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GLEICHHEIT/3928: Italien - Berlusconi kündigt Rücktritt an


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Italien: Berlusconi kündigt Rücktritt an

Von Marianne Arens und Peter Schwarz
10. November 2011


Der italienische Premierminister Silvio Berlusconi hat am Dienstagabend seinen Rücktritt angekündigt. Er will noch so lange im Amt bleiben, bis das Parlament die von der EU geforderten Sparmaßnahmen verabschiedet hat, was mehrere Wochen dauern kann. Zur nächsten Parlamentswahl, die frühestens im Februar stattfindet, will Berlusconi nicht mehr antreten, wie er der Zeitung La Stampa erklärte.

Unmittelbarer Anlass für Berlusconis Rückzug war der Verlust der Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Bei der Abstimmung über den Rechenschaftsbericht für das Jahr 2010 stimmten nur 308 der 630 Abgeordneten mit Ja, acht weniger als die absolute Mehrheit. Nach der Wahl vom Frühjahr 2008 hatte das Regierungslager noch 344 Abgeordnete gezählt. Der Rechenschaftsbericht wurde am Dienstag zwar verabschiedet, aber nur weil sich die Opposition der Stimme enthielt.

Berlusconis Rücktrittserklärung wurde von vielen in Italien mit Erleichterung begrüßt. In den vergangenen Monaten hatten Hunderttausende gegen seine Politik protestiert, er hatte reihenweise regionale Wahlen verloren, und in einer aktuellen Umfrage hatten sich 75 Prozent der Befragten gegen ihn ausgesprochen. Doch die Initiative, die schließlich zu seinem Rückzug führte, ging nicht von der parlamentarischen Opposition aus, sondern von den internationalen Finanzmärkten, der Europäischen Union, den italienischen Unternehmerverbänden und seinem eigenen politischen Lager.

In den vergangenen Monaten war Berlusconi zunehmend unter Druck geraten, weil er die von der EU geforderte Haushaltssanierung nicht energisch genug anpackte. Wirtschaftsvertreter, Banker, Ratingagenturen und EU-Vertreter drängten ihn, Platz für eine neue Regierung zu machen.

"Das Schicksal der Berlusconi-Regierung muss in diesen Stunden, in diesen Tagen im Parlament entschieden werden", forderte Emma Marcegaglia, die Präsidentin des Arbeitgeberverbands Confindustria. Der Besitzer der Luxusschuhmarke Tod's, Diego Della Valle, schaltete eine ganzseitige Anzeige in den großen Tageszeitungen mit der Überschrift: "Politiker: Es reicht!" Selbst Papst Benedikt XVI. mischte sich ein und forderte in einem Telegramm an Staatspräsident Napolitano eine "moralische Erneuerung" Italiens.

Mehrere Abgeordnete der Regierungspartei Volk der Freiheit (PdL) traten aus der Fraktion aus. Schließlich wandte sich auch der Koalitionspartner vom Regierungschef ab. Lega-Nord-Führer Umberto Bossi forderte Berlusconi auf, "beiseite zu treten" und die Regierungsgeschäfte an den 34 Jahre jüngeren PdL-Vorsitzenden Angelino Alfano zu übergeben.

Die Finanzmärkte und Börsen reagierten wie ein Seismograph auf Gerüchte über Berlusconis Absichten. Verkündete er seinen Verbleib im Amt, fielen die Kurse nach unten, signalisierte er Rücktrittsabsichten, schnellten sie wieder nach oben. Kurz bevor er seinen Rückzug bekannt gab, stiegen die Zinsen für zehnjährige italienische Staatsanleihen auf den Rekordwert von 6,7 Prozent. Das ist der höchste Stand seit Einführung des Euro 1999.

Italien, die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone und die siebentgrößte der Welt, steht nach Griechenland im Mittelpunkt der europäischen Schuldenkrise. Die Staatsverschuldung von 1,9 Billionen Euro übersteigt bei weitem die Kapazitäten des Europäischen Finanzstabilitätsfonds. Seit Tagen klettern die Zinsen für italienische Staatspapiere in beängstigende Höhen. Sollte Italien seine Gläubiger nicht mehr bedienen können, droht ein Staatsbankrott die gesamte Europäische Union mit in den Abgrund zu reißen.

Auf dem jüngsten EU-Gipfel in Brüssel wurde Berlusconi deshalb auf ein drakonisches Sparprogramm verpflichtet. Um die Banken bedienen zu können, soll Italien das Rentenalter erhöhen, zusätzliche Steuern erheben, die Sozialleistungen verschlechtern, Staatseigentum privatisieren, den rechtlichen Kündigungsschutz abschaffen, im öffentlichen Dienst die Löhne senken und zahlreiche Staatsbedienstete entlassen.

Die versammelten Regierungschefs machten kein Geheimnis daraus, dass sie Berlusconi die Umsetzung dieser Sparmaßnahmen nicht zutrauen. Von Journalisten nach der italienischen Haushaltspolitik gefragt, reagierten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Nicoals Sarkozy nur mit einem süffisanten Lächeln.

Der anschließende G20-Gipfel in Cannes stellte Italien dann unter Kuratel des IWF. Die italienische Regierung muss dem IWF künftig alle drei Monate Bericht über die Umsetzung der Sparmaßnahmen berichten.

Während die Vertreter der internationalen Finanzmärkte und der italienischen Wirtschaft auf massive Sparmaßnahmen und auf einen schnellen Regierungswechsel drängen, bemüht sich die offizielle italienische Opposition, jede Mobilisierung von unten zu vermeiden. Sie macht sich Sorgen, dass die politische Instabilität, die mit einem Regierungswechsel einhergeht, eine Möglichkeit für das direkte Eingreifen der Massen ins politische Geschehen schaffen könnte. Das will sie unter allen Umständen verhindern.

Vor allem das Verhalten der größten Oppositionspartei, der aus der Kommunistischen Partei hervorgegangenen Demokraten (PD), nimmt dabei teilweise bizarre Formen an. So verzichteten sie am Dienstag bewusst darauf, Berlusconi sofort zu Fall zu bringen. Indem sie sich in der Abgeordnetenkammer geschlossen der Stimme enthielten, ermöglichten sie die Verabschiedung des Rechenschaftsberichts der Regierung. Hätte sie dagegen gestimmt und Berlusconi eine Niederlage zugefügt, hätte dieser sofort zurücktreten müssen.

Nach der Abstimmung richtete PD-Chef Pier Luigi Bersani das Wort direkt an Berlusconi, forderte diesen zum freiwilligen Rücktritt auf und rief ihm zu: "Ich wage nicht zu glauben, dass Sie diesen Schritt nicht tun."

Die Demokraten wollen baldige Neuwahlen verhindern, weil sie politische Erschütterungen befürchten und sich nur geringe Chancen auf einen Wahlerfolg ausrechnen. Sie unterstützen das Diktat von IWF und EU uneingeschränkt und haben den Wählern außer Sparmaßnahmen nichts zu bieten. Bersani erklärte am Dienstagabend im Parlament ausdrücklich seine Bereitschaft, "seinen Teil der Verantwortung für das Land" zu übernehmen.

Schon während einer Kundgebung am vergangenen Samstag auf der Piazza San Giovanni in Rom hatte sich Bersani bereit erklärt, in einer Nachfolgeregierung mit den andern Parteien zusammenzuarbeiten. An seiner Seite traten gestandene europäische Sozialdemokraten auf: François Hollande von den französischen Sozialisten und Sigmar Gabriel von der deutschen SPD. Auch Susanna Camusso, Chefin des größten Gewerkschaftsdachverbands CGIL, erklärte dort, Berlusconi müsse zurücktreten, "damit Italien ein autonomes Kabinett zurückbekommt".

Um die von den internationalen Finanzmärkten geforderten Sparmaßnahmen umzusetzen, befürworten die Demokraten die Bildung einer Übergangsregierung aus Technokraten. Als Regierungschef haben sie den 68-jährigen Wirtschaftsprofessor und ehemaligen EU-Kommissar Mario Monti ins Gespräch gebracht, der parteiübergreifend über Unterstützung verfügt.

Tritt Berlusconi demnächst tatsächlich zurück, liegt die Initiative zur Bildung einer neuen Regierung beim 86-jährigen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano, der ebenfalls aus der Kommunistischen Partei stammt. Er kann die Regierungsgeschäfte von der bisherigen Koalition unter neuer Führung fortsetzen lassen, eine Übergangs- oder technische Regierung einberufen oder vorgezogene Parlamentswahlen auf das Frühjahr 2012 ansetzen.

Bis dahin kann Berlusconi seine Stellung an der Spitze der Regierung nutzen, um seine Nachfolge vorzubereiten. Im Gegensatz zu den Demokraten befürwortet er baldige Neuwahlen. Zu seinem Nachfolger hat er bereits den 41-jährigen Angelino Alfano ernannt.

Der aus Sizilien stammende Alfano diente Berlusconi von 2008 bis 2001 als Justizminister und steht derzeit an der Spitze der Regierungspartei PdL. Als Justizminister war er für ein nach ihm benanntes Gesetz verantwortlich, das Berlusconi während seiner Amtszeit Immunität vor juristischer Verfolgung gewährte und das später vom Verfassungsgericht kassiert wurde. Alfano werden auch Verbindungen zur Mafia nachgesagt. So wurde er 1996 beobachtet, wie er auf der Hochzeit der Tochter eines Mafiabosses den Brautvater küsste.

Die Aussicht, dass Berlusconi seine Nachfolge selbst regelt, hat die Aktienmärkte wieder ins Trudeln gebracht, die sich nach seiner Rücktrittsankündigung leicht erholt hatten. Auch die Zinsen für italienische Staatsanleihen erreichten am Mittwoch mit über 7 Prozent einen neuen Höchstwert.

Auch die Vertreter der äußeren Linken, von Rifondazione Comunista und ihren Abspaltungen, tragen die Politik des "nationalen Konsens" mit und wollen dazu beitragen, der italienischen Wirtschaft auf Kosten der Arbeiter wieder auf die Beine zu helfen.

Paolo Ferrero, Rifondazione-Chef und Leiter des "Links-Bündnisses" (Federazione della Sinistra), kritisiert zwar die beiden großen Lager und wirft ihnen vor, die Bevölkerung zu "massakrieren". Doch seine Forderungen gehen nicht über das hinaus, was selbst Sarkozy oder Merkel schon anmahnen, nämlich "die Finanzspekulation zu unterbinden", zwischen Handelsbanken und spekulativen Banken zu unterscheiden, eine Finanztransaktionssteuer einzuführen und die Leerverkäufe an den Börsen zu stoppen.

Ferrero war von 2006 bis 2008 unter Romano Prodi Sozialminister und unterstützte die damaligen Sozialkürzungen, die Angriffe auf das Rentensystem, die Ausweisung der Roma sowie die italienischen Auslandseinsätze im Libanon und in Afghanistan.

Nichi Vendola (SEL), ex-Rifondazione-Führer und Gouverneur von Apulien, sagte in einem Interview, man müsse "das italienische Problem anpacken, das sich in einer sehr hohen Verschuldung und einem sehr niedrigen Wachstum darstellt", und forderte eine "Neuauflage des Olivenbaums", also der Regierung von Romano Prodi (2006-2008).

Vendola bezeichnete den Staatspräsidenten Napolitano als einen "Leuchtturm", dessen Worte man immer gerne höre, und machte deutlich, dass er selbst bereit sei, notfalls mit den rechtesten Kräften zusammenzuarbeiten: "Obwohl ich wohl am weitesten vom Berlusconismus entfernt bin, verkörpere ich doch auch die Hoffnung der Zusammenarbeit mit Teilen der Mehrheit", sagte Vendola. In Apulien habe er einen starken Pakt mit dem Regionalminister der Regierungspartei PdL Raffaele Fitto geschlossen. "Man kann nicht leben, als wäre man ständig im Wahlkampf."

Diese Politiker, die sich "Linke" nennen, halten die von den Finanzmärkten diktierten beispiellosen Sparmaßnahmen und Angriffe auf die Arbeiter ganz offensichtlich für notwendig. Das Letzte, was sie wollen, ist ein offener politischer Kampf, der die Arbeiterklasse mobilisieren könnte.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 10.11.2011
Italien: Berlusconi kündigt Rücktritt an
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2011