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GLEICHHEIT/3229: Die politischen und sozialen Wurzeln der russischen Waldbrandkatastrophe


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Die politischen und sozialen Wurzeln der russischen Waldbrandkatastrophe

Von Andrea Peters
26. August 2010


Eine Kältewelle in Zentralrussland hat Millionen Einwohnern Moskaus endlich Erleichterung gebracht, die seit Wochen in erstickender Hitze und Smog lebten. Während die Waldbrände, die die Luft in der Hauptstadt des Landes in einen giftigen Nebel verwandelt hatten, angeblich unter Kontrolle gebracht worden sind, brennen immer noch zahlreiche Feuer in anderen Regionen, vor allem in Sibirien und im Fernen Osten.

Anfang dieser Woche berichtete die Regierung, dass die Zahl der in Flammen stehenden Flächen von 45.800 Hektar auf 22.700 Hektar gesunken ist. Ein Waldbrand, der die Atomanlage der eingeschlossenen Stadt Sarow bedrohte, wurde unter Kontrolle gebracht. Feuer, die über Gegenden hinweggezogen sind, die 1986 während der Tschernobyl Katastrophe durch radioaktive Niederschläge verseucht wurden, wurden auch unter Kontrolle gebracht. Umweltschützer haben aber die Behauptung der Regierung in Frage gestellt, dass die Feuer keinen radioaktiven Rauch in die Luft abgäben.

Trotzdem sich die Lage verbessert hat, kämpfen Feuerwehrleute weiterhin, um Brände in Torfmooren zu löschen, die seit Wochen schwelen. Ein Feuer in dem Naturpark Denezhkin Kamen in der Region Swerdlowsk, das auf ein Viertel Hektar eingedämmt werden konnte, hat am Dienstag wieder begonnen sich auszubreiten, und bedroht einzigartige Arten und Ökosysteme in dieser Region.

Während die Behörden bisher den Tod von 54 direkt durch die Feuer zu Tode gekommenen Menschen bekannt gaben, ist die Zahl der Toten, die in Folge der von den Bränden verursachten Umweltverschmutzung umkamen, um ein Vielfaches höher. Am Dienstag berichtete die BBC, dass nach Angaben von Boris Revich, einem Forscher von der Russischen Akademie der Wissenschaften, im Juli in Moskau 5.840 mehr Menschen starben, als während des gleichen Zeitraums im letzten Jahr. Statistiken für den August mit einigen der heftigsten Smogtage liegen noch nicht vor.

In den vergangenen Wochen wurden Schwierigkeiten bekannt, auf die Opfer der Brände gestoßen sind, als sie die von der Regierung versprochenen sowieso schon begrenzten Entschädigungen in Anspruch nehmen wollten. Nach Angaben der Wirtschaftszeitung Kommersant kommen diejenigen, die ihr Eigentum durch Gras- und nicht durch Waldbrände verloren haben, sowie diejenigen, die vorher nicht in der Lage gewesen sind, ihr Eigentum registrieren zu lassen, für eine Entschädigung nicht in Frage. Letzteres ist in Russland aufgrund der umfangreichen bürokratischen Hürden, die mit diesem Vorgang verbunden sind, ein weit verbreitetes Problem. Darüber hinaus können Angehörige von Personen, die gestorben sind, noch bevor die Regierung die Einrichtung ihres Sonderfonds für Brandopfer bekannt gab, keinerlei Hilfe erwarten.

Am 17. August berichtete RosBiznesKonsalting: "In dem Dorf Zavadskii in der Oblast Rjazan wurde Irina Iakovleva Entschädigung für ihre Mutter, die bei einem Brand gestorben ist, verweigert. In dem Büro der Regierung in Sasovskii sagte man ihr, dass 'sie am 26. Juli gestorben sei, aber es hätte nach dem 28. sein müssen'."

Die Waldbrand Katastrophe hat einmal mehr in den Vordergrund gerückt, wie groß die Kluft zwischen den einfachen Menschen aus der arbeitenden Bevölkerung in Russland und allen Schichten der staatlichen Bürokratie und der reichen Elite ist. Die Ereignisse dieses Sommers werden die weitverbreitete Unzufriedenheit über die steigenden Lebenshaltungskosten, die begrenzten wirtschaftlichen und beruflichen Perspektiven, die Einstellung von Dienstleistungen für die Allgemeinheit und die sich verschlechternden sozialen Bedingungen in den Industriestädten Russlands weiter anfachen.

Das Ausmaß der Brände und die Tausenden von Toten, die sie verursacht haben, sind der Semi-Privatisierung der russischen Wälder im Interesse der mächtigen Holzindustrie und der papierverarbeitenden Unternehmen und der fast vollständigen Liquidation des 70.000-Mann starken landesweiten Forstdienstes geschuldet. Der Zusammenbruch der Infrastruktur in armen ländlichen Gebieten hat dazu geführt, dass Dörfer aus Mangel an Feuerlöschgeräten bis auf den Erdboden niedergebrannt sind. Gleichzeitig wurden in einigen Fällen die Sommerhäuser von reichen Anwohnern aus der nahen Umgebung von Notdiensten gerettet, die angewiesen wurden, die Hilfsersuchen der einfachen Leute zu ignorieren,.

Die Gleichgültigkeit der herrschenden Elite gegenüber den Lebensbedingungen der breiten Masse hat plastischen Ausdruck in dem Verhalten des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow gefunden, der sich nicht dazu herab ließ, seinen Urlaub in den österreichischen Alpen zu unterbrechen, als Millionen Bürgern seiner Stadt die Luft ausging. Am Mittwoch ging Luschkow, der erst am 8. August in die Hauptstadt zurückgekehrt war, wieder in den Urlaub.

Im Kreml ist man wegen der politischen Folgen der Brandkatastrophe nervös. Man ist sich auch darüber bewusst, dass die anhaltende Wut über dieses Ereignis noch durch den drastischen Anstieg der Nahrungsmittelpreise in den kommenden Monaten verschärft wird. Dieser ist auf einen dreißigprozentigen Ernteeinbruch bei der Getreideproduktion des Landes auf Grund der Dürre zurückzuführen.

Der russische Präsident Dmitri Medwedew und Ministerpräsident Wladimir Putin haben versucht, dem anschwellenden Volkszorn über die Waldbrände durch eine Reihe öffentlicher Verlautbarungen die Spitze zu nehmen. Medwedew traf sich mit Russlands Oligarchen und bestand darauf, dass sie die Leiden der Bevölkerung "teilen", indem sie sich finanziell an dem Wiederaufbau von Wohnungen und der Entschädigung der Opfer beteiligen. Putin profilierte sich im Cockpit eines Wasserlöschflugzeugs, das Wasserbomben auf die Brände warf.

Bei einem Treffen mit einigen der reichsten und mächtigsten Unternehmer Russlands dankte Medwedew dem Oligarchen Oleg Deripaska für seine Bereitschaft, seine "Schirmherrschaft" auf einige der zerstörten Dörfer Russlands auszudehnen. Deripaska, einer der am meisten verachteten Persönlichkeiten des Landes, ist Besitzer eines großen Industrieimperiums. Letztes Jahr war er Ziel heftiger Proteste in der Stadt Pikalewo, wo verzweifelte Anwohner eine Bundesstraße blockierten, um ausstehende Löhne und die Wiederherstellung ihrer Arbeitsplätze in Fabriken zu fordern, die kurz zuvor von Deripaska und anderen Industriemagnaten geschlossen worden waren

Die Höhe der versprochen Hilfen für die Katastrophenopfer, die in unterschiedlichen Regierungserklärungen von 200.000 bis 2 Millionen Rubel (ca. 5.500 Euro bis 52.000 Euro) reichten hat, ist wahrscheinlich gerade so viel, wie ein russischer Multimilliardär bei einem ungezwungenen Nachmittagsshopping ausgibt. Die Show, die der Kreml aus seinen Forderungen an diese kriminelle Elite macht, den Brandopfern zu helfen, sind gleichermaßen absurd wie grotesk.

Wie dem auch sei, Medwedew sorgt sich, dass die tief sitzende Feindschaft gegenüber diesen sozialen Schichten wieder explodieren könnte, wenn die Bevölkerung die Ereignisse dieses Sommers verarbeitet. Seine Forderungen, dass sie beim Wiederaufbau des Landes helfen, zielen darauf ab, den Zorn der Bevölkerung zu besänftigen, während er gleichzeitig Maßnahmen ergreift, um die Oligarchen zu schützen.

Ein am 17. August veröffentlichter Artikel in der RosBiznesKonsalting bemerkt: "Experten sind sich einig, dass die großen Unternehmen in jedem Fall aus der ganzen Sache als Gewinner hervorgehen, auch wenn sie jetzt gezwungen sind, Geld für die Umsetzung der Wünsche des Präsidenten auszugeben ... Der Staat erwägt die Vergabe der Nickelmine von Norilsk an Deripaska. Das ist ein günstiger Moment, um ihm die Errichtung eines oder zweier Dörfer in seiner Heimatstadt Nischni Nowgorod schmackhaft zu machen."

Die Online-Nachrichtenseite zitierte dann einen Experten mit den Worten: "Bei der Sache geht es um acht bis neun Milliarden US Dollar, so dass sich das, was Deripaska für den Wiederaufbau des Dorfes ausgeben wird, im Vergleich wie ein Almosen ausnimmt."

Während die russische Regierung verschiedene in den Medien gut platzierte Versprechungen machte, die Mittel zur Pflege der Wälder und der Wiederbewässerung der Torfmoore zu erhöhen, war der Kreml nicht bereit, die Waldreform von 2007 zurückzunehmen, die der Waldbrandkatastrophe den Boden bereitet hat, so wie es von der Bevölkerung gefordert wird.

Die herrschende Elite zieht aus diesen Ereignissen die Lehre, dass sie ihre Macht weiter festigen muss, um zu verhindern, dass ähnliche Krisen in Zukunft Auslöser für eine Bedrohung ihrer Autorität werden können. In einem Artikel vom 11. August, den die regierungstreue Zeitung Rossiskaia Gazeta unter dem Titel "Lektionen eines heißen Sommers" veröffentlichte, schrieb Nikolai Zlobin, dass der russische Staat die Implikationen der Brandkatastrophe für die nationale Sicherheit berücksichtigen müsse.

"Heutzutage liegen Gefahren [für die nationale Sicherheit] häufig in Bereichen, die weit von den rein militärischen entfernt sind. Wenn solche Bedrohungen sich unerwartet verschärfen, werden der Staat und seine Bürger verwundbar und wehrlos, und die Situation droht außer Kontrolle zu geraten und unüberschaubar zu werden. Sie droht zu Destabilisierung, Instabilität und zu einem Rückgang des "Prestiges" der Behörden zu führen."

Russlands liberale Opposition reagierte auf die Waldbrandkatastrophe mit Schuldzuweisungen an den Kreml, wobei sie den Großteil ihrer Kritik gegen Putin richtete, dem sie Medwedew gegenüberstellen. Ihn betrachtet sie als potentiellen politischen Verbündeten. Insbesondere haben mehrere führende Zeitungen Leitartikel gebracht, die betonen, dass die langsame Reaktion der lokalen Behörden und die Anstrengungen kommunaler Politiker, das Ausmaß der Krise in ihrer Region zu vertuschen, auf das Scheitern von Putins "Machtvertikale" verweisen, bei der lokale Gouverneure vom Kreml ernannt werden. Regierungskorruption, schrieben mehrere Zeitungen, hätten zu der Brandkatastrophe beigetragen, weil Geld, das für Zwecke der Brandbekämpfung bestimmt war, oft verwendet wurde, um Luxusartikel für staatliche Bürokraten zu erwerben.

Es wird die Behauptung aufgestellt, dass sich lokale Führer verantwortungsvoller verhalten würden, wenn das Volk das Recht hätte, die Beamten zu wählen.

Auf die Tatsache eingehend, dass der Gouverneur des Oblast Wladimir, Nikolai Winogradow, im Urlaub war, während Tausende von Hektar an Waldflächen in seiner Region brannten, erklärte die liberale Tageszeitung Gazeta Nezavisimaia: "Wenn regionale Führer gewählt würden, würden sie sich kaum solche Freiheiten herausnehmen."

Der zutiefst antidemokratische Charakter des politischen Systems Russlands hat ohne Zweifel zu der Brandkatastrophe und dem Leid der Bevölkerung beigetragen. Doch dies allein kann nicht erklären, warum die Dörfer wegen fehlender Brandschutzausrüstung und fehlender Überwachung bis auf den Boden abbrannten.

Der Zusammenbruch der öffentlichen Dienstleistungen in Russland und die Semi-Privatisierung der Wälder des Landes sind Bestandteil der Restauration des Kapitalismus, die die liberale Opposition als eine große historische Errungenschaft feiert. Die Waldreform 2007, die der Kreml genehmigt hat, ist nicht einfach ein Produkt der korrupten Verflechtungen Putins mit den Interessen mächtiger Holzkonzerne und papierverarbeitender Unternehmen in Russland. Sie befindet sich vollständig im Einklang mit den politischen Prinzipien, die von Russlands Marktwirtschaft diktiert werden und in denen das Gewinnstreben und nicht soziale Bedürfnisse bestimmen, wie die Ressourcen zu nutzen sind.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 26.08.2010
Die politischen und sozialen Wurzeln der russischen Waldbrandkatastrophe
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2010