Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GLEICHHEIT/3001: George Eliot - Zum 150. Jahrestag der Veröffentlichung ihres Romans "Adam Bede"


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

George Eliot:

Zum 150. Jahrestag der Veröffentlichung ihres Romans Adam Bede

Erster Teil

Von David Walsh
3. April 2010
aus dem Englischen (30. Dezember 2009)


2009 jährte sich zum 150. Mal die Erstveröffentlichung des bahnbrechenden Werkes Die Entstehung der Arten von Charles Darwin. Zu Recht wurde dieser Jahrestag weithin festlich begangen.

Marx, der die Bedeutung dieses Buches sofort erkannte, veröffentlichte im selben Jahr seine Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Das Vorwort dazu enthält die berühmte Zusammenfassung der materialistischen Geschichtsauffassung, die mit den Worten beginnt: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen..."

Auch Charles Dickens' Eine Geschichte von zwei Städten und Iwan Gontscharows Oblomow erschienen in diesem Jahr. Gustave Courbet war der anerkannte, wenn auch umstrittene Kopf der damaligen Malerei des Realismus. Er organisierte ein Großes Fest des Realismus in seinem Pariser Studio und schrieb zwei Monate später einem Freund, der "Realismus wird derzeit sehr angegriffen ... wir müssen neue Kräfte sammeln und alles tun was uns möglich ist."

Anfang 1859 wurde auch der Roman Adam Bede der Schriftstellerin George Elliot veröffentlicht und wir wollen, bevor das Jahr 2009 zu Ende geht, diesen verdientermaßen würdigen.

Die zahlreichen Eliot-Biografien sind ebenso wie der Adam Bede (1) leicht verfügbar, aber manche Details über die Autorin und ihren ersten Roman möchte ich besonders betonen.

Anatoli Lunatscharski, ein bemerkenswerter Literaturkritiker und nach der Oktoberrevolution Volkskommissar für Bildung, bemerkte einst, es sei natürlich eine gute Sache, als Genie geboren zu werden, "das Wichtigste jedoch ist es, zur richtigen Zeit geboren zu werden" und fügte Goethes Bemerkung hinzu: "zwanzig Jahre früher oder später geboren worden, wäre ich ein ganz anderer Mensch geworden."

Eliot (1819-1880) lebte zur selben Zeit wie Marx (1818-1883). Beider Leben wurde - auf verschiedene Weise und unter verschiedenen Bedingungen - durch bedeutende Entwicklungen der Naturwissenschaft, der technologischen Grundlagen der Gesellschaft, der Herausbildung der großen Industrie und durch bedeutende Entwicklungen in der Kultur und Kunst jener Zeit beeinflusst.

Eliot, deren bürgerlicher Name Mary Ann oder Marian Evans lautete, wurde in Englands West Midlands, in Warwickshire, geboren. Ihr Vater war ein für seine gewissenhafte Arbeitsweise und seine feste konservative politische Haltung bekannter Gutsverwalter. Mary Anns Intelligenz fiel früh auf und sie erhielt Zugang zur Gutsbibliothek. Als Jugendliche stand es ihr in der Schule weitgehend frei zu lesen, was sie wollte - sie verschlang Bücher, unter anderem Sir Walter Scotts Romane.

In ihren späten Teenagerjahren war sie stark vom evangelikalen Protestantismus beeinflusst und widmete mehrere Jahre ernsthaften, religiösen Studien. Sie lehnte in jenen Jahren Unterhaltung ab, auch das Lesen und Theaterbesuche versagte sie sich. Ihre religiöse Begeisterung nahm schließlich jedoch ab und sie las dann unter anderem alles von Byron, Shelley, Coleridge, Southey und vor allem Wordsworth.

Nachdem Mary Ann mit ihrem Vater 1841 in ein Haus bei Coventry gezogen war, eröffneten sich ihr vielfältigste intellektuelle Einflüsse. Es lag infolge der Depression von 1841 - 1842 und durch den Einfluss der Chartisten spürbar etwas in der Luft der Gesellschaft. Mary Ann war dadurch empfänglich für neues Ideengut, darunter jenes von Charles und Caroline Bray, die zu ihren engen Freunden wurden. Charles Bray war Textilfabrikant und ein unabhängig denkender Mensch. Er war unter anderem mit dem utopischen Sozialisten Robert Owen bekannt und mit dem amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson. Beiden stellte er Mary Ann vor, die inzwischen ihre Kirchenbesuche eingestellt hatte. Ihr Biograph, Gordon S. Haight, schrieb, sie sei rasch "aus provinzieller Isolierung in die Welt der Ideen" eingetaucht.

Ihre intellektuelle Entwicklung war schnell und außergewöhnlich. Als gewissenhafte Studentin fremder Sprachen begann sie 1843 das im Deutschen 1835 erschienene Buch Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß zu übersetzen. Dieses damals bahnbrechende, linkshegelianische Werk lehnte die übernatürlichen und wundertätigen Elemente des christlichen Evangeliums ab und bezeichnete sie als Mythologie. Das Buch half Friedrich Engels (1820-1895) seine christliche Haltung abzulegen und gab ihm, wie er sagte, den "ersten Anstoß" für den zeitgenössischen, philosophischen Kampf gegen die Religion.

"Zwei Jahre lang", so Haight, "arbeitete Mary Ann an der Übersetzung der fünfzehnhundert auf Deutsch verfassten und mit Zitaten aus dem Lateinischen, Griechischen und Hebräischen versehenen Seiten ... für ihre Arbeit erhielt sie 20 Pfund. Wenige Bücher des neunzehnten Jahrhunderts hatten einen tiefgehenderen Einfluss auf das religiöse Denken Englands."

Inzwischen las Eliot alles Mögliche, französische Schriftsteller - wie beispielsweise Rousseau, den utopischen Sozialisten Saint-Simon und die "skandalöse" Autorin George Sand -, die sogar einige ihrer progressiv denkenden Freunde schockierten. Im März 1848 begrüßte sie den Beginn der Revolution in Frankreich und drückte ihre Verachtung für den gestürzten Louis-Philippe aus. Sie weigerte sich, gefühlsduselig über einen "verzärtelten alten Mann" zu schreiben, wo es auf der Erde "Millionen hungriger Seelen und Körper" gibt.

Für England hatte sie jedoch keine Hoffnung auf eine Revolution. Hier wäre "eine revolutionäre Bewegung nur destruktiv - nicht konstruktiv. Außerdem würde sie niedergeschlagen werden ... Es gibt in unserer Verfassung nichts, wodurch das allmähliche Voranschreiten der politischen Reform behindert wird. Das ist alles was gegenwärtig möglich ist ... wir Engländer sind langsame Schnecken."

1851 zog sie um nach London mit dem Ziel, dort unter dem Namen Marian Evans eine professionelle Schriftstellerin zu werden. Beruflich und privat machte sie die Bekannschaft von John Chapman, der bald darauf Inhaber der Westminster Review wurde, eines führenden Journals für Politik und Kultur. Evans wurde Redakteurin dieses Blattes, redigierte Artikel und veröffentlichte darin viele ihrer eigenen Essays und Kritiken. Das Journal publizierte maßgebliche Betrachtungen über politische und soziale Reformen, über die britische Politik und die Weltpolitik, über Geschichte, Philosophie, Wissenschaft und Literatur. In jeder der 10 Ausgaben der Westminster Review, die Evans herausgab, rezensierte sie annähernd 100 Bücher.

In das Londoner Büro der Westminster Review kamen verschiedenste Persönlichkeiten des intellektuellen und kulturellen Lebens. Der Naturforscher Edward Forbes, der Biologe und Paläontologe Richard Owen auch der Biologe Thomas Huxley, der sich später entschlossen auf die Seite Darwins stellte. Unter den amerikanischen Besuchern befanden sich der Verleger Horace Greeley und der Dichter Cullen Bryant.

Haight schreibt weiter, dass es "in London von Flüchtlingen der Revolution von 1848 wimmelte, viele von ihnen wurden durch dieses Zentrum des aufgeklärten Radikalismus angezogen. Karl Marx kam durch Chapmans Freund Andrew Johnson ins Büro ... es gibt keine Aufzeichnungen über ein Zusammentreffen mit Marian. Aber sie traf einen weiteren Freund Johnsons, den revolutionären Dichter Ferdinand Freiligrath, der nach London kam, um Marx zu treffen." Evans sprach auch mit dem exilierten französischen reformistischen Sozialisten Louis Blanc und dem italienischen nationalistischen Führer Giuseppe Mazzini. Unter anderem hatte sie auch mit Charles Dickens, Herbert Spencer und Wilkie Collins Kontakt.

Anfang der 1850-er Jahre hatte "George Eliot" das Glück George Henry Lewes ( 1817-1878 ) kennenzulernen. Haight schreibt über den ehemaligen Chemiestudenten, Gelegenheitsschauspieler, Amateurnaturforscher und Comteschen Positivisten, dass "keiner seiner Zeitgenossen so vielseitig war wie er. 1850 hatte er bereits eine populäre Geschichte der Philosophie, zwei Romane, eine Biografie Robespierres [zur Rehabilitierung des französischen Revolutionsführers], eine Tragödie in Blankversen ... neben etlichen periodisch erscheinenden Artikeln zu verschiedensten Themen, die er seit seinem siebzehnten Lebensjahr geschrieben hatte, veröffentlicht." 1855 erschien seine Goethe-Biografie, die in Deutschland ein breites Publikum fand und mehrmals aufgelegt wurde. Auch seine wissenschaftlichen Arbeiten fanden Beachtung; manche seiner darin enthaltenen Anregungen wurden später von Physiologen übernommen.

Lewes war verheiratet und konnte sich aus verschiedenen rechtlichen Gründen nicht scheiden lassen. Er lebte mit Marian 24 Jahre, bis zu seinem Tod 1878, unverheiratet zusammen, und sie betrachteten sich als Eheleute. Es heißt, dass es eine außergewöhnliche Verbindung war, obwohl sie ihnen die Ausgrenzung aus der honorigen Gesellschaft eintrug.

1854 unternahmen sie eine Art Hochzeitsreise nach Deutschland, während der sie Franz Liszt besuchten und verschiedene andere Wissenschaftler und Künstler kennenlernten. Sie reisten später häufiger nach Deutschland, und die sich daraus ergebende intellektuelle Anregung trug beträchtlich dazu bei, Eliot zu einer bedeutenden Schriftstellerin werden zu lassen.

Zu dieser Zeit begann Eliot mit der Übersetzung eines weiteren bedeutenden deutschen Werkes, Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums, das in Deutschland 1841 erschienen war. Ihre englische Übersetzung blieb die allgemein anerkannte. Jahrzehnte später stellte Engels zu diesem Buch fest, dass "es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob... außer der Natur und den Menschen existiert nichts, und die höhern Wesen, die unsere religiöse Phantasie erschuf, sind nur die phantastische Rückspiegelung unsers eignen Wesens....Man muss die befreiende Wirkung dieses Buchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer."(2)

Während ihrer Deutschlandreise von 1854 begann Marian auch mit der Übersetzung der Ethik Spinozas. Allerdings wurde dieses Werk zu ihren Lebzeiten nie veröffentlicht. Zwei Jahre später veröffentlichte sie eine ausführliche und aufschlussreiche Arbeit über den großartigen deutschen Dichter und politischen Radikalen Heinrich Heine, den sie als einen "der bemerkenswertesten Menschen unserer Zeit" bezeichnete. Über diese Arbeit hieß es noch im zwanzigsten Jahrhundert, dass sie "vermutlich mehr als jede andere Arbeit dazu beitrug, der englischsprachigen Welt den Genius Heines nahezubringen."

In Evans/Eliot begegnet uns ein außergewöhnlicher Geist, der zudem von tiefer Menschlichkeit geprägt ist. Der körperlich eher reizlosen, "und stillen Mrs. Evans", die Mitte der fünfziger Jahre den Namen Lewes annahm, gelang es, die meisten für sich einzunehmen, die ihre Intelligenz und Liebenswürdigkeit kennenlernen konnten. Sie war in der Lage, so ist es von Menschen überliefert, die sie kannten, ungeschminkte, bisweilen unangenehme Wahrheiten auszusprechen, ohne zu verletzen. Eine ihrer Bekannten bemerkte einmal: "Die Verbindung von Ehrlichkeit und Empathie ist bei Marian außergewöhnlich stark. Sie verschweigt nichts, sondern sagt stets mit größter Offenheit ihre Meinung, sei sie zustimmend oder ablehnend, und doch scheint sie fähig zu sein, Schwächen wahrzunehmen, ohne ihr Feingefühl zu verlieren."

Nachsicht und Liebenswürdigkeit zeichnete sie in ihren persönlichen Beziehungen aus. Aber sie war keineswegs zurückhaltend, wenn es um Kommentare zu künstlerischen Arbeiten ging, die sie als falsch oder nichtssagend empfand. In ihrem zupackenden Essay Silly Novels by Lady Novelists (Alberne Romane von Romanschriftstellerinnen), der im Oktober 1856 in der Westminster Review veröffentlicht wurde, schrieb sie über die geistlosen Autorinnen und ihre Werke: "Wenn ihre adeligen Herren und Damen schon unwahrscheinlich sind, dann sind ihre Literaten, Kaufleute und Häusler geradezu unmöglich und ihr Verstand scheint die Besonderheit zu haben, sowohl das gleichermaßen unzutreffend wiederzugeben, was sie gesehen und gehört haben, als auch das, was sie nicht gesehen und gehört haben."

Evans begann ihre Karriere als Autorin fiktionaler Literatur 1856/57 mit den Scenes of Clerical Life, einer Sammlung dreier Kurzgeschichten über das Leben in Pfarrhäusern, die erstmalig im Verlauf des Jahres 1857 im Blackwood's Magazine veröffentlicht wurden. Die Geschichten zogen beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich. Charles Dickens bewunderte sie und schrieb an "George Eliot" - ihren männlichen Vornamen hatte sie zu Ehren von Lewes angenommen - einen entsprechenden Brief. "Etwas von so außerordentlicher Wahrhaftigkeit und Köstlichkeit sowohl was den Humor als auch was das Pathos der Geschichten angeht, ist mir noch nicht begegnet und ich bin in einer Weise beeindruckt, die ich Ihnen kaum beschreiben kann." Dickens ließ sich durch den männlichen Namen des Autors nicht täuschen. Er merkte an, dass die Geschichten, "sollten sie nicht von einer Frau stammen", von einem Mann geschrieben wurden, dessen Gabe zu fühlen und sich künstlerisch auszudrücken wie eine Frau "seit dem Beginn der Welt" einzigartig sei.

Damit sind wir bei Eliots erstem Roman, Adam Bede. Die Handlung des Romans spielt im ländlichen England des Jahres 1799. Eliot gibt der Beschreibung der Landschaft, mit der sie sich offenbar sehr verbunden fühlte und die sie vor dem Schreiben des Romans genauestens studierte, viel Raum. Die Titelfigur, Adam Bede, ist ein aufrechter Zimmermann, der mit seiner Mutter und seinem Bruder zusammenlebt. Adam liebt Hetty Sorrel, eine verwaiste Nichte der Poysers, die die beste Farm des Gutsbesitzes Donnithorne gepachtet hatten. Dinah Morris, eine methodistische Wanderpredigerin, ist ebenfalls eine Nichte der Poysers.

Die schöne, etwas eigennützige Hetty sehnt sich, das eintönige Leben auf der Farm hinter sich zu lassen. Sie wirkt anziehend auf Arthur Donnithorne, den jungen Adligen, der den Grundbesitz bald von seinem alten Großvater übernehmen wird. Heimlich beginnen Arthur und Hetty sich im Wald zu treffen, wo Adam Bede sie eines Abends bei einem Kuss antrifft. Adam schlägt sich mit Arthur und zwingt ihn, Hetty eine Nachricht zur Beendigung dieser Beziehung zu schreiben, wodurch "ihre kleine Traumwelt" in Scherben fällt. Nach Arthurs Abfahrt zu seinem Regiment verlobt Hetty sich mit Adam. Als ihr bewusst wird, dass sie schwanger ist, bricht sie auf, um Arthur zu suchen.

Als es ihr nicht gelingt, ihren früheren Liebhaber ausfindig zu machen, entschließt sie sich aus Furcht vor der Ächtung zuhause, ihr Baby mit Hilfe einer Frau, die sie auf ihrer Reise kennenlernt, unterwegs zu entbinden,. Überwältigt von ihrer Situation und unfähig den ernsthaft erwogenen Suizid zu begehen, lässt Hetty ihr Baby in einem Feld zurück, wo es schließlich stirbt. Sie wird aufgegriffen, wegen Kindsmords angeklagt und zum Tod durch Erhängen verurteilt. Dinah tröstet sie im Gefängnis und auch der Seelenqualen leidende Adam besucht sie. Im letzten Augenblick wird ihr Urteil auf Verbannung in eine Strafkolonie umgewandelt. Adam and Dinah, die allmählich Gefühle füreinander entwickeln, heiraten und leben gemeinsam.

Das Buch sollte man gelesen haben, aber es hat verschiedene Aspekte, die es wert sind hier besonders hervorgehoben zu werden. Zunächst gilt es, den Adam Bede gegen eine besondere Spezies "linker Kritiker" zu verteidigen, die sich herablassend über Eliots "liberalen Humanismus" und den "traditionellen Realismus" verbreiten. Man muss uns nicht darauf hinweisen, dass in gesellschaftlicher und künstlerischer Hinsicht seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine Menge Wasser die Themse hinabgeflossen ist.

Künstler schaffen ihre Werke nicht in einem Umfeld ihrer Wahl. Objektive Umstände stellen sich ihnen in den Weg und der gewissenhafteste Künstler muss seinen Weg finden, sie zu bewältigen oder zu unterlaufen. Wir bewerten Künstler nicht nach abstrakten, unhistorischen Kriterien, sondern danach, wie sie auf die spezifischen Herausforderungen ihrer Zeit reagierten.

Als Eliot in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ihre Romane schrieb, war England die "Werkstatt der Welt" und befand sich mitten in einer historisch einzigartigen, industriellen Entwicklung. Dieses Wachstum und die beispiellose Anhäufung von Reichtum, wirkten sich auf das intellektuelle und kulturelle Leben und auf jede soziale Schicht aus.

Engels bemerkte 1885: "Solange Englands Industriemonopol dauerte, hat die englische Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Grad teilgenommen an den Vorteilen dieses Monopols. Diese Vorteile wurden sehr ungleich unter sie verteilt; die privilegierte Minderheit sackte den größten Teil ein, aber selbst die große Masse hatte wenigstens dann und wann vorübergehend einen Anteil daran. Und das ist der Grund, warum es seit dem Aussterben des Owenismus in England keinen Sozialismus gegeben hat."(3)

Es war höchst unwahrscheinlich, dass in dieser Zeit, in der es nicht einmal in den führenden Schichten der Arbeiterklasse solcherart Bestrebungen gab, aus Eliot eine revolutionäre Gegnerin des Kapitalismus hätte werden können. Es ist im Gegenteil sehr außergewöhnlich, dass Eliot in diesem konservativen Klima ihre in hohem Maße eindringlichen und kritischen sozialen Ansichten entwickelte.


Realismus

Der Realismus ist ein umfassendes Thema, das hier nur gestreift werden kann. Es scheint berechtigt, unsere "linksliberalen" Kritiker zu fragen, von welchem Standpunkt sie Eliots angeblich "traditionellen" und "naiven" Auffassungen kritisieren, besonders ihre Darlegungen im Kapitel 17 mit der Überschrift: In welchem die Geschichte eine kleine Pause macht. Bevorzugen sie reichhaltigere und genauere Annäherungen an das Leben, als Eliot sie zu schaffen vermochte und berücksichtigen sie dabei den künstlerischen Fortschritt und die gesellschaftlichen Erfahrungen der letzten 150 Jahre? Oder ist ihre Kritik nicht vielmehr ein Rückschritt, der damit zusammenhängt, dass sie jegliches Vermögen ablehnen, die Wahrheit über die objektive Welt künstlerisch nachzuvollziehen?

Eliots Ansichten zum Realismus entsprachen der radikalen Umorientierung der Künstler infolge einer neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität, der neuen philosophischen und politischen Theorie und des wissenschaftlichen Fortschritts. Die Erhebungen der Arbeiterklasse Frankreichs von 1830 und 1848 stellten neue Herausforderungen dar. Courbets Bilder von Bauern, kleinbürgerlichem Stadtvolk, Arbeitern und Dorfmädchen wurden als "Verherrlichung der gewöhnlichen Hässlichkeit", als "demokratisch" und "materialistisch" verschrien. 1851 sagte der Maler von sich, er sei ein "Anhänger jeder Revolution und vor allem Realist ... 'Realist' bedeutet, ein aufrichtiger Freund der Wahrheit" zu sein.

Lewes schrieb in seinem Artikel Realism in Art: Recent German Fiction (Realismus in der jüngsten deutschen Literatur) von 1858, dass die Kunst "eine Abbildung der Wirklichkeit" sei. "Realismus ist ... die Grundlage aller Kunst und sein Gegensatz ist nicht der Idealismus, sondern die Verfälschung. Wenn unsere Maler Bauern mit regelmäßigen Gesichtszügen und tadelloser Kleidung darstellen,... so versuchen sie zu idealisieren - das Ergebnis ist jedoch eine Verfälschung und schlechte Kunst ...Entweder malt ihr uns wirkliche Bauern, oder lasst es ganz sein; entweder malt ihr überhaupt keine Textilien, oder malt sie mit größter Genauigkeit; entweder lasst ihr die Menschen schweigen, oder so reden, wie es in ihrer Klasse üblich ist."

Der russische Literaturkritiker Wissarion Grigorijewitsch Belinsky schrieb 1847, dass Gogol seinen Beitrag zur russischen Literatur nur dadurch erreichen konnte, weil er ausschließlich das "wirkliche Leben" zur Grundlage seiner Kunst machte und "jedes Wunschbild" vermied. Um das zu erreichen, sei ein "besonderes Studium des Volkes, der Massen" notwendig gewesen. So sei es möglich gewesen, das gewöhnliche Volk - und nicht liebenswürdige Ausnahmen davon - darzustellen, was die Dichter stets zur "Idealisierung geführt hat und verfälschte Abbilder hervorbrachte" Gogols Werk sei "die Kunst als Repräsentation der Wirklichkeit in höchster Genauigkeit".

Im Kapitel 17 des Adam Bede tritt Eliot für die wirklichkeitsgetreue Darstellung des unvollkommenen und fehlbaren Menschen ein. Man müsse alle Menschen so akzeptieren, wie sie sind, und sie schreibt, die Künstler müssten ihre Aufmerksamkeit auf "die wirklich atmenden Männer und Frauen" richten; "die durch ihre Gleichgültigkeit frösteln und von deinem Vorurteil verletzt werden können; die ermuntert und unterstützt werden können durch dein Mitgefühl, deine Nachsicht, deine ausgesprochene, unerschrockene Gerechtigkeit."

Eliot schreibt weiter: "Falschheit ist so einfach, Wahrheit ist so schwierig... Man prüfe seine Worte gut, und man wird feststellen, dass, selbst wenn man keinen Beweggrund hat, unehrlich zu sein, es sehr schwer ist, die genaue Wahrheit zu sagen, selbst über unsere eigenen unmittelbaren Empfindungen - viel schwerer, als etwas Schönes über sie zu sagen, dass nicht die exakte Wahrheit ist."(4) Einige Jahre später schließt Tolstoi sich diesem Gedanken in Krieg und Frieden mit den Worten an, "es ist so schwer die Wahrheit zu sagen".

Die Autorin des Adam Bede rühmt im Besonderen die niederländischen Maler des siebzehnten Jahrhunderts für ihre Hinwendung zum gemeinen Volk und zu den "billigen, gewöhnlichen Dingen, die für sie kostbare Lebensnotwendigkeiten sind." Sie besteht darauf, dass das "gemeine, ungehobelte Volk" nicht "aus der Kunst verbannt" sein dürfe. "Jene alten Frauen, die mit ihren abgearbeiteten Händen Möhren schaben, jene ungeschlachten Bauerntölpel, die in einer schmuddeligen Schenke einen Feiertag halten, jene gerundeten Rücken und stumpfsinnigen, wettergegerbten Gesichter, die sich über den Spaten gebeugt und die grobe Arbeit der Welt getan haben - diese Wohnungen mit ihren Blechpfannen, ihren braunen Krügen, ihren struppigen Kötern und ihren Zwiebelbüscheln."

In einem weiteren Artikel in der Westminster Review machte Eliot 1856 deutlich, wie ernst sie die genaue Darstellung der "schwerer beladenen Leute", der arbeitenden Klasse nahm: "Kunst ist dem Leben am nächsten, ist eine Möglichkeit zu vertiefter Erfahrung und intensiveren, über die Grenzen unseres persönliches Schicksals hinausreichenden Kontakts zu unseren Mitmenschen. Umso erhabener ist die Aufgabe des Künstlers, das Volk darzustellen. Hier ist Verfälschung weitaus verderblicher als in den verfeinerten Bereichen des Lebens." (The Natural History of German Life)

Es wäre natürlich heutzutage undenkbar, einfach zu Eliots Auffassung von Realismus zurückzukehren. Nach den dramatischen, welterschütternden Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts und den neuen Strömungen im Geistesleben, wie dem Kubismus, Surrealismus, Imagismus, Expressionismus, Futurismus und anderen, kann man die Welt keinesfalls mehr so sehen, wie ein Schriftsteller um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Photographie und der Film, um nur zwei technologische Entwicklungen zu nennen, haben die Art, Bilder zu erzeugen, für immer verändert.

Außerdem haben die Künstler, trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge im vergangenen Jahrhundert alle möglichen lebendigen, spontanen und schnellen Methoden zur Abbildung des Lebens entwickelt. Die relative Stabilität der englischen Gesellschaft, in der Eliot ihren Adam Bede schuf, gehört unzweifelhaft der Vergangenheit an. Heute ist daher eine Kunst notwendig, die auf dramatische und abrupte Veränderungen, Massenbewegungen, Katastrophen und große Siege eingestellt ist, auch wenn all dies nur im Leben eines Individuums oder in einem lyrischen Gedicht repräsentiert wird.

Die Positionen Eliots, Lewes, Belinskys, Courbets und anderer galten als intellektuelle Errungenschaften, als absolute "Perlen der Wahrheit", genau so wahr, wie die Errungenschaften der Wissenschaft. Darwins Arbeit konnte und musste weiterentwickelt werden, aber es gab - ohne katastrophale Folgen - kein Zurück mehr hinter Die Entstehung der Arten. Und ebenso gibt es kein Zurück in eine Kunstperiode, in der die Idealisierung der Vergangenheit oder des Menschen vorherrschte und der Schwerpunkt auf die pathetische und sentimentale Behandlung der Elite gesetzt wurde und das "Schöne" die Welt dominierte, während die "gewöhnlichen" Tatsachen des Lebens in den Hintergrund gedrängt wurden. Die Feststellung, dass die Kunst wahrhaftig und vollständig die Wirklichkeit abbilden müsse - mit welchem besonderen Stil oder Ansatz auch immer - kann nicht mehr umgestoßen werden.

Mit demselben Tenor äußerten Marx und Engels sich 1859 auf fesselnde Weise in ihren Briefen an den Sozialistenführer Ferdinand Lassalle, der seinen Franz von Sickingen, eine Tragödie um die Revolte schwäbisch-rheinländischer Ritter im sechzehnten Jahrhundert, veröffentlicht hatte . Engels drückte freundlich aber bestimmt seine Haltung gegen den Idealismus und für den Realismus in der Kunst aus: "Für meine Ansicht vom Drama, die darauf besteht, über dem Ideellen nicht das Realistische über Schiller den Shakespeare nicht zu vergessen.... Welch wunderlich bezeichnende Charakterbilder gibt nicht diese Zeit der Auflösung der Feudalverbände in den vegirenden Bettlerkönigen, brotlosen Landsknechten - & Abenteurern aller Art - ein Fallstaffscher Hintergrund...."(5)

Auch Marx umriss in seinem Brief an Lassalle, dass er Shakespeare gegenüber Schiller vorziehe: "Im einzelnen muss ich hier und da übertriebenes Reflektieren der Individuen über sich selbst tadeln, was von Deiner Vorliebe für Schiller herrührt."(6)

Wird fortgesetzt

Anmerkungen:

1. Eine deutsche Ausgabe erschien 1987 bei Reclam in Stuttgart, ist aber zur Zeit vergriffen.

2. Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie " in: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, S. 273

3. Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, S. 316 ff.

4. George Eliot : Adam Bede, Stuttgart 1987, S. 239

5. Walter Hinderer (Hrsg.): Sickingen-Debatte, Darmstadt, 1974, S. 50

6. ebd. S. 39f.

Die Haltung des sowjetischen Literaturkritikers Alexander Woronski (der ein Opfer Stalins wurde) und Leo Trotzki stehen ebenfalls in dieser Tradition.

Woronski forderte: "Der Künstler muss endlich aufhören, uns statt der Wirklichkeit seine Eindrücke von dieser zu präsentieren. Die Welt muss in seinem Werk so erscheinen, wie sie wirklich ist, damit das Schöne und das Hässliche, das Liebenswerte und das Abscheuliche, das Freudige und das Traurige uns nicht deshalb als solches erscheint, weil der Künstler es so will, sondern weil es im wirklichen Leben so vorkommt, so existiert." Alexander Woronski: Die Kunst, die Welt zu sehen, Essen 2003, S. 404

In Literatur und Revolution definiert Trotzki "Realismus als "einen gewissen und nicht unwichtigen Zug des Weltgefühls: den Drang zum Leben, so wie es ist; kein Ausweichen vor der Wirklichkeit, sondern ihre künstlerische Bejahung, aktives Interesse an ihr, an ihrer konkreten Beständigkeit oder Veränderlichkeit." Trotzki betont, "immer gerade dieses Leben in unseren drei Dimensionen als ausreichende, vollwertige und eigenwertige Materie für die schöpferische Gestaltung anzuerkennen. In diesem weiten philosophischen, nicht aber im schulmäßig literarischen Sinne kann man aus Überzeugung sagen, dass die Kunst realistisch sein wird.

Leo Trotzki: Literatur und Revolution, Essen, 1994, S. 233

Siehe auch:
Heinrich Heine 1797-1856
(24. Februar 2006)
http://www.wsws.org/de/converted/2006/feb2006/hei1-f24.shtml


*


Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.

Copyright 1998-2010 World Socialist Web Site - Alle Rechte vorbehalten


*


Quelle:
World Socialist Web Site, 03.04.2010
George Eliot:
Zum 150. Jahrestag der Veröffentlichung ihres Romans Adam Bede
Erster Teil
http://wsws.org/de/2010/apr2010/bebe-a03.shtml
Deutschland: Partei für Soziale Gleichheit
Postfach 040144, 10061 Berlin
Tel.: (030) 30 87 24 40, Fax: (030) 30 87 26 20
E-Mail: info@gleichheit.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2010