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GRASWURZELREVOLUTION/1441: "Freihandel" statt Freiheit


graswurzelrevolution 394, Dezember 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

TTIP
"Freihandel" statt Freiheit
Konzerne profitieren - Menschen verlieren: TTIP und CETA

von Boris Loheide



"Wir haben eine Bewegung", sagt Pia Eberhardt, während rund 150 Menschen die TTIP-Veranstaltung im Kölner Bürgerzentrum Alte Feuerwache verlassen. Die junge Frau von der Anti-Lobby-Organisation "Corporate Europe Observatory" klingt erstaunt, aber zufrieden. Seit einem Jahr ist sie im Kampf gegen die sogenannten Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) und CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) unterwegs. Sie schreibt Texte, tritt in Fernsehtalkshows auf und hält Vorträge - zu denen immer mehr Menschen kommen.


TTIP und CETA sind Verträge, welche die Europäische Kommission mit den USA und Kanada schließen will.

Ziel: Die Bildung der weltweit größten Freihandelszone - ohne Zölle und "nicht-tarifäre Handelshemmnisse" wie Regulierungen, Verbraucherschutz und Arbeitnehmerrechten, angelegt als globales Vorbild für Handelsverträge aller Art.

Der Text des CETA liegt bereits vor - und erfüllt alle im Vorfeld geäußerten Befürchtungen. Das TTIP wird noch verhandelt.

Rechtsgültig sind beide noch lange nicht. Wenn es nach Pia Eberhardt und dem europaweiten Bündnis "Stop TTIP" aus mehr als 300 Organisationen geht, darf es soweit auch nicht kommen. Sie halten diese Verträge für "unfairhandelbar".

Attac nennt die Abkommen "Freihandelsfallen", das Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsordnung (ISW) sieht eine Wirtschafts-Nato im Anrollen und immer mehr Kommunen erklären sich "TTIP-frei" - oft mit Stimmen auch von CDU-Stadträt_innen. Der Protest ist breit und geht tief.

TTIP, die Demokratie und der Rechtsstaat

TTIP wird (wie vorher das CETA) hinter weitgehend verschlossenen Türen verhandelt.

Selbst gewählte Volksvertreter_innen wissen kaum, was da genau auf uns zukommt.

Hans-Jürgen Blinn, Beauftragter des Bundesrates für Handelspolitik beim Europäischen Rat schreibt dazu: "Nach wie vor bleiben wesentliche Papiere unter Verschluss. [...] Der Einblick in die Papiere ist insgesamt mit der Auflage der Geheimhaltung verbunden. Die Kommission hält sämtliche US-Papiere unter Verschluss, [...]. Vertretern der Länder bleiben die Dokumente weitgehend vorenthalten."

Aufschlussreich ist auch eine Aussage von Peter Esser, Justitiar der deutschen Wirtschaft in Washington: "Natürlich sind die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen nicht demokratisch, aber was ist im Leben schon demokratisch!"

Von Wirtschafts- bzw. Konzernseite wird das Vorgehen also begrüßt, letztlich hat sie es wohl sogar mit entwickelt. Wie Corporate Europe Observatory aufgezeigt hat, waren bei rund 90 Prozent der vorbereitenden Gespräche zu den TTIP-Verhandlungen Lobbyisten von Finanzwirtschaft und Großindustrie anwesend. Gewerkschaften, Verbraucher- und Umweltorganisationen durften kaum an den Katzentisch.

Dieser Einfluss der Wirtschaftslobby auf die Politik wird mit TTIP und CETA weiter steigen. Die Instrumente dazu sind Teil der Verhandlungen, allen voran der Schutz ihrer Investitionen vor aus ihrer Sicht unnötigen sozialen, ökologischen und sonstigen Regulierungsrechten mittels eines Sonderklagerechtes, wie es bereits in vielen Freihandelsverträgen weltweit festgelegt ist. Dieses Klagerecht ermöglicht es Unternehmen, Staaten außerhalb des öffentlichen Gerichtswesens auf Schadenersatz zu verklagen, wenn ein Gesetz ihre Gewinnerwartung und damit den Wert ihrer Investitionen schmälert.

Ein solches Schiedsgericht besteht in der Regel aus drei Top-Anwält_innen internationaler Kanzleien, die sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Hotelzimmern beraten. Das Ergebnis der Kungelrunde ist bindend, Einspruchsmöglichkeiten oder eine höhere Instanz gibt es nicht und in den meisten Fällen muss der Staat zahlen und seine Gesetze dem Willen der Investoren anpassen. Geklagt wird gegen alles Mögliche: So möchte der Zigarettenmulti Phillip Morris zwei Milliarden Euro von Uruguay, weil dort der Gesetzgeber Gesundheitswarnungen auf Kippenschachteln durchgesetzt hat. Der schwedische Energieriese Vattenfall verklagt derzeit die Bundesrepublik Deutschland auf 3,7 Milliarden Euro aufgrund des Abschaltens seiner Atommeiler nach der Atomkatastrophe von Fukushima.

Auf diese Weise greifen Konzerne nachträglich in die Gesetzgebung von Staaten ein und verhindern neue Gesetze schon im Vorfeld. "Vorauseilender Gehorsam" nennt man das. Könnte ja teuer werden, so eine Regulierung. Bislang leiden darunter vor allem Länder des globalen Südens, allen voran Argentinien. Als global gesehen besonders aktive Klägerinnen zeigen sich US-Konzerne.

Mit TTIP würde deren Klagewut auch in der EU Einzug halten. Doch auch europäische und nicht zuletzt deutsche Konzerne nutzen die rechtsstaatsfernen Schiedsgerichte. Spezialisierte Anwaltskanzleien freuen sich schon auf steigende Umsätze und werben für neue Verfahren.

Noch eine Stufe weiter ginge der angedachte "regulatorische Kooperationsrat" - ein nicht wirklich wohlmeinender Vorschlag einflussreicher Industrieverbände. In ihm sollen Behördenvertreter von EU und USA mit Lobbyisten gemeinsam an Regulierungsgesetzen arbeiten.

Damit würden Verwaltungsfachangestellte eines anderen Staates und Vertreter des Großkapitals zu Co-Gesetzgebern - noch bevor das zuständige Parlament beteiligt ist. Das ist, als würden verurteilte Bankräuber bei der Überarbeitung des Paragraphen 250 (Schwerer Raub) des deutschen Strafgesetzbuches mit am Tisch sitzen.

Konzerne profitieren, Menschen verlieren

Verhandelt werden neoliberale Handelsverträge immer im Interesse transnational agierender Konzerne. Zölle, also die Gebühren für Exporte bzw. Importe, fallen bei TTIP und CETA dabei kaum noch ins Gewicht - da sie bereits niedrig sind.

80 Prozent der erhofften Wachstumsgewinne versprechen sich Vertragsparteien und Wirtschaft vom immer wieder betonten "Angleichen der Standards".

Als Beispiel muss dabei häufig der sinnarme Unterschied bei den Regeln für Autorückspiegel herhalten. Im Hintergrund der Verhandlungen geht es dann ans Eingemachte: Von öffentlichen Diensten wie der Strom- und Wasserversorgung, den sozialen Sicherungssystemen wie z.B. dem Gesundheitssystem über Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards, Verbraucherschutz bis hin zu Regulierungen der Finanzmärkte - ausgeschlossen sind nur Hoheitliche Aufgaben; und das sind nicht viele.

Da Verhandlungen in diesem Ausmaß (wir reden über tausende Seiten Vertragstext) stets Paketlösungen erfordern, die entsprechenden Kuhhandeln unterliegen, darf davon ausgegangen werden, dass aus dem "Angleichen" schnell der "Abbau" von Standards wird.

Denn das Ziel aller Unterhändler ist die maximale Liberalisierung - ganz im Sinne der neoliberalen Freihandelsagenda des Deregulieren, Flexibilisieren, Privatisieren und Kürzen.

Die möglichen bis wahrscheinlichen Konsequenzen sind zahllos. Bei jedem durchdachten Szenario gewinnen Konzerne und Superreiche und es verlieren die "normalen" Menschen. Ein paar Beispiele:

Angeglichene Standards für Agrargüter könnten gentechnisch manipulierte Lebensmittel ohne Kennzeichnungen in europäische Supermärkte bringen.

Liberalisierte Zulassungsbestimmungen im Chemiebereich brächten tausende potentiell gefährliche Stoffe ohne die in Europa bisher übliche Prüfung auf den Markt.

Die USA könnten per Fracking gefördertes Gas in die EU verkauft werden. Das würde den Einsatz des extrem umstrittenen Fracking in den USA ausweiten. Die zaghaften Ansätze der neuen US-Finanzmarktregulierung wären in Gefahr, da die EU auf erneute De-Regulierung pocht - im Interesse der europäischen Bankhäuser.

Der traditionell schwache gesetzliche Arbeitnehmer_innen-Schutz in den USA würde hart erkämpfte Rechte in der EU gefährden und die gewerkschaftliche Arbeit in den Betrieben bedrohen.

Strengere Patentregeln und ausgeweitete Nutzungsrechte für "geistiges Eigentum" könnten Wissen zur Ware machen, Meinungs- und Informationsfreiheit einschränken und den Einfluss von Banken und Konzernen auf Bildung und Wissenschaft weiter erhöhen. Damit würde das vor zwei Jahren von einer breiten Bewegung gestoppte ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) in neuem Gewand zurückkehren.

Bei den Öffentlichen Diensten und den Branchen der Daseinsvorsorge (Wasser, Bildung, Gesundheit etc.) könnte TTIP eine neue Privatisierungswelle auslösen, die zu steigenden Preisen bei sinkender Qualität führen würde.

Das Recht von Kommunen, ihre gesetzlichen Aufgaben und ihre Beschaffungspolitik in eigener Regie und im Sinne regionaler Kreisläufe zu organisieren, wird aller Voraussicht nach weiter unterminiert.

Das TTIP hätte auch nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf die USA und die EU. Der Vertragstext selbst gilt den Macher_innen als Vorlage für alle weiteren Handelsverträge, die EU und USA künftig so schließen - ganz im Sinne der globalen Freihandelsagenda.

Dazu kommt: Das was USA und EU an Wirtschaftswachstum und zusätzlichen Arbeitsplätzen gewännen (laut Prognosen), verlören Länder in anderen Teilen der Erde - vor allem im globalen Süden.

Der stärkere wirtschaftliche Zusammenschluss von Nordamerika und EU ist auch geostrategisch von Bedeutung, da er eine erneute globale Blockbildung vorantreibt. Mit China ist der Hauptfeind bereits ausgemacht. Nicht umsonst spricht das ISW-Forschungsinstitut vom TTIP als Wirtschafts-NATO.

Versprechungen wie gehabt: Wachstum und Arbeitsplätze.

Womit Freihändler, CDU und Massenmedien der Bevölkerung das Vertragswerk schmackhaft machen wollen, ist schnell berichtet: Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze. Logo!

Doch das gewerkschaftsnahe WISO-Forschungsinstitut hat das Märchen vom Wohlstandsmotor TTIP längst überzeugend widerlegt. Selbst eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Studie kommt nicht über ein zusätzliches errechnetes Wirtschaftswachstum von 0,05 Prozentpunkten pro Jahr hinaus. Studien des IFO-Forschungsinstituts aus München sind mit 0,3 Prozentpunkten zwar großzügiger. Aber ein echter Schub ist auch das nicht. Entsprechend mager sind die Vorhersagen hinsichtlich zusätzlicher Arbeitsplätze.

Dennoch versprach die optimistischste der optimistischen Studien zu Jahresbeginn den deutschen Haushalten einen Geldsegen von 540 zusätzlichen Euros pro Jahr. Doch die Begeisterung ließ schnell nach.

Selbst diese Summe würde nur 11,25 Euro pro Monat pro Kopf ausmachen und auch nur, sofern gesellschaftlich gleichmäßig verteilt würde. Doch in Deutschland wird extrem ungleichmäßig verteilt. Praktisch alle Einkommenszuwächse der vergangenen 20 Jahre flossen dank Freihandelsagenda auf die Konten der Reichen.

Daran wird sich durch noch mehr von derselben Medizin nichts ändern. Realistisch betrachtet bleibt für Otto-Normalverbraucher_in vom versprochenen Geldsegen also nichts übrig, wahrscheinlich sind eher Arbeitsplatzverluste. Was kommt sind Entdemokratisierung, Entrechtung, Unsicherheit und noch mehr Konkurrenzdruck - bei wachsenden Gewinnen für Konzerne und Superreiche.

Das lehrt das Beispiel NAFTA (North American Free Trade Agreement), das Freihandelsabkommen zwischen USA, Kanada und Mexico.

Und nun? Was tun?

Wer sich von zweifelhaften Wachstumsversprechen nicht blenden lassen will und seine Rechte als Arbeitnehmer_in, Verbraucher_in und Bürger_in wertschätzt, muss die freihandelskritische Bewegung stärken. In ihren fünf Thesen zum TTIP erklärt Pia Eberhardt: "Noch ist die EU-Kommission gut abgeschirmt in ihrem Wolkenkuckucksheim in Brüssel.

Doch mit einem langen Atem und einer weiteren Verbreiterung der Bewegung haben wir eine echte Chance, diese Abkommen zu kippen.

Der Protest wirkt bereits, die Schiedsgerichtsverfahren stehen schwer unter Beschuss. Doch wir sind noch lange nicht am Ende."

Beteiligt Euch an Bündnissen und Initiativen in Eurer Stadt - oder gründet selbst eine Gruppe. Der dezentrale, europaweite Aktionstag am 11. Oktober war groß - mit Beteiligungen in 150 Städten allein in Deutschland. Der nächste muss riesig werden.


Anmerkungen:

Weitere Infos:
www.ttip-unfairhandelbar.de/start/material/
www.attac.de/ttip

Unterschreibt die selbstorganisierte Europäische Bürgerinitiative auf https://stop-ttip.org/de/ oder bei einer Organisation Eurer Wahl, z.B. aus dem "UnFairHandelsbar"-Bündnis. Fast 900.000 Menschen haben es schon getan. Geht selbst sammeln, die Listen gibt es überall zum Runterladen oder Bestellen.

10.000-TTIP-freie Kommunen: Stellt einen Bürger_innenantrag in Eurer Kommune und verlangt vom Stadtrat, Euren Ort TTIP-frei zu erklären. Musteranträge gibt es auf
www.attac.de/TTIP-in-Kommunen

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Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 394, Dezember 2014, S. 11
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2015