialist zur Torpedowerkstatt nach Kiel-Friedrichsort abkommandiert und sollte auf die kommenden Ereignisse des Jahres 1918 in Kiel entscheidenden Einfluss nehmen.


Anmerkung

(1) Otto Preßler wurde 1919 Vorsitzender der Kieler KPD und ein bekannter Betriebs- und Gewerkschaftsfunktionär. Nach der Befreiung vom Faschismus wurde er KPD-Ratsherr in Kiel und Abgeordneter der ersten beiden schleswig-holsteinischen Landtage. Vgl. Detlef Siegfried, "Ich war immer einer von denen, die kein Blatt vor den Mund nahmen!" - Kontinuitäten und Brüche im Leben des Kieler Kommunisten Otto Preßler. In: Jahrbuch Demokratische Geschichte IV, Kiel 1989

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Quelle:
Gegenwind Nr. 352 - Januar 2018, Seite 4 - 5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2018

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