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GLEICHHEIT/6494: Was steckt hinter der IG-Metall-Forderung nach der 28-Stunden-Woche?


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Was steckt hinter der IG-Metall-Forderung nach der 28-Stunden-Woche?

Von Dietmar Henning
22. November 2017


In der letzten Woche haben in den einzelnen Bundesländern und Tarifbezirken die Tarifverhandlungen für die 3,9 Millionen Beschäftigten der Elektro- und Metallindustrie begonnen. Ein großer Teil von ihnen arbeitet in der Autoindustrie. Die IG Metall fordert mehr Geld und die Möglichkeit, befristet die Arbeitszeit auf 28 Stunden pro Woche reduzieren zu können.

Die aufgestellte Lohnforderung von 6 Prozent ab dem 1. Januar 2018 bei einer Laufzeit von 12 Monaten ist angesichts sprudelnder Gewinne in der größten deutschen Industriebranche mehr als berechtigt. Das Ergebnis wird wie immer bei maximal der Hälfte und verlängerter Laufzeit liegen und somit gerade einmal die Teuerungsrate ausgleichen.

Für Arbeiter ist aber die zweite zentrale Forderung der IG Metall zur flexiblen Arbeitszeitverkürzung umso wichtiger. Denn hier bereitet sich die Gewerkschaft auf den bevorstehenden Umbruch vor allem in der Autoindustrie vor.

Der eingeleitete Umstieg auf den Einsatz von Elektromotoren - der durch den Diesel-Betrug noch forciert wurde - wird in der Autoindustrie nicht einen Stein auf dem anderen belassen. Hinzu kommen der verstärkte Einsatz von Robotern in der Produktion und die Digitalisierung der Autos.

Allein die Elektromobilität leitet eine Zeitenwende ein. Denn für die Produktion von Elektromotoren werden bedeutend weniger Arbeiter benötigt. "Wenn ein achtzylindriger Motor aus 1200 Teilen besteht, ein Elektromotor hingegen aus nur 25 - dann kann das nicht ohne Folgen für die Zahl der Beschäftigten in einer Industrie bleiben", zitierte Spiegel Online kürzlich Birgit Henschel-Neumann, Automobilexpertin der Berliner Beratungsgesellschaft EL-NET. Allein beim größten deutschen Hersteller Volkswagen, so Spiegel Online, "befürchten Vertreter der IG Metall, könnten 10 bis 15 Werke überflüssig werden".

Henschel-Neumann geht davon aus, dass jeder dritte Arbeitsplatz in der Autoindustrie - rund 300.000 - verlorengehen werden. Das wirtschaftsliberale Ifo-Institut kam in einer Studie im Sommer sogar zu dem Ergebnis, dass beinahe die Hälfte der fast 1 Million Arbeitsplätze gefährdet sein könnte.

In dieser Situation schlägt die IG Metall einen Anspruch für Arbeiter vor, die Wochenarbeitszeit befristet auf zwei Jahre auf 28 Stunden verkürzen zu können. Einen Lohnausgleich sollen nur Arbeiter in den untersten Entgeltgruppen erhalten.

Begründet wird die Forderung nach der befristeten Arbeitszeitverkürzung von der Gewerkschaft mit hehren Phrasen über "moderne Arbeitszeiten" und "Selbstbestimmung". "Die Zeit ist reif für moderne Arbeitszeiten, die auch den Bedürfnissen der Beschäftigten gerecht werden", schreibt die Gewerkschaft. Beschäftigte könnten "ihre Arbeit und ihr Privatleben selbstbestimmter gestalten". Sie hätten die Möglichkeit, temporär eine Zeit lang kürzer zu treten, "das Haus auszubauen oder zu renovieren, mehr Zeit für die Kinder zu haben, Angehörige zu pflegen oder der Gesundheit zuliebe weniger zu arbeiten".

Das alles ist Augenwischerei. Ältere Autoarbeiter dürften sich vielleicht daran erinnern, wie die Gewerkschaft vor fast 30 Jahren die Einführung der Gruppenarbeit als "Humanisierung der Produktion" gepriesen hat. In Wirklichkeit stellte sich diese dann als Gruppenakkord dar, in der die einzelnen Arbeiter sich gegenseitig antrieben und kontrollierten - "selbstbestimmt".

Nun soll also die flexible "freiwillige" Arbeitszeitverkürzung den Bedürfnissen der Beschäftigten entgegenkommen. Dass sich die IG Metall dabei auf ihre Befragung der Beschäftigten stützen kann, die mehrheitlich eine zeitlich befristete Arbeitszeitverkürzung befürworteten, ist angesichts der steigenden Arbeitshetze in den letzten Jahren und Jahrzehnten nur wenig verwunderlich.

Was aber die IG Metall anstrebt, ist etwas anderes. Wenn Hunderttausende Arbeitsplätze abgebaut werden müssen, werden die Gewerkschaft und ihre betrieblichen Vertreter darauf drängen, einen Großteil dieser Arbeiter nicht zu entlassen, sondern befristet kürzer arbeiten zu lassen, zu entsprechend niedrigeren Löhnen. Das gäbe ihnen den zeitlichen Spielraum, den Arbeitsplatzabbau langfristig durchzusetzen. Von Freiwilligkeit wird dann keine Rede mehr sein.

In der Vergangenheit hat sich insbesondere in der Auto- und Stahlindustrie schon mehrfach diese Art der Arbeitszeitverkürzung bewährt, um Arbeitsplatzabbau, Lohnkürzungen und eine Steigerung der "Produktivität", sprich: Arbeitshetze, durchzusetzen.

Bereits 1994 setzte die IG Metall bei VW die Vier-Tage-Woche [1] (28,8-Stunden) durch. Anlass war die Drohung von 30.000 Entlassungen. Die Arbeiter hofften, durch solidarischen Lohnverzicht die Arbeitsplätze der ganzen Belegschaft auf Dauer erhalten zu können. Fast drei Viertel aller Volkswagen-Beschäftigten erklärten, für sie bestehe der wichtigste Vorteil des neuen Zeitmodells darin, dass "Arbeitsplätze gesichert werden".

Durch die weitgehende Flexibilisierung, die mit der Arbeitszeitverkürzung einherging, erhielt der Konzern eine rund um die Uhr verfügbare Belegschaft, deren Arbeitszeiten passgenau den Schwankungen des Arbeitsanfalls folgen. Volkswagen wurde zur "atmenden Fabrik". Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit führte zu einer 16-prozentigen Lohn- und Gehaltseinbuße.

Vor vier Jahren hatte die IGM beim ThyssenKrupp-Stahlkonzern [2] in Duisburg die Arbeitszeit in einem Tarifvertrag von 35 auf 31 Stunden pro Woche gekürzt. Bezahlt werden 32 Stunden, dafür gibt es Abzüge beim Weihnachtsgeld.

Und in diesem Monat unterzeichneten Betriebsrat und IG Metall bei den Duisburger Hüttenwerken Krupp-Mannesmann einen " Zukunftstarifvertrag", der die Arbeitszeit von 35 auf 32 Stunden (bezahlt werden 32,75 Stunden) senkt und am 1. Januar in Kraft tritt. Dafür sollen v. a. die angedrohten betriebsbedingten Kündigungen bis Ende 2025 ausgeschlossen sein.

"Wir, die Beschäftigten der HKM, haben Geschichte geschrieben", frohlockte der Betriebsratsvorsitzende Ulrich Kimpel, "weil wir mit Arbeitszeitverkürzung, Arbeitszeitkonten [und zugesagten Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe] die Zukunft der Hütte sicherstellen."

Um die diesjährige Forderung nach einer befristeten Arbeitszeitverkürzung der IG Metall den Unternehmen schmackhaft zu machen, hatte kurz vor Beginn der Tarifverhandlungen die gewerkschaftseigene Hans-Böckler-Stiftung eine Studie ihres Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) vorgestellt, die angeblich nachweist, dass die von den Gewerkschaften angebotene Arbeitszeitverkürzung nach der Finanzkrise von 2008 "mehr als eine Million Stellen gerettet" habe.

Angesichts der Krise sei ein "heftiger Rückgang der Beschäftigung zu erwarten gewesen, doch Massenentlassungen blieben aus", so die IMK-Forscher. Sie hatten die Reaktion auf die Rezession ab 2009 analysiert und mit den Folgen früherer Rezessionen verglichen. "Ergebnis: Es waren vor allem Arbeitszeitkonten und Kurzarbeit, die Jobs gerettet haben, insgesamt 1,3 Millionen Stellen." Dies habe zur Sicherung der Fachkräfte in der Industrie beigetragen.

Doch die Unternehmen haben auf die IGM-Forderung zunächst mit harscher Ablehnung reagiert. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall Rainer Dulger nannte die Forderung "völlig weltfremd". Über Flexibilisierung könne durchaus verhandelt werden, "dann aber bitte in beide Richtungen und ohne Anspruch".

Kurz vor dem Start der Metall-Tarifverhandlungen haben dann auch noch die sogenannten Wirtschaftsweisen eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes gefordert. Der Acht-Stunden-Tag sei "veraltet". Der "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" forderte die Berliner Parteien auf, das Arbeitszeitgesetz zu lockern. "Flexiblere Arbeitszeiten sind wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen", sagte ihr Vorsitzender Christoph Schmidt der Welt am Sonntag.

Die Unternehmen verlangen seit längerem, die tägliche Begrenzung der Arbeitszeit auf acht Stunden aufzuheben. Zwar sind schon jetzt 60-Stunden-Wochen möglich, doch nur befristet auf sechs Monate. Diese Ausnahme soll die Regel werden. Zudem soll auch die Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen von elf auf neun Stunden verkürzt werden.

Die Arbeitgeberverbände in den Tarifbezirken konfrontierten die IG Metall bei den ersten Verhandlungstreffen in der letzten Woche mit abgestimmten Forderungen nach längeren Arbeitszeiten, weniger Überstundenzuschlägen und längerer Befristung von Arbeitsverträgen.

Auch bei den nun gescheiterten Sondierungsgesprächen [3] über eine Jamaika-Koalition besprachen die beteiligten Parteien CDU, CSU, FDP und Grüne diese Angriffe auf Arbeitszeiten und -bedingungen.

In den kommenden Wochen und Monaten wird die IG Metall versuchen, die Unternehmen von ihrem Konzept, mit dem die kommenden Angriffe auf die Belegschaften durchgesetzt werden können, zu überzeugen.

Das Ergebnis wird sein, dass nicht nur die dann nicht mehr freiwillige Arbeitszeitverkürzung der IG Metall bei entsprechender Lohnsenkung möglich wird, sondern auch das Gegenteil. Überall dort, wo keine Entlassungen drohen, müssen Arbeiter absolut flexibel 50, 60 und mehr Stunden pro Woche schuften.


Anmerkungen:
[1] https://www.wsws.org/de/articles/1998/10/vw-o23.html
[2] https://www.wsws.org/de/articles/2015/03/11/thys-m11.html
[3] https://www.wsws.org/de/articles/2017/11/21/pers-n21.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 22.11.2017
Was steckt hinter der IG-Metall-Forderung nach der 28-Stunden-Woche?
http://www.wsws.org/de/articles/2017/11/22/tari-n22.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2017

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