Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GLEICHHEIT/3114: US-Offensive in Afghanistan in der Krise


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

US-Offensive in Afghanistan in der Krise

Von Barry Grey
18. Juni 2010
aus dem Englischen (14. Juni 2010)


In einer der für US- und Nato-Truppen blutigsten Wochen des fast neunjährigen Krieges in Afghanistan kündigte der Oberkommandierende General Stanley McChrystal am Donnerstag die Verschiebung der entscheidenden Militäroperationen im Gebiet um Kandahar auf September an.

Der Beginn der Offensive war ursprünglich für diesen Monat vorgesehen. Wie General McChrystal jedoch eingestehen musste, waren die USA nicht in der Lage, die Unterstützung von Stammesführern und Mittelsmännern zu gewinnen. Ebenso wenig die der Bevölkerung der zweitgrößten Stadt Afghanistans und ihrer Umgebung. Die Stadt mit 450.000 Einwohnern im Herzen des paschtunisch dominierten Südens ist Geburtsstätte der Taliban und bleibt das wichtigste Bollwerk im Aufstand gegen die Besatzung.

Der ranghöchste amerikanische General in Afghanistan musste ebenfalls einräumen, dass die Säuberung der Stadt Mardschah, einer Hochburg der Aufständischen in der ländlichen Provinz Helmand in einer breit angelegten amerikanischen Offensive erfolglos war und die Taliban noch immer weite Teile der Region kontrollieren.

Eine kürzlich durchgeführte Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerung Mardschahs nach den Militäroperationen den Nato-Streitkräften gegenüber feindlicher eingestellt ist als zuvor. Ende letzten Monats bezeichnete McChrystal die ganze Region als "offene Wunde".

Wie sehr sich die Sicherheitslage der USA und der Nato In Helmand verschlechtert hat, wurde deutlich, als ein geplanter Auftritt des britischen Premierministers David Cameron auf einem Militärstützpunkt in der Provinz während seiner ersten Afghanistanreise abgesagt werden musste. Zuvor hatten britische Offiziere Telefonate abgehört, die Hinweise auf Pläne zum Beschuss seines Hubschraubers enthielten.

Diesen Monat wurden bisher mindestens 35 Nato-Soldaten getötet, davon waren wenigstens 23 Amerikaner. Mit dem blutigen Tribut, den die vergangene Woche forderte, begann es am Sonntag, den 6. Juni, als sechs Nato-Soldaten den Tod fanden. Tags darauf waren es zehn Nato-Angehörige, sieben davon Amerikaner. Für die Nato-Truppen waren dies die meisten Toten an einem Tag, seit bei einem Helikopterabsturz letzten Oktober elf amerikanische Soldaten starben.

Am Dienstag wurden bei verschiedenen Vorfällen im Süden zwei amerikanische und ein britischer Soldat getötet. Am Mittwoch starben vier weitere amerikanische Soldaten, als ihr Hubschrauber in der Provinz Helmand abgeschossen wurde. Am selben Tag wurde noch ein fünfter Nato-Soldat getötet.

Am Freitag wurden nochmals vier Nato-Soldaten getötet, zwei davon Amerikaner. Am Samstag wurden in der Provinz Ghazni im Osten von Afghanistan ein polnischer Soldat und ein weiterer Nato-Soldat im Norden getötet.

Bis zum aktuellen Zeitpunkt ist die Todesrate der US- und Natostreitkräfte dieses Jahr mehr als doppelt so hoch wie im letzten Jahr. Seit Kriegsbeginn verloren mehr als 1.100 amerikanische Soldaten ihr Leben in Afghanistan. In diesem Monat überholte der Afghanistankrieg den Vietnamkrieg als bisher längsten Krieg in der amerikanischen Geschichte.

Bis jetzt haben die USA und ihre Verbündeten für das Blutbad wenig auf der Haben-Seite vorzuzeigen. Beim afghanischen Volk sieht es noch viel schlimmer aus. Am Donnerstag, dem ersten Tag eines zweitägigen Treffens der Verteidigungsminister der Nato in Brüssel hielt McChrystal eine Rede, in der er eine starke öffentliche Opposition gegenüber der von den USA angeführten Besatzung, insbesondere im paschtunisch dominierten Süden, andeutete.

Die Entscheidung zur Verschiebung der Offensive in Kandahar erklärte er so: "Wenn man Menschen beschützen will, müssen sie auch beschützt werden wollen."

Mit seiner Aussage gegenüber der Financial Times: "Wir werden unseren Einsatz bis Ende des Jahres mit Nachdruck führen, der Blutzoll wird hoch bleiben und könnte noch höher werden als derzeit", deutete er an, dass die Operation in und um Kandahar bis wenigstens Endes dieses Jahres andauern könnte.

Beim Nato-Treffen versuchte Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen möglichst gute Mine zum bösen Spiel zu machen und erklärte, die Nato-Streitkräfte hätten die Initiative im Krieg wieder zurückgewonnen. In einer Stellungnahme, die am Freitag vor den versammelten 28 Verteidigungsministern verlesen wurde, sagte er klar und deutlich, die militärischen Aktionen zeitigten nur "verhaltene Fortschritte" und fügte an "Es gibt noch bedeutende Herausforderungen und ein Erfolg kann noch immer nicht garantiert werden."

Am Mittwoch sprach der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates in London und warnte, die USA und ihre Verbündeten könnten ihren Zeitrahmen in Afghanistan überziehen. Er sagte, die Streitkräfte der Nato müssten am Jahresende einen strategischen Durchbruch gegen die Taliban erzielen.

"Was die Öffentlichkeit in keinem unserer Länder dulden wird...auch die amerikanische nicht", sagte er nach einem Treffen mit seinem britischen Kollegen, "ist der Anschein einer Pattsituation, bei der wir Verluste an jungen Männern haben."

Auf der Konferenz drängte Gates die Nato-Mitglieder, zusätzliche 450 Soldaten als Ausbilder für die afghanischen Truppen zur Verfügung zu stellen.

Gates Warnungen wurden noch von einer Umfrage der Washington Post und des Senders ABC bekräftigt, in der 53 Prozent der Befragten meinten, der Krieg sei "nicht wert geführt zu werden". Das ist der höchste Prozentsatz, der in drei Jahren erreicht wurde. Vielleicht noch beunruhigender für die Regierung Obama war, dass nach dieser Befragung 39 Prozent der Bevölkerung glauben, dass die USA den Krieg verlieren werden, das sind nur noch 3 Prozent weniger als die 42 Prozent, die an einen Sieg der USA glauben.

Die offensichtlich wachsende öffentliche Ablehnung geht mit der Ankunft der letzten 10.000 von 30.000 zusätzlichen amerikanischen Soldaten in Afghanistan einher. Diese wurden im Rahmen der von Obama im vergangenen Dezember angekündigten militärischen "Verstärkung" in das Land beordert.

Trotz Gates Mahnung, dass sich zum Ende des Jahres klare Siege der USA und der Nato abzeichnen müssten, verweigerte McChrystal in Interviews und Stellungnahmen jegliche dahingehende Zusicherung. Gegenüber der Financial Times sagte er über die Aussichten in Kandahar am Jahresende: "Im Umfeld der Stadt wird die Sicherheitsfrage immer noch im Zentrum eines schwierigen Kampfes stehen...Diese Gebiete werden höchstens von von Taliban kontrollierten Gebieten zu umkämpften Gebieten werden."

Auf die Frage, ob durch das Vertagen der entscheidenden Operationen in Kandahar am Jahresende überhaupt noch genügend Zeit für ein ausschlaggebendes Resultat zur Verfügung stehe, sagte McChrystal nur: "Es wird zum Ende des Kalenderjahres ganz klare Fortschritte bei der Operation Kandahar geben. Ich weiß nicht, ob wir dann wissen werden, ob sie ausschlaggebend sein werden. Das werden uns dann die Historiker sagen."

Das heißt jedoch nicht, dass die Offensive, wenn sie beginnt, weniger blutig sein wird. Der Operationsplan für Kandahar sieht die Ermordung aufständischer Führungskräfte in der Stadt und ihrer Umgegend durch amerikanische Todesschwadronen vor. Dann sollen mehr als 10.000 amerikanische Soldaten zur Säuberung der Außenbezirke von Talibankämpfern eingesetzt werden. Nach Schätzungen werden 80 Prozent dieser Bezirke von Aufständischen kontrolliert. Schließlich werden auch Razzien von Haus zu Haus durchgeführt, bei denen als Talibankämpfer oder deren Unterstützer Verdächtigte umgebracht oder gefangen genommen werden.

Die amerikanische Website Stratfor, die sich mit nachrichtendienstlichen Fragen befasst, verbreitete am Donnerstag eine schonungslose Einschätzung der amerikanischen Lage in Afghanistan - zweifellos widerspiegelt sie die Haltung von Teilen der militärischen und geheimdienstlichen Führung in Amerika. Darin heißt es: "Kurz gesagt, die von Amerika geführte Unternehmung im afghanischen Süden trifft auf ernste Probleme...."

"Washington und Kabul haben allerdings ein doppeltes Problem. Erstens funktioniert das Gesamtkonzept der Operationen nicht wie erwartet. Zunehmend wird deutlich, dass es einige Fehleinschätzungen über Charakter und Stärke der Taliban im Süden des Landes gab. Zweitens, und das ist eng verknüpft mit dem Ersten, haben das Ausbleiben durchschlagenden Erfolgs und die Verschiebung der Sicherheitsoffensive in Kandahar zur Folge, dass sich die allgemeine Einstellung zu dem Aufstand zugunsten der Taliban verändert. Dies trübt die Aussichten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten...."

"Die Taliban genießen in diesem Landesteil die breite Unterstützung der Bevölkerung, was einen Kampf um die Köpfe unerlässlich macht, soll die Bevölkerung zur Überzeugung kommen, dass sie mit der islamistischen Bewegung brechen muss...."

"Letztendlich zeigt die Bevölkerung in Mardschah - und dies nicht nur im Querschnitt, sondern in aller Breite - keinerlei Interesse an den Angeboten der Koalition, wie zum Beispiel Regierungsbeteiligung, Geld und Entwicklung...."

"Der Schwung, der nach den Erwartungen der ISAF (Internationale Hilfstruppen der Nato) vom Angriff auf Mardschah ausgehen sollte, war schon wieder abgeflaut, als die Ankündigung der Verschiebung der Kandahar-Operation ihn noch weiter dämpfte."

Eine Folge der amerikanischen Offensive in der Provinz Helmand waren verstärkte Talibanaktivitäten in Nimroz, einer im Westen von Helmand gelegenen Provinz, die an den Iran und Pakistan angrenzt. Am 11. Juni berichtete die Army Times, aus Helmand vertriebene Talibankämpfer hätten ihre Aktionen nach Nimroz verlegt, den früher als besonders stabil angesehenen Teil Südafghanistans.

Die gesamte Regierung von Nimroz floh nach Kabul, um die Zentralregierung um Schutz zu bitten, nachdem eines ihrer Mitglieder ermordet worden war und weitere mit dem Tod bedroht worden waren.

Die Krise der USA in Militär- und Sicherheitsfragen vermengt sich mit immer offensichtlicher werdenden Rissen zwischen Washington und seinem Marionettenpräsidenten Hamid Karzai. In der vom 2. bis 4. Juni von Karzai einberufenen "Friedens-Dschirga" rief der von den USA eingesetzte Präsident zur Versöhnung mit den Taliban auf.

Die Veranstaltung, die Hunderte von Warlords und einflussreiche Männer aus ganz Afghanistan zusammenführte, machte die Isolation und Schwäche des Kabuler Regimes und das Versagen der USA und der Nato, selbst die Hauptstadt zu sichern, deutlich. Karzais Eröffnungsrede wurde durch den Lärm auf die Versammlung abgefeuerter Raketen unterbrochen. Des Weiteren verweigerten die Führer der tadschikisch-usbekisch dominierten Nordallianz, auf die sich Washington bei der Zerschlagung der paschtunischen Taliban bei der Invasion im Oktober 2001 gestützt hatten, ihre Teilnahme an der Dschirga.

Nach dem Treffen kündigte Karzai zum Entsetzen Washingtons und der Nato die Bildung einer Kommission zur Entlassung einiger gefangener Talibankämpfer an. Parallel dazu entließ Karzai seinen Innenminister Hanif Atmar und seinen Geheimdienstdirektor Amrulah Saleh, die gegen seine Versuche waren, mit den Taliban ins Gespräch zu kommen, sowie die Differenzen mit Pakistan zu bereinigen. Beide pflegen enge Beziehungen zur CIA und zum britischen Geheimdienst MI6.

In vertraulicher Runde geben die Amerikaner Karzai die Schuld an der Erfolglosigkeit der Offensive in Mardschah, und erklären, er habe es versäumt, das zugesagte afghanische Militär- und Zivilpersonal beizusteuern, das notwendig gewesen wäre, um das von den Taliban "gesäuberte" Gebiet zu "halten". Karzai und sein Halbbruder Ahmed Ali Karzai, der starke Mann in Kandahar, ermutigen jetzt anscheinend örtliche Stammesführer zum Widerstand gegen die geplante amerikanische Offensive in der Stadt.

Sowohl die New York Times als auch der britische Guardian publizierten Artikel, in denen Berater Salehs zitiert werden, und in denen es heißt, Karzai habe "das Vertrauen in die Fähigkeit der Koalition verloren", die Taliban zu besiegen. In dem Times-Artikel vom 12. Juni wird unterstellt, Karzai habe geheime Friedensgespräche mit den Taliban geführt.

Nach diesen Berichten bemüht sich Karzai - für den Fall einer amerikanischen Niederlage oder eines Abzugs - um die Rettung seines eigenen Regimes und Kopfes. Seine Manöver haben zum Ziel, zu einem irgendwie gearteten Handel mit den Taliban zu kommen, eventuell unter Vermittlung Pakistans.

Wie sehr die Beziehungen zwischen Washington und Karzai vergiftetet sind, kann man an den Behauptungen von Anhängern Salehs sehen, über die der Guardian am 9. Juni berichtete. Danach habe Karzai Saleh und Atmar bezichtigt, gemeinsam mit den Amerikanern und Briten hinter dem Raketenbeschuss auf die Dschirga zu stecken. Damit wollten diese seinen Friedensplan in Trümmer legen.

Siehe auch:
Washington "entdeckt" Afghanistans Bodenschätze
(16. Juni 2010)

Zunehmende Spannungen zwischen Washington und
seiner Kabuler Marionette (10. April 2010)


*


Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.

Copyright 1998-2010 World Socialist Web Site - Alle Rechte vorbehalten


*


Quelle:
World Socialist Web Site, 18.06.2010
US-Offensive in Afghanistan in der Krise
http://wsws.org/de/2010/jun2010/afgh-j18.shtml
Deutschland: Partei für Soziale Gleichheit
Postfach 040144, 10061 Berlin
Tel.: (030) 30 87 24 40, Fax: (030) 30 87 26 20
E-Mail: info@gleichheit.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2010