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GLEICHHEIT/4575: Wirtschaftliche und soziale Krise in Russland vertieft sich


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Wirtschaftliche und soziale Krise in Russland vertieft sich

Von Clara Weiss
6. Februar 2013



In Russland vertieft sich die wirtschaftliche und soziale Krise. Das Wirtschaftswachstum geht zurück und der Kreml reagiert, indem er mit weitreichenden Sparprogrammen die bestehenden sozialen Missstände und die Rezessionstendenzen verschärft.

Das russische Bruttoinlandsprodukt ist 2012 trotz hoher Ölpreise auf dem Weltmarkt langsamer gewachsen als 2011. Das Wirtschaftswachstum ging von 4,3 auf 3,4 Prozent zurück. Im zweiten Halbjahr lag es sogar nur bei 2,2 Prozent.

Das Wachstum der Industrieproduktion verlangsamte sich von 4,7 Prozent im Jahr 2011 auf 2,6 Prozent. Der Agrarsektor verzeichnete nicht zuletzt wegen der Hitzewelle und Missernten im Sommer ein Minus von 3,8 Prozent.

In der zweiten Hälfte des Jahres kam es zu einer Reihe von Werkschließungen und Entlassungen in Industrieregionen, vor allem im Ural-Gebiet. Außerdem wurden die Arbeitszeit und entsprechend die Löhne breitflächig gekürzt und die Auszahlung von Löhnen monatelang zurückgehalten. Zahlreiche Unternehmen sind inzwischen vom Bankrott bedroht, nachdem sich schon in der Krise 2008 viele nur durch Staatskredite und -subventionen am Leben halten konnten.

Auch der Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation WTO im vergangenen Sommer trägt zur Krise der Industrie und Agrarwirtschaft bei, da diese auf dem internationalen Markt kaum wettbewerbsfähig sind.

Besonders schlimm ist die Situation in den Monostädten, wo praktisch die gesamte Bevölkerung von einem Unternehmen abhängt. So bekommen Arbeiter aus Petrowsk, einer Monostadt im Südwesten Russlands um die Waffenfabrik "Moloto", seit Juli kein Gehalt mehr, weil das Werk, das 2009 vom Staat gerettet wurde, wieder kurz vor dem Bankrott steht.

Laut Gewerkschaftsinformationen planen auch die Autounternehmen Ford, Nissan, General Motors und Volkswagen, die vom Einbruch des europäischen Automarktes getroffen wurden, eine Drosselung ihrer Produktion in Russland. In Russland ist der Automarkt zwar im letzten Jahr weiter gewachsen, für die kommenden Jahre sagen Experten jedoch eine Stagnation voraus. Arbeiter in mehreren Betrieben müssen bereits verkürzte Arbeitswochen, verlängerten Urlaub und dementsprechend geringere Löhne hinnehmen.

Die sich abzeichnende Krise in der russischen Autoindustrie wird durch die massive Kürzung der Subventionen der Regierung verschärft. Im Jahr 2012 fielen die Subventionen mit 3,9 Mrd. US-Dollar fast drei Mal niedriger aus als ursprünglich geplant. Bis 2020 will die russische Regierung die Subventionen von den 2009 ursprünglich geplanten 60 auf 45 Mrd. US-Dollar senken.

Die Autoindustrie war von der Krise 2008 besonders schwer betroffen. AvtoVAZ, der größte osteuropäische Autohersteller, konnte damals nur durch staatliche Hilfe vor dem Bankrott bewahrt werden.

Die Exporte, von denen die russische Wirtschaft in hohem Maße abhängt, sind im letzten Jahr nur um 1,8 Prozent gestiegen und haben so zum langsameren Wirtschaftswachstum beigetragen. Die Importe haben sich hingegen um 8,7 Prozent erhöht.

Der Gasmonopolist Gazprom, dessen Steuerzahlungen für mehr als 20 Prozent des Staatsbudgets aufkommen, musste einen deutlichen Rückgang seiner Exporte hinnehmen. Im ersten Halbjahr 2012 sanken die Exporte nach Europa, dem wichtigsten Absatzmarkt für Gazprom, um 8,7 Prozent. Grund sind zum einen die Verschärfung der Eurokrise und zum anderen die wachsende Konkurrenz durch Schiefergas auf dem Gasmarkt. Der Ratingagentur Fitch zufolge wird sich dieser Trend 2013 fortsetzen.

Der Kapitalabfluss, der 2011 80,5 Mrd. US-Dollar betragen hatte, setzte sich fort und lag 2012 bei 56,8 Mrd. US-Dollar.

Die Prognosen für 2013 fallen ebenfalls düster aus. Die Wirtschaftszeitung finmarket.ru kommentierte: "Selbst wenn man annimmt, dass alle Hauptsektoren der russischen Wirtschaft im Laufe des Jahres 2013 im selben Tempo wachsen, wie in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres, so wird man im Großteil der Wirtschaft am Ende des Jahres krisenhafte Wachstumsraten beobachten."

Die Higher School of Economics in Moskau erwartet einen deutlichen Rückgang der Industrieproduktion und Stagnation oder Produktionsrückgänge in den meisten anderen Teilen der Wirtschaft.

Experten schätzen, dass das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr bei 3,3 Prozent liegen wird. In den Jahren 2000 bis 2008 hatte sich das russische Bruttoinlandsprodukt vor allem aufgrund boomender Öl- und Gasexporte mehr als vervierfacht. Das jährliche Wirtschaftswachstum lag dabei nie unter 4,7 Prozent.

Wie überall auf der Welt reagiert die herrschende Klasse in Russland auf die Wirtschaftskrise mit drastischen Sparmaßnahmen, die eine ohnehin verarmte Bevölkerung ins blanke Elend stürzen. Der Haushalt für 2013 bis 2015 sieht massive Einsparungen in den Bereichen Kultur, Bildung und Gesundheit vor, während der Anteil der Militärausgaben auf rund 6,1 Prozent des BIP steigen wird.

In den nächsten drei Jahren sollen jede fünfte Hochschule und 30 Prozent der Hochschulinstitute wegen "Ineffizienz" geschlossen werden. Ende letzten Jahres hat der Kreml zudem eine neue Rentenreform beschlossen, die zu weiteren Kürzungen der ohnehin mageren Renten führen wird.

Besonders dramatisch sind die geplanten Einschnitte im Gesundheitswesen, das bereits seit der kapitalistischen Restauration in den 90er Jahren in Trümmern liegt. Zwischen 2013 und 2015 sollen die Gesundheitsausgaben von 507 auf 373 Mrd. Rubel gekürzt werden. Zahlreiche medizinische Einrichtungen, darunter Geburtenhäuser und Krankenhäuser, werden geschlossen. In vielen Fällen wird die Bevölkerung dadurch von jeglicher medizinischer Versorgung abgeschnitten.

In St. Petersburg kam es im Januar zu Protesten gegen die Schließung des Krankenhauses Nr. 31 für die einfache Bevölkerung. Die Regierung plante, das Krankenhaus, das als eines der wenigen in der Stadt eine moderne Ausstattung besitzt, "umzustrukturieren" und nur noch hochrangigen Richtern und Gerichtsmitarbeitern zugänglich zu machen. Als über 1.000 Menschen dagegen demonstrierten, sah sich die Regierung gezwungen, ihre Pläne zumindest vorrübergehend auf Eis zu legen.

In der zentralrussischen Region Jaroslawl protestierten in den vergangenen zwei Monaten Einwohner gegen die geplante Schließung von 24 Geburtshäusern. Die Schließung der Einrichtungen, die sich größtenteils in ländlichen Gebieten und Kleinstädten befinden, würde tausende Frauen zwingen, unter den entsprechenden hygienischen Bedingungen ihre Kinder zu Hause zur Welt zu bringen.

In der Ortschaft Borisoglebskij, die rund 120 Kilometer von der Regionshauptstadt Jaroslawl entfernt liegt, besetzten schwangere Frauen im Dezember zeitweise das Geburtshaus, um gegen die Schließung zum 1. Januar zu protestieren.

Eine der Frauen erklärte: "Ein Geburtshaus zu schließen ist ein anti-Volksprogramm, denn es ist allen klar, dass es für schwangere Frauen bei unseren Wegen mit den Krankenwagen, die uns zur Verfügung stehen, faktisch unmöglich ist, nach Rostow oder Jaroslawl zu fahren."

Die Straßen in der Region sind vollkommen kaputt und die Krankenwagen technisch und hygienisch unzumutbar. Vor kurzem ist ein kranker dreijähriger Junge aus der Region im Krankenwagen nach Jaroslawl gestorben, weil die Wege so schlecht sind. Das Geburtshauses wurde dennoch geschlossen.

Die Begründung für die Schließungen ist äußerst zynisch: Weil die Geburtshäuser nicht medizinischen und hygienischen Standards entsprächen und "ineffizient" seien, müsse man sie schließen. In Wahrheit ist die Rückständigkeit medizinischer Einrichtungen ein Ergebnis der Zerstörung des sowjetischen Sozialstaats in den 90er Jahren. Die gegenwärtigen Kürzungen werden diese soziale Katastrophe weiter verschlimmern.

Die Kürzungen sollen in Zukunft weiter verschärft werden. Präsident Putin kündigte Ende Januar an, das Investitionsklima in Russland müsse verbessert werden, was ein Euphemismus für weitere Sparmaßnahmen ist.

Der Kreml hat zu diesem Zweck Anfang des Jahres die amerikanische Investitionsbank Goldman Sachs als Berater engagiert. Sie soll gemeinsam mit Vertretern aus dem Wirtschaftsministerium und den führenden russischen Banken VTB und Sberbank Projekte zum Anlocken von Investoren ausarbeiten und für eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Kreml und internationalen Ratingagenturen und Unternehmen sorgen.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 06.02.2013
Wirtschaftliche und soziale Krise in Russland vertieft sich
http://www.wsws.org/de/articles/2013/feb2013/russ-f06.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2013