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GLEICHHEIT/3087: Britische Regierung gibt Pläne für Abbau des Sozialstaats bekannt


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Britische Regierung gibt Pläne für Abbau des Sozialstaats bekannt

Von Julie Hyland
3. Juni 2010
aus dem Englischen (29. Mai 2010)


Arbeits- und Sozialminister Iain Duncan Smith hat Pläne für Kürzungen beim Arbeitslosengeld und bei der Invalidenrente vorgestellt. Sie sind nur der erste Schritt für weitergehende Angriffe auf die Sozialleistungen.

Die konservativ-liberaldemokratische Koalition betrachtet diese Vorschläge als Teil ihrer Pläne, die Staatsausgaben zu senken und "radikale" Veränderungen am Sozialstaat vorzunehmen.

Duncan Smith verpackte diese Pläne in die Sprache der Sorge um all jene, die in der Sozialhilfe "gefangen" seien. Aber mit dem Gerede über die "Sozialhilfefalle" und eine "dauerhafte Armut" wird die Verarmung immer breiterer Teile der Arbeiterklasse vorbereitet. Die herrschende Elite versucht, die globale Finanzkrise zu nutzen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem eigenen Interesse umzustrukturieren.

In seinem Bericht "Zur Lage der Nation" behauptete Duncan Smith, das "absurde" Sozialhilfesystem bedeute, dass die Leute keinen Anreiz hätten, Arbeit aufzunehmen. 670.000 Haushalten stünden sowohl Sozialleistungen als auch Steuererleichterungen im Wert von 15.600 Pfund im Jahr zu, behauptete er. Leute, die solche Sozialleistungen und Steuervergünstigungen aufgäben, um eine Arbeit aufzunehmen, und dadurch womöglich schlechter dastünden als vorher, würden als "bescheuert" angesehen, sagt er.

Die Zahlen, die Duncan Smith anführt, treffen nur auf einen kleinen Teil der sechs Millionen Menschen zu, die auf Hilfen angewiesen sind. Duncan Smith unterstellt, dass die Leute jede erdenkliche Leistung beanspruchen, auf die sie ein Recht haben. Bei alledem hat er die Familienangehörigen noch gar nicht mitgezählt. In Wirklichkeit bekommt die große Mehrheit der über 25-jährigen Arbeitslosen (ohne Wohnkostenzuschüsse) 51,85 bis 65,45 Pfund die Woche, was im Jahr gerade einmal 3.000 Pfund ausmacht.

Außerdem machen die Zahlen von Duncan Smith kaum die Hälfte des durchschnittlichen jährlichen Einkommens von 25.000 Pfund aus, und sie bedeuten für größere Familie gerade mal ein Armutseinkommen.

Der Bericht "zur Lage der Nation" erwähnt nicht die enorme Zunahme von sozialer Ungleichheit. Und auch nicht die Tatsache, dass der Reichtum der Superreichen im vergangenen Jahr gewaltig zugenommen hat. Die reichsten Eintausend Briten haben ihr Vermögen um 77 Milliarden Pfund erhöht. Das ist weitgehend das Ergebnis von Labours fast eine Billion Pfund teurem "Rettungspaket" für die Banken und großen Finanzinstitute.

Der Anspruch der Superreichen auf solche massiven staatlichen Subventionen wurde niemals in Frage gestellt. Es wird gemunkelt, dass die Konservativen schon dabei sind, ihr Versprechen fallen zu lassen, die Kapitalertragssteuer auf private Vermögen zu erhöhen, weil Investmenthäuser sich quergestellt haben.

Aber die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse, die in großen Klassenschlachten errungen wurden, stehen unter Feuer. Das meinte Duncan Smith, als er gegenüber dem Guardian sagte, die Regierung habe "jetzt eine einmalige Chance".

Das Ziel der Koalitionsregierung bestehe darin, da weiter zu machen, wo Labour aufgehört habe, und den Sozialstaat der Nachkriegszeit endgültig ad acta zu legen.

"Wir wollen den Sozialstaat reformieren, wie Tony Blair das vor dreizehn Jahren angekündigt, aber niemals geschafft hat. Dieses System war für die Tage nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen."

Aus diesem Grund will die Regierung die Leistungen kürzen und Leute mit Sanktionen in Arbeit zwingen. Damit verfolgt sie das Ziel, die Löhne insgesamt weiter zu drücken, während ihre Kürzungen im Öffentlichen Dienst Hunderttausende Arbeitnehmer in die Arbeitslosigkeit abdrängen.

Duncan Smith versprach, die Sozialhilfe "einfacher und transparenter zu machen, sodass Arbeit sich immer lohnt". Ein neues "Arbeitsprogramm" werde den Arbeitslosen die Leistungen kürzen oder streichen, wenn sie eine Arbeit ablehnten.

Auch die 2,5 Millionen Menschen, die Invalidenrente beziehen, werden aufs Korn genommen. Die Koalitionsregierung will "strengere" medizinische Tests rascher und umfassender einführen, als sie ursprünglich von Labour geplant waren, um Kranke und Behinderte wieder an die Arbeit zu zwingen.

Der neue Test soll herausfinden, ob der Antragsteller von Invalidenrente "Büroarbeit oder Teilzeitarbeit leisten kann".

"Um dem Steuerzahler gegenüber fair zu sein, werden wir [den Arbeitslosen] die Leistungen kürzen, wenn wir meinen, dass sie nicht das Richtige tun", sagte Duncan Smith. "Außerdem werden wir alle Empfänger von Invalidenrente neu auf ihre Arbeitsfähigkeit untersuchen."

Duncan Smith stützt seine Pläne auf Zahlen des Arbeitsministeriums und tut so, als ob fast alle 2,6 Millionen Bezieher von Invalidenrente eigentlich arbeiten müssten. Schon seit Oktober 2008 werden alle Antragsteller zusätzlichen medizinischen Tests unterzogen, um festzustellen, ob sie noch einer Arbeit nachgehen können. Diese Untersuchungen ergaben, dass neunzig Prozent der Antragsteller entweder arbeiten konnten oder dazu bewegt werden konnten, "arbeitsähnliche Aktivitäten" aufzunehmen.

Realität ist, wie eine Untersuchung von BBC Schottland herausfand, dass "Zehntausenden Antragstellern, die tatsächlich krank oder behindert waren, das neue Unterstützungsgeld (ESA) zu Unrecht verweigert wurde".

ESA wurde von der Regierung 2008 "als Antwort auf die Krankenscheinmentalität im Land" gepriesen. Es unterliegt strikteren Kriterien als die Invalidenrente. Aber "nur eineinhalb Jahre später gibt es Forderungen, die geplante Ausweitung von ESA auf Eis zu legen", weil "die medizinischen Untersuchungen offenbar nicht gründlich sind. Sie berücksichtigen gerade jene Probleme nicht, über die die Patienten eigentlich sprechen wollen, was häufig psychisch bedingte Probleme sind".

BBC fuhr fort: "Immer wieder wurde davon ausgegangen, dass die medizinischen Untersuchungen viel strenger sein würden als unter den bisherigen Invaliditätsregeln. Aber als herauskam, dass angeblich Zweidrittel der Antragsteller arbeitsfähig sein sollen, da war selbst die Regierung überrascht."

Ein gesetzliches Auskunftsverfahren von BBC brachte zutage, dass "monatlich 8.000 ESA-Anträge bearbeitet werden. Das sind doppelt so viele wie für die nächsthäufig beantragte Leistung, den Unterhaltszuschuss für eingeschränkte Arbeitsfähigkeit. Ungefähr vierzig Prozent der abgelehnten ESA-Anträge werden nach Einsprüchen doch noch genehmigt."

Financial Times meinte dazu, dass die "strengeren Tests den Mut der Koalition auf die Probe stellen werden: Wenn invalide Menschen wieder arbeitsfähig erklärt werden, dann wird das zu hitzigem politischem Streit führen". Außerdem "werden angesichts der angespannten Haushaltslage wahrscheinlich die Ärmsten die Kosten der weitreichenden Reform [des Sozialstaats] tragen müssen".

Aber bei dem 1945 geschaffenen Sozialstaat, den Duncan Smith als veraltet abtut, ging es nicht nur um Leistungen für Arbeitslose. Unter der Parole, "von der Wiege bis zur Bahre" für die Menschen zu sorgen, war er auch für Gesundheit, Bildung, Renten und Wohnen zuständig.

Vieles davon wurde schon in den letzten beiden Jahrzehnten geopfert, aber die Koalition will auch noch die Reste beseitigen.

Die Regierung hat schon Pläne in der Schublade, staatliche Schulen praktisch zu privatisieren und sie dem privaten und "freiwilligen" Sektor auszuhändigen. Das geschieht in der Form von "freien" Schulen und Akademien.

In seinen Bemerkungen machte Duncan Smith klar, dass das Wohnungsgeld für die ärmsten Familien gekürzt werden soll. Außerdem müsse das Rentenalter der "höheren Lebenserwartung" angepasst werden.

Schon jetzt plant die Koalition, es auf 66 Jahre anzuheben, aber Duncan Smith sagte, er strebe an, ein festes Renteneintrittsalter ganz abzuschaffen, sodass Menschen "länger arbeiten und Beiträge einzahlen können".

Siehe auch:
Britische Koalitionsregierung kündigt Angriff auf
den öffentlichen Dienst an (1. Juni 2010)

Nach der Unterhauswahl: Die Aufgaben der
britischen Arbeiterklasse (19. Mai 2010)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 03.06.2010
Britische Regierung gibt Pläne für Abbau des Sozialstaats bekannt
http://wsws.org/de/2010/jun2010/brit-j03.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2010