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GLEICHHEIT/3511: Ägyptisches Militär beansprucht die Macht. Streiks und Demonstrationen weiten sich aus


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Ägyptisches Militär beansprucht die Macht:
Streiks und Demonstrationen weiten sich aus

Von Andrea Peters
15. Februar 2011


Nach dem Zusammenbruch der jahrzehntelangen Diktatur Hosni Mubaraks hat das ägyptische Militär die Macht übernommen und verfügt, dass der Oberste Militärrat - dessen Offiziere alle von Mubarak ausgewählt wurden - die Kontrolle über die Regierung übernimmt. Es hat versprochen, innerhalb von sechs Monaten Neuwahlen für das Parlament und das Präsidentenamt durchzuführen.

Zwar wurden einige der am meisten diskreditierten Elemente der Diktatur beseitigt - die Verfassung wurde außer Kraft gesetzt und das Parlament aufgelöst, das durch die gefälschten Wahlen im letzten Herbst zustande gekommen war - aber der Militärrat hielt den Ausnahmezustand aufrecht, der in den vergangenen dreißig Jahren die Grundlage für politische Unterdrückung und autoritäre Herrschaft lieferte. Auch wurde die Ausgangssperre beibehalten, auch wenn sie von zehn auf sechs Stunden in der Nacht verkürzt wurde.

Das Militär unternahm auch erste Schritte, um sich die Kontrolle über die Hauptstadt wieder zu sichern und versuchte die Demonstranten vom Tahrir Platz in Kairo zu vertreiben, woraufhin wieder etliche tausend Demonstranten auf die Straßen strömten.

Die Verordnung mit dem Namen "Kommuniqué 5" verfügt, dass das Kabinett, das erst vor zwei Wochen von Mubarak ernannt wurde, bis zu den Wahlen die Regierungsgeschäfte führen soll. Luftwaffengeneral Ahmad Schafik, den Mubarak im Januar zum Premierminister machte, soll im Amt bleiben. Er teilte auf einer Pressekonferenz mit: "Es gibt keine Änderungen in der Form oder Methode oder der Art und Weise, wie wir arbeiten. Es bleibt alles vollkommen stabil."

Der Oberste Militärrat wird in der Interimsperiode Gesetze erlassen und ein Komitee ernennen, das die Aufgabe haben wird, die Verfassung zu überarbeiten und die Regeln für ein Referendum über die vorgeschlagenen Änderungen festzulegen.

Der Vorsitzende des Militärrats Marschall Mohammed Hussein Tantawi, besser bekannt aus den WikiLeaks Depeschen unter dem Namen "Mubaraks Pudel", ist de facto Regent des Staates und repräsentiert Ägypten gegenüber dem Ausland.

Das Militär machte klar, dass es entschlossen ist, die Interessen des US-Imperialismus und Israels zu verteidigen, und erklärte am Samstag, dass es alle internationalen Verträge und Vereinbarungen Ägyptens achten und die Außenpolitik des Mubarak Regimes fortsetzen werde.

Palästinensische Demonstranten in Gaza hatten über die Nachricht vom Sturz Mubaraks gejubelt, der für das brutale Vorgehen Israels gegen die Bevölkerung Gazas verantwortlich gemacht wird, weil er die Grenze zwischen Ägypten und Gaza abgeriegelt hat. Die Militärclique in Kairo hat deutlich zu erkennen gegeben, dass sie die Palästinenser weiter leiden lassen wird.

Während sich die große Menschenmenge auf dem Tahrir Platz über das Wochenende weitgehend auflöste, blieben etliche hundert in ihren Zelten. Am Sonntagmorgen versuchten mit Schlagstöcken bewaffnete Sicherheitskräfte sie zu vertreiben und ihre Zelte abzureißen. Aber Reporter berichteten, dass Hunderte sich weigerten, den Platz zu verlassen. Sie äußerten sich skeptisch über die Absichten der Armee, die sich als Verwalter der Revolution aufspiele.

Im Laufe des Tages wuchs die Menge wieder an und Demonstranten verbreiteten über Lautsprecher, Mobiltelefone und soziale Netzwerke, wie das Militär gegen die Demonstranten vorgehe. Daraufhin, so wird berichtet, kamen etliche Tausend zurück auf den Tahrir Platz.

"Die Soldaten befahlen uns, zu gehen. Sie bauten unsere Zelte ab, aber wir wollen bleiben. Wir wollen eine andere Regierung. Wir wollen eine zivile Regierung. Sie wollen unsere Revolution stehlen", erklärte ein 54jähriger Maurermeister der Zeitung Guardian.

Zwischen den beiden Seiten kam es zu Auseinandersetzungen, bei denen mindestens 39 Personen festgenommen wurden. Die britische Zeitung bemerkte, dass die Festgenommenen "auf ein Militärgelände in der Nähe des Ägyptischen Museums verbracht wurden, auf dem zuvor bereits Demonstranten geschlagen und verhört worden waren."

Wir wollen nicht weggehen", teilte Mohammed Shaheen der Los Angeles Times mit. "Sie werden den Ausnahmezustand niemals aufheben. Sie werden ihn benutzen, um Menschen weiter ins Gefängnis zu werfen", warnte er.

Ein weiterer Demonstrant, der 36jährige Computeringenieur Ahmed Ghafur, meinte zur Washington Post: "Das ist eine Revolution und keine halbe Revolution. Wir brauchen einen Zeitplan für die Wahlen. Wir benötigen eine Interimsregierung. Wir brauchen ein Komitee für eine neue Verfassung. Wenn wir all das haben, dann können wir den Platz verlassen."

Die Spannungen verschärften sich zusehends, als mehrere tausend Polizeibeamte vor dem Innenministerium demonstrierten und Gehaltserhöhungen sowie verbesserte Arbeitsbedingungen verlangten und auf den Tahrir Platz marschierten. Die Polizei wird von der Bevölkerung wegen ihrer Brutalität gehasst und die Demonstranten stellten sich ihnen sofort in den Weg.

Die Polizisten riefen das Militär mit den Worten zu Hilfe: "Polizei und Militär gehören zusammen." Daraufhin feuerten Soldaten in die Luft und verbreiteten Rauchwolken, um die Menge zu zerstreuen - mit geringem Erfolg. Aber schließlich zogen die Polizisten ab.

Es gibt sehr unterschiedliche Reaktionen auf den Sturz Mubaraks und die Machtübernahme des Militärs. Die bürgerlichen Parteien und selbsternannten Führer erklärten allgemein den Sieg und drängten die Bevölkerung, sich zu zerstreuen und dem Übergang unter militärischer Kontrolle seinen Lauf zu lassen. Die Masse der arbeitenden Bevölkerung und der Jugendlichen haben den Sturz des langjährigen Diktators als Signal begriffen, um ihre Forderungen nach Arbeitsplätzen, Lohnerhöhungen, besseren Arbeitsbedingungen, der Absetzung verhasster und korrupter Amtsinhaber und größeren demokratischen Rechten verstärkt vorzubringen.

Die Moslembruderschaft, die wichtigste islamische Bewegung des Landes, die sich ursprünglich gegen den Aufstand gegen Mubarak gewandt hatte, begrüßte die Machtübernahme des Militärs, lobte es für sein Verhalten und dafür, dass es "das Vertrauen" der Bevölkerung gewonnen habe.

Mohammed ElBaradei, der frühere Vorsitzende der Internationalen Atomenergiebehörde, der nach jahrzehntelanger Abwesenheit nach Ägypten zurückgekehrt ist, ermahnte die Demonstranten, den Anordnungen des Militärs Folge zu leisten und "nach Hause zu gehen".

Ins gleiche Horn blies Ayman Nour, der frühere Präsidentschaftskandidat der liberalen Al Ghad Partei. Nour nannte das Vorgehen des Militärs "einen Sieg für die Revolution" und fügte hinzu: "Ich glaube, dies wird die Protestierenden zufriedenstellen."

Einige Vertreter der Jugendgruppen, die am aktivsten in den Protestaktionen waren, haben der Presse mitgeteilt, dass sie das Kommuniqué 5 als Zeichen begrüßen, dass die Armee vorhabe, den Forderungen der Protestierenden, wie der nach Neuwahlen, entgegenzukommen. Zwar fordern sie die Freilassung der politischen Gefangenen und ein Ende des Ausnahmezustands, aber sie haben Illusionen in die Absichten des Militärs.

Nach Presseberichten weigerten sich die jugendlichen Anhänger der Bewegung vom 6. April und der Demokratischen Volksbewegung für einen Wandel jedoch, den Tahrir Platz zu verlassen.

Die Massenbewegung, die Mubarak gestürzt hat, breitete sich am Wochenende mit neuen Streiks und Protestaktionen weiter aus.

Beschäftigte des öffentlichen Dienstes an der Nationalbank Ägyptens begannen am Sonntag zu protestieren und verlangten höhere Löhne und ein Ende der Korruption und der Vetternwirtschaft. Tausende versammelten sich vor den Bankgebäuden in Kairo, die verschlossen waren, um zu verhindern, dass die Beschäftigten in den Gebäuden sich denen draußen anschlossen. Im Verlauf des Tages schwoll die Menge an und zwang die Regierung dazu, den Montag und Dienstag zu nationalen freien Tagen für die Banken zu erklären. Die Bankangestellten mussten sich mit Soldaten auseinandersetzen, die um die Banken in Kairo Ketten gebildet hatten.

Die Demonstranten riefen: "Haut ab! Haut ab! Haut ab!" Sie forderten die Absetzung des Bankchefs. Zu einem späteren Zeitpunkt sandte der Vorsitzende der Bank, Tarek Amer, eine E-Mail an die Beschäftigten, in der er seinen Rücktritt anbot, aber es ist nicht bekannt, ob das akzeptiert wurde.

Es gibt Anzeichen, dass sich die Streiks auf andere Einrichtungen ausgeweitet haben, darunter die Bank von Alexandria und staatliche Versicherungen. Vor einer Versicherungsniederlassung nicht weit vom Tahrir Platz sprachen Reuters Reporter mit einer Frau in einer Menschenmenge:

"Ich habe fünf Jahre lang in dem Unternehmen gearbeitet", sagte Hala Fawzi der Nachrichtenagentur. "Endlich haben wir den Mut gefunden, zu sprechen." Die 34jährige Mutter von zwei Kindern erhält im Monat 100 ägyptische Pfund (etwas mehr als 12 Euro). Das entspricht einem Viertel des Gehalts eines Lehrers an einer öffentlichen Schule.

Auf der Halbinsel Sinai begannen 700 Arbeiter eines Unternehmens, das für die multinationalen Friedenstruppen in dieser Region Dienstleistungen erbringt, ein Sit-in. Die Beschäftigten versammelten sich vor der Kaserne in Scharm El-Scheich und El Gorah und forderten höhere Löhne. In der Stadt Arisch auf dem Sinai streikten 300 Krankenhausbeschäftigte und Bergarbeiter, um feste Arbeitsplätze und eine Gesundheitsversicherung zu fordern.

Am Sonntag wurden Streiks des Eisenbahnpersonals und der Stahlarbeiter fortgesetzt.

Angestellte der Mirs Spinnerei und Weberei in Mahalla, der größten Textilfabrik des Landes, setzten ihre Streikaktion über das Wochenende aus, machten aber deutlich, dass sie fortfahren würden, ihre Forderungen durchzusetzen. "Wir haben fürs erste aufgehört zu streiken, aber wir werden weiterhin fordern, dass der Mindestlohn angehoben wird", erklärte der Organisator des Streiks Faisal Naousha der Nachrichtenagentur AFP.

In einer deutlichen Warnung an die Arbeiterklasse erklärte ein Armeegeneral gegenüber Reuters, dass der Oberste Militärgerichtshof beabsichtige "Versammlungen der Arbeitergewerkschaften und Berufsverbände zu verbieten und damit Streiks praktisch zu verhindern." Das Militär werde eine Rückkehr zu "Chaos und Unordnung" nicht dulden, sagte er.

Seit ihrer Machtübernahme hat die Armee die Bevölkerung dringend aufgefordert, die Proteste einzustellen und an die Arbeit zurückzukehren. Das Militär, das eng mit der herrschenden Klasse Ägyptens und der Unternehmerelite verbunden ist, steht den Forderungen der Bevölkerung nach Lohnerhöhungen, besseren Lebensbedingungen und Maßnahmen gegen die weitverbreitete Arbeitslosigkeit sehr feindlich gegenüber.

Premierminister Schafik sagte am Wochenende im ägyptischen Fernsehen, dass die Regierung sich weigere, Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst zu gewähren "Wir müssen praktisch denken. Es ist sehr schwierig, auf alle Forderungen der Staatsbeschäftigten einzugehen. Die Regierung wird tun, was sie kann." Aber er beharrte darauf, dass sie schrittweise vorgehen werde, denn sie wolle "keine großen Versprechen machen und sie dann nicht halten."


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Quelle:
World Socialist Web Site, 15.02.2011
Die ägyptische Revolution tritt in eine neue Phase ein
http://www.wsws.org/de/2011/feb2011/stre-f15.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2011