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GLEICHHEIT/3944: Finanzmärkte setzen Offensive gegen Eurozonenländer fort


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Finanzmärkte setzen Offensive gegen Eurozonenländer fort

Von Stefan Steinberg
19. November 2011


Nach der Einsetzung von "Technokraten"-Regierungen in Griechenland und Italien inmitten von zunehmenden Hinweisen auf einen Wirtschaftsrückgang haben die Finanzmärkte eine erneute Offensive eröffnet und greifen die Staatsanleihen europäischer Kernländer an.

Der Standpunkt des Finanzkapitals wurde in einem Leitartikel der spanischen Wirtschaftszeitung Expansión zusammengefasst: "Die Märkte lassen sich nicht lange von den Sirenenklängen der europäischen Institutionen in die Irre führen, wie verführerisch sie sich auch anhören mögen. Investoren wollen konkrete Fakten sehen und nicht nur weitere Versprechungen, wenn sie wieder Vertrauen in Europa und die EU fassen sollen."

In den ersten Stadien der europäischen Krise richteten die Banken, Anleihemärkte und Ratingagenturen ihr Feuer auf die europäische Peripherie, d.h. auf Länder wie Griechenland, Portugal und Irland. Jetzt richten sie sich zunehmend gegen Länder von Kerneuropa und verkaufen große Mengen Staatsanleihen Frankreichs, Österreichs, Belgiens und der Niederlande, d.h. von Ländern, die lange als finanzpolitisch absolut sicher angesehen wurden.

Die Kampagne der Banken, die Zinsen auf Staatsanleihen hochzutreiben, zielt darauf ab, die politische Agenda in Griechenland, Italien und ganz Europa zu bestimmen. Die erneute Verkaufswelle französischer Anleihen setzte nach der Ankündigung des französischen Premierministers Francois Fillon ein, seine Regierung werde nach drei Kürzungsprogrammen in Folge vor den Präsidentschaftswahlen im April nächsten Jahres keine weiteren Maßnahmen in dieser Richtung planen.

Finanzkreise üben heftigen Druck auf Frankreich aus, seine Arbeitsgesetze radikal zu reformieren und sein Sozialsystem abzuspecken.

Die gleichen Forderungen werden an Italien gerichtet. Vergangene Woche forderte der Chefökonom der Deutschen Bank, Tom Mayer, von Italien ein Reformprogramm ähnlich der Agenda 2010 der rot-grünen Koalition von Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Das würde zu einer enormen Zunahme der Billiglohnarbeit und zu einer umfassenden Beschneidung des Sozialsystems führen.

Nachdem die Finanzmärkte in Griechenland und Italien für die Einsetzung von Regierungen unter der Führung von Bankern gesorgt haben, diktieren sie jetzt die Politik dieser Regierungen. Ein Artikel in der französischen Tageszeitung Le Monde weist auf den gemeinsamen Aspekt der drei wichtigen Ernennungen in den vergangenen Wochen in Europa hin. In allen drei Fällen waren die Ernannten früher für die Banken aktiv, besonders für die amerikanische Investmentbank Goldman Sachs.

Der neue italienische Ministerpräsident Mario Monti startete 2005 als Berater bei Goldman Sachs mit der Aufgabe, die Bank "in europäischen Wirtschaftsfragen und weltweit in der Frage politischer Initiativen der öffentlichen Hände" zu beraten.

Anfang des Monats wurde der italienische Banker Mario Draghi zum neuen Vorsitzenden der Europäischen Zentralbank berufen. Le Monde schrieb: "Draghi war von 2002 bis 2005 Vizevorsitzender für Europa von Goldman Sachs International. Dort war er für die Abteilung "Firmen und Staaten" verantwortlich, die kurz vor seiner Ankunft Griechenland half, den wirklichen Zustand seiner Staatsfinanzen zu verschleiern."

Der Chef der neuen griechischen Regierung, Lucas Papademos, war von 1994 bis 2002 Gouverneur der griechischen Zentralbank. Le Monde schreibt; "In dieser Eigenschaft spielte er bei der Operation, den wirklichen Zustand der griechischen Staatsfinanzen mithilfe von Goldman Sachs zu verschleiern, eine Rolle, die noch ausgeleuchtet werden muss." Sie fügte hinzu, dass der momentane Vorsitzende der griechischen Schuldenmanagementagentur, Petros Christodoulos, "ebenfalls als Händler für die Bank in London arbeitete".

Die europäische Schuldenkrise verschärft sich und jüngste wirtschaftliche Kennziffern deuten in Europa auf einen Trend zur Rezession hin. Am Donnerstag vergangener Woche revidierte die Europäische Kommission die Zahlen über die wirtschaftliche Entwicklung in Europa drastisch nach unten. Sie schloss die Möglichkeit einer "tiefen und lang anhaltenden" Rezession nicht aus.

"Die Aussichten für die europäische Wirtschaft sind leider trüb", sagte EU Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn. "Die EU ist zum Stillstand gekommen und es besteht das Risiko einer neuen Rezession." Rehn erklärte, dass sich die wirtschaftliche Lage in Europa nur verbessern könne, wenn die Schuldenkrise effektiv angegangen werde.

Die jüngsten Zahlen vom europäischen Statistikamt Eurostat vier Tage später wiesen ebenso darauf hin, dass sich die Rezession in ganz Europa beschleunigt. Das Wirtschaftswachstum in den siebzehn Ländern der Eurozone betrug im Quartal von Juli bis September nur 0,2 Prozent.

Dieses minimale Wachstum verschleiert die enormen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Während Deutschland immer noch ein deutliches Wachstum aufweist, stecken Griechenland und Portugal in einer Rezession. In den Niederlanden, Belgien, Spanien und Zypern ist das Wachstum praktisch zum Stillstand gekommen. Die jüngsten Eurostat Daten enthielten keine Informationen über Italien und Irland. Die Europäische Kommission erwartet in Italien für 2012 allerdings nur ein Wachstum von 0,1 Prozent und von 0,7 Prozent in 2013.

Andere Quellen kritisierten die Wachstumserwartungen der Kommission als zu optimistisch. Die französische Bank Société Générale schätzte, dass Italien in eine zweijährige Rezession gehe, weil die Industrieproduktion schon sinkt.

Die Bank von England nahm ihre Wachstumsvoraussagen für 2011 und 2012 ebenfalls auf ein Prozent zurück. Gouverneur Mervyn King sagte, das britische Wirtschaftswachstum werde bis nächsten Sommer bei Null verharren.

Während das Wachstum der britischen Industrieproduktion versiegt, steigt die Arbeitslosigkeit. Die offiziellen Zahlen von dieser Woche zeigen den höchsten Stand der Arbeitslosigkeit in Großbritannien seit siebzehn Jahren. Die Jugendarbeitslosigkeit steht mit einer Million sogar auf dem höchsten Stand sein Beginn der Aufzeichnungen.

Die internationalen Börsen reagierten scharf auf die jüngsten Neuigkeiten aus Europa. Die amerikanischen Aktien sind diese Woche deutlich gefallen. Führende Politiker äußern die Befürchtung, dass die Krise in Europa starke Auswirkungen auf amerikanische Investitionen haben könnte.

Präsident Obamas oberster Wirtschaftsberater, Alan Krueger, erklärte diese Woche, dass die europäische Schuldenkrise die größte Bedrohung für den amerikanischen Aufschwung sei. Er forderte die europäischen Politiker auf, schnell zu handeln, "weil sie [die europäische Krise] nicht nur Europa und die USA bedroht, sondern die ganze Welt."

Die Märkte sind nicht nur entschlossen, die Überreste des Sozialstaats in Europa auszulöschen, sondern wollen die Gunst der Stunde auch in allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens nutzen.

Die schweizerisch-italienische Zeitung Corriere del Ticino warnte diese Woche, dass eine Rezession in Italien und Europa starke Auswirkungen auf Italien und den Euro haben würde: "Italien und der Euro haben keine Zeit mehr. Eine konsequente Sparpolitik wirkt in Richtung Rezession, die noch durch die Rezession in der Eurozone und schwaches globales Wirtschaftswachstum verschärft wird. Das Ergebnis wird eine deflationäre Spirale sein, begleitet von einer allgemeinen Verarmung des Landes, und könnte sogar notwendig machen, das Tafelsilber zu verkaufen. Das ist die wirkliche Gefahr, vor der Italien steht, und mit der sich auch Griechenland, Portugal und Spanien konfrontieren müssen."

Mit der Vertiefung der europäischen Krise und der Verstärkung der Offensive der Märkte nehmen die Spannungen in Europa täglich zu. Bei Gesprächen mit europäischen Führern im Laufe dieser Woche, darunter mit dem irischen Ministerpräsidenten und dem britischen Premierminister, wird Kanzlerin Merkel unter starkem Druck stehen, die Stützung der Banken zu ermöglichen, indem der Europäischen Zentralbank erlaubt wird, unbeschränkt Geld zu drucken, um europäische Staatspapiere zu kaufen. Frankreich und die USA haben deutlich gemacht, dass auch sie diesen Kurs befürworten.

Berlin lehnt diese Maßnahme aber hartnäckig ab, weil es die inflationären Tendenzen und eine Bedrohung seines eigenen Ansehens an den Kreditmärkten fürchtet.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 19.11.2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2011