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GEGENWIND/857: Buchbesprechung - Russlands Traum. Anleitung zum Verständnis einer anderen Gesellschaft


Gegenwind Nr. 377, Februar 2020
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

BUCH
Verstehen führt zu Verständnis

Reinhard Krumm: Russlands Traum. Anleitung zum Verständnis einer anderen Gesellschaft

von Reinhard Pohl


In vielen Zusammenhängen wird über das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland diskutiert. Mal geht es um Energielieferungen, mal um Manöver, mal um Asyl, mal um Staatsbesuche. Das verwundert nicht: Beide Länder haben eine lange gemeinsame Geschichte, oft verbündet, aber das wird heute natürlich überlagert vom Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten 1941 und dem Kalten Krieg. Der Autor will uns die russländische Gesellschaft erklären, damit das Verständnis einfacher wird.

Der Autor, zeitweise als SPIEGEL-Korrespondent in Moskau, zeitweise Leiter des dortigen Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, stellt uns Russland in drei Abschnitten vor: Zunächst geht es um das "Zarenreich", dann um das "Rätereich", dann um das "Präsidentenreich". Eingerahmt werden die drei thematischen Kapitel von einer Einleitung und einem Ausblick.

Das erste Kapitel beginnt am 1. Januar 1700 und beschreibt die russische Gesellschaft und ihre Veränderungen bis 1917. Bei allen Diskussionen um Mitbestimmung ging es der Zarin oder dem Zaren stets nur um die winzig kleine Schicht von Adligen, nie um das Volk. Dafür gab es immer die Expansion nach Osten: Die Einheimischen dort konnten von russischen Siedlern verdrängt werden, das russische Militär sicherte die neu gewonnenen Gebiete, und weiter weg von Moskau oder St. Petersburg hatte man dann nicht mehr so schrecklich viel mit dem Zaren zu tun. Nur mit den örtlichen Adligen und Militärs hatte man sich rumzuschlagen, und natürlich musste man Steuern bezahlen. Zwei Drittel der Steuereinnahmen nutzten die Zaren für das Militär, das war tatsächlich der wesentliche Inhalt des Staates. Bauern und ihre Söhne mussten auch Militärdienst leisten, teilweise wollten sie es auch, Adlige waren davon befreit. Dass viel weniger Geld für die Verwaltung ausgegeben wurde, hatte über Jahrhunderte drastische Folgen: Russische Staatsbeamte konnten eigentlich nie von ihrem Gehalt leben, sondern mussten für jede Dienstleistung, jede Erlaubnis, jede Entscheidung von den Bürgerinnen und Bürgern Geld nehmen. So etablierte sich ein System, das bis heute funktioniert: Wer was will, bezahlt. Das ist nach mehreren hundert Jahren, in denen es funktionierte, schwer abzuschaffen.

Das führt aber auch dazu, dass viele russische Bürgerinnen und Bürger vom Staat nicht viel erwarten, anders als wir. Man verlässt sich auf sich selbst und hofft, dass der Staat sich nicht einmischt. Wenn es etwas nicht gibt, organisiert man es, aber man protestiert nicht. Viele Erwartungen von hier aus funktionieren deshalb in Russland nicht so, genauso wie umgekehrt. Das ist sicherlich nicht nur in Russland so, aber das Buch dreht sich ja darum, mehr über das Land zu erfahren und zu verstehen.

Erst ab 1905 überlegte der Zar, das zu verändern, das Volk in Entscheidungen einzubeziehen, Parteien zuzulassen. Aber er hatte schon verloren, die große Mehrheit wollte keinen Zar mehr. Die Menschen wollten einen sozialen Staat, Mitbestimmung und vieles mehr - aber der Zar stand für das Gegenteil.

1917 wollte ein neuer Staat entstehen, aber es dauerte bis 1923: Erst einen Bürgerkrieg und unvorstellbare 23 Millionen Tote später entstand die Sowjetunion, die die bisherigen zentralasiatischen Kolonien des Zaren zu formell gleichberechtigten Sowjetrepubliken machte. Es entstand aber keine Herrschaft des Volkes, sondern eine Herrschaft Stalins. Die Umorganisation des Staates verlief teils katastrophal, auch weil für Planungsfehler der Führung immer "Verantwortliche" gesucht wurden, die durch Lagerhaft oder Massenhinrichtungen für fremde Fehler im wahrsten Sinne den Kopf hinhalten mussten. Das Verhältnis der Menschen zu Staat blieb distanziert, bis zwei Entwicklungen aus der Sowjetunion einen modernen Staat machten: Die Einführung eines flächendeckenden Schulsystems, in dem dann bis in die 1960er Jahre eine neue Generation heranwuchs. Und der Zweite Weltkrieg, in dem sich die Sowjetunion gegen eine tödliche Bedrohung wehren musste, was die Parteiführung unter Stalin dazu zwang, mit allen geselischaftlichen Gruppen Kompromisse zu schließen, das betraf Kirche, Arbeiter oder auch Bauern, ebenso alle Nicht-Russen.

So gab es tatsächlich eine große Trauer, als Stalin starb. Auch diejenigen, die unter seiner Herrschaft gelitten hatten, hielten jemanden wie ihn für notwendig, denn es gab ja keinerlei Tradition mit Demokratie, Wahlen und gewählten Regierungen. Dennoch entschloss sich die Führung zu einer "Entstalinisierung" und baute einen normalen Staat auf, zwar autoritär regiert, aber mit dem Versuch, einerseits der Bevölkerung mit dem Wohnungsbau und der Versorgung mit Konsumgütern ein Mindestmaß an Staatlichkeit zu bieten, andererseits mit Projekten wie der Atombombe oder der Weltraumfahrt auch reichlich Identifikationsmöglichkeiten mit der Moderne, einer Sowjetunion, auf die man auch stolz sein konnte.

Problem blieb, dass der Staat die Gewalt und die Kriminalität nie in den Griff bekam, leugnete und überspielte - die Bevölkerung aber wusste, dass etwas vorgetäuscht wurde. Außerdem war unübersehbar, dass der Fortschritt langsamer kam als in anderen Gesellschaften. Letztlich funktionierten die Reformen, die Andropow anstieß und Gorbatschow versuchte umzusetzen nicht - die Menschen wollten die Sicherheit der Sowjetunion, das geregelte Leben behalten, aber ohne die Nachteile, dass der Staat sie nicht versteht oder nicht verstehen will. So wurde aus den Reformen letztlich ein Zusammenbruch, beschleunigt wurde der Niedergang durch den falsch geplanten Krieg in Afghanistan.

Russland wurde wieder auf sich selbst reduziert und von Präsident Jelzin, ab 1999 von Präsident Putin regiert. Die Jelzin-Zeit ist bei den meisten heute in schlechter Erinnerung. Zwar gab es Demokratie und Meinungsfreiheit, aber extreme Unsicherheit, und nichts funktionierte - außer der unverschämten Bereicherung weniger, die sich das "Volksvermögen" im frisch ausgerufenen Kapitalismus aufteilten. Ein Problem waren und blieben die rund 25 Millionen Russinnen und Russen, die außerhalb der neuen Russländischen Föderation lebten und teils heute noch leben. Jelzin ließ sie zurückkehren, während Putin heute ihre Existenz nutzt, um in die Nachbarländer als "Schutzherr der russischen Minderheit" hineinzuregieren.

Während 1992 für die meisten Einwohnerlnnen laut Umfragen die "Freiheit" am wichtigsten war, erkämpft und erhalten werden sollte, war es 1999 eher die soziale Sicherheit - nach Jahren des Chaos wollten die Menschen wieder funktionierende Behörden, Schulen und Universitäten, regelmäßige Renten- und Lohnzahlungen. Putin organisierte das, nutzte die Zustimmung aber, um die Freiheiten Schritt für Schritt einzuschränken. Das betraf nicht nur die Meinungsfreiheit im Fernsehen, im Internet und der Öffentlichkeit. Das betraf auch die Rechte der einzelnen Republiken, sich ihren Präsidenten und andere Repräsentantinnen und Repräsentanten selbst zu wählen - heute werden alle wieder aus Moskau eingesetzt.

Wie groß die Unterstützung für Putin heute ist, ist natürlich schwer feststellbar, weil die Leute bei Umfragen das sagen, was das Urnfrageinstitut hören will. Die Mehrheit scheint mit der sozialen Sicherheit, finanziert durch den zeitweiligen Höhenflug der Ölpreise, zufrieden zu sein. Allerdings kämpft die Regierung natürlich mit der Auswanderung gut Gebildeter. Unwillen erregt auch der große Unterschied zwischen Reichen und Armen, aber die Proteste blieben immer städtisch.

Man muss nicht mit allem, was der Autor denkt, übereinstimmen. Aber er kennt das Land und macht auf viele Punkte aufmerksam, die man so nicht in den Medien findet, sondern nur bemerkt, wenn man lange dort gelebt hat.


Reinhard Krumm: Russlands Traum.
Anleitung zum Verständnis einer anderen Gesellschaft.
Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2019,
133 Seiten, 16,90 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 377, Februar 2020, Seite 61-62
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2020

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