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GRASWURZELREVOLUTION/1352: Eine Praxis der Befreiung - Teil 1


graswurzelrevolution 382, Oktober 2013
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Eine Praxis der Befreiung
Zur (heimlichen) Aktualität Gustav Landauers (Teil 1)

von Jan Rolletschek



Eine lange nicht da gewesene Empfänglichkeit vieler Zeitgenossinnen oder Zeitgenossen, eine Offenheit der historischen Situation für Vorschläge, zählt zu den Offensichtlichkeiten dieses Jahrzehnts. Sei es ob des praktischen Versagens des marxistischen Projekts, das von der Geschichte selbst widerlegt wurde, sei es ob des immer augenscheinlicher katastrophalen Verlaufs der Vergesellschaftung unter den Bedingungen der herrschenden, der kapitalistischen Produktionsweise, ihrer empfindlichen Legitimationskrise und ihres stupiden Weiterstolperns. Einer Produktionsweise, die alles andere als geneigt scheint, sich so oder so, geradlinig oder mit etwaigen dialektischen Purzelbäumen, über die gute oder die schlechte Seite der Entwicklung, selbst aufzuheben.


Was also ist der Vorschlag derer, die trotz des Scheiterns des im 20. Jahrhundert geschichtsmächtig gewordenen Teils der sozialistischen Bewegung von der Perspektive einer herrschaftslosen Gesellschaft nicht lassen wollen; die sich auch durch postmoderne Mahnungen zu metaphysischer Bescheidenheit während dreier Jahrzehnte ihre emanzipatorischen Träumereien nicht haben ausreden lassen, um sich bereitwillig ins Klein-Klein eigenbrödlerischer Projekte zurückzuziehen; die stattdessen weiterhin ins Ganze denken und "aufs Ganze gehen" (1) wollen?

Gustav Landauer hat uns etwas zu sagen. Zunächst dies, dass man sich in der Vergangenheit wird umtun müssen. So wie man noch stets, zur Ausbildung der Seherkräfte, die historischen Sedimente umgeschichtet und das Überlieferte nach unabgegoltenen Ansätzen, nach Versuchen und Vorschlägen durchwühlt hat, in Situationen, die eine Frage stellen und nach Antwort verlangen. (2)

Dass manch Tote ihm lebendiger seien als viele der heute Lebenden, hat Landauer einmal gesagt (3), ebenso, dass der Sozialismus, den er meine, durch die Jahrhunderte und Jahrtausende herkommt und in die Jahrhunderte und Jahrtausende geht.

Im Frühjahr 1919, als die zu keiner Zeit glänzenden Aussichten der Münchner Räterepublik sich zusehends verschlechterten, und kurz bevor man ihn selbst erschlagen sollte, hat Landauer, indem er sagte, er wolle möglichst "bleibende Spuren (...) hinterlassen" (4), in der fiebrigen Tätigkeit der letzten Tage schon mehr auf die Nachwirkungen gesetzt denn auf den größeren Teil seiner Zeitgenossinnen oder Zeitgenossen, mehr auf die zu erhoffende, größere Einsicht Nachkommender - mehr auf uns. In besonderer Weise ist er immer noch unser Zeitgenosse, genauer, er ist es noch immer nicht. Landauer hat Vorschläge gemacht, die auch uns einiges zu sagen haben. Doch spricht er nicht mehr; wir müssen ihn lesen. (5)


Was aber heißt es, Landauer zu lesen? Und warum überhaupt diese scheinbar naive Frage?

Die Aktualität Gustav Landauers bedarf der Anstrengung einer Aktualisierung, die sich lohnt. Sein Werk ist durch historische wie biographische Umstände geprägt. Mitunter erscheint es verschlossen, hier und da trotz stilistischer Brillanz - befremdlich, zuweilen gar kraus, oder expressiv überladen. Die Schwierigkeit seiner Erschließung zeigt sich schon daran, dass es nicht selten eher zu rhapsodischen Nachdichtungen denn zu philologischer und philosophischer Durchdringung Anlass gegeben hat. (6) Man weiß, dass Landauer keine akademische Ausbildung abschließen durfte; dass er unter die prekäre Schicht der Intelligenz seiner Epoche zählte, die sich u.a. mit journalistischen Arbeiten durchzuschlagen hatte; dass er, trotzdem, unter großen Anstrengungen und - "bewußt ideologisch" (2, 121) - in eingreifender Absicht seine Texte schrieb und verbreitete; dass er sich zudem, in der weiteren Sprachkrise der Zeit, und vermittels einer Auseinandersetzung mit dem sprachkritischen Werk Fritz Mauthners, der schwankenden Natur und metaphorischen Funktion der Sprache nur allzu bewusst war. Und dennoch eignet Landauers Werk in seiner ganzen Breite eine unverhofft starke, theoretische Durchbildung, eine oberflächlich kaum sichtbare, zweite Ebene der Lesbarkeit und begrifflichen Stringenz.

Landauer selbst hat uns, im Vorwort seines Aufruf zum Sozialismus, darauf hingewiesen, dass es ihm an der Zeit ermangelte, "den kommenden Sozialismus im Zusammenhang zu behandeln", so dass oft "ein gefühlsstarker Ton (...) die eingehende Begründung ersetzen" musste, wenngleich man selbst, die Gründe prüfend und weiter nachdenkend "über den einzelnen Gegenstand", finden mag, dass, "was schnell gesagt ist, darum nicht unüberlegt und nicht ungründlich vorgebracht sein muß." (7)

Heiner Koechlin hat ihm einmal attestiert, "unter den neueren Anarchisten (...) der einzige" gewesen zu sein, "der überhaupt philosophisch, gedacht hat." (8) Philosophisch zwar, doch gegen den Strich des Herrschaftsdiskurses, der die Philosophie noch beinahe immer gewesen ist. An Kampfesmut hat es Landauer kaum je gefehlt. Früh schon bemüht er sich um klare Begriffe, schreibt gegen den Krieg, für die Zeitgenossen, die "von oben herunter fanatisiert und mit falschen, unsinnigen Begriffen großgezogen" worden sind, um ihnen "das Regieren und Regierenlassen ab [zu] gewöhnen" (9)

Er ist zu jener Zeit (seit Mitte Februar 1893) Redakteur des Sozialist - des Berliner Organs der Unabhängigen Sozialisten, das bald zum lange Zeit einflussreichsten anarchistischen Blatt in Deutschland wird - und engagiert in den Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der sozialistischen Bewegung. (10)

Bald auch wird er Gelegenheit finden, das Marxsche Kapital "möglichst gründlich und langsam" zu studieren - im Gefängnis, wo er seit Ende 1893 einsitzt; so dass er seiner liebsten Grete bei Entlassung "einen langen Vortrag, selbst über die Einzelheiten seiner [Marxens] Lehre" in Aussicht stellt. Nicht zuletzt um auf "einige Vorurteile" zurückzukommen, "die ein gewisser Jemand" (wohl er selbst) ihr zuvor in den Kopf gesetzt hat. (11)

Marx hatte er etwa ein Jahr zuvor, im Oktober 1892, noch eher psychologisch-literarisch eingeschätzt. Den "Entwicklungsgläubigen", Sozialdemokraten à la Paul Ernst, indes riet er bei gleicher Gelegenheit - radikal wie stets - zur "letzte[n] Konsequenz" ihres "materialistisch sein sollenden Standpunktes" und empfahl ihnen, sich begraben oder pökeln zu lassen, um ja das "Hineinwachsen in die sozialistische Gesellschaft nicht zu stören." (2, 121) Doch setzte er ihnen keinen plumpen Voluntarismus entgegen, sondern - Spinoza. Nicht die Freiheit des Willens, sondern seine Notwendigkeit (ebd. 120; vgl. 2, 56 u. 1967, 62-73).

Es ist nicht selten der Fall, dass die relative explizite Abwesenheit eines Autors im Werk eines anderen Autors exakt zusammenstimmt mit dessen allseitiger Gegenwart. Hanna Delf hat darauf hingewiesen, dass die Philosophie Spinozas wie keine andere das Denken Landauers, von seiner Zeit als Gymnasiast (vgl. 2, 92) bis in die späten Shakespeare-Vorträge, zusammenhält. (12) Ohne diesen Schlüssel ist sein Werk kaum zu verstehen.

Die Identität von Denken und Tun (1967, 68), die ebenso illusionslose wie amoralische Identifikation von Macht und Recht (3.1, 126f, die an Lust und Unlust orientierte Ethik (2,40; auch 3.1, 231), der Sozialismus als "Bestreben" (1967, 58) und "Willenstendenz" (ebd. 60), die schillernde Verwendung des Geist-Begriffs, die unausgesetzte immanente Kausalität, Bewegung und ewiges Werden, nicht zuletzt sein Bemühen um eben jene klaren Begriffe bei gleichzeitiger Zurückweisung des "Wissenschaftsaberglauben[s]" (ebd. 76) - alles das und noch einiges mehr geht bei Landauer auf Spinoza zurück. Mit diesem Kompass hat er sich zu zahllosen Fragen geäußert, so undogmatisch und differenziert, dass wir ihn auch heute noch mit Gewinn lesen können. (13)

Dass Gesellschaft nie sich stillstellen und Politik in Verwaltung würde auflösen lassen, war ihm selbstverständlich. Nicht nur, dass die soziale Ordnung über einem Abgrund errichtet ist, hat Landauer schon besser gedacht und gewusst (vgl. 7, 134), als die allerneuesten Neuigkeiten des "Postfundamentalismus" es verbreiten, die sich noch eher dazu eignen, einem konservativen Dezisionismus zuzuarbeiten. Sondern auch, dass man sich zugleich - nicht trotzdem - "ein Ideal" (ebd. 58) vorsetzen musste - "Gerechtigkeit (...) genannt" (ebd. 75) -, an das die "Umgestaltung und Umwälzung" (ebd. 170) der gesellschaftlichen Einrichtungen und Verhältnisse sich würde halten können; dass es zudem dort, "wo nichts mehr fest steht und kein Grund mehr ist", darum gehen würde, "Pfähle ein[zu]rammen" (7, 43), und solche zwar, die "Wegweiser" (3.1, 194) sind.


Ich sagte, dass wir Landauer mit Gewinn lesen können. Mit Gewinn wofür?

Mit Gewinn vor allem in Beantwortung der Frage, was heute unsere Aufgabe ist. Die Bedeutung der theoretischen Praxis für den praktischen Erfolg hat Landauer zu keiner Zeit verkannt. Aber um letzteren, nicht "lediglich [um] geistige Gemeinschaft" (1999, 66), sondern um Verwirklichung, war es ihm zu tun. Das "sichre Aufzeigen der Probleme, die zu Grunde liegen", hat nur den Sinn, "positives Bauen und Tun" (ebd. 68), so gut als möglich, vor Irrwegen zu bewahren. Doch was sei zu tun?


Teil 2 dieses Artikels erscheint im November in der Graswurzelrevolution Nr. 383


Anmerkungen:

(1) Vgl. Gustav Landauer; Siegbert Wolf (Hg.), Gustav Landauer. Ausgewählte Schriften, Lich 2008ff., Bd. 3.1, S. 195. Im Folgenden im Text nur mit Band und Seitenzahl zitiert.

(2) Vgl. Gustav Landauer (1907), Die Revolution, Frankfurt a. M.

(3) Landauer, Gustav (1929), Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. Hrsg. von Martin Buber und Ina Britschgi-Schimmer. Mit einem Vorwort versehen von Martin Buber. 2. Bde. Frankfurt am Main, Bd. 2, S. 84.

(4) Gustav Landauer, Ulrich Linse (Hg.) (1973), Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918/19. Die politischen Reden, Schriften, Erlasse und Briefe Landauers aus der November-Revolution 1918/1919, Berlin, S. 230.

(5) "Lest Gustav Landauer!" Dieser Schriftzug auf einer Toilette hat einen Studenten in die Lehrveranstaltung geführt, die anzubieten ich während zweier Semester Gelegenheit hatte. Der begleitende Blog (ptgustavlandauer.wordpress.com) soll weiterbestehen für alles, was mit der Sache Landauers - dem Namen nach oder nicht - zusammenhängt. Eine Einladung als Autor_in kann jede_r bekommen, die schreibt an: ptgustavlandauer@gmail.com.

(6) Überhaupt sind viele Reden Landauers, die uns Dank preußisch-gründlicher Überwachung erhalten sind, noch kaum gesichtet. Die Dissertation Tilman Leders wird hier zu einigen Hoffnungen berechtigen. Vgl. Tilman Leder, Die Politik eines "Antipolitikers". Ein Beitrag zur politischen Biographie Gustav Landauers. (Im Erscheinen.)

(7) Gustav Landauer; Heinz-Joachim Heydorn (Hg.) (1967), Aufruf zum Sozialismus. Frankfurt a.M., S. 56. Gegenüber der Oppo-Ausgabe übrigens + 42 Seiten.

(8) Heiner Koechlin, Philosophie des freien Geistes. Essays und Vorträge, Berlin 1990, S. 68.

(9) Gustav Landauer; Ruth Link-Salinger (Hg.) (1986), Signatur: g.l. Gustav Landauer im "Sozialist" (1892-1899). Frankfurt a. M., S. 111f.

(10) Für eine gute Schilderung jener Jahre aus beteiligter Perspektive vgl. Paul Kampffmeyer (1921), Radikalismus und Anarchismus, in: Die Befreiung der Menschheit. Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart, Berlin, S. 71-87.

(11) Vgl. Gustav Landauer; Christoph Knüppel (Hg.) (1999), Gustav Landauer und die Friedrichshagener. Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1891 bis 1902, Berlin (Friedrichshagener Hefte Nr. 23), S. 36f.

(12) Hanna Delf (1997), "In die größte Nähe zu Spinozas Ethik". Zu Gustav Landauers Spinoza-Lektüre, in: Dies.; Gert Mattenklott (Hg.), Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag, Tübingen, S. 69-90.

(13) So wäre Landauer auch für poststrukturalistisch inspirierte Spielarten des Anarchismus im Anschluss an Deleuze ein dankbarer Gesprächspartner.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 42. Jahrgang, Nr. 382 Oktober 2013, S. 16
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2013