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GRASWURZELREVOLUTION/1106: Anarchie ist Kampf für das Leben, nicht für den Tod


graswurzelrevolution 350, Sommer 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Anarchie ist Kampf für das Leben, nicht für den Tod

Eine Stellungnahme griechischer AnarchistInnen


Im Dezember 2008, während der Ereignisse, die der Ermordung von Alexandros Grigoropoulos folgten, antwortete die anarchistische/Anti-Autoritäts-Bewegung auf das Faschogebettel der Massenmedien nach einer Rückkehr zu "Ruhe, Ordnung und Sicherheit mit dem entwaffneten Slogan: "Ihr redet über Geschäftsfassaden, wir reden über Menschenleben".


Welche gefährlichen Heuchelei lässt manche nun über die fehlenden Feuerlöscher der Bank sprechen, anstatt von den verlorenen Leben? Welche orwellsche Realitätsverdrehung lässt manche über das tragische Ereignis sprechen, als ob es irgendein Kurzschluss [in einer Maschine o.ä.] gewesen wäre? kapieren wir wirklich nicht, dass diese Heuchelei auf einem "Niveau" ist mit den Mördern der NATO, die von "Kollateralschäden" sprachen?

Kapieren wir wirklich nicht, dass der selbstverständliche und offensichtliche Zynismus und die Rüpeleien eines Megakapitalisten, der seine Angestellten nötigte in der Bank zu bleiben, keinen Menschen von der Verantwortung für die Toten erlöst?


Kapieren wir nicht, dass du, wenn du die Taktiken der Bestie, gegen die du kämpfst, übernimmst, ein Teil von ihr wirst?

Wenn Anarch@s für etwas kämpfen, wenn es etwas gibt, das wert ist dafür zu kämpfen, dann Leben, Freiheit, Würde. Für eine Welt, in der der Tod kerne Autorität mehr besitzt...

Auf der Demo am 6. Mai in der Innenstadt von Thessaloniki, deren Aufruf von der Gewerkschaft des Krankenhauspersonals von Thessaloniki und Graswurzelgewerkschaften ausgegangen war, riefen viele Leute - hauptsächlich Anarch@s und Antiautoritäre im hintersten Block der Demo: "Das waren Morde, wir machen uns nichts vor, der Staat und [Bankier] Vgenopoulos ermorden Arbeiter". Sicher ist es für viele beruhigend, sich das zu denken. Aber verstehen diese den Inhalt und die weitere Bedeutung von dem, was sie sich erwünschen?

Wir wissen nicht genau was in der Marfin-Bankfiliale am Nachmittag des 5.5.2010 passierte. Was wir wissen, ist, dass zu dem Zeitpunkt als wir die tragischen Nachrichten erhielten, niemand in unserem Umfeld kategorisch ausschließen konnte, dass passiert war, was die Rechtsverdreher der Konzernmedien geurteilt hatten dass es gewesen sei. Und auch das ist tragisch.

Denn wenn wir durch unser Praktisches Handeln nicht evident unmöglich machen [also: praktische Gegenbeweise schaffen] (in erster Linie für uns selbst) dass eine solche Tat von Leuten im selben politischen Raum wie wir ausgehen kann, dann haben wir bereits den Weg bereitet für [weitere] Tragödien [in der Zukunft] (aus mörderischer Verantwortungslosigkeit, durchgeknallter Boshaftigkeit oder Böswilligkeit).

In einer allgemeinen Revolte kommt es zu Toten, ohne dass das kontrollierbar wäre; es passierte in Los Angeles [Rodney King, 1992], es passierte in Argentinien [2001/02]. Niemand dachte je, eine organisierte politische Strömung dieser Morde anzuklagen.

Die Tatsache, dass für die 3 ermordeten ArbeiterInnen der Marfin-Bank die Anarchie angeklagt wird, zeigt sicherlich einen [großen Bedarf für] Verantwortung auf. Wer kann die Toleranz ignorieren, die gegenüber avantgardistischer Logik und der Verachtung für Menschenleben gezeigt wird? Egal ob du sagst, dass die erfahrenen Anarchist@s über die Jahre so viele Banken angezündet haben, ohne dass jemals irgendwer gefährdet gewesen wäre. Egal ob du sagst, schuld ist Vgenopoulos, weil er die Angestellten in der Bank zu bleiben zwang, die keinen Brandschutz hatte etc.


Du kannst die Verantwortung nicht abschütteln.

Selbst wenn es auch nur wenige Menschen gibt, die sich als Anarchist@s definieren und in ihrer Verantwortungslosigkeit so weit gehen, dass sie Gebäude abfackeln in denen Menschen sind, dann ist diese Verantwortungslosigkeit irgendwie kultiviert worden.

Wenn, und das ist noch schlimmer, ihr den Weg bereitet habt, für den dicksten Akt von agent-provocateur-tum in Griechenland seit Ende des 2. WK, dann sind die Konsequenzen sogar noch weitreichender als die Tragödie der 3 Ermordeten.

Und die Antwort ist nicht "der Feind ist rücksichtslos". Wir wissen von Piazza Fontana in Mailand und Scala in Barcelona. [state-sponsored terrorism, Gladio etc.]

Die Antwort ist die aufkommende, dichte Opposition, die ihre Wurzeln durch soziale Räume im ganzen Land schickt - mit Beharrlichkeit und mühseliger Arbeit; mit Freundschaft, Gegenseitigkeit und Solidarität. Die Antwort ist der Kampf für Leben, nicht [für] Tod.

Panopticon publications/journal,
The Foreigners' Publications,
Stasei Ekpiptontes Publications,
Exarcheia Publikcations, Black Peper of the Evian Gulf,
Nixtegersia Magazins, Athen, 8.5.2010


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, 350, Sommer 2010, S. 8
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2010