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GRASWURZELREVOLUTION/1372: Staatsraison contra Menschenwürde


graswurzelrevolution 385, Januar 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Staatsraison contra Menschenwürde
Wenn staatliche Verfolgungsinteressen an der Würde des Menschen keine Grenze mehr finden - eine Prozessbeobachtung

von Christa Sonnenfeld und Dirk Vogelskamp



Im September 2011 wurden Sonja Suder und ihr Lebensgefährte Christian Gauger von Frankreich, wo sie über 30 Jahre klandestin lebten, nach Deutschland ausgeliefert und sogleich in Untersuchungshaft genommen. Ihnen wurden von der Frankfurter Staatsanwaltschaft Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (Revolutionäre Zellen/RZ) und Beteiligung an zwei Sprengstoffanschlägen im Jahr 1977 auf Firmen zur Last gelegt, die das damalige Apartheidsregime in Südafrika bei der Entwicklung von Nukleartechnologie unterstützt hatten.


Zudem sollen die beiden 1978 an einem Brandanschlag auf das Heidelberger Schloss beteiligt gewesen sein. In allen Fällen entstand lediglich Sachschaden. Gegen Sonja Suder wurde außerdem wegen einer angeblichen Mitwirkung an der Vorbereitung an dem Überfall auf die Wiener Konferenz der Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC) im Jahr 1975 ermittelt, bei der drei Menschen getötet wurden. Sie solle - nach Aussagen des Kronzeugen Hans-Joachim Klein - ihn selbst angeworben und für den Überfall Waffen und Sprengstoff geliefert haben.

Der französische Staat hatte sich zwar zuvor geweigert, die beiden auszuliefern, da die ihnen zur Last gelegten Straftaten nach französischem Recht verjährt seien. Aufgrund der staatlichen Verpflichtungen in Folge des europäischen Haftbefehls wurde dem Begehren der deutschen Justiz schließlich nachgeben.

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie setzte sich beim Haftrichter für eine Haftverschonung der beiden Beschuldigten ein, da von einer Fluchtgefahr wegen des fortgeschrittenen Alters der damals 70 und 78 Jahre alten Angeschuldigten und wegen der schweren Erkrankung Christian Gaugers nicht auszugehen sei. Zudem habe sich die militante Organisation, der die beiden betagten Angeklagten seitens der Staatsanwaltschaft mitgliedschaftlich zugerechnet werden, vor 20 Jahren aufgelöst, so dass eine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit des Staates nicht mehr bestehe. Der Haftbefehl gegen Christian Gauger wurde im Oktober 2011 außer Vollzug gesetzt, und er selbst aus dem Haftkrankenhaus unter Auflagen entlassen. Sein Verfahren wurde späterhin vom Verfahren gegen Sonja Suder abgetrennt und im August 2013 wegen seiner Verhandlungsunfähigkeit eingestellt und der Haftbefehl gegen ihn aufgehoben.


Aussagenschlingernder Staatsschutzzeuge

Im Anklagepunkt "Beteiligung und Mittäterschaft am OPEC-Überfall" wurde Sonja Suder vom Gericht freigesprochen.

Bereits die Staatsanwaltschaft hatte auf Freispruch plädiert und vom Vorwurf der Mordbeteiligung Abstand genommen. Die Aussagen des Staatsschutzzeugen waren zu widersprüchlich, als dass diese ein kohärentes Bild der damaligen Ereignisse hätten ergeben können. Die "Zuverlässigkeit" der Aussagen des Kronzeugen zugunsten des Staates und seiner Strafverfolgungsbehörden, erkauft durch Strafrabatt, überdauerten kaum die Zeitspanne eines Verhandlungstages.

Trotz der offensichtlichen Gefälligkeitsaussagen des Kronzeugen hielt die vorsitzende Richterin an seiner grundsätzlichen Glaubwürdigkeit - und damit an seiner Wiederverwendbarkeit in möglichen weiteren Verfahren - fest. Eine Vorsätzlichkeit in den Aussagewidersprüchen wollte Sie nicht erkannt haben. Sie lobte ihn als "mutig" ob seiner Lossagung und Distanzierung vom Terrorismus.


"Offenkundig vernehmungsfähig"

Die übrigen Anklagepunkte gegen Sonja Suder beruhen auf Verhören des ehemaligen RZ-Aktivisten Hermann Feiling, der im Juni 1978 durch einen Sprengsatz lebensgefährlich verletzt wurde.

Die Strafverfolgungsbehörden nutzten damals die Chance, über den blinden und verstümmelten Hermann Feiling - als "menschliches Wrack" bezeichnete ihn das Heidelberger Tageblatt vom 26. Juni 1978 - "in die Revolutionären Zellen ... einzudringen", wie die Rhein-Neckar-Zeitung vom 5. Juli 1978 über eine Pressekonferenz des Generalbundesanwalts Kurt Rebmann berichtete.

Noch auf der Intensivstation der Heidelberger Universitätsklinik, wo ihm beide Beine amputiert und die Augäpfel entfernt werden mussten, wurde er staatsanwaltschaftlich und polizeilich vernommen. Später setzten die Ermittler ihre Verhöre unter Ausnutzung seiner verletzungs- und medikamentenbedingten Desorientierung und Traumatisierung in den Polizeikasernen Oldenburg und Münster fort. Die Sicherheitsbehörden isolierten ihn monatelang von vertrauten Personen und beurteilten die ihm abgeschöpften Äußerungen als gerichtlich verwertbare Aussagen. Das OLG Frankfurt hatte diese Verhörmethoden vor 30 Jahren legitimiert.

Hermann Feiling, in dieser Zeit weder Beschuldigter noch Zeuge, machte umfangreiche Angaben über Mitglieder der Revolutionären Zellen. Späterhin hatte er alle seine Angaben aus den rund 1.300 Seiten starken und polizeilich erst sinngeformten Verhörprotokollen widerrufen und die Öffentlichkeit über die Umstände aufgeklärt, wie die Ermittler - unter Ausnutzung seiner prekären Lage - an sie gelangt waren.

Gleichwohl wurden Protokollauszüge der widerrechtlichen Verhöre während des Verfahrens verlesen. Nach Ansicht der vorsitzenden Richterin war Hermann Feiling damals "offenkundig vernehmungsfähig, solange für die Ermittler nicht ersichtlich gewesen sei, dass Hermann Feiling vernehmungsunfähig war. Seine Sonja Suder belastenden Äußerungen bildeten demnach die Grundlage für ihre Verurteilung zu drei Jahren und sechs Monaten Gefängnisstrafe. Aufgrund der langen Untersuchungs- und Auslieferungshaft hatte sie diese bereits zu zwei Drittel verbüßt. Der Haftbefehl wurde deshalb außer Vollzug gesetzt und die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. Mit der Urteilsverkündung ist Sonja Suder nach über zwei Jahren Untersuchungshaft wieder frei.


Verletzung des Menschenwürdegrundsatzes

Der schon langwogende Streit, ob die Äußerungen Hermann Feilings strafprozessual verwertet werden dürfen, ist juristisch erst einmal zugunsten der Strafverfolgungsinteressen entschieden worden, obwohl sich auch verschiedene Bürgerrechtsorganisationen wie das Komitee für Grundrechte und Demokratie aus grund- und menschenrechtlicher Perspektive dagegen ausgesprochen hatten.

Das Frankfurter Landgericht ließ nichts unversucht, um die Äußerungen Hermann Feilings, die während seiner mehrmonatigen Verhöre abgeschöpft wurden, dennoch bestätigt zu bekommen, indem es die ehemalige Verlobte Hermann Feilings, Sibylle Straub, im Verfahren als Zeugin vorlud und zu vernehmen gedachte. Sibylle Straub selbst war aufgrund der Verwertung der grundrechtswidrig zustande gekommenen Verhörprotokolle bereits 1980 zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden und hatte mehrere Monate in Untersuchungshaft gesessen.

Da sie sich weigerte, in diesem Verfahren auszusagen, griff das Gericht zum Mittel der Beugehaft nach § 70 Abs. 2 StPO, um die Zeugin mittels Freiheitsentzug zu Aussagen zu zwingen. Generell kann bezweifelt werden, ob die "Erzwingung des Zeugnisses" mit den Grund- und Menschenrechten konform geht. Wie auch immer, Sibylle Straub hat sich nicht zwingen lassen, nach mehrwöchiger Beugehaft wurde sie entlassen und auf ihre Aussage vor Gericht wurde verzichtet.

Ebenso versuchte die vorsitzende Richterin, Hermann Feiling erneut vor Gericht aussagen zu lassen und ihm seine vormaligen Äußerungen vorzuhalten. Dazu kam es aufgrund von Gutachten, die ihm eine posttraumatische Belastungsstörung attestierten, nicht.

Freunde und Verwandte Hermann Feilings hatten zusammen mit dem

Komitee für Grundrechte und Demokratie
an das Gericht appelliert: "Ihn als 'Zeugen' vorzuladen, kann nur als Ausdruck einer fundamentalen Feindseligkeit verstanden werden. Wie lange darf ein an Leib und Seele zu Schaden gekommener, staatlicherseits traktierter und verhörgequälter Mensch zu Strafverfolgungszwecken immer und immer wieder erneut 'angehört' werden? ... Wie steht es um die Menschenwürde, die zu verwirklichen und zu schützen allem staatlichen Handeln verfassungsgemäß Auftrag ist?"

Schon damals erfolgten die Verhöre Hermann Feilings unter Preisgabe seiner Grund- und Menschenrechte. Die widerrechtlich abgeschöpften Angaben sind nun dem Verfahren und dem Urteilsspruch erneut zugrunde gelegt worden. Damit ist die gravierende Verletzung des Menschenwürdegrundsatzes nicht nur nachträglich legitimiert, sondern aktuell fortgesetzt worden. Hermann Feiling wurde in der Isolation des Polizeigewahrsams zum bloßen Objekt polizeilicher Ermittlungen degradiert.

Damit hat das Gericht eine derartige polizeiliche Behandlung eines Schwerstkranken mit dem Menschenwürdegrundsatz des Grundgesetzes für vereinbar festgeschrieben.


Die überschrittene Grenze

Das Schwurgericht hielt die polizeiverfassten Verhörprotokolle Hermann Feilings für glaubwürdig und verurteilte Sonja Suder dementsprechend. Aber die Frage ist nicht die nach der Glaub- oder Unglaubwürdigkeit der Person Hermann Feilings und dessen vermeintliche Aussagen, sondern ob die Entäußerungen eines schwerverletzten, orientierungslosen und traumatisierten Menschen, der die ihm zur Hand gehenden und fürsorglich belagernden Justiz- und Polizeibeamten nicht mehr vom Pflegepersonal zu unterscheiden vermochte, überhaupt gerichtsverwertbar sind, also zur Anklage und damit zur Prozesseröffnung hätten zugelassen werden dürfen. Es geht auch um den Unterschied zwischen Vernehmungsfähigkeit und freier Willensentschließung.

Die Strafprozessordnung legt in § 136 a eindeutig fest, dass Vernehmungsmethoden die "Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung" nicht beeinträchtigen dürfen. Die Norm ist nachträglich als Reaktion auf die Gewaltmethoden des Nationalsozialismus in die Strafprozessordnung aufgenommen worden.

Sie soll verhindern, so heißt es im Handbuch des Polizeirechts von Lisken/Denninger (5. Aufl., S. 630), "dass im Strafverfahren der Zweck nicht die Mittel heiligt, die Wahrheit selbst bei der Aufklärung schwerster Straftaten nicht um jeden Preis ermittelt werden darf".

Nun ist das Beweisverwertungsverbot juristisch eine äußerst diffizile Angelegenheit, die unterschiedliche zeitbedingte Rechtsprechungen und Interpretationen der politischen Justiz hervorgebracht hat. Allein durch die unterbliebene Rechtsbelehrung Hermann Feilings und durch die Unterbindung einer sofortigen Konsultation eines Anwalts seines Vertrauens dürften die Verhörprotokolle strafprozessual nicht verwertet werden.

Das gilt auch für bloße informatorische Befragungen. Die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung, die von einem Beschuldigten/Zeugen verlangt wird ist Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde.

Auch wenn die Vernehmungssituation eines orientierungslosen und traumatisierten Schwerverletzten nicht gesondert in den Katalog der verbotenen Vernehmungsmethoden aufgenommen worden ist, im Kontext des Artikel 1.1. GG ("Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.") hätten diese Verhöre nicht stattfinden, die daraus polizeilich konstruierten Aussagen nicht als Beweismittel gerichtlich verwendet werden dürfen. Es sei denn, die Strafverfolgungsbehörden und die Schwurgerichtskammer hielten dafür, sich in der Bekämpfung vermeintlicher Feinde über den Schutz der Menschenwürde hinwegsetzen zu können.

Hermann Feiling wurde zum bloßen Mittel herabgewürdigt, um Erkenntnisse über das Netz der Revolutionären Zellen zu gewinnen.

Es sind solche im Strafverfolgungsinteresse nutzbar gemachte Verhörumstände, die die Grenzen zwischen rechtsstaatlicher Strafverfolgung und Feindstrafrecht verwischen lassen.

Diese staatliche Haltung zeigt sich letztlich auch in der strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung Sonja Suders, die als vermeintliche Staatsfeindin nicht bereit war, sich von ihrer politischen Gesinnung vergangener Jahre öffentlich zu distanzieren.


Christa Sonnenfeld und Dirk Vogelskamp haben den Prozess für das Komitee für Grundrechte und Demokratie begleitet.

http://dejure.org/gesetze/StPO/137.html

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Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 385, Januar 2014, S. 8
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2014