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GLEICHHEIT/4900: Italien - Regierungskrise ungelöst


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Italien:
Regierungskrise ungelöst

Von Marianne Arens und Peter Schwarz
6. November 2013



Die italienische Regierung von Ministerpräsident Enrico Letta torkelt auch nach dem überstandenen Misstrauensvotum vom 2. Oktober von einer Krise in die nächste.

Um das Haushaltsdefizit unter die von der EU vorgeschriebene Grenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu senken, greift Letta die arbeitende Bevölkerung rücksichtslos an. Sein Rücktritt würde den Euro und die Europäische Union in neue Turbulenzen stürzen.

Vergangene Woche hat der italienische Regierungschef in sechs europäischen Zeitungen an die herrschenden Eliten ganz Europas appelliert, zusammenzustehen und dem Erstarken populistischer Parteien und Bewegungen in der Europäischen Union energisch entgegenzutreten. Wenn solche Parteien bei der Europawahl im Mai 2014 mehr als ein Viertel der Stimmen erhielten, wäre das "ein Riesenproblem", sagte Letta. Man hätte es dann mit "dem europafeindlichsten EU-Parlament der Geschichte" zu tun.

Während Letta vordergründig auf rechte Parteien wie den französischen Front National und die italienische Lega Nord anspielte, geht es ihm im Kern um die wachsende soziale Opposition gegen das Spardiktat der EU. Er forderte eine Stärkung der Institutionen der Eurozone, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen, um den Austeritätskurs gegen den wachsenden Widerstands fortzusetzen. "Wir brauchen einen ständigen Wirtschafts- und Finanzminister der Euro-Länder. Wir brauchen einen gemeinsamen Haushalt, eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, eine Institution, die uns achtzehn vereint", sagte er.

In Italien haben die Sparpolitik Lettas und seiner Vorgänger Mario Monti, Silvio Berlusconi und Romano Prodi eine tiefe Rezession ausgelöst.

Im September waren offiziell 12,5 Prozent arbeitslos. Nach Angaben des Statistikamts ISTAT sind aber rund 20 Prozent oder sechs Millionen Menschen ohne Arbeit. Zu den 3,2 Millionen als "arbeitsuchend" Gemeldeten kommen weitere drei Millionen sogenannte "Inaktive", die sich im vorangegangenen Monat nicht aktiv und nachweislich um Arbeit beworben haben. Weitere 200.000 Menschen, die eine volle Stelle suchen, müssen sich mit einer Teilzeitstelle begnügen.

Am schlimmsten sind junge Menschen zwischen fünfzehn und 24 Jahren von der Krise betroffen. Die Jugendarbeitslosigkeit hat im September den Rekordwert von 40,4 Prozent erreicht, den höchsten seit Beginn der Aufzeichnungen 1977. Die Lage ist mit der Griechenlands und Spaniens vergleichbar. Die Krisenpolitik der EU raubt der jungen Generation jede Zukunftsperspektive.

Weil die Regierung auf einem sozialen Pulverfass sitzt, ist sie tief zerstritten. Die drei Koalitionspartner - Lettas Demokraten (PD), Berlusconis Volk der Freiheit (PdL) und die von Mario Monti gegründete Bürgerwahl (SC) - bekämpfen sich nicht nur gegenseitig, sondern sind auch innerlich gespalten.

Silvio Berlusconi, der wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt ist, und gegen den mehrere weitere Prozesse kurz vor dem Abschluss stehen, kämpft nach wie vor darum, seinen Ausschluss aus dem Senat zu verhindern. Am 2. Oktober hatte er deshalb versucht, die Regierung zu Fall zu bringen, was aber an Abtrünnigen aus den eigenen Reihen unter Führung seines bisherigen Kronprinzen Angelino Alfano gescheitert war.

Seither hat der 77-jährige Milliardär die PdL eigenmächtig aufgelöst und in Forza Italia umbenannt. Mit einer Partei diesen Namens war Berlusconi 1994 erstmals an die Macht gelangt. Alfano und die vier weiteren PdL-Minister nahmen nicht an der Sitzung teil, die den Namenswechsel "einstimmig" beschloss, was praktisch ihrem Austritt gleichkommt.

Bisher hat der Senat die Abstimmung über den Ausschluss Berlusconis aus seinen Reihen immer wieder hinausgeschoben, um den Bestand der Regierung nicht zu gefährden. Lange wird dies aber nicht mehr möglich sein.

Auch der kleinste Koalitionspartner, Mario Montis Bürgerwahl, hat praktisch aufgehört, eine Rolle zu spielen. Auf ihre Stimmen ist die Regierung allerdings nicht unbedingt angewiesen.

Der ehemalige EU-Kommissar Monti hatte von November 2011 an ein Kabinett parteiloser Fachleute geführt und die Partei selbst gegründet, um im Februar 2013 an der Parlamentswahl teilzunehmen. Sie erhielt allerdings nur enttäuschende acht Prozent. Nun ist Monti aus der eigenen Partei ausgetreten, der er eine Annäherung an Berlusconi und einen "politischen Slalom" aus machtpolitischen Erwägungen vorwirft. Er hat Lettas Haushaltsvorlage für 2014 scharf angegriffen und fordert zusätzliche Steuerentlastungen und "Impulse" für die Wirtschaft.

Der Haushaltsentwurf Lettas sieht eine Senkung der Staatsausgaben um zwölf Milliarden Euro und eine Senkung der Unternehmersteuern um fast vier Milliarden Euro vor. Um das Haushaltsloch zu stopfen, werden die Mehrwertsteuer, die Müllgebühren und andere indirekte Steuern, die die arbeitende Bevölkerung unverhältnismäßig belasten, drastisch angehoben. Auch die Löhne der öffentlichen Bediensteten werden eingefroren und leer werdende Stellen nicht besetzt.

In der eigenen Partei gerät Letta zunehmend durch den Bürgermeister von Florenz Matteo Renzi unter Druck. Dieser tritt am 8. Dezember als aussichtsreicher Kandidat zur Urwahl des Parteivorsitzenden an, an der sich auch Nichtparteimitglieder beteiligen dürfen. Renzi hatte sich vor einem Jahr bereits um die Spitzenkandidatur der PD für die Parlamentswahl beworben, war aber vom damaligen Parteivorsitzenden Pierluigi Bersani klar geschlagen worden, weil er als Opportunist und Mann der Wirtschaft galt.

Nun versucht Renzi, die Unzufriedenen in der PD um sich zu sammeln, indem er sich als strikter Gegner der Koalition mit Berlusconi ausgibt. Unter anderem wird er vom apulischen Regionalpräsidenten Nichi Vendola unterstützt, der ihn bis vor kurzem noch als "Berlusconi der Linken" verspottet hatte. Nun bezeichnet ihn Vendola als "Hoffnungsträger der italienischen Linken" und einzigen, der "das Gift der großen Koalition" wirkungsvoll bekämpfen kann.

Vendolas Partei SEL (Linke, Ökologie, Freiheit) ist aus Rifondazione Comunista hervorgegangen, die 2008 weitgehend zusammenbrach, nachdem sie sich zwei Jahre lang an der Regierung Prodi beteiligt und deren Angriffe auf die Arbeiterklasse unterstützt hatte. Sie trägt wie alle anderen bürgerlichen Parteien, ob nominal rechts oder links, eine direkte Verantwortung für das soziale Elend in Italien. Die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung werden von keiner Partei vertreten.

Bei den Wahlen im Februar war die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) des Komikers Beppe Grillo in dieses politische Vakuum vorgedrungen. Aufgrund ihrer vehementen Angriffe auf alle etablierten Parteien gewann sie ein Viertel der Stimmen und wurde stärkste Partei.

Grillo vertritt allerdings selbst ein äußerst rechtes Programm, wie die WSWS bereits damals nachgewiesen hat. Inzwischen wird dies immer deutlicher. Grillo empfiehlt seinen Anhängern, im Wahlkampf "auf rechte Wähler" zu achten, hetzt gegen Einwanderer und spricht den Kindern von Migranten die Staatsbürgerschaft ab. Nach früheren Kontakten zur rechtsextremen Casa Pound soll sich Grillos Ideengeber Gianroberto Casaleggio vor kurzem auch mit Vertretern der rechtsextremen Partei La Destra getroffen haben und seit längerem Verbindungen zum französischen Front National (FN) unterhalten.

Die sozialen Spannungen nehmen derweil spürbar zu. Es kommt regelmäßig zu Demonstrationen und heftigen Zusammenstößen mit der Polizei. So kam es am 19. Oktober bei einer Demonstration in Rom gegen die Sparpolitik der Regierung zu Ausschreitungen.

Am vergangenen Donnerstag forderten Demonstranten in Rom ein staatlich garantiertes Grundeinkommen und das Recht auf Wohnung, nachdem in letzter Zeit hunderte Familien zwangsgeräumt worden sind. Die Menge bewegte sich auf den Regierungssitz Palazzo Chigi zu, als gepanzerte Polizeifahrzeuge sie aufzuhalten versuchten. Wütende Teilnehmer riefen "Schande, Schande!", bewarfen die Polizei mit Obst und allem Greifbaren und überrannten beinahe die Polizeifahrzeuge.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 06.11.2013
Italien: Regierungskrise ungelöst
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2013