Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GEHEIM/276: Zuerst Caracas, dann Havanna - westliche Strategie gegen ALBA


GEHEIM Nr. 2/2010 - 20. Juli 2010


DESTABILISIERUNG
Zuerst Caracas, dann Havanna
Die westliche Strategie gegen ALBA will mit dem Umsturz in Venezuela einen Dominoeffekt auslösen

Von Ingo Niebel

Hurra, Fidel ist wieder da! So oder so ähnlich berichteten die Mainstream-Medien und auch viele linke Medien hierzulande über das Interview mit dem Comandante der kubanischen Revolution, Fidel Castro, das Kubas Staatsfernsehen am 12. Juli 2010 übertrug. Sein Auftritt schien die Nachricht zu sein, aber nicht das, was er zu sagen hatte. An dieser Stelle trafen sich die Befindlichkeiten bürgerlicher wie so mancher linker Medienmacher: Kleidung und Aussehen schienen wichtiger zu sein als Fidels Warnung vor einer sich anbahnenden nuklearen Aggression gegen den Iran und der sich zuspitzenden Lage zwischen Nord- und Südkorea. Der Revolutionär blieb seiner Linie treu und trat erneut für das Lebensrecht der iranischen Bevölkerung ein, indem er die USA als globalen Aggressor identifizierte. "Die USA spielen nicht sauber und sagen niemals die Wahrheit", erinnerte der Politiker.

Zwei Tage später schlug Venezuelas Präsident Hugo Chávez in dieselbe Kerbe, indem er einerseits an den US-israelischen Truppenaufmarsch im Persischen Golf erinnerte und andererseits auf die Konzentration von US-Einheiten in Costa Rica hinwies.

Beiden Staatsmännern gemeinsam ist, dass sie nicht vor einer hypothetischen Gefahr warnen, sondern auf nachprüfbare Tatsachen hinweisen, da ihr Gegenspieler USA gerade seine Armeen in der Karibik und im Mittleren Osten in Stellung bringt. Der potentielle Angriff auf den Iran, der das Nuklearprogramm der Regierung von Mahmud Ahmadinedschad stoppen soll, bedingt aus militärischer Sicht ein gleichzeitiges Vorgehen zumindest gegen Caracas, das mit Teheran eng verbunden und gleichzeitig einer von Washingtons wichtigsten Öllieferanten ist.

Vor diesem Hintergrund kommt den Umsturzplänen Washingtons und seiner europäischen Helfershelfer besondere Bedeutung zu. Zwei Varianten stehen zurzeit zur Auswahl, die sich im Notfall gegenseitig ergänzen können. Die erste sieht den "Regimewechsel" über die venezolanischen Parlamentswahlen am 26. September 2010 vor. Aber da deren Erfolgsaussichten nicht sonderlich sind, gibt es noch die Gewaltoption: Sie reicht von Anschlägen vor und während des Wahlkampfes bis zur mehr oder minder offenen militärischen Intervention. Alle diese Möglichkeiten werden im folgenden beleuchtet.


Strategische Konzeption der Reconquista

Mit dem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten von Honduras, Manuel "Mel" Zelaya, haben die USA im Juni 2009 gemeinsam mit ihren Verbündeten - dazu zählen die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) und die FDP-gesteuerte Friedrich Naumann Stiftung (FNS) - das gewaltsame Rollback der linken Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA) eingeleitet. Der nächste Kandidat auf der Abschußliste ist das ALBA-Mitglied Nicaragua. Hier bereitet die FNS mit ihren (zerstrittenen) liberalen Partnerorganisationen vor Ort das Putschklima vor. Der verantwortliche FNS-Leiter, Christian Lüth, der schon den Staatsstreich gegen Zelaya mitgetragen hat (GEHEIM berichtete), schießt jetzt offen gegen den sandinistischen Präsidenten Daniel Ortega (FSLN): "Auf dem Weg zum Wahlbetrug" heißt sein jüngster "Bericht aus aktuellem Anlass". Hinter dem Angriff auf Nicaragua verbirgt sich das strategische Ziel, zuerst die revolutionäre Regierung in Caracas und dann die in Havanna zu Fall zu bringen.

In seiner Analyse über den Zustand der kubanischen Innenpolitik nach dem Tod eines "Dissidenten" schrieb der ehemalige mexikanische Außenamtssekretär und Dozent für Lateinamerika-Studien an der University of New York, Jorge Castañeda, am 13. April 2010 in der spanischen Tageszeitung El País: "Die Steppe ist trocken. Der Zündfunke, wenn auch klein, ist da. Die Feuerwehrleute sind erschöpft. Und der einzige Rettungsring - der in Caracas liegt - kann in jedem Augenblick untergehen. Diese Verbindung von Faktoren erscheint einzigartig in der Geschichte des Castrismus. Es kann eine weitere Stichflamme sein oder der Anfang vom Ende".

Diese Einschätzung teilt auch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Weniger poetisch als Castañeda urteilt der Leiter des FES-Büros für Kuba, Uwe Optenhügel, der in Santo Domingo residiert, im Juli 2010: "Die selbst kreierte Abhängigkeit von Venezuela könnte sich dabei als Irrweg erweisen. Zwar hat sie dem politischen Regime eine Verschnaufpause verschafft. Für die ökonomische und soziale Entwicklung bedeutete sie aber einen Rückschritt." Warum das so sein soll, läßt der Sozialdemokrat offen. Wichtiger als dieses Detail ist die strategische Bedeutung, die Akademiker westlicher Denkfabriken Venezuela zumessen.


Spanische und deutsche Stiftungen gegen Venezuela

Ende Juni 2010 wies die US-venezolanische Journalistin Eva Golinger auf den Venezuela-Report der spanischen Stiftung Fundación para las Relaciones Internacionales y el Diálogo Exterior (FRIDE) hin. Dabei handelt es sich um einen Think Tank, der der spanischen Regierung, den beiden führenden Parteien des Landes sowie den Großen aus Wirtschaft und Industrie zuarbeitet. Von ihrer Bedeutung her ist die FRIDE vergleichbar mit der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die die Bundesregierung in außenpolitischen Fragen berät und Fachpersonal aus den Ministerien und der Bundeswehr weiterbildet. Die Verfasserin des FRIDE-Reports ist die deutsche Lateinamerika-Expertin Susanne Gratius, die für fünf Jahre von der SWP an die spanische Stiftung gegangen ist. Offensichtlich war ihr Report so brisant, dass die FRIDE ihn ganz schnell vom Netz nahm, als Golingers Artikel begann, im Internet zu zirkulieren. Gratius beschreibt sehr detailliert, wie US-Einrichtungen, die EU, die KAS und die FES "zivilgesellschaftliche" Gruppen in Venezuela finanzieren und im Kampf gegen die Regierung ausbilden. Allein aus den USA fließen jährlich 40-50 Millionen US-Dollar in die Bolivarianische Republik. Als besonders spendabel gilt dabei das Open Society Institute (OSI) des US-Milliardärs George Soros, der auch schon die "bunten Revolutionen" in Osteuropa mitfinanziert hat. Angesichts dieser Summen erscheinen die 500.000 Euro der KAS geradezu lächerlich, aber neben den US-Behörden wie USAID und NED gehört sie zu "Hauptpartnern der politischen Parteien". Zu letzteren zählt Gratius die Putschistenparteien von 2002 - Primero Justicia und COPEI - die beide mit der KAS kooperieren und die "sozialdemokratisch" ausgerichtete Un Nuevo Tiempo (UNT). Das Potential der FES sieht sie in der Zusammenarbeit mit der öffentlichen Verwaltung, obwohl sie an anderer Stelle festhält, dass die SPD-nahe Stiftung als "Verräterin" linker Ideale angesehen wird. "Verglichen mit der extremen Zentralisierung des Chavismus ist die Opposition höchst zersplittert und auf mehr als 30 politische Parteien verteilt", schreibt sie weiter. Gratius' Fazit lautet wörtlich: "Ohne ein stärkeres internationales Engagement könnte die politische Situation in Venezuela in einem autoritären, Chávez-zentrierten Regime enden oder in offenen Protesten gegen sein Regime".

Denselben Grundtenor verbreitet der KAS-Vertreter in Caracas, Georg Eickhoff, in seinem im Juni erschienenen Länderbericht "Venezuela 100 Tage vor der Parlamentswahl". Wie gewohnt vergreift sich der Christdemokrat im Ton, indem er den venezolanischen Präsidenten in die Nähe der deutschen Nazis von 1933 rückt. So spielt er mehrere Szenarien durch, bei denen sich Chávez durch unlautere Mittel die politische Macht als "Diktator" sichert. Dem "tyrannischen Goliath" stellt er den "demokratischen David" gegenüber, der das "Wunder" verbracht haben will, 40 Parteien und deren Anwärter auf die insgesamt 165 zu vergebenen Abgeordnetenmandate zu vereinen. Heraus kam die Mesa de Unidad Democrática (MUD, Tisch der Demokratischen Einheit). Sicherheitshalber tituliert Eickhoff das neue Wahlgesetz schon mal als "Autobahn zum Wahlbetrug" bei dieser "Entscheidungswahl von historischer Bedeutung", wie manche seiner Oppositionsfreunde meinen. Immerhin kommt der Deutsche nicht umhin einzugestehen, dass Chávez' Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV) die angepeilten zwei Drittel der Mandate (110 Sitze) erringen könnte. Hierfür würden 55 Prozent der abgegebenen Stimmen reichen. Für den potentiellen PSUV-Sieg macht Eickhoff vorab die "wenig vertrauenswürdige Wahlbehörde" verantwortlich und "weil die in Venezuela extrem verbreitete Abhängigkeit von staatlicher Beschäftigung und von Transferzahlungen die Loyalität der Bevölkerung zu ihrem politischen Führer in Krisenzeiten sogar noch stärken kann".


Linker Pessimismus

Sehr viel pessimistischer als diese beiden Gegner der Bolivarianischen Revolution sieht der stellvertretende Leiter der internationalen Kommission der DKP mit dem Schwerpunkt "Lateinamerika", Günter Pohl, in seiner Analyse "Rückkehr der Rechten" die Zukunft des Karibikstaates: "Die Parlamentswahlen in Venezuela verheißen auch nicht viel Gutes - über den Umstand hinaus, daß die Rechte ohnehin in das Parlament zurückkehrt, für das sie 2005 nicht angetreten war". Und weiter meint er: "Das rechte Rollback wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen, wenn nur die konsequenteren Kräfte (wie Bolivien) ihrer Wählerschaft das bieten, was diese erwartet hatte."

In den Chor der Unkenrufe stimmte auch der in Mexiko lebende deutsche Universitätsprofessor Heinz Dieterich ein. Eine linke deutsche Tageszeitung zitierte ihn mit den Worten: "Venezuela und Kuba sind die Schwachstellen". Er argumentiert: "Die offiziellen Massenorganisationen sind hier emotional nach wie vor sehr stark an den Präsidenten gebunden; haben keine klassenbewußte Struktur, wie es zum Beispiel unter Allende bei den Chilenen der Fall war, oder wie es in Kuba der Fall ist." Weiter führt Dieterich aus: "Die andere Schwachstelle ist Kuba, denn dort fließen drei Krisen zusammen. Das Problem der Nachfolgegeneration ist nicht gelöst. Es gibt eine sehr starke ökonomische Krise, die zum Teil - wie in der Landwirtschaft - selbstverschuldet ist [...]. Das dritte Problem besteht darin, dass es zwei Entscheidungszentren gibt, auf der einen Seite Fidel, auf der anderen Seite Raúl. Das paralysiert Reformen, die man bräuchte."

Ungeklärt bleibt Dieterichs Verortung in der aktuellen politischen Landschaft und sein Verhältnis zu den revolutionären Führungen der ALBA-Staaten. In Venezuela, Bolivien und auch Ecuador konnte er sein Modell des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" nicht umsetzen. Aus Kuba erhielten seine Sozialismus-Vorstellungen und die von ihm in Deutschland angeregte "Nachfolgedebatte" heftige Kritik. Hinzu kommt, dass er Ende 2007 eine Lanze für Chávez' ehemaligen Kampfgefährten Raúl Baduel brach, als dieser sich gegen die Verfassungsreform stellte und ins Lager der Opposition wechselte. Kurz zuvor hatte der Ex-Militär noch für Dieterichs venezolanische Ausgabe von "El socialismo del Siglo XXI" die Einleitung verfasst. Das antikubanische Exil ehrte den General a.D. mit einem Preis, den dieser persönlich entgegennahm. Zurzeit sitzt Baduel eine mehrjährige Freiheitsstrafe wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder ab. Bisher ist nicht bekannt, dass sich Dieterich öffentlich von ihm distanziert hätte.

Zum Credo des Deutschen gehört es seit Ende 2007, die Apokalypse der ALBA-Staaten zu prophezeien: "Es ist möglich, dass die Regierungen von Hugo Chávez und Evo Morales die Brandungen der Reaktion im Jahr 2008 nicht überleben und dass sich das kubanische Modell 2009-2010 erschöpfen wird, wenn man nicht sofort realistische Mittel ergreift", schrieb er in seinem Aufsatz "Derrota estratégica en Venezuela; peligro mortal para Bolivia y Cuba" (Strategische Niederlage in Venezuela; Todesgefahr für Bolivien und Kuba), nachdem Chávez mit seiner Verfassungsreform gescheitert war. In der Kontinuität dieses Denkens stehen Dieterichs jüngste Äußerungen. Sie entsprechen zwar auch den Vorstellungen Castañedas und der FES, aber nicht den Fakten: Chávez siegte 2009 eindeutig beim zweiten Verfassungsreferendum und Morales wurde im selben Jahr mit 64 Prozent der Stimmen klar wiedergewählt.

Kryptisch erscheint die Bemerkung des Lateinamerika-Verantwortlichen der DKP, wonach die Parlamentswahlen in Venezuela nichts Gutes verhiessen. Meint er damit, dass seine venezolanische Schwesterpartei PCV nach dem 26. September 2010 mit weniger als den bisherigen acht Parlamentariern in der Asamblea Nacional vertreten sein könnte? An anderer Stelle war in linken Publikationen zu lesen, dass, auch wenn die Opposition in Umfragen momentan leicht vorne läge, Prognosen kaum möglich wären. Außerdem sei die Beteiligung an den Parlaments- und Kommunalwahlen in Venezuela deutlich geringer als etwa dann, wenn es um einen neuen Präsidenten ginge. Die letzte Aussage stimmt zwar, aber die Ergebnisse der vergangenen Wahlgänge und Abstimmungen - unter Ausschluss der Präsidentenwahl - können sehr wohl als Maßstäbe herangezogen werden, um sich gegen jede Art der Fehl- und Desinformation zu wappnen.


Venezolanische Maßstäbe

Die erste Messlatte für die Bewertung einer Wahl stellt die Beteiligung dar. Für die Jahre 1998-2004 schwankte diese bei fünf landesweiten Wahlen und Abstimmungen zwischen 38 und 67 Prozent. Im Durchschnitt beteiligten sich 53 Prozent der Stimmberechtigten; 47 Prozent machten von ihrem Recht keinen Gebrauch. Den absoluten Ausreißer stellt die Parlamentswahl von 2005 dar, als nur 25 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne schritten, während 75 Prozent zu Hause blieben. Der Grund hierfür war die überraschende Entscheidung der Oppositionsparteien, nicht an dem Wahlgang teilzunehmen. Eine Topbeteiligung zeigte sich hingegen bei der Präsidentschaftswahl 2006 mit knapp 75 Prozent. Beide Wahlen gelten aufgrund verschiedener Umstände als Extrembeispiele für eine niedrige beziehungsweise hohe Teilnahme.

Im Dezember 2007 beteiligten sich wieder 56 Prozent der Wahlberechtigten am Referendum über die Verfassungsreform. Bei den Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen im November 2008 lag die Teilnahme bei 65 Prozent, beim Referendum über die Verfassungsreform im Februar 2009 stieg sie auf 67 Prozent. Als Maßstab für die Wahlbeteiligung gilt also die Spanne zwischen 56 und 67 Prozent, wobei der Durchschnitt bei 62 Prozent liegt.

Des Weiteren muss man beachten, dass der Wahlzensus von 11 Millionen (1998) auf 16 Millionen (2007) und jetzt auf knapp 17,8 Millionen Stimmberechtigte für die Parlamentswahl 2010 gestiegen ist. Das geht auf ein besseres Melderegister und das Interesse der Regierung Chávez zurück, mehr Menschen am politischen Entscheidungsprozess zu beteiligen.

Die zweite Messlatte ist das Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Opposition. Beim Verfassungsreferendum 2007 unterstützten 4,4 Millionen Wähler die Exekutive (49,3%) und 4,5 Millionen (50,7%) ihre Gegner. Bei den Regionalwahlen 2008 verzeichneten die Regierungsparteien einen Zugewinn von 1,1 Millionen auf insgesamt 5,5 Millionen Stimmen (58%). Davon entfielen etwa 10 Prozent auf mit der PSUV verbündete Parteien. Die Opposition konnte 3,9 Millionen Stimmen (41,7%) auf sich vereinigen. Dieser Trend setzte sich auch beim Verfassungsreferendum 2009 fort, als das Regierungslager 6,3 Millionen Wähler (54,9%) hinter sich bringen konnte, während die Gegenseite nur 5,2 Millionen Stimmen (45,1%) erhielt. Somit lässt sich als durchschnittliches Kräfteverhältnis für den Zeitraum 2006-2009 festhalten: 5,4 Millionen Wähler für Chávez' Koalition zu 4,4 Millionen die Mesa Unidad Democrática. Für beide Lager sind das Mittelwerte.

Vor diesem Hintergrund muss die Opposition einen Vorsprung von einer Million Stimmen aufholen. Wie soll das gelingen? Die MUD ist nach wie vor alles andere als eine geordnete Organisation noch besitzt sie das Programm und den Politiker, der es rhetorisch wie inhaltlich mit Chávez aufnehmen könnte. Des Weiteren verfügt die bolivarianische Regierung trotz des gesunkenen Ölpreises über genügend Mittel, um ihre Sozialpolitik fortzuführen. Der Opposition ist es bisher nicht gelungen, in ihren Bundesstaaten eine praktikable Alternative vorzustellen und so aus den zweifellos vorhandenen Problemen und Pannen der Regierung politisches Kapital zu schlagen. Hinzu kommt, dass die PSUV sich anstrengt, die Wählerschaft zu mobilisieren. Das ist eine Lehre aus der Niederlage 2007 und den regionalen Wahlschlappen von 2008. Außerdem hat die Asamblea Nacional ein neues Wahlgesetz verabschiedet, das die sozialen Gegebenheiten berücksichtigt und die bevorzugte Behandlung der von Reichen bewohnten Wahlkreise beendet.

Selbstverständlich werden die Opposition und ihre ausländischen Unterstützer versuchen, jeden gewonnenen Sitz propagandistisch auszuschlachten. Die mögliche Niederlage wird sie der angeblichen "Repression" und dem "Wahlbetrug" per Wahlgesetz zuschreiben. In der rechten Neuen Züricher Zeitung (NZZ) vom 15. Juli 2010 liest sich das so: "Die Opposition andererseits müsste wohl deutlich mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um die Hälfte der Sitze zu erringen." Und über die Aussichten liest man: "Meinungsforscher sprechen von einer rückläufigen Popularität des Präsidenten, doch scheint diese immer noch bei über 50 Prozent zu liegen." Die Aussichten in Caracas einen "Regimewechsel" im Sinne der USA und EU über die Wahlurnen durchzuführen, sind keineswegs erfolgsversprechend. Also könnte Washington in Absprache mit seinen Verbündeten versucht sein, die militärische Karte zu spielen.


Parallele Kriegsvorbereitungen

An dieser Stelle gewinnen Fidels Warnungen vor einem Krieg des Westens gegen den Iran wieder an Bedeutung. Im Gegensatz zur DKP, die den US-gesteuerten KPs des Irak und des Iran, der Tudeh-Partei, die Stange hält, macht der Kubaner keinen Hehl, auf wessen Seite er steht: "Ahmadinedschad ist nicht unbedacht - man kann mit ihm übereinstimmen oder auch nicht - aber er ist nicht unbedacht". Die tatsächliche Ursache für die aktuelle Kriegsgefahr verortet er in "dem Einfluss, den der Staat Israel auf die USA hat. Ein Land, das in wenigen Jahren zur Atommacht wurde". Im November 2009 erzählte Chávez, Fidel habe ihm aufgetragen: "Sag Ahmadinedschad, nach Venezuela zu reisen sei das Gleiche, wie nach Kuba zu kommen, weil es das gleiche Vaterland ist, deshalb heiße ich dich [Ahmadinedschad, IN] auch in Kuba willkommen" (s. FAZ, 27.11.2009).

Für die Hardliner der US-Außenpolitik, die seit über 50 Jahren versuchen, die kubanische Revolution gewaltsam zu beenden, kommen solche Äußerungen einer Kriegserklärung gleich, die sie entsprechend beantworten.

Daher ist es kein Zufall, dass sie zum einen den Handlanger des antikubanischen Verbrechertums, Francisco Chávez Abarca, nach Caracas reisen liessen. Anfang Juli ging der salvadorianische Gewalttäter den venezolanischen Sicherheitsbehörden auf dem internationalen Flughafen Maiquetía ins Netz. Abarca gab zu, ein Handlanger des antikubanischen Massenmörders Luis Posada Carriles, der für den Anschlag auf eine kubanische Verkehrsmaschine verantwortlich ist, zu sein. Er gestand im Verhör, wie Videomitschnitte belegen, dass er nach Venezuela kam, um vor und während des Wahlkampfes "das Chaos vorzubereiten". Das wollte er erreichen mit "Unruhen in den Straßen" oder indem er "eine politische Partei angriffe, damit das auf eine andere fiele". Abarcas Eingeständnis bestätigt die Kriegsspiele US-amerikanischer und deutsch-französischer Kreise, vor denen GEHEIM-Autor Ingo Niebel bereits unmittelbar nach den Gouverneurswahlen 2008 nach Hinweisen aus gutinformierten Quellen zuerst in zwei spanischen Artikeln ("24 N o la intervención a la europea en Venezuela ( 24. November oder die Intervention auf Europäisch in Venezuela) u. "Guerra de extranjeros en la casa venezolana" (Krieg der Ausländer im venezolanischen Haus) und dann in GEHEIM (s. Heft 25(2009)1) gewarnt hat.

Wenige Tage nach der Verhaftung von Chávez Abarca und seiner Auslieferung nach Kuba nahmen die venezolanischen Sicherheitskräfte den bekannten Oppositionellen, Alejandro Peña Esclusa, fest. Sein abgeschobener Kumpan hatte ihn verraten. Bei der Durchsuchung von Peñas Haus fand die Polizei ein Kilogramm des hochexplosiven Sprengstoffes C4. Der Venezolaner gehört zum gewaltbereiten Flügel der Opposition. Er verfügt über enge Verbindungen zu rechtsextremen Politikern in Bolivien, Italien und den USA. Peña gründete die von der KAS unterstützte Partei Primero Justicia (s. Artikel von Jean-Guy Allard in diesem Heft) mit und nahm 2002 am Putsch gegen Chávez teil. In der Folgezeit organisierte er unter dem Schutz der katholischen Kirche gewalttätige Aktionen in Venezuela.

Zum anderen führt das Pentagon die militärische Einkreisung der ALBA-Staaten fort. Nach der Erdbebenkatastrophe auf Haiti im Januar 2010 entsandte Washington 20.000 schwerbewaffnete Soldaten auf das zerstörte Eiland, das an der Westküste Kubas liegt. Im Juli gestattete der Kongress von Costa Rica die Anlandung von 7000 US-Soldaten. Sie gehören zu einer maritimen und autonom operierenden Kampfgruppe, die nebst U-Booten und Flugzeugen 48 Kriegsschiffe umfasst. Angeblich soll die US-Einheit humanitäre Aktionen und Operationen gegen den Drogenhandel durchführen. Wenige Tage später protestierte Caracas, weil ein holländisches Militärflugzeug mehrfach versucht hatte, unerkannt in den venezolanischen Luftraum einzudringen. Das ist ein typisches Verhalten, um die Luftverteidigung eines potentiellen Gegners zu testen. Die Niederlande unterhalten Militärbasen auf den Karibikinseln Aruba und Curaçao, die nur 80 km Luftlinie von Venezuela entfernt liegen. Den Haag gestattet den USA, dort vorgeschobene Operationsbasen zu unterhalten. Seit 2009 baut das US-Militär sieben Stützpunkte in Kolumbien aus, das eine 2000 km lange Grenze zu Venezuela hat. Diese Maßnahmen erhöhen die Kriegsgefahr auch auf dem südamerikanischen Kontinent, wie Golinger in ihrem Beitrag "Massive US-Militärpräsenz in Costa Rica" schreibt (s. Internetseite von GEHEIM). Das aktuelle Gesamtszenario bestätigt die Aussage, die GEHEIM im Juli 2009 traf: "Wer auf den Iran zielt, hat auch Libanon, Venezuela und ALBA im Visier".


*


Quelle:
GEHEIM Nr. 2/2010, 20. Juli 2010, Seite 24-27
Copyright bei der Redaktion und den Autoren
Redaktion: GEHEIM-Magazin,
c/o Michael Opperskalski (v.i.S.d.P.)
Postfach 270324, 50509 Köln
Telefon: 0221/283 99 95, 283 99 96
Fax: 0221/283 99 97
E-Mail: redaktion-geheim@geheim-magazin.de
Internet: www.geheim-magazin.de

GEHEIM erscheint viermal im Jahr.
Einzelheft: 4,30 Euro
Jahresabo: 19,40 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2010