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GRASWURZELREVOLUTION/1014: Problematische Tendenz zur Brutalisierung sozialer Auseinandersetzungen


graswurzelrevolution 339, Mai 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Ein Übergang zu Schusswaffen?
Problematische Tendenz zur Brutalisierung sozialer Auseinandersetzungen

Von Sal Macis


Am 22. Februar 2009 wurde in Guadeloupe Jacques Bino, das einzige Opfer des Generalstreiks, zu Grabe getragen. Seinem Sarg folgten Tausende Streikende auf Guadeloupe.


Wahrscheinlich wurde Bino von den eigenen Leuten umgebracht. So reagierte - die Bewegung denn auch hauptsächlich mit Schweigemärschen auf seinen Tod.

Es war der 17. Februar: der LKP- und Akiyo-Aktivist Bino fuhr mit seinem Auto von einem Streikposten nach Hause. Im Stadtteil Henri VI von Pointe-à-Pitre traf er auf eine von Jugendlichen mit Schusswaffen bewachte Barrikade. Er war müde, es war schon dunkel und spät, also drehte er vor der Barrikade mit seinem Auto um, um einen anderen Weg zu suchen. In diesem Moment wurden drei Schüsse auf ihn abgefeuert, alle kamen aus Jagdgewehren. Es handelte sich um keine Querschläger. Nach dem offiziellen. Bericht des Untersuchungsrichters wurden zwei Schüsse von der Barrikade auf ihn abgefeuert, ein weiterer, der tödliche, vom geöffneten Fenster einer Seitengasse. Polizei war zu dem Zeitpunkt nicht in der Nähe. Sie kam erst später zusammen mit den Sanitätern zum Tatort und wurde ebenfalls mit Schüssen auf Distanz gehalten, drei Polizisten seien dabei verletzt worden.

Élie Domota hat in einer ersten Stellungnahme eine ausführliche Untersuchung zum Vorfall gefordert. Doch bis heute ist keine mit Beweisen untermauerte gegenläufige Darstellung bekannt. [1]

Um den dritten Schuss von der Flanke ranken sich in vielen Diskussionen und auf Websites zur Solidarität mit der Bewegung Gerüchte, dass es vielleicht doch ein Attentat des Staates oder von Geheimdiensten gewesen sein könnte. Doch diese Spekulationen blenden die Tatsache der vorhergehenden und nachfolgenden Schüsse von der Barrikade aus. Wo geschossen wird, sterben Menschen! So schnell die Bewegung mittels eines Videos beweisen kann, dass der gewaltsame Stoß eines Polizisten den Tod eines Menschen bei den Aktionen gegen den G-20-Gipfel in London verursacht hat, so schwer tut sie sich, den in drei Riot-Nächten Jugendlicher in Guadeloupe vorgekommenen Schusswaffengebrauch zu problematisieren. Oft werden die simpelsten Fakten, nämlich dass die französische Polizei Waffen, aber keine Jagdgewehre mit sich führt, übersehen. Bei der Diskussion britischer AnarchokommunistInnen auf der Website libcom.org wurde einfach der Polizei die Schuld gegeben. In der Diskussion schrieb darauf ein Genosse - und er war eher die Minderheit im Diskussionsforum: "Ich finde es schrecklich unverantwortlich, einfach zu behaupten, die Polizei habe ihn erschossen. Es scheint eher, als hätten die Demonstranten geschossen und höchstwahrscheinlich hielten die Demonstranten auch die Sanitäter davon ab, das Opfer zu erreichen, bis es zu spät war. Was ist euer Ziel? Hass zu verkaufen?" [2]

Die perspektivlosen, oft von der Schule geflogenen, bisher nicht in der LKP organisierten Jugendlichen der Vorstädte von Pointe-à-Pitre gleichen denen in den Banlieues der französischen Metropole. Auch dort kommt es zunehmend zum Schusswaffengebrauch auf Seiten der Jugendlichen. Begonnen hatte dieses Phänomen bei den Riots in Villier-le-Bel im November 2007. Am 2.2.2009 wurden in Grigny vier Polizisten von Bleikugeln verletzt, einer musste ins Krankenhaus. Am 14.3.2009 wurden zehn Polizisten durch Kugeln verletzt, als sie am Abend aufgrund eines brennenden Autos ins Viertel fuhren. Manchmal ist das eine bewusste Masche: Ein Auto wird in Brand gesetzt, dann auf die anrückende Polizei geschossen. Eingesetzt werden Pistolen, alte Jagdgewehre, aber auch schon mal Karabiner mit Zielfernrohr. Ziele sind aber nicht nur die "Flics" (PolizistInnen). Auch bei Bandenkriegen zwischen Jugendlichen in den Vorstädten werden neben Messern und Eisenstangen zunehmend Schusswaffen eingesetzt. Ende 2008 starben dabei zwei Menschen, von Kugeln getroffen. [3]

Die französische Polizei ist für ihre brutalen Einsätze und Repressionsmethoden bekannt. Ist es da nicht legitime Selbstverteidigung, Schusswaffen einzusetzen? So denken sicher viele Jugendliche. Doch nach dem Tod von Jacques Bino sandte Innenministerin Alliot-Marie weitere 280 Militärs nach Guadeloupe. Es ist der Streikstrategie der LKP und ihren Aufrufen, sich nicht provozieren zu lassen, zuzuschreiben, dass es dort nicht zur bürgerkriegsartigen Eskalation kam. Der Bürgerkrieg muss strategisch gerade vermieden werden. Die Schüsse sind demgegenüber zunächst mal ein praktisches Eingeständnis des Scheiterns militanter Strategien, mittels Steinwürfen etwas ausrichten zu können.

Dass der Steinhagel als Aktion nicht mehr ausreicht, sagt zuerst etwas über die unbewusst empfundene Ineffizienz des Steinewerfens aus. Es muss scheinbar mehr sein, "effizienter": Häuser oder Geschäfte müssen mindestens brennen, und haben sie - das lehrt Strasbourg - auch noch so wenig mit dem politischen Ziel oder Gegner zu tun. Ob da in dem Haus noch jemand wohnt oder Leben gefährdet wird, interessiert nicht. Konsequent weitergedacht führt diese Logik zum Schusswaffengebrauch. Rationalisiert wird dies diffus als "Radikalisierung", wenn überhaupt. Die Jugendlichen haben keine Revolutionsstrategie. Sie sind Opfer der Gesellschaft und agieren als Opfer in spontaner Verzweiflung. Ihnen ist nicht bewusst, dass sie damit ein gesellschaftliches Klima mitgestalten, das in eine Brutalisierung sozialer Auseinandersetzungen und Bewusstseinsformen tendiert. Es gibt aber keine Kurzschluss, keinen ausweglosen Zusammenhang zwischen brutaler Polizeirepression und notwendig eskalierender Gegenwehr. Wie auf Polizeigewalt reagiert wird, ist immer eine Frage der bewussten Entscheidung und der Selbstbestimmung.

Anfang der 1960er Jahre wurden schwarze BürgerrechtlerInnen, die die Zustände in Kleinstädten und Dörfern der US-Südstaaten erforschten, einfach von rassistischen Polizisten - fast durchgängig zugleich Ku-Klux-Klan-Mitglieder - erschossen. Es kamen immer mehr gewaltfreie AktivistInnen, manchmal zu ihrem Schutz begleitet von weißen Aktivistinnen, und sie machten die Polizeigewalt zum landesweiten Medienskandal. Die erste, gewaltlose Phase der Bürgerrechtsbewegung entstand gerade in diesem Umfeld brutaler rassistischer Polizeimorde.

Stück für Stück sind sie - zum Teil über Jahrzehnte hinweg - bis heute aufgeklärt und mehrere Täter verurteilt worden.


Anmerkungen:
[1]: Vgl. De nouveaux tirs dans la nuit an Guadeloupe, in: Libération, 19.2.09.
[2]: Forumsdiskussion libcom.org: Beitrag von Gbdz, 19.2.09. Libcom.org ist eine britische anarchokommunistische Website.
[3]: Luc Bronner, Isabelle Mandraud: La police essuie des tirs dans es quartiers difficiles, in: Le Monde, 17.3.2009, S. 1 und 12.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 339, Mai 2009, S. 9
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2009