Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GEGENWIND/753: Die Anfänge der Republik - Was geschah vor 100 Jahren in Kiel?


Gegenwind Nr. 356 - Mai 2018
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Buchvorstellung
Die Anfänge der Republik
Was geschah vor 100 Jahren in Kiel?

von Reinhard Pohl


Nein, die Ereignisse an der Westfront, in Berlin, in Wilhelmshaven und selbst in München waren vermutlich für die erste deutsche Republik bedeutender als die Ereignisse in Kiel. Aber die Proteste in Kiel, die Bildung der ersten Soldatenräte zündeten in ganz Deutschland. Deshalb ist es schon berechtigt, der einen Woche im November ein Buch zu widmen.

Kiel war am Ersten Weltkrieg direkt nur wenig beteiligt. Die Flotte, die zur einzigen großen Seeschlacht in die Nordsee auslief, startete in Wilhelmshaven. Auch die U-Boote waren eher dort stationiert. Russland führte in der Ostsee keinen großen Krieg.

Indirekt war Kiel wie alle Städte erheblich vom Krieg betroffen. Das betraf vor allem die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Brennstoff, die immer schlechter wurde und immer schlechter war als von der Regierung immer wieder versprochen. Auch nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches, als Deutschland eine "unabhängige Ukraine" als Brotkammer des Reiches einrichtete, hingen dort fünfmal so viele Truppen fest wie geplant, und es kamen nur zehn Prozent der Nahrungsmittel nach Deutschland. Man war zwar bereit, die dortige einheimische Bevölkerung, formell Verbündete, in Massen verhungern zu lassen, allein die Kapazitäten und organisatorischen Fähigkeiten reichten nicht aus.

Die Unruhen in Kiel begannen, nachdem erste Meutereien und Proteste in Wilhelmshaven mühsam unter Kontrolle gebracht werden konnten, auch mit Todesurteilen und Hinrichtungen, und in aller Eile Schiffe und Einheiten nach Kiel verlegt wurden. Die hier eintreffenden Schiffe waren voll mit unzufriedenen Matrosen, die ihre Offiziere absetzen wollten - aber meistens ohne Plan und ohne Führung zunächst verlangten, Offiziere in der Freizeit oder beim Landgang nicht mehr grüßen zu müssen. Sie verlangten die Freilassung der Gefangenen - außer denen, die sich "unehrenhaft" verhalten, also zum Beispiel Lebensmittel gestohlen hatten. Was heute "Revolution" genannt wird, war im Alltag oft viel kleinkarierter als es heutzutage vorstellbar ist.

Aber die andere Seite war auch nicht besser: Schon bei Kleinigkeiten sah man das Reich in Gefahr, schon die Forderung nach gemeinsamen Essen (Offiziere bekamen eigentlich was Besseres) glaubte man, nur mit dem Einsatz von Waffen reagieren zu können. "Rot" wurden die Matrosen genannt, die im Dienst noch militärisch grüßen wollten, in der Freizeit allerdings nicht mehr.

Der Hauptteil des Buches besteht aus der Chronologie der Ereignisse vom 1. bis 10. November in Kiel. Die Soldaten rebellierten gegen die Offiziere, zunächst um die Ausfahrt der Flotte in den Untergang zu verhindern, dann um den verlorenen Krieg auch offiziell zu beenden. In dieser Zeit begannen auch die Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten zu wirken, die die Mobilisierung eines großen Teils der deutschen Armee und damit auch der Marine forderten.

Zwar kam mit Gustav Noske ein SPD-Reichtagsabgeordneter als Vertreter der Reichsregierung nach Kiel und übernahm den Vorsitz des Arbeiter- und Soldatenrates, aber einen Plan gab es in Berlin nicht. So wurde angeordnet, Einheiten aus Neumünster oder Altona nach Kiel in Marsch zu setzen, um die Proteste niederzuschlagen, das wurde wieder abgeblasen. Man wusste auch nicht, ob die entsandten Truppen tatsächlich auf Seiten der Regierung oder der meuternden Matrosen gekämpft hätten. In Kiel war die Situation sehr uneinheitlich, die Soldaten bei den Gefängnissen hatten mehrmals gemeinsame Sache gemacht und Gefangene Matrosen freigelassen. Man setzte in Kiel dann mehr darauf, Matrosen aus der Reichsmarine zu entlassen und nach Hause zu schicken - was die Situation aus Sicht der Reichsregierung in Kiel entspannte, vor allem weil es bei den Räten tägliche Wechsel in der Führung gab, aber die Informationen wurden dadurch reichsweit von den rückkehrenden "Zivilisten" verbreitet, der Gedanke an die Absetzung des Kaisers und die Ausrufung der Republik von Kiel aus reichsweit verbreitet.

Letztlich passierte in Kiel relativ wenig Gewalt, es gab wenig Tote und Verletzte - im Gegensatz zu Berlin oder München. Auf den ersten Blick blieb auch nicht viel nach, die Verhältnisse wurden weitgehend restauriert, wenn auch nur in einer sehr kleinen Marine der neuen Republik. Die führenden Militärs beteiligten sich denn auch in Kiel am "Kapp-Putsch" im März 1920.

Auch später, darum geht es im letzten Kapitel, taten sich viele schwer mit den Ereignissen. Noch 70 oder 80 Jahre später sah die Kieler CDU die Matrosen nicht als diejenigen an, die den verheerenden Krieg beendet und ein letztes Kriegsverbrechen verhindert haben, sondern als "Meuterer", denen kein Denkmal gesetzt werden dürfte - erst jetzt sehen alle demokratischen Parteien das entspannter und können den Beitrag der Matrosen in Kiel zu Demokratie und Republik einigermaßen ruhig diskutieren.


Martin Rackwitz: Kiel 1918. Revolution - Aufbruch zu Demokratie und Republik.
Wachholtz Verlag, Kiel/Hamburg 2018, 303 Seiten, 19,90 Euro

*

Quelle:
Gegenwind Nr. 356 - Mai 2018, Seite 75
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
E-Mail: redaktion@gegenwind.info
Internet: www.gegenwind.info
 
Der "Gegenwind" erscheint zwölfmal jährlich.
Einzelheft: 3,00 Euro, Jahres-Abo: 33,00 Euro.
Solidaritätsabonnement: 46,20 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang