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GLEICHHEIT/5241: Erdogans Wahlsieg kündigt Verschärfung von sozialen und politischen Konflikten an


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Türkei:
Erdogans Wahlsieg kündigt Verschärfung von sozialen und politischen Konflikten an

Von Halil Celik und Jean Shaoul
15. August 2014



Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan hat die Präsidentschaftswahl am 10. August gewonnen. Damit ist er der erste Präsident, der in einer landesweiten Direktwahl gewählt wurde. Seine Amtszeit wird fünf Jahre dauern. Er kann für eine zweite Amtszeit wiedergewählt werden. Mit 52 Prozent der Stimmen hat er zwar weniger erhalten als erwartet, braucht aber dennoch nicht in eine Stichwahl zu gehen.

Das Ergebnis stand zu keinem Zeitpunkt in Frage. Amtsinhaber Abdullah Gül trat zugunsten Erdogans zurück. Es bedeutet angesichts zunehmender politischer und wirtschaftlicher Krisen und der Kriege in den Nachbarstaaten Irak und Syrien eine weitere Entwicklung hin zu diktatorischeren Herrschaftsformen.

Vor seiner Präsidentschaftskandidatur war Erdogan bereits seit zwölf Jahren Premierminister. Das ist die maximale Länge für dieses Amt und die längste für einen Premierminister in der Türkei.

Das türkische Präsidentenamt hatte zwar bisher größtenteils repräsentativen Charakter, allerdings hat der Präsident mehr Macht als in anderen parlamentarischen Demokratien. Er hat z.B. die Befugnis, Gesetze in Kraft zu setzen oder sie zur Überarbeitung an das Parlament zurückzuschicken, Referenden und Neuwahlen anzuordnen und den Premierminister, Minister und wichtige Beamte zu ernennen.

Erdogan ist durch die Direktwahl durch die Bevölkerung gestärkt und hat seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung fest im Griff. Es wird erwartet, dass er das Amt des Präsidenten stärken wird. In der Parteizentrale der AKP im Ankara sagte er, sein Sieg künde den Beginn einer neuen Ära an. Damit meinte er, er werde das Land weiterhin regieren, allerdings aus dem Präsidentenpalast Cankaya, und er werde versuchen, die Verfassung zu ändern, um sich selbst mehr Exekutivgewalt zu geben, obwohl die AKP im Parlament nicht den dazu notwendigen Rückhalt genießt.

Die fünf größten bürgerlichen Oppositionsparteien, darunter die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Partei der Nationalen Bewegung (MHP), die eng mit Washington und den europäischen Mächten verbündet sind, stellten Ekmeleddin Ihsanoglu als ihren Kandidaten auf. Der 71-jährige Ihsanoglu, der von einer akademischen zu einer diplomatischen Laufbahn gewechselt hat und Chef der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) war, gewann 38,5 Prozent der Stimmen, bzw. 15,5 Millionen. Das sind fast vier Millionen weniger als CHP und MHP zusammen bei den Kommunalwahlen im März erhielten.

Den dritten Platz belegte der 41-jährige Abgeordnete und Vizevorsitzende der kurdischen nationalistischen Demokratischen Volkspartei (HDP), Selahattin Demirtas, mit 9,8 Prozent. Seine Partei erhielt vier Millionen Stimmen - eine Steigerung um 40 Prozent gegenüber der Kommunalwahl im letzten März.

Allerdings verdankt die HDP ihren Erfolg, durch den sie nahe an die Wahlhürde von zehn Prozent gekommen ist, hauptsächlich CHP-Unterstützern, die ihre Stimme der HDP gegeben haben, weil die CHP und die MHP einen Kandidaten mit islamischem Hintergrund aufgestellt hatten.

Das bemerkenswerteste an der Abstimmung war die geringe Beteiligung. Immerhin herrscht in dem Land Wahlpflicht. Darin zeigt sich die Enttäuschung über alle Kandidaten.

Die Parteichefs der CHP und der MHP versuchten, ihr schlechtes Abschneiden zu bemänteln, das auf ihre eigene diskreditierte rechte Politik zurückgeht, indem sie diejenigen kritisierten, die nicht zur Wahl gegangen waren. Von den 77 Millionen Einwohnern sind 53 Millionen wahlberechtigt, aber nur 74 Prozent von ihnen gaben ihre Stimme ab. Im März waren es noch 89 Prozent. Erdogan erhielt fast einundzwanzig Millionen Stimmen, das sind nur 360.000 mehr, als die AKP im März erhielt. Sein Anteil stieg jedoch von 43 Prozent auf 52 Prozent.

Die wichtigsten Oppositionsparteien, die CHP und die MHP, sind so diskreditiert, dass sie von den Turbulenzen der letzten vierzehn Monate nicht profitieren konnten.

Im Juni letzten Jahres war die Regierung mit landesweiten Massenprotesten konfrontiert, die durch Pläne ausgelöst wurden, den Gezi-Park und den Taksim-Platz in der Istanbuler Innenstadt zu bebauen. Diese Proteste wurden mit äußerster Brutalität niedergeschlagen, was weitere Proteste auslöste. Im Dezember wurden die korrupten Aktivitäten von Erdogan, seinem Sohn Bilal und vier Kabinettsministern durch eine Reihe von veröffentlichten Telefonaten entlarvt, was Untersuchungen und Ermittlungen zur Folge hatte. Erdogan unterband sie, indem er tausende von Polizeibeamten, Ermittler und Staatsanwälte unter dem Vorwand entließ, sie seien Teil einer Verschwörung, die von Washington und seinem ehemaligen politischen Verbündeten, dem islamistischen Prediger Fethullah Gülen angeführt werde, der im Exil in den USA lebt.

Es wurden weitere Aufzeichnungen bekannt, die eine Verschwörung von türkischen Geheimdienstoffizieren entlarvten. Sie wollten einen Krieg mit Syrien zur Unterstützung der Islamisten provozieren, die das Assad-Regime zu stürzen versuchen. Der Krieg ist bei der großen Mehrheit der türkischen Bevölkerung zutiefst unpopulär. Daraufhin ließ das Regime YouTube und andere soziale Netzwerke in der Türkei sperren. Es folgte eine lange Einschüchterungskampagne gegen die Medien. In der Türkei sind weltweit die meisten Journalisten inhaftiert.

Im Mai kamen im westtürkischen Soma mehr als 300 Kohlebergarbeiter aufgrund der kriminellen Nachlässigkeit des Betreibers und unzureichender Regulierung des Bergwerks ums Leben. Der Betreiber hat enge Beziehungen zur Regierung. Erdogan tat die Katastrophe als unvermeidbar ab. Einer seiner Berater wurde dabei gefilmt, wie er einen Bürger, der ihn während seines Besuchs in Soma ausgebuht hatte, beleidigt und gegen ihn handgreiflich wird.

Im Juni besetzte der Islamische Staat im Irak und in Syrien (ISIS) das türkische Konsulat in Mossul im Irak und nahm 49 türkische Bürger gefangen, darunter den Generalkonsul. Die türkische Regierung wurde von der Öffentlichkeit stark kritisiert, da sie das Konsulat nicht evakuiert hatte und enge Beziehungen zu ISIS und zu anderen islamistischen Gruppen pflegt, die in Syrien und dem Irak kämpfen. Erdogan selbst lehnte es ab, die ISIS als Terrororganisation zu bezeichnen.

Unter diesen Umständen fürchtet das politische Establishment der Türkei einen Massenaufstand der Arbeiterklasse wie in Ägypten im Jahr 2011, aus dem eine revolutionäre Bewegung entstanden war, die zum Sturz des Diktators Hosni Mubarak geführt hatte. Es ist entschlossen, jede Diskussion über die Probleme der türkischen Bevölkerung zu vermeiden als da sind: steigende Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption und soziale Ungleichheit. Es sagt nichts über den täglichen Polizeiterror oder Ankaras destruktive Rolle in Libyen, Syrien und im Irak, sondern konzentriert sich auf die reaktionären Themen Religion, Sektierertum und ethnische Fragen.

Erdogan stellte Israels mörderischen Angriff auf den Gazastreifen ins Zentrum seines Wahlkampfes, obwohl seine Regierung in militärischen, geheimdienstlichen und Handelsangelegenheiten eng mit Israel zusammenarbeitet.

Am Wahltag wurden mehrere Webseiten und Medien Opfer von verheerenden Cyberangriffen, genau wie es im März passiert war. Der HDP-Kandidat Demirtas erklärte vor der Presse, die HDP habe zahlreiche Berichte über Wahlbetrug erhalten. Sie werde sie gründlich prüfen und danach gegebenenfalls rechtliche Schritte einleiten.

Erdogan ist entschlossen einen loyalen AKP-Handlanger zum Premierminister zu machen, möglicherweise den derzeitigen Außenminister Ahmet Davotuglu. Nur einen Tag vor der Wahl schritt Erdogan ein, um den aktuellen Präsident Abdullah Gül auszubremsen, der den Wunsch äußerte, wieder in die AKP einzutreten und nach seinem Rücktritt als Präsident am 28. August Premierminister zu werden.

Parteisprecher Huseyin Celik kündigte an, dass die AKP einen Sonderkongress für den 27. August einberufen werde, um einen neuen Parteichef zu wählen; damit ist es Gül nicht möglich daran teilzunehmen. Das könnte Erdogan die Gelegenheit bieten, Güls eher säkulare und proamerikanische Fraktion zu liquidieren und damit die Fraktionskämpfe in der AKP zu verschärfen.

Das Scheitern des Kandidaten der CHP und der MHP hat zu erbitterten Vorwürfen und Fraktionskämpfen geführt. Der säkulare nationalistische Flügel der CHP hat bereits begonnen die Führung zu kritisieren und fordert einen Sonderkongress.

Nach der Wahl fielen die Kurse an der Istanbuler Börse, die türkische Lira verlor im Vergleich zum US-Dollar an Wert. Das zunehmende Chaos im Irak, in Libyen, Ägypten, der Ukraine und Russland hat in den letzten Monaten bereits zu einem Exportrückgang in diese Länder in Höhe von 730 Millionen Dollar geführt und gefährdet Ankaras Ziel, dieses Jahr Waren im Wert von 166 Milliarden Dollar zu exportieren.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 15.08.2014
Türkei: Erdogans Wahlsieg kündigt Verschärfung von sozialen und politischen Konflikten an
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2014