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GLEICHHEIT/6365: EU-Gipfel beschließt "historische" Aufrüstung


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

EU-Gipfel beschließt "historische" Aufrüstung

Von Johannes Stern
24. Juni 2017


Nach dem offiziellen Beginn der Brexit-Gespräche [1] Anfang der Woche treiben die Mitgliedsstaaten die Verwandlung der Europäischen Union (EU) in eine Militär- und Verteidigungsunion zügig voran. Im Zentrum des EU-Gipfels, der am Donnerstag und Freitag in Brüssel stattfand, standen weitgehende Maßnahmen zur inneren und äußeren Aufrüstung des Kontinents.

Unter anderem einigte man sich darauf, "eine umfassende und ehrgeizige Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) zur Stärkung der europäischen Sicherheit und Verteidigung einzurichten". Innerhalb von drei Monaten legen die Regierungen "eine gemeinsame Liste mit Kriterien und Verpflichtungen zusammen mit konkreten Fähigkeitenprojekten" fest, so die offizielle Website des Europäischen Rats. Dabei gehe es auch um "Missionen mit höchsten Anforderungen", also Kampfeinsätze von europäischen "Gefechtsverbänden".

Bereits Anfang des Monats hatte die EU den Aufbau einer gemeinsamen Kommandozentrale für zivile und militärische Einsätze beschlossen und einen milliardenschweren Europäischen Verteidigungsfonds aufgelegt. Eine offizielles Gipfel-Papier unter der Überschrift "Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zu Sicherheit und Verteidigung" begrüßt diesen Schritt "und erwartet dessen rasche Anwendung". Es gehe um den Aufbau einer "wettbewerbsfähigen, innovativen [...] europäischen Verteidigungsindustrie".

Ziel der Maßnahmen ist die Entwicklung der EU zu einer aggressiven Großmacht, die in der Lage ist, notfalls auch unabhängig von der Nato und den USA militärisch einzugreifen und Krieg zu führen.

In einem "Reflexionspapier über die Zukunft der europäischen Verteidigung", das bereits am 7. Juni von der Europäischen Kommission veröffentlicht wurde, heißt es: "Für die Verbesserung der europäischen Sicherheit sind allen voran die Europäer selbst zuständig. Die Ressourcen wären eigentlich vorhanden: Zusammengenommen sind die Militärausgaben der europäischen Länder die zweithöchsten der Welt [...] Zwar wird die Zusammenarbeit mit unseren Partnern für die EU die Regel und die bevorzugte Lösung bleiben, doch sollten wir auch in der Lage sein, wenn nötig alleine zu handeln."

Der Maßstab für die europäische Aufrüstung ist dabei die militärische Schlagkraft der USA. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Ratspräsident Donald Tusk: "Der Verteidigungsfond ist notwendig. Wir haben in Europa 130 unterschiedliche Waffensysteme und die USA 30. Wir haben in Europa 17 unterschiedliche Panzermodelle und die USA eines. Wir geben halb so viel wie die USA für Verteidigung aus, aber unsere Effizienz liegt bei nur 15 Prozent". Es gebe also "Raum für Verbesserungen", und darauf habe man sich nun geeinigt.

Die wahnwitzige Militarisierung Europas wird vor allem von der deutschen und französischen Regierung vorangetrieben. "Das ist ein echter Mehrwert, auf den wir uns geeinigt haben", jubelte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel über den in Brüssel beschlossenen Verteidigungsplan. "Weil er uns in die Lage versetzt, Missionen durchzuführen, etwa in Afrika, bei denen wir nicht nur das Militärische im Blick haben, sondern auch die politischen Lösungsmöglichkeiten und die Entwicklungszusammenarbeit einbeziehen können."

Der neue französische Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Beschlüsse als "historisch". "Über Jahre gab es keinen Fortschritt bei der Verteidigung, aber heute gab es ihn", erklärte er vor Reportern. Gleichzeitig betonte er die Bedeutung der Achse Paris-Berlin, um die EU zu organisieren und die angestrebten Pläne zu verwirklichen. "Wir arbeiten Hand in Hand mit Deutschland".

Am Ende des Gipfels inszenierten sich Merkel und Macron medienwirksam auf einer gemeinsamen Pressekonferenz und priesen das Treffen als "Rat der Zuversicht und Tatkraft". Macron erklärte: "Europa ist unser bester Schutz angesichts der globalen Herausforderungen". Damit meinte der französische Präsident nicht nur Russland - die EU verlängerte ihre Sanktionen gegen Moskau um weitere sechs Monate -, sondern auch die Politik der USA. Man stehe voll und ganz hinter dem Klimaschutzabkommen, betonte Macron mit Blick auf den von US-Präsident Donald Trump angekündigten Ausstieg aus dem Abkommen.

Auch eine Spitze gegen die britische Premierministerin Theresa May, die bereits während des Gipfels kaum mehr eine Rolle spielte, konnten sich die EU-Vertreter nicht verkneifen. "Mein erster Eindruck ist, dass das Angebot des Vereinigten Königreichs unter unseren Erwartungen liegt", kommentierte Tusk die Vorschläge Mays zu den Rechten für EU-Bürger nach dem Brexit.

Zugeständnisse an London sind für Brüssel und Berlin schon allein deshalb inakzeptabel, weil sie das Aufbrechen der EU unter Bedingungen wachsender politischer und wirtschaftlicher Gegensätze auf dem Kontinent beschleunigen würden. "Nicht alle sind glücklich mit dem deutsch-französischen Führungsduo", kommentierte die Süddeutsche Zeitung. Die osteuropäischen Visegrád-Staaten weigerten sich nach wie vor, Flüchtlinge aufzunehmen, und auch in der Handelspolitik offenbare sich "ein Dissens". Während die Niederlande, Irland und andere Verfechter des freien Handels seien, dränge Macron auf protektionistische Maßnahmen und "ein Europa, das beschützt".

Je offener der reaktionäre Charakter der EU zu Tage tritt, desto absurder wird die Propaganda, mit der die herrschende Klasse Unterstützung für sie mobilisiert. In einem ausführlichen Interview, das vor dem Gipfel in mehren großen europäischen Zeitungen veröffentlicht wurde, behauptete Macron, Europa falle bei der Verteidigung von "Freiheit" und "Demokratie" eine "Sonderrolle" zu. "Die Demokratie ist auf unserem Kontinent entstanden. Die USA lieben wie wir die Freiheit - aber sie teilen nicht unseren Sinn für Gerechtigkeit".

Macron weiß genau, dass das kapitalistische Europa nicht "Gerechtigkeit und Frieden" schafft, sondern eine Brutstätte für Nationalismus, soziale Konterrevolution, Polizeistaatsmaßnahmen und Krieg ist. Die von der EU diktierten Sozialkürzungen haben ganze Länder, wie Griechenland, verwüstet und Millionen in Armut gestürzt. Die brutale Abwehr von Flüchtlingen durch die Festung Europa, die in Brüssel weiter gestärkt wurde, hat das Mittelmeer in ein Massengrab verwandelt. In Frankreich hat Macrons Kabinett am Donnerstag den Ausnahmezustand verlängert und bereitet heftige Angriffe auf die Arbeiterklasse vor.

Vor allem die Tatsache, dass sich ausgerechnet der deutsche Militarismuserneut erneut aufschwingt, Europa zu organisieren, der den Kontinent im 20. Jahrhundert zweimal in Schutt und Asche gelegt hatte, entlarvt die Propaganda über eine "europäische Friedensmacht". Berlin sieht den Brexit, die wachsenden transatlantischen Spannungen und die enge Zusammenarbeit mit der neuen französischen Regierung als einmalige Chance, um seine wirtschaftliche und politische Vormachtstellung in der EU auszubauen und es zunehmend auch militärisch zu dominieren.

"Wir wollen alle keine nationalen Sonderwege mehr gehen, Deutschland nicht und auch nicht Holland, Tschechien oder Italien", sagte der Wehrbeauftragte des deutschen Bundestags Hans-Peter Bartels (SPD) Anfang der Woche. Die militärische Kleinstaaterei müsse endlich aufgegeben, der europäische Teil der Nato organisiert werden. "Am Ende wird eine europäische Armee stehen," so Bartels. Dabei sei "jeder Schritt in die richtige Richtung wichtig".

Gegenwärtig arbeitet das deutsche Verteidigungsministerium fieberhaft daran, die Bundeswehr als sogenannte "Ankerarmee" für europäische Nato-Staaten zu etablieren, diese hochzurüsten und schrittweise in die Kommandostrukturen der Bundeswehr zu integrieren. Im Februar haben Deutschland, Tschechien und Rumänien Kooperationsvereinbarungen für eine engere Zusammenarbeit ihrer Streitkräfte unterzeichnet. Die niederländischen Streitkräfte haben bereits zuvor faktisch zwei Drittel ihrer Heeresverbände in deutsche Kommandostrukturen integriert. Am Mittwoch beschloss das Bundeskabinett eine Kooperation mit Norwegen zum Bau neuer U-Boote.


Anmerkung:
[1] http://www.wsws.org/de/articles/2017/06/21/brex-j21.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 24.06.2017
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2017

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