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GRASWURZELREVOLUTION/1476: "Es gibt viele Arten zu töten ..."


graswurzelrevolution Nr. 398, April 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

"Es gibt viele Arten zu töten ..."
Aktualisierte Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen"

von der Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin


"Die Provokation seines Todes war das Letzte, was er aus seiner Sicht noch tun konnte ... Noch ein politisches Signal setzen. Noch einmal ins Gedächtnis brennen: Seht her, was ihr aus einem Menschen macht!" Mit diesen Worten kommentierte der Pfarrer Christoph Wilborg die Selbstverbrennung von Kahve Pouryazdani auf dem Bergfriedhof vor über hundert Trauergästen. "Viele hier sind in einer ähnlichen Situation", ruft ein Freund des Toten. "Falls jemand von der Ausländerbehörde hier ist: Der nächste könnte ich sein, oder er oder sie."


Der 49-jährige Flüchtling aus dem Iran hatte sich am 20. Februar 2014 hinter der Tübinger Stiftskirche St. Georg mit Benzin übergossen und angezündet. Kurz danach war er seinen schweren Verbrennungen in der Notaufnahme der Berufsgenossenschaftlichen Klinik erlegen. Er hatte seinen Tod auf dem Internetportal Facebook angekündigt.

Als zweimal abgelehnter Asylbewerber hätte er fast zehn Jahre lang ohne Zukunftsperspektive leben müssen. Lange Zeit unterlag er der Residenzpflicht und durfte den Landkreis Tübingen nicht verlassen.

Alle drei Monate musste er zum Amt, um seinen Aufenthalt zu verlängern. Jedesmal drohte - bei Nichtverlängerung - die Abschiebung. Zehn Jahre lang hat er eindringlich auf den Ämtern wiederholt: "Warum versteht ihr mich nicht? Ich will arbeiten, ich bin ein guter Schweißer. Ich will keine Almosen."

Obwohl er perfekt Deutsch sprach, "blieben ihm alle Türen verschlossen", kritisiert sein Anwalt Manfred Weidmann.

Die jahrelange Trennung von seiner Familie - besonders von seiner jetzt 19-jährigen Tochter - ließ ihn verzweifeln. Gerne hätte er sie in der Türkei getroffen, doch das Geld dafür durfte er nicht verdienen.

Vor der Stiftskirche hatte Kahve Pouryazdani jahrelang seinen Infostand aufgebaut, nachdem er in Tübingen Mitglied der monarchistischen Partei CPI (Constitutionalest Party of Iran) wurde. Mit Bildern und Faltblättern prangerte er die Verhältnisse im Iran, Unterdrückung und Verfolgung der Menschen, die Folter und die Morde an. Auch protestierte er gegen die Lieferung von Abhör-Technologie an das Mullah-Regime durch deutsche Firmen. Als er vor kurzem doch noch einen Aufenthaltsstatus aus humanitären Gründen erhielt, der ihm auch das Recht zum Arbeiten einräumte, war es schon zu spät: "Er hatte keine Kraft mehr", so sein Anwalt.

"... nur weniges davon ist in unserem Staat verboten." (Bertolt Brecht)

Der Suizid von Kahve Pouryazdani ist eines von über 7.500 Geschehnissen, die die Antirassistische Initiative Berlin in der Chronologie "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen" dokumentiert. Der 22. Jahrgang liegt jetzt in zwei dicken Bänden mit insgesamt 730 DIN A4-Seiten vor. Eine schier unendlich erscheinende Aufzählung von Einzelgeschehnissen und Flüchtlingsschicksalen, die aber in ihrer Gesamtheit, Geschichte für Geschichte, die menschenverachtenden Verhältnisse, unter denen in diesem Land Schutzsuchende leben, erfahrbar machen. Dies sind vor allem Bedingungen, die die Asyl- und Aufenthaltsgesetze seit 22 Jahren vorgeben und die von Mitarbeiter_innen der Ämter, der Polizei, der Abschiebeknäste des medizinischen Personals bis hin zum Verwaltungs- und Bewachungspersonal in den Flüchtlingslagern gegen die Flüchtlinge durchgesetzt werden. Systematische Entmündigung, Diskriminierung, Ausgrenzung und Kriminalisierung, Verbot einer Arbeitsaufnahme oder Ausbildung und die permanente Erhöhung des Ausreisedruckes - oft gepaart mit Willkür, Schikane, Erpressung, Rechtsbruch oder purer Gewalt zerstören jede Hoffnung auf eine positive Lebensperspektive und entziehen den Menschen den sicheren Boden. Nach dem Trauma der Flucht wird hier die Traumatisierung durch staatliche Maßnahmen systematisch fortgesetzt - eine Chance auf Heilung durch Schutz und Sicherheit ist nicht vorgesehen, denn Abschreckung ist das Ziel.

Willkommens-Kultur?

Die derzeitige Proklamierung einer "Willkommens-Kultur" durch die seit 22 Jahren praktizierte rassistische Politik kann angesichts der Realität der hier lebenden Flüchtlinge nur als Hohn bezeichnet werden.

Im Zeitraum vom 1. Januar 1993 bis 31. Dezember 2014 töteten sich mindestens 179 Flüchtlinge angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen - davon befanden sich 64 Menschen in Abschiebehaft. 1383 Flüchtlinge verletzten sich aus Angst vor der Abschiebung oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung (Risiko-, Hunger- und Durststreiks) oder versuchten, sich umzubringen - davon befanden sich 659 Menschen in Abschiebehaft.

Fünf Flüchtlinge starben während der Abschiebung und 451 wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen während der Abschiebung verletzt.

34 Flüchtlinge kamen nach der Abschiebung in ihrem Herkunftsland zu Tode, 584 Flüchtlinge wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär misshandelt und gefoltert oder kamen aufgrund ihrer schweren Erkrankungen in Lebensgefahr.

71 Flüchtlinge verschwanden nach der Abschiebung spurlos.

194 Flüchtlinge starben auf dem Wege in die Bundesrepublik Deutschland oder an den Grenzen, davon allein 130 an den deutschen Ost-Grenzen, drei Personen trieben in der Neiße ab und sind seither vermisst. 590 Flüchtlinge erlitten beim Grenzübertritt Verletzungen, davon 321 an den deutschen Ost-Grenzen.

19 Flüchtlinge starben durch direkte Gewalteinwirkung von Polizei oder Bewachungspersonal entweder in Haft, in Gewahrsam, bei Festnahmen, bei Abschiebungen, auf der Straße oder in Behörden - mindestens 899 wurden verletzt. 20 Flüchtlinge starben durch unterlassene Hilfeleistung.

75 Flüchtlinge starben in den Flüchtlingsunterkünften bei Bränden, Anschlägen oder durch Gefahren in den Lagern, 980 Flüchtlinge wurden dabei z.T. erheblich verletzt.

19 Flüchtlinge starben durch rassistische Angriffe im öffentlichen Bereich und 922 wurden dabei verletzt.

Durch staatliche Maßnahmen der BRD kamen seit 1993 mindestens 451 Flüchtlinge ums Leben - durch rassistische Angriffe und die Unterbringung in Lagern (u.a. Anschläge, Brände) starben mindestens 94 Menschen.


Die Dokumentation umfasst zwei Hefte (DIN A4). Beide Hefte zusammen kosten 21 Euro plus 3,60 Euro Porto & Verpackung. HEFT I (1993-2004) 11 Euro für 360 S. - HEFT II (2005-2014) 12 Euro für 365 S. - plus je 1,80 Euro Porto & Verpackung.

Weitere Infos:
www.ari-berlin.org/doku/titel.htm

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Quelle:
graswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 398, April 2015, S. 5
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
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einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3,80 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2015

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