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GLEICHHEIT/6464: Kataloniens Regierungschef erklärt Recht auf Unabhängigkeit, Madrid stellt Ultimatum


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Kataloniens Regierungschef erklärt Recht auf Unabhängigkeit, Madrid stellt Ultimatum

Von Alex Lantier
12. Oktober 2017


Am Dienstagabend verkündete Kataloniens Regierungschef Carles Puigdemont in einer Rede vor dem katalanischen Parlament in Barcelona, dass sich die Region in Übereinstimmung mit dem Ergebnis des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums vom 1. Oktober von Spanien abspalten werde. Allerdings verschob er die formelle Unabhängigkeitserklärung zunächst und forderte Verhandlungen mit der Zentralregierung in Madrid.

Die spanische Regierung unter Führung von Ministerpräsident Mariano Rajoy und der Partido Popular (PP) hat das Referendum für illegal erklärt und als Hochverrat bezeichnet.

Am Mittwoch stellte Rajoy der Regionalregierung ein Ultimatum. Bis zum 16. Oktober müsse sie formal klarstellen, ob sie die Unabhängigkeit der Region verkündet hat oder nicht. Sollte Puigdemont bestätigen, dass er die Unabhängigkeit Kataloniens erklärt habe, werde er drei weitere Tage Zeit bekommen, um diese Position zurückzunehmen. Tue er dies nicht, werde Artikel 155 der spanischen Verfassung zur Anwendung kommen und die Regionalregierung entmachtet.

Die widersprüchliche Erklärung von Puigdemont erfolgte, nachdem dieser nach Berichten mit Politikern aus ganz Europa telefoniert hatte. Die politische Situation in Europa gerät hierdurch in eine ausgesprochen instabile, explosive Lage, wobei sich Spanien am Rande einer Militärherrschaft und eines Bürgerkriegs bewegt.

Puigdemont hielt seine Rede vor dem Hintergrund einer drohenden Militär- und Polizeiintervention, die noch blutiger zu werden droht als die Repression am 1. Oktober, dem Tag des Referendums. An diesem Tag griffen 16.000 Polizisten der Guardia Civil bei dem erfolglosen Versuch, das Referendum zu stoppen, friedliche Wähler an, demolierten Wahllokale und schockierten die Welt. Videos zeigten Polizisten, die auf Wahlhelfer und Wähler einschlugen und auch vor alten Frauen nicht Halt machten. Seitdem ist die Präsenz von spanischem Militär und Polizei erheblich verstärkt worden.

Vertreter der EU und Regierungschefs bezeugen auch weiterhin ihre Unterstützung für Rajoys Unterdrückung. Der französische Präsident Emmanuel Macron verurteilte gestern den "Wirtschaftsegoismus" der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Der Sprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am Montag, sie habe Rajoy ihre Unterstützung zugesagt.

Logistikeinheiten der spanischen Armee und mindestens 6.000 weitere Polizisten sind seit dem 1. Oktober in die Region verlegt worden. Sie haben die Häfen Kataloniens und Barcelonas Flughafen El Prat übernommen. Es kursieren Berichte, dass das spanische Innenministerium die Verhaftung von Puigdemont plant. Mehrere Spezialeinheiten, darunter die Spezialeinheit der Polizei (GEO), die Antiterroreinheit (GAR) der Guardia Civil und die Spezialeingreiftruppe (UEI) bereiten ihr Eingreifen vor.

Am Montag erklärte ein Sprecher von Rajoys PP-Regierung, Puigdemont könnte so enden wie Lluís Companys, der ehemalige katalanische Regierungschef. Companys wurde 1934 verhaftet, nachdem er einen katalanischen Staat innerhalb Spaniens ausgerufen hatte. Im Jahr 1940 wurde Companys im nationalsozialistisch besetzten Paris von der Gestapo festgenommen und an das faschistische spanische Regime von Francisco Franco ausgeliefert, das ihn standrechtlich erschießen ließ.

Am Dienstag hatte die regionale katalanische Polizei, die Mossos d'Esquadra, vor der Rede von Puigdemont das Gebiet um das Parlament abgesperrt. Die katalanischen Kabinettsmitglieder, einschließlich Puigdemont, werden jetzt rund um die Uhr von ihnen beschützt. El Confidencial berichtete, dass die Vertreter der katalanischen Regierung Zivilfahrzeuge ohne Kennzeichnung nutzen, um zu verhindern, dass die spanische Polizei sie aufgreift und verhaftet.

Puigdemont sprach am Abend um 19 Uhr und erklärte, das Band zwischen Katalonien und dem restlichen Spanien sei unwiderruflich zerrissen. Er dankte denjenigen, die das Referendum am 1. Oktober organisiert hatten und zur Wahl gegangen waren. Er erinnerte an die Angriffe der Polizei an diesem Tag, bei denen 800 Menschen verletzt wurden, und sagte, die katalanische Frage sei kein internes Problem Spaniens mehr sondern eine europäische Angelegenheit. Er sagte ferner, die politische Ordnung Spaniens, die 1978 aus der Transición, dem Übergang vom Franco-Regime zur parlamentarischen Ordnung hervorgegangen sei, habe in Bezug auf die katalanische Bevölkerung versagt.

Er verwies auf Kataloniens Rolle als "Wirtschaftsmotor" Spaniens, die seiner Darstellung nach zur Stärkung der Demokratie beigetragen hat. Die Katalanen hatten laut Puigdemont geglaubt, die Verfassung von 1978 werde die Bedingungen für Fortschritte schaffen. Er legte die Versuche der katalanischen Regierung im letzten Jahrzehnt dar, den Autonomiestatus neu zu definieren, was von spanischen Gerichten wiederholt verhindert wurde. Er argumentierte, Katalonien entwickle sich jetzt von 1978 aus zurück.

Puigdemont verwies auf das Referendum vom 1. Oktober als verbindliches Votum, das von ihm verlangt, die unabhängige katalanische Republik auszurufen. Im Referendum wurden 89 Prozent der Stimmen für die Unabhängigkeit gezählt, allerdings auf der Grundlage einer Wahlbeteiligung von nur 42 Prozent. Puigdemont sagte, er werde die katalanische Unabhängigkeit jedoch als Reaktion auf internationale Forderungen für "einige Wochen" aussetzen. Er sagte zu, sich an einer internationalen Vermittlungsmission zu beteiligen.

Mit Unterstützung der spanischen Sozialdemokraten von der PSOE versucht die rechte Rajoy-Regierung nationalistische Stimmungen anzuheizen und franquistisch-faschistische Kräfte aufzustacheln. Dabei wird nicht nur die militärische Unterdrückung der katalanischen Massen, sondern auch der Arbeiterklasse im Rest des Landes vorbereitet. Das ist die Lösung, die der spanische und europäische Kapitalismus in einer aussichtslose und sich verschärfende Krise bereithält.

Aber die katalanischen Bourgeoisie mit ihren separatistischen Bestrebungen und ihre kleinbürgerlichen Verbündeten bieten keine demokratische oder progressive Alternative. Sie streben einen unabhängigen kapitalistischen Staat an, um lukrativere Beziehungen zu den imperialistischen Mächten auf der Grundlage verschärfter Sparpolitik aufzubauen, indem sie die katalanischen Arbeiter als billige Arbeitskräfte benutzen, um ausländische Investitionen anzuziehen. Sie heizen den katalanischen Nationalismus an, um die Arbeiterklasse zu spalten und ihre "eigenen" Arbeiter auszubeuten.

Die einzige Kraft, die eine progressive Lösung der Krise bieten kann, ist die Arbeiterklasse. Die brutale Politik des spanischen Staats und der nationalen Bourgeoisie, Katalonien mit Gewalt und Unterdrückung innerhalb Spaniens zu halten, ist reaktionär und muss von den Arbeitern auf der ganzen iberischen Halbinsel, in Spanien genauso wie in Katalonien, zusammen mit den Arbeitern in ganz Europa und international abgelehnt werden. Der sofortige Rückzug sämtlicher nationaler Polizei- und Militärkräfte aus Katalonien ist die richtige Forderung.

Nur die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse in Spanien und ganz Europa im Kampf gegen Kapitalismus und die Gefahr einer Diktatur, auf der Basis einer sozialistischen und internationalistischen Perspektive, kann einen Ausweg bieten.

Die Grundprobleme, vor denen die breite Masse der katalanischen und spanischen Bevölkerung steht, haben ihre Wurzeln nicht in der nationalen sondern in der Klassenunterdrückung. Zur Mehrheit der katalanischen Bevölkerung, die nicht am Referendum vom 1. Oktober teilgenommen hat, gehören große Teile der Arbeiterklasse, die gegen die Abtrennung sind.

Hier zeigt sich nicht einfach eine Krise der spanischen Verfassung von 1978, sondern eine Krise des europäischen und des Weltkapitalismus. Die Auseinandersetzungen um den Haushalt und die regionale Autonomie zwischen den herrschenden Eliten in Madrid und Barcelona entwickelte sich über Jahrzehnte. In dieser Zeit hat die EU auf den weltweiten Finanzkollaps mit massiven Hilfen für die Banken reagiert, die mit verheerenden Sparmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse überall in Europa finanziert wurden. Die Bildung einer katalanischen kapitalistischen Republik, angeführt von Politikern, die schon seit längerer Zeit Sparmaßnahmen und imperialistische Kriege unterstützt haben, wird nichts zur Lösung der internationalen Krise beitragen.

Alles deutet darauf hin, dass Madrid in Zusammenarbeit mit Washington und den wichtigsten EU-Mächten eine politische Strategie vorbereitet, um ein neue brutale Intervention zu rechtfertigen. In den spanischen Medien findet eine ausführliche Diskussion darüber statt, entweder Artikel 155 oder 116 der spanischen Verfassung anzuwenden, um die regionale Selbstverwaltung Kataloniens und grundlegende demokratische Rechte außer Kraft zu setzen. Das würde den Weg ebnen für eine sehr rasche Verbreitung der Militärherrschaft nicht nur über Katalonien, sondern über ganz Spanien.

Ein wichtiges Element bei dieser Unterdrückung wird die Sperrung des Internets und der Konten der sozialen Medien sein, um Informationen zu zensieren und Proteste zu verhindern. Am Dienstag hat Madrid die Twitter-Accounts von zwei katalanischen nationalistischen Organisationen gesperrt, von der Katalanischen Nationalversammlung und von Omnium, über die diese mit ihren Anhängern kommunizierten.

Madrid bereitet sich auf einen erbitterten Konflikt mit den katalanischen Nationalisten und ihren Anhängern vor, von denen viele Puigdemont scharf kritisierten, weil er nicht sofort die Unabhängigkeit ausgerufen hat. Puigdemont hatte am Dienstag seinen Auftritt um eine Stunde hinausgeschoben, weil er mit der kleinbürgerlichen Partei Candidatura D'Unidad Popular (CUP) verhandelte, die Puigdemonts Sparpläne im katalanischen Parlament unterstützt hatte. Letztlich boykottierte die CUP allerdings seine Rede.

Die CUP-Abgeordnete Anna Gabriel ergriff später das Wort um Puidgemont zu kritisieren und sagte: "Wir glauben, dass heute die Gelegenheit existierte, feierlich die katalanische Republik auszurufen, und wir möglicherweise eine Gelegenheit verpasst haben." Sie gab ein hohles Versprechen ab, das katalanisch-separatistische Programm fortzusetzen, bis es zu einer "Klassen- und Gender-Befreiung" führt. Sie schloss: "Wir sind gekommen, um eine Republik zu errichten."

Spaniens Podemos-Partei spielt erneut die zentrale Rolle dabei, die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die Gefahr einer Intervention und Militärherrschaft zu verhindern. Stattdessen richtet sie ohnmächtige moralische Appelle an Rajoy und die PP, sie sollten mit Barcelona verhandeln.

Der Podemos-Generalsekretär Pablo Iglesias begrüßte Puigdemonts Entscheidung, die Unabhängigkeit auszusetzen. Er forderte Rajoy dazu auf, auf der Grundlage der Einsicht zu verhandeln, dass "Spanien multinational ist und das katalanische Volk es verdient, gehört zu werden."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 12.10.2017
Kataloniens Regierungschef erklärt Recht auf Unabhängigkeit, Madrid stellt Ultimatum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2017

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