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GRASWURZELREVOLUTION/1578: 80 Jahre Soziale Revolution in Spanien - Es gibt mehr zu kämpfen als zu feiern


graswurzelrevolution 410, Sommer 2016
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Es gibt mehr zu kämpfen als zu feiern. Aber!
80 Jahre Soziale Revolution in Spanien.
Rückblick auf die Veranstaltungswoche vom 22. bis 30. April 2016 in Hamburg

von Ale Dumbsky


2016 hat ein Jubiläum in petto, das für AnarchistInnen jeglicher Couleur, von GraswurzelrevolutionärInnen bis InsurrektionalistInnen, des Andenkens würdig ist: 80 Jahre Soziale Revolution in Spanien! Aus diesem Anlass hat sich ein kleines "Dezentrales Komitee" zusammengesetzt, um eine Veranstaltungswoche hierzu in Hamburg anzustoßen.


Eine Rolle hierbei spielte auch eine der so genannten "revolutionären" Hamburger 1. Mai-Demos ein Jahr zuvor. Ein gelinde gesagt merkwürdiges Bild bot sich da: In der Demo, die sich traditionell aus einer Hand voll stalinistischer Grüppchen zusammensetzt, gab es überraschenderweise wie deplatziert eine schwarz-rote und eine schwarze Fahne zu sehen.

Gut, es ist kein Geheimnis, dass Anarchismus mehr Strömungen als ein Huhn Federn hat, aber hier wurde sich offensichtlich jenseits von jedem Geschichtsbewußtsein, inmitten roter Mikro-Organisationen die Straße geteilt. Letztere waren bzw. sind ihrer Tradition so verpflichtet, dass sie sich Anarchisten gegenüber wie zu Zeiten der Russischen Revolution aufführten ... vorne wurde real taktisch-freundlich gelächelt, während hinter dem Rücken die noch imaginären Schlüssel der Zellen klimperten.

Dringender Klärungsbedarf also, und der ließ sich trefflich mit diesem Jubiläum verbinden. Die selbst gesteckten Zielvorgaben waren es, der Brückenbau von damals ins Heute, als auch der Versuch, möglichst viele Hamburger Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen an einem Tisch zum Thema Platz nehmen zu lassen. Da es auch an der Elbe Fraktionen hat, die nicht auf allerbesten Füßen miteinander stehen, versprach letzteres nicht automatisch gewährleistet zu sein. Das kleine Komitee ging auf Reisen, persönliche Treffen (!) statt Mails, um die Idee vorzustellen. Und siehe da ... großes Interesse allen Ortens. Das Organisieren der Veranstaltungswoche wurde hori- wie dezentral angegangen: Für Programm, den Ort und den Ablauf ihrer Veranstaltung war die jeweilige Gruppe selbst zuständig. Ein, wie erhofft, breites Spektrum an Veranstaltungen wurde so aufgefaltet.

Start war am 10. April eine Ausstellung mit historischen Plakaten der CNT/FAI in den Räumlichkeiten der Hamburger FAU. Zur Vernissage wurde ein Volxmenü gereicht, dem Vernehmen nach waren die insgesamt fünf Gänge mit gut 70 Knoblauchzehen angereichert. Als sich der so massiv parfümierte Atem endlich aus den Mundhöhlen der Anwesenden verflüchtigt hatte, wurde die Woche "80 Jahre Soziale Revolution in Spanien! Viva La Anarkia!" am 22. April offiziell in der frisch renovierten Roten Flora eröffnet. Nach Abschlendern der Büchertische gab es eine Begrüßung und den Film "Die Utopie leben! Der Anarchismus in Spanien" (Originaltitel: "Vivir la Utopia").

Die darin gezeigten Interviews mit ZeitzeugInnen und Beteiligten der Revolution (alles ältere Menschen mit revolutionärem Funkeln in den Augen) war der passende Auftakt für alles, was da noch kommen würde. Am nächsten Tag hielt Mariano Maturana, Anarchismus-Experte und Medienkünstler aus Barcelona, einen Vortrag über die Ursprünge des spanischen Anarchismus bis in die Gegenwart. Mariano hat ein interessantes Projekt namens Tactical Tourism entwickelt. Ein Bestandteil hierbei ist "La ruta del Anarquismo" (Die anarchistische Route); eine Tour zu Fuß durch Barcelona, die die gern ignorierte anarchosyndikalistische Historie der Stadt anhand von Plätzen und Bauten erzählt. Am darauf folgenden Sonntag stand der Vortrag von Michael Knapp und Anja Flach "Rätesystem von Spanien nach Rojava" im Stadtteilzentrum GWA auf St. Pauli im Programm.

"Es ist kein Geheimnis, dass Anarchismus mehr Strömungen als ein Huhn Federn hat."

Der Historiker Knapp und die Ethnologin Anja Flach sind seit Jahren aktiv in der kurdischen Bewegung. Sie berichteten über das insbesondere bei Libertären Viel diskutierte "Rojava System", über Kommunen, Frauenakademien, Kooperativen, Internationalist*innen und den Versuch eine multiethnische, multireligiöse und frauenbefreite Gesellschaft zu entwickeln und die Schwierigkeiten dieses Systems gegen Angriffe zu verteidigen. Der dann am Montag folgende Vortrag "Spanien 36" in den Räumlichkeiten der Arbeitsgemeinschaft interkultureller Jugendverbände war von der anarchosyndikalistischen Gruppe Hamburg und dem Verlag Barrikade organisiert. In Wort und Bild wurde kompetent u.a. über "Ursachen und Kollektivierungen und warum sie scheiterten" referiert. Eine Veranstaltung über die aktuelle Situation in Griechenland, überschrieben mit "Insurrektionalistischer Anarchismus und das (über)Leben in der Krise" fand am nächsten Abend im Libertären Zentrum statt. Da die griechischen Referenten kurzfristig ausgefallen waren, gab es einen Vortrag über die Geschichte der linken Bewegungen sowie kurze Filme über die Situation in Griechenland.

Am Mittwoch stellte Doris Ensinger am gleichen Ort ihre gerade im Verlag Barrikade erschienenen Lebenserinnerungen vor: "Quer denken, gerade leben". Die seit 1977 in Barcelona lebende Anarchistin hat die Entwicklung der anarchosyndikalistischen Bewegung an der Seite ihres Genossen Luis Andrés Edo aktiv miterlebt. Neben Persönlichem gab sie auch einen Abriss über die damalige wie die aktuelle Situation in Katalonien und Spanien. Der nächste Tag führte nach Harburg, in die Sauerkrautfabrik. Die Libertären H-Burg steuerten die Lesung "Stimmen des Widerstands. So weit uns Spaniens Hoffnung trug" zum Programm bei. Gelesen wurden" Erzählungen und Berichte aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Ein Abend, der bewies, dass es nicht reicht, gute Texte zu haben, sie sollten auch gut gelesen werden, und das war hier der Fall.

Der Freitag führte zurück in die Schwarze Katze der FAU, dieses Mal zu Vera Bianchi und ihrem Vortrag über die Mujeres Libres (Freie Frauen). Diese gründeten sich im April 1936, drei Monate vor Beginn des Bürgerkrieges und wuchsen während des Krieges auf 20.000 Mitglieder in 160 Ortsgruppen an. Sie waren auf vielfältige Weise aktiv, sowohl als Kämpferinnen an der Front als auch im Hinterland durch Organisierung von Bildungs- und Ausbildungskursen, Kindergärten und Volksspeiseräumen [Vgl. Vera Bianchis Artikel in dieser GWR]. Die Journalistin Elba Mansilla referierte am letzten Veranstaltungstag in den Räumen des Centro Sociale über die aktuelle Solidarökonomie in Katalonien. Sie berichtete über die sozialen Entwicklungen, die seit 2008 zu Protest und Widerstand als auch zu einem Aufbruch von Tausenden hin zu Selbstverwaltung und solidarischer Ökonomie führten. Mit diesem Vortrag war die Veranstaltungswoche "80 Jahre soziale Revolution in Spanien, Viva La Anarkia!" beendet. Wer wollte, beteiligte sich noch an der am Vorabend des 1. Mai stattfindenden, überregionalen Demonstration "Breite Solidarität. Gegen Rassismus und Repression. Die Stadt gehört allen". Die mit ca. 2000 TeilnehmerInnen erfreulich große Demo thematisierte die aktuellen Auseinandersetzungen in Hamburg; so z.B. das Verfahren gegen BesetzerInnen eines Hauses in der Breiten Straße, den Umgang mit Flüchtlingen, die Angriffe auf Wohnprojekte und das kollektive Zentrum KoZe.

Eine gelungene Woche war's!

Jede Veranstaltung glänzte mit viel Publikum, das sich nicht nur aus den üblichen Verdächtigen, sondern aus Interessierten unterschiedlicher Backgrounds und Alters (!) zusammensetzte.

Alle Veranstaltungen waren inhaltlich kompetent und schön gemacht; fast überall gab es gutes Essen. Die Vorträge von ausländischen ReferentInnen wurden top übersetzt. Die Woche wurde komplett durch rumgehende Hüte und Spenden finanziert - der Kassensturz am Ende zeigte stolz eine schwarze Null.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 45. Jahrgang, Nr. 410, Sommer 2016, S. 9
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
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Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2016

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