Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GRASWURZELREVOLUTION/1486: Vor 30 Jahren - Mahmud Taha als Ketzer hingerichtet


graswurzelrevolution 400, Sommer 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Vor 30 Jahren: Mahmud Taha als Ketzer hingerichtet!

Zur Erinnerung an einen gewaltfreien Anarchisten aus dem islamischen Kulturkreis


Am Morgen des 18. Januar 1985 wurde der sudanesische Sufi Mahmud Muhammad Taha (1909-1985), zuvor in mehreren Gerichtsverfahren wegen Apostasie (Abfall vom Glauben, Ketzerei) verurteilt. vom islamistischen Numairi-Regime durch den Strang hingerichtet. Dies löste einen Volksaufstand aus, der im April 1985 zum Sturz des Diktators führte. An Taha wird hier auch als Aufklärer aus dem islamischen Kulturkreis und als gewaltfrei-anarchistischer Islam-Interpret erinnert, um rassistischen PEGlDA-Vorurteilen, jede Islam-Interpretation sei en bloc und per se rückständig oder mittelalterlich. entgegenzutreten. Es geht nicht um den "Kampf der Kulturen" (zit. nach George W. Bush-Politikberater Samuel Huntington), es geht um den Kampf innerhalb jeder Kultur!
(GWR-Red.)


Auf die libertäre Koran-Interpretation - etwa vergleichbar der libertär-gewaltfreien Interpretation des Neuen Testaments durch Tolstoi - wurde in der GWR in den letzten Jahrzehnten immer wieder hingewiesen, auch in Antikriegs-Massenzeitungen mit hoher Auflage, etwa wenn es galt, die rassistische Rede von der Gleichsetzung des Koran mit Hitlers "Mein Kampf", das einen wichtigen ideologischen Bestandteil der Medienpropaganda im Anschluss an den 11. September 2001 für den Afghanistan-Krieg von NATO und Bundeswehr ausmachte, mit einem positiven Gegenbeispiel zu kontern. (1) Immer wieder wurde in der GWR versucht, Anarchismus als weltweite Bewegung in verschiedenen Kulturen und nicht als eurozentrische Bewegung zu verstehen.

Neben der nach wie vor bahnbrechenden deutschsprachigen Studie von Annette Oevermann zu Taha und seiner Organisation, den "Republikanischen Brüdern" (2) gibt es vor allem immer wieder neue, informative englischsprachige Arbeiten, weshalb sich dieser Artikel vor allem auf die 2010 veröffentlichte Studie von Edward Thomas stützt. (3)

Wer war Taha?

Mahmud Taha kam aus einer Kleinbauernfamilie im Umkreis der Stadt Rufa'a, im Tal des Blauen Nil, ca. 140 km südöstlich von Khartum, der Hauptstadt des Sudan. Die Familie hatte Beziehungen, die dem Sohn den Besuch weiterführender Schulen ermöglichten, was im britisch-kolonialen Sudan vor dem Zweiten Weltkrieg mit gerade 4 % Nicht-AnalphabetInnen die Ausnahme war. Bildung war daher für Taha zeit seines Lebens bedeutsam und wurde in all seine Strategien integriert. Im College hörte Taha von Gandhis Salzmarsch im Jahre 1930. Nach der Ausbildung arbeitete er lange Zeit als Ingenieur, oft bei der Eisenbahn, was ihm lange Zeit ein gutes Einkommen sicherte. In den Dreißigerjahren organisierte er Bauern und Eisenbahnarbeiter in "Clubs", Vorläufern von Gewerkschaften, die es im Sudan erst ab 1948 gab. Zeitweise lebte er mit seiner gesamten Familie in einem Eisenbahnwaggon.

Im Oktober 1945 gründete Taha mit Freunden zunächst eine Partei, die "Republikanische Partei", die sich in der Folge in der antikolonialen Bewegung gegen Großbritannien engagierte. In dieser Zeit war Tahas befreiungstheologisches Programm noch nicht ausgearbeitet. 1945-1946 wurde Taha und seine kleine Gruppe früh regional bekannt, weil sie sich einer kolonialen Gesetzgebung gegen die traditionelle Beschneidung von Mädchen widersetzten. Die Positionierung war in ihrer Ambivalenz typisch für viele antikoloniale Bewegungen: Als Antikolonialist war Taha gegen die koloniale Durchsetzung des Verbots mit staatlicher Gewalt; als islamischer Aufklärer war er gegen die vorislamische Tradition der Beschneidung, meinte aber, die Befreiung müsse ausschließlich durch Aufklärung und Überzeugung, nicht mittels staatlichen Verboten erreicht werden. Als 1946 in Rafa'a eine Mutter, die ihre Tochter beschnitten hatte, erstmals aufgrund der Kolonialgesetze verhaftet wurde, führte Taha eine aufgebrachte Menge zum Gefängnis und überbrachte sogar dem lokalen britischen Oberkommandierenden die Drohung der Menge, dessen Ehefrau aus Rache gewaltsam zu beschneiden. Taha rief bei den Demonstrationen auch zum gewaltsamen "Jihad" auf, der allgemein "Kampf", "Anstrengung" und die nicht immer gewaltsame Durchsetzung bedeutet, hier jedoch schon. Die von ihm geführte bewaffnete Menge wurde von herangeführten Regierungstruppen zum Teil niedergeschossen. Ambivalent war diese Aktion, weil Taha sie in Allianz mit reaktionären Teilen der Gesellschaft durchführte, die strikt gegen die Aufhebung der Beschneidungstradition war. Allerdings unterstützte ihn auch Fatma Ibrahim, die Vorsitzende der sudanesischen Frauengewerkschaft und vormalige Kommunistin, die - wie damals viele - meinten, die antikoloniale Aktion sei wichtiger als die Kampagne gegen Beschneidung. (4) Taha wurde als Verantwortlicher der Unruhen zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, von 19415-48, wo er die klassischen islamischen Schriften und die Sufi-Tradition studierte und einen inneren, meditativen Rückzug begann, der bis zwei Jahre nach seiner Freilassung 1948 anhalten sollte. Er studierte auch europäische Philosophen, u.a. Darwin und Marx, legte sich aber programmatisch auf sein neues Programm einer aus dem Sufismus inspirierten, gewaltfrei-libertären Neuinterpretation des Islam fest. Die "Republikanische Partei" wurde von einer politischen Partei in eine sozialkulturelle Strömung umgewandelt. Sein wichtigstes befreiungstheologisches Buch, "The Second Message of Islam" [Die zweite Botschaft des Islam; bisher nur ins Englische und teilweise ins Französische übersetzt] erschien im Jahre 1967 und hielt seine philosophischen Erkenntnisse dieser Jahre der inneren Einkehr fest. Als Sufi lehnten er und die Organisation nun die fünf sichtbaren, äußeren "Säulen" des Islam (Bekenntnis, fünf Gebete täglich, Almosen als Zweieinhalb-Prozent-Steuer, Pilgerfahrt nach Mekka, Fasten im Ramadan) ab und gaben ihrer asketischen Lebensführung neben einem spirituellen auch einen sozialen Gehalt im Sinne der Identifizierung mit Armen und Hungernden. (5)

Die zweite Botschaft des Islam

Es folgten die wichtigsten Buch-Veröffentlichungen Tahas: 1952 rief er in "Say: this is my way" (Sag: Das ist mein Weg) nicht mehr zum Jihad, sondern explizit zum "zivilen Ungehorsam" (6) gegen die britische Kolonialmacht auf. 1955, ein Jahr vor der Unabhängigkeit des Sudan, arbeitete er eine Verfassung aus, die aber nicht übernommen wurde. Sie war föderalistisch ausgerichtet, in ihr hatten die regionalen Körperschaften von unten sogar das Recht, das Zentralparlament aufzulösen. Thomas: "Die Verfassung sah eine Evolution vor: Das Zentrum sollte Stück für Stück seine Macht an die Regionen abgeben." (7) In der gegen Tahas Vorschlag angenommenen Staatsverfassung wurde dagegen der Zentralismus im unabhängigen Sudan gestärkt und Ansprüche des nicht-muslimischen, durch eine britischchristliche. Missionarspolitik christlich-animistisch gewordenen Südens (der seit 2011 unabhängige Süd-Sudan) verworfen - die Ursache zahlreicher Bürgerkriege des Nordens mit dem Süden und von Hungerkatastrophen, die insgesamt weit über eine Million Tote gekostet haben. Im Oktober 1964 wurde das sudanesische Militärregime von Ibrahim Abboud durch nichtbewaffnete Massendemonstrationen gestürzt. Tahas Strömung hatte keinen Anteil daran, Taha glaubte aber, dass "das Oktober-Modell einer gewaltfreien Veränderung die erste Phase einer Revolution" sei. (8)

Im Zentrum der in "The Second Message of Islam" formulierten islamischen Form einer gewaltfreien Befreiungstheologie stand die Umkehrung der sogenannten "Abrogation" der Verse des Koran. Sie bedeutet, dass bei widersprüchlichen inhaltlichen Aussagen - von denen es wie bei jeder religiösen Schrift im Koran viele gibt - ein Vers mehr Bedeutung bekommt und den anderen Vers damit "abrogiert", unbedeutend macht. In der Orthodoxie, unter den Imamen, war die Abrogation seit Jahrhunderten quasi gelöst: Verse aus der Zeit des Propheten in Medina (622-632), als er zum Staats- und Kriegsherrn aufstieg, abrogierten seitdem die Verse aus der Zeit in Mekka (612-622), in der Muhammad Outcast, Verfolgter war und vor feindlichem Publikum predigte, das aus heidnischen, ungläubigen oder polytheistischen Beduinen bestand. Unterstrichen wurde das noch durch den propagierten Beginn der islamischen Zeitrechnung im Jahre 622. Taha reformierte nun diese Abrogations-Regel und kehrte sie radikal um. Die Verse aus Mekka abrogierten bei ihm die Verse aus Medina; in Mekka habe Muhammad zur ganzen "Menschheit gesprochen, in Medina "sprach der Prophet zu einer Menschengruppe, die seine Autorität akzeptiert hatte" (9); der ethische Standard der Texte aus Mekka war daher "ewig gültig", derjenige der Texte aus Medina zeitbezogen, weil sich die Menschen im 7; Jahrhundert aufgrund mangelnder Bildung nicht zur geistigen Vollkommenheit des Propheten aufschwingen konnten. Taha rechtfertigte Autorität, Staat und Krieg also rein retrospektiv, nur für das 7. Jahrhundert. Die "zweite Botschaft" in Mekka werde für die Gegenwart so zur wichtigsten Botschaft, die bisher so genannte "erste Botschaft" in Medina unbedeutend. Die Verse aus diesen beiden Phasen lassen sich wissenschaftlich relativ gut klassifizieren, in der Orthodoxie gibt es ein Datierungsverfahren, Taha benutzte dagegen eine Methode der linguistischen und literarischen Analyse, wie etwa den Status der gerade erwähnten Zuhörerschaft. Das absolut Revolutionäre und Libertäre daran: Alle Verse der Rechtfertigung von Herrschaft und Krieg, also der sharia, besonders der körperlichen hadd-Strafen (z.B. Gliedmaßen kappen bei Diebstahl usw.), "der privilegierten Rechte von Muslimen [gegenüber Ungläubigen, denn in Mekka ging es zunächst überhaupt erst um Gleichberechtigung der neuen muslimischen Gemeinschaft gegenüber einer feindlich gesinnten Zuhörerschaft], von Sklavenhaltern, Privateigentümern, Männern und dem muslimischen Staat" sind damit medinensische Verse und heute für Taha nicht mehr gültig. "Stattdessen gewährt die zweite Botschaft des Islam [die Verse aus Mekka] Freiheit von Sklaverei sowie die legale und moralische Gleichheit der Frauen." (10) Besonders wichtig ist Tahas Schlussfolgerung für den Jihad, den er vollständig Medina zuordnet. Tahas Gewaltfreiheit war also auch kein gewaltfreier Jihad [Solche Interpretationen gab es im islamischen Kulturkreis auch], er war Anti-Jihad, schloss dabei aber Streiks und Massendemonstrationen ein, am wichtigsten war den "Republikanischen Brüdern" jedoch die aufklärende Bildung, die argumentative Überzeugung, die als direkt gesuchte Diskussion von AktivistInnen in Cafes, an der Universität Khartoum, auf Veranstaltungen und später auch bei Diskussionsreisen etwa in den Süden gesucht wurde. Thomas: "Als er in Mekka war, war Muhammad nicht mehr als ein Überzeugender ['persuader' im Sinne von: Argumentierender], vgl. Sure 88, Vers 21. In Medina, sagt Taha, war er dann zum Rückgriff auf Kriegsführung oder Jihad gezwungen, vgl. Sure 2, Vers 190. Diese Gewalt hat aber keinen Platz in der zweiten Botschaft, sagt Taha: Die ursprüngliche Technik der Überzeugung abrogiert den Jihad." Genauso begründet Taha auch Frauenbefreiung oder Sozialismus: "Sozialismus, die Aufteilung des Mehrwerts, ist daher die zweite Botschaft des Islam." (11)

Obwohl Taha zweifellos die charismatische Führungsperson der Bewegung war, hielt er sich zunehmend bei Diskussionen zurück, moderierte nur, rief zu gegensätzlichen Meinungsäußerungen auf und förderte ab 1975 vor allem die Diskussionsfähigkeit von Frauen, die bald als "Republikanische Schwestern" - um diese Zeit waren ca. 200 der rund 1000 "Republikanischen Brüder" Schwestern - frei in der Öffentlichkeit diskutierten, Rednerinnen bei Massen-Versammlungen waren sowie unabhängig von ihren Familien in sogenannten "Republikanischen Häusern" lebten - eine im sudanesischen Kontext geradezu unglaubliche Revolutionierung der patriarchalen Tradition. Tahas Tochter Asma Mahmud verstand sich etwa nicht als Theologin, sondern als "Feministin im Kampf gegen die Diskriminierungen der sharia-orientierten Sitten, die in die ländlichen Gebiete des Sudan exportiert wurden." (12)

Tahas Utopie ging noch weiter: Ihm ging es nicht etwa um eine islamische Rechtfertigung der parlamentarischen Demokratie, wenn er sie auch als zeitgemäßer als die Muhammadsche Diktatur betrachtet. Sein Ziel war, ganz in der Sufi-Tradition, individuelle Selbst-Vervollkommnung. Schon vor vielen Jahrhunderten meinten Sufis, ihre geistige Vervollkommnung habe dasselbe Niveau wie Gott erreicht, weshalb zuweilen auch schon die Konsequenz gezogen wurde, der Mensch könne sich an die Stelle Gottes setzen: Ende des 10. Jahrhunderts hatte die Sufi-Bruderschaft Ikhwan al-Safa daraus sogar ein Programm formuliert: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" - so viel zur Forderung, der Islam müsse en bloc erst einmal die Aufklärung und die Französische Revolution durchlaufen. Taha ging demgegenüber sogar einen Schritt zurück und setzte sich nicht mit Gott, sondern mit den Propheten, also Muhammad, aber auch Jesus - sehr bedeutsam für Tahas föderalistisches Konzept für den Südsudan - gleich, oder er sagte, er wolle das Bildungs- und Geistesniveau eines "perfekten Menschen" erreichen. Das war in den Augen der Orthodoxie natürlich Gotteslästerung. Die Islamische Weltliga verurteilte Taha und übte Druck auf die im Sudan immer stärker und auch fundamentalistischer werdenden Muslim-Brüder aus, Taha zu beseitigen.

Als argumentativ Überzeugender, so Taha, habe der Prophet in Mekka keine Gewalt, sondern nur die individuelle Freiheit innerer Vervollkommnung gehabt. In ihrer Studie über die "Republikanischen Brüder" folgert Annette Oevermann aus dem Mekka-Vers, Sure 88, Vers 21-22, der an den Propheten gerichteten Aufforderung: "'Warne nun (deine Landsleute)! Du bist (ja) nur ein Warner und hast keine Gewalt über sie'. Daraus ist nach Taha zu schließen, dass Gott individuelle Freiheit so hoch schätzt, dass er sie an sich durch gar keinen Bevollmächtigten ('wasi') habe einschränken wollen, der Islam an sich also selbst über eine parlamentarische Vertretungsdemokratie noch hinausgehe." (13) Nach Taha kann im Prinzip jedes menschliche Individuum diese innere Vervollkommnung erreichen. Daraus entwickelte er sein evolutionäres Modell der menschlichen Geschichte hin zu diesem Zustand, in dem für das 7. Jahrhundert die Diktatur, für Mitte des 20. Jahrhunderts zeitbezogen die parlamentarische Demokratie nur relative Gültigkeit hatten. Oevermann: "Denn der wirklich freie Mensch 'hegt nicht einmal in seinem tiefsten Innern eine Bosheit gegen irgendjemanden.' [Taha] Diesen Zustand bezeichnet Taha als das höchste Niveau des Islam. (...) 'Je roher und unempfindsamer die Menschen waren, desto härter war das Recht gegen sie.' [Taha] Je höher sich jedoch die Vernunft ('al-aql') des Menschen entwickelte und er verantwortlich mit seiner Freiheit umzugehen verstand, desto weniger wurde er rechtlich eingeschränkt und desto weniger grausam waren die Strafandrohungen gegen ihn; eine stufenweise Entwicklung, die nach Taha in der Aufhebung des Strafens überhaupt gipfeln wird" (14) - das ist eine andere Formulierung für Anarchie.

Tahas Hinrichtung und der Volksaufstand; posthume Würdigungen

Der Militär Ghaffar Numairi putschte sich im Mai 1969 mit Hilfe der Kommunistischen Partei an die Macht. Gegen ein korruptes parlamentarisches Regime vorgehend sah er sich in der Tradition der arabischen linken Offiziere wie etwa Nasser oder Gaddafi. Taha stand dem Regime anfangs neutral bis positiv gegenüber, immerhin gelang Numairi früh, 1972, ein Friedensabkommen mit dem Süden. Doch Autoren wie Thomas werfen Taha hier auch Naivität vor und die Tatsache, dass Taha, obwohl er vordem immer wieder KommunistInnen verteidigt hatte, letztlich nichts gegen die bald folgende blutige Repression der Kommunistischen Partei durch Numairi unternahm. Numairi festigte dadurch zeitweise seine Einparteien-Diktatur, ließ aber im Wesentlichen die "Republikanischen Brüder", die ja keine Partei waren, gewähren. Wirtschaftliche Krisen und Hungersnöte im Süden führten jedoch Ende der Siebzigerjahre aus Gründen des Machterhalts zu einer religiös-autoritären Wende Numairis, der 1978 vom laizistischen Militär zum Islam konvertierte. Er besetzte das einflussreiche Religionsministerium mit Muslim-Brüdern, führte wieder Krieg gegen den Süden und 1983 war es dann soweit: Das nunmehr islamistische Bündnis Numairi/Muslim-Brüder führte die "Sharia" mitsamt den physischen, archaischen "Hadd"-Strafen ein, es kam zu einer Flut von öffentlichen Auspeitschungen, Amputationen und Exekutionen. Spätestens jetzt wurde Taha zum entschiedenen Numairi-Gegner. Als er im Januar 1985 hingerichtet wurde, waren neben ihm weitere 400 republikanische AktivistInnen im Gefängnis.

Taha war aber inzwischen populär, sogar über die Landesgrenzen hinaus. Amnesty International adoptierte alle 400 republikanischen Gefangenen als "Prisoners of Conscience"; die afrikaweite Zeitung "Jeune Afrique" nannte Taha einen "afrikanischen Gandhi" und die arabische Organisation für Menschenrechte erklärte den Tag seiner Exekution zum jährlichen arabischen Menschenrechtstag. In London kam es zu Friedensverhandlungen zwischen den Exilparteien und der südsudanesischen Guerilla SPLA und nach Numairis Sturz zu einem neuen Friedensabkommen. Die umstürzlerische Massenbewegung selbst war ein Bündnis aus Bürgerrechts- und Arbeiterbewegung. Faktisch entstanden daraus 1986 Neuwahlen und eine neue Phase der Demokratie, die jedoch schnell wieder vertan wurde, bevor schließlich 1989 die Muslim-Brüder und das Militär erneut putschten und das mörderische Regime al-Baschir einrichteten, das Darfur mit Krieg überzog und heute noch im Sudan existiert. Taha war so gesehen eine historisch verpasste Chance für das Land - aber sein Föderalismus auch eine reale Möglichkeit.

Die Umsturzbewegung war direkt von Taha-AktivistInnen beeinflusst: "Städtische Demonstranten, die vom Verteidigungskomitee für Taha angeführt wurden; überfluteten die Straßen." (15) Und Thomas urteilt nun über die Naivität des Militärs: "Numairi dachte, für seine Tyrannei schlau zu handeln, als er einen schwachen Gegner zerstörte, um seine Macht zu demonstrieren, aber Taha hatte ihn aus seinem Grab heraus seinerseits zerstört." (16)

Die trotz aller freien Diskussion bestehende charismatische Person Tahas sorgte allerdings auch dafür, dass die Bewegung bald nach dem erfolgreichen Aufstand zerfiel: "Diese personale Verbindung mit der Bewegung bedeutete, dass die RepublikanerInnen oft stark differierende Erwartungen an Taha hatten. Für einige war er die Führungsperson einer sozialen Bewegung, für andere der Theoretiker feministischer und sozialistischer Ideen. Die höchsten Erwartungen hatten jene, die glatt, Taha sei ein Sufi-Meister, der ein neuer Messias werden könne. Tahas Tod brachte all dieser; Differenzen ans Tageslicht" und führte schnell zu Zersplitterung und dem Niedergang der Bewegung. Eines war ihnen jedoch gemeinsam: "Taha war für sie ein ermordeter Pazifist und ein moralisches Vorbild." (17)

Wallflower


Anmerkungen:

(1): Fang: Koran gleich "Mein Kampf"? Mahmud Taha: das Beispiel einer libertären Koran-Interpretation, in: Beilage "Stoppt den Krieg!") zu GWR 263, Nov. 2001. Weitere Taha-Artikel finden sich in GWR Nr. 132 und 191.
(2): Annette Oevermann: Die "Republikanischen Brüder" im Sudan. Eine islamische Reformbewegung im Zwanzigsten Jahrhundert, Verlag Peter Lang, Frankfurt/M. 1993.
(3): Edward Thomas: Islam's Perfect Stranger. The Life of Mahmud Muhammad Taha, Muslim Reformer of Sudan, I.B. Tauris, London/New York 2010. Soweit nicht anders belegt, stammen alle Detailinformationen dieses Artikels diesem Buch.
(4): Vgl. Thomas, ebenda, S. 72-77.
(5): Vgl. Thomas, S. 71-91. Thomas merkt jedoch auch kritisch an, dass sich Taha eine Zeitlang um Hungerkatastrophen im Süden kaum praktisch kümmerte.
(6): Thomas, S. 98.
(7): Thomas, S. 107.
(8): Thomas, S. 127.
(9): Thomas, S. 150.
(10): Thomas, S. 151.
(11): Ebenda.
(12): Thomas, S. 188.
(13): Annette Oevermann: Die "Republikenschen Brüder" im Sudan, siehe Anm. 2, S. 112
(14): Oevermann, mit Zwischenzitaten Tahas, ebenda, S. 117f.
(15): Edward Thomas: IsIam's Perlect Stranger, siehe Anm. 3, S. 226.
(16): Thomas, ebenda, S. 222.
(17): Thomas, S. 223

*

Quelle:
graswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 400, Sommer 2015, S. 8 - 9
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3,80 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang