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GRUNDRISSE/031: zeitschrift für linke theorie & debatte, herbst 2011


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 39, herbst 2011


INHALT

Editorial

Redaktion:
Call for Papers - grundrisse # 40: (Welt)Revolution

John Holloway:
Krise und Kritik

Kate Bobby:
Junge WissenschafterInnen in der Grundlagenforschung:
Einzigartige Chance oder systematische Ausbeutung?

Anton Pam:
Privilegiertes Rädchen im System? Persönliche Überlegungen
aus dem Arbeitsalltag eines Universitätsassistenten

Adrian Wilding:
In-gegen-und-jenseits der marktförmigen Universität:
Die Studierendenproteste in Großbritannien 2010 und 2011

Jan Bönkost:
Im Schatten des Aufbruchs.
Das erste Berufsverbot für Horst Holzer und die Uni Bremen

Mario Becksteiner:
Militant Research and Research Militancy

Arno Uhl:
Der Kongress der viele ist. Theoretische Erörterung von (anti-)repräsentativen
Praxen am Beispiel des Wiener Solidarökonomie Kongresses 2009

Anton Pam:
Buchbesprechung: Clemens Knobloch: Wir sind doch nicht blöd:
Die unternehmerische Hochschule

Sebastian Kalicha:
Buchbesprechung: Achim Bühl: Islamfeindlichkeit in Deutschland.
Ursprünge, Akteure, Stereotype

Robert Foltin:
Buchbesprechung: Marianne Pieper, Thomas Atzert, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos (Hg.):
Biopolitik in der Debatte

Raute

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

Im Laufe der Produktion dieser Nummer der grundrisse haben wir zwei Genossen verloren: Moe Hierlmayer, langjähriger Aktivist der Bundeskoordination Internationalismus, Autor und aktiv in der Interventionistischen Linken, verstarb am 17. Juni an einem Herzinfarkt. Kennen lernten wir ihn und seine Familie vor einigen Jahren anlässlich ihres Wienaufenthaltes bei einem feucht-fröhlichen Biergarten-Nachmittag. Einige gleichermaßen vergnügliche und politisch wie theoretisch spannende dieser Nachmittage und Abende in Nürnberg folgten, diese werden wir künftig ebenso vermissen wie die spannenden Texte, die wir von Moe in den vergangenen Jahren zu lesen bekamen. Auch der Kulturtheoretiker, Politaktivist und grüne Anarcho Dieter Schrage starb im Juni dieses Jahres. Ob bei der Unterstützung von Hausbesetzungen, seinen Museumsführungen für Wohnungslose oder dem produktiven Streit bei Diskussionen, auf Dieter Schrage konnte die radikale Linke in Österreich zählen, wenn's drauf ankam. Trotz oder eben weil er Funktionär der Grünen Partei war, jedenfalls aber weil er im Zweifelsfall immer auf Seiten der "kleinen Leute" gegen die herrschenden Zustände Stellung bezog. Mit Moe und Dieter hat die radikale Linke zwei wichtige Denker, Aktivisten und Impulsgeber verloren.

In den letzten Jahren konnten wir einen Aufschwung linker Wissensproduktion und auch ihrer Rezeption beobachten. Nicht zuletzt im Zuge der globalen Protestbewegung, dem Prozess der Sozialforen und durch den Erklärungsnotstand der herrschenden Wissenschaft angesichts der keineswegs überwundenen Krise des Kapitalismus fanden alternative, linke Deutungsmuster ansatzweise auch in nicht-aktivistischen Teilen der Gesellschaft Gehör. Trotz der systematischen Nicht-Nachbesetzung linker oder gar marxistischer Lehrstühle an deutschsprachigen Universitäten konnten Netzwerke kritischer Wissenschaft bestehen und sich sogar neue etablieren. Im Rahmen der internationalen Bildungsproteste der vergangenen Jahre standen die Institutionen der Wissensproduktion im Zentrum des Gegenfeuers. Und dennoch konnten wir beobachten, dass die Rolle der Wissenschaft in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, jene der studierenden, forschenden und Lehrenden Subjekte darin, aber auch die herrschaftlichen Strukturen der Bildungsinstitutionen selbst nur selten kritisch zur Debatte standen. Dieser Tendenz möchten wir mit der vorliegenden Ausgabe zumindest ansatzweise entgegenwirken:

Der Bogen der Artikel zum Schwerpunkt reicht von der Reflexion junger WissenschafterInnen (Bobby, Pam) auf ihre Arbeitsweisen und -bedingungen, über das Verhältnis von Untersuchung und Militanz (Becksteiner) und die Studentenrevolte auf der Britischen Insel von 2009 (Wilding) bis hin zu Grundsätzlichem zu Krise und Kritik (Holloway) und einer Auffrischung des historischen Bewusstseins in Sachen Berufsverbote in Deutschland (Bönkost). Außerhalb des Schwerpunkts nähert sich Arno Uhl der vor einiger Zeit in den grundrissen diskutierten Thematik Organisierung anhand des Solidarökonomie Kongresses in Wien 2009. Außerdem gibt's wie immer noch feine Buchbesprechungen.

Mit der kommenden Ausgabe der Zeitschrift feiern wir 10 Jahre grundrisse! Ein bisschen sind wir selbst verwundert, wie schnell die Zeit verging, however muss aus diesem Anlass ausgiebig gefeiert werden und beim Schwerpunkt wird auch nicht gekleckert, sondern geklotzt: Die (Welt)Revolution muss es schon sein. Den entsprechenden Call for papers findet ihr auf der nächsten Seite, den 17. Dezember könnt ihr euch bereits jetzt vormerken, da wird nämlich um 18 Uhr weltrevolutionär diskutiert und anschließend gegessen, getrunken, gefeiert und musiziert, und zwar im legendären Weinhaus Sittl in Neulerchenfeld (1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 51). Näheres in Bälde unter www.grundrisse.net

Zwei Veranstaltungen bestreiten wir jedoch noch davor, nämlich am Montag, 3. Oktober 2011 um 19 Uhr im Amerlinghaus, Stiftg. 8., 1070 Wien: Buchpräsentation und Diskussion von: "Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der "Sarrazindebatte"", edition assemblage 2011 mit Sebastian Friedrich (Herausgeber und Autor) und Regina Wamper (Autorin) sowie am 29. Oktober um 19 Uhr eine Diskussion anlässlich des Erscheinens von "Begegnung feindlicher Brüder. Zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus in der Geschichte der sozialistischen Bewegung", unrast verlag 2011. Ort: Schenke, Eingang Lerchenfelderstrasse 124-126, es diskutieren Philippe Kellermann (Herausgeber und Autor) und Karl Reitter (Autor)

Viel Spaß beim Lesen und abonnieren, die Redaktion verabschiedet sich derweilen gen Süden!

Raute

Call for Papers - grundrisse # 40: (Welt)Revolution

Der Kapitalismus hat seinen Kredit im wahrsten Sinne des Wortes verspielt. Seine Ablöse stünde eigentlich auf der Tagesordnung, wenn nicht ... Wie aber könnte der Weg in eine andere Gesellschaftsordnung aussehen? Ist der Widerspruch zwischen Reform und Revolution tatsächlich überwunden? Wie kann eine grundlegende Umwälzung aller Verhältnisse, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Marx) im postfordistischen Kapitalismus aussehen? Werden die Umwälzungen feministisch genug sein? Wie wird sich das Leben ändern? (1968: Das Leben ändern, die Welt verändern!) Wie verhält sich der Begriff der Revolution zu anderen Konzepten radikaler gesellschaftlicher Veränderung wie z.B. Transformation, konstituierende Macht, Transition, Revolte, Aufstand, Systemwechsel? Was bedeuten die aktuellen Aufstände und Revolten, nicht nur in der arabischen Welt für eine zeitgenössische revolutionäre Strategie?

Im Rahmen der (10-Jahres-Jubiläums)Nummer 40 der grundrisse wollen wir sowohl dem begrifflich-philosophischen Gehalt des Revolutionsbegriffes Rechnung tragen als auch deren historische Dimension (an den Beispielen der französischen, haitianischen, amerikanischen, russischen und anderen Revolutionen) ausloten. Nicht zuletzt gilt es auch die Geschichte der marxistischen Revolutionstheorie zu resümieren sowie Fragen nach Bedeutung und Möglichkeit einer zeitgenössischen Theorie der Revolution hinsichtlich der Fragen nach Organisierung und deren globaler Dimension zu stellen. Beiträge mit bis zu 45.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) sind erwünscht, ebenso Buchrezensionen. Manuskripte an: redaktion@grundrisse.net. Redaktionsschluss ist der 15.10.2011.

Wir ersuchen alle, die uns Manuskripte zusenden, folgende einfache Formatierungsregeln zu beachten:

1. Grundsätzlich gilt: So wenig Formatierungen wie möglich! Also keine automatischen Nummerierungen, keine Einrückungen, keine definierten unterschiedlichen Zeilenabstände, keine festen Binde- und Trennungsstriche, keine Textkästen, keine Wortabteilungen, keine definierten Seitenumbrüche usw.

2. Einzeilig und Flattersatz. Absätze sind bitte mit Leerzeilen zu trennen. Das gilt auch für Fußnoten. Bilder und Graphiken sind in beliebigen Formaten extra beizufügen.

3. Fertige Texte bitte im word-doc Format senden. Keine PDFs, keine Appleformate, kein rtf.

Vielen Dank für die Beachtung!

Raute

John Holloway:

Krise und Kritik

Übersetzt von Lars Stubbe

Ich bin in einer Mission unterwegs, präsentiere eine Herausforderung, starte einen Angriff. Ich komme, das Atom zu spalten.

Kritik ist die Spaltung eines Atoms, die Öffnung geschlossener Kategorien um die in ihnen enthaltenen Antagonismen zu enthüllen. (In diesem Sinne ist der Begriff "offener Marxismus" (geprägt von Bonefeld, Gunn und Psychopedis) eine (hilfreiche) Tautologie).

Nehmen wir eine Kategorie und spalten sie auf. Was sehen wir? Vielleicht weitere Kategorien. Nehmen wir zum Beispiel die Ware, wie Marx dies tat. Wenn wir sie aufspalten entdecken wir die antagonistische Einheit von Wert und Gebrauchswert. Aber das reicht nicht aus. Wir müssen zum Kern kommen, wir müssen ad hominem gehen (wie Marx wiederholt formuliert hat), wir müssen die Kategorie in Bezug auf das menschliche Handeln verstehen und uns, falls nötig, Schicht um Schicht durch die Begriffsbildung hindurcharbeiten. Warum? Weil wir nur dann die Frage nach der erforderlichen Beschaffenheit des menschlichen Handelns zur Veränderung der Welt stellen können, wenn wir die soziale Welt als von menschlichem Handeln erschaffen begreifen.

Nehmen wir also die antagonistische Einheit von Wert und Gebrauchswert, spalten sie auf, dann kommen wir zum Kern, zum Dreh- und Angelpunkt, einem Begriff, der sich direkt auf die antagonistische Organisation menschlicher Aktivität bezieht, den Doppelcharakter der Arbeit als abstrakte Arbeit und nützliche oder konkrete Arbeit. "[...D]ieser Punkt" sagt Marx auf den ersten Seiten des Kapitals, "[ist] der Springpunkt [...], um den sich das Verständnis der Politischen Ökonomie dreht" (1867/1984: 56). (Nach der Veröffentlichung des ersten Bandes schrieb er an Engels (Marx, 1867/1987, 407): "Das Beste an meinem Buch ist 1. (darauf beruht alles Verständnis der facts) der gleich im Ersten Kapitel hervorgehobne Doppelcharakter der Arbeit, je nachdem sie sich in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrückt" (Marx, 1867/1965: 326).

Aus Gründen der Vertrautheit nehmen wir die Ware, aber wir hätten überall anfangen können. Wenn Du magst, nimm den Staat, spalte ihn auf und früher oder später gelangst Du an denselben Punkt, zur selben Kritik ad hominem: es handelt sich um dieselbe selbstantagonistische Einheit von abstrakter und konkreter Arbeit, die die Existenz des Staates erklärt. Das Kapital ist eine Kritik der Kategorien der politischen Ökonomie, aber dieselben Prinzipien sind auf die Kritik der Religion, der Politik, der Soziologie der Geschlechterstudien oder sonstwas anzuwenden: die Frage ist immer, wie wir die Existenz der Kategorien ad hominem verstehen, auf der Grundlage der Art und Weise, wie die menschliche Aktivität organisiert ist.

Wir öffnen die Kategorie und erkennen die Art und Weise, in der die menschliche Aktivität organisiert ist. Die Kategorien des Denkens sind Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihnen zugrundeliegen. ("Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion", (Marx 1867/1984: 90)). Wenn wir die Kategorien kritisieren, kritisieren wir die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zur Entstehung dieser Kategorien führen. Wir öffnen beide. Wir sehen die Ware und den Wert als gesellschaftliche Verhältnisse und öffnen sie, um dahinter den Doppelcharakter der Arbeit zu entdecken, der die Wurzel sowohl der gesellschaftlichen Verhältnisse als auch ihres begrifflichen Ausdrucks bildet.

Was sehen wir also? Wir öffnen die Ware und wir sehen den Wert und den Gebrauchswert, aber anfangs ist dies nicht das, was wir wirklich sehen. Unser Blick konzentriert sich auf den Wert. Wir öffnen den Wert und den Gebrauchswert und sehen den Doppelcharakter der Arbeit als abstrakte und konkrete Arbeit, aber hier geschieht dasselbe. In Wirklichkeit konzentriert sich unser Blick auf abstrakte Arbeit. Das ist der Grund dafür, dass in der jüngst wieder aufgegriffenen Diskussion um den Doppelcharakter der Arbeit, sich fast alles um die eine Seite des Doppelcharakters, nämlich abstrakte Arbeit, dreht.

Wir sehen also als Erstes das dominante Moment der antagonistischen Einheit. Und etwas Schreckliches geschieht. Unsere Kritik verflacht zu einer Theorie der Herrschaft. Der Marxismus wird zu einer Theorie der kapitalistischen Herrschaft. Mit anderen Worten, reaktionäres Gewäsch, eine Theorie, die uns in die Einhegung einschließt, die sie zu kritisieren vorgibt. Eine Kassandratheorie, eine Theorie, die die Analyse des Kapitalismus von der Bewegung des Kampfes trennt, eine Theorie, die den Marxismus als Analyse des Rahmens versteht, innerhalb dessen sich der Klassenkampf entwickelt. Wir wollen keine Theorie der Herrschaft, wir wollen eine Theorie des Kampfes. Wir wollen nicht jammern, wir wollen die Welt verändern.

Öffne die Kategorie und sieh erneut hin, sieh genauer hin. Unterhalb und über das dominante Moment des Antagonismus hinaus, sehen wir das untergeordnete Moment und es bewegt sich, es kämpft. Hinter dem Wert sehen wir den Gebrauchswert, hinter dem Staat sehen wir antistaatliche Formen gesellschaftlicher Organisation, hinter der abstrakten Arbeit sehen wir konkrete Arbeit (oder konkretes Tun). Wir sehen sie nicht sehr klar, wir verfügen häufig nicht über klare Worte, um auszudrücken, was wir sehen, denn sie alle existieren in der Form von etwas Anderem. Der Gebrauchswert existiert in der Form der abstrakten Arbeit, gesellschaftliche oder kommunale Organisation existiert in der Form des Staats. Anders ausgedrückt existieren sie alle in der Form des Negiertwerdens, wie Richard Gunn dies formuliert.

Negiert, aber nicht vernichtet. Gezügelt, jedoch überschwallend. Identifiziert, definiert, klassifiziert, diese Identität, Definition, Klasse brechend. Kritik ad hominem, Kritik, die uns zu den menschlichen Wurzeln gesellschaftlicher Phänomene treibt, ist unvermeidlich anti-identitär, denn sie führt uns zu einer Rastlosigkeit, die nicht hinzunehmen bereit ist. Kritik ad hominem führt uns zu uns selbst, zur Quelle unserer eigenen Kritik, zu unserer Verweigerung, unserer Wut, unserer Würde, unserer Untauglichkeit, unserer Kreativität, unserer unvermeidbaren Schizophrenie. Das was in der Form der Negation existiert, kämpft gegen seine eigene Negation, es existiert nicht nur in sondern auch gegen und jenseits der Form des Negiertseins. Die Kraft unserer Kritik liegt in dem was wir kritisieren, oder besser gesagt, sie liegt in-gegen-und-jenseits seiner eigenen Negation. Der kritische Theoretiker ist nicht der privilegierte Intellektuelle, wie Adorno und Horkheimer dachten, sondern das Subjekt, der Tuende, die konkret Arbeitenden, die nicht nur in der Form des Negiertwerdens existiert, sondern auch dagegen und jenseits davon.

Nimm eine Kategorie, spalte sie auf und was wir entdecken ist kein philosophischer Widerspruch, sondern ein lebendiger Antagonismus, ein Konstanter Kampf, ein Zusammenstoß zwischen sich widersprechenden Bewegenden. Abstrakte Arbeit ist ein ständiger Angriff, ein dauerhaftes Auferlegen der sich ständig verschärfenden Zwänge gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit auf die menschliche Aktivität. Und konkrete Arbeit ist ein konstantes Sich-Bewegen in die entgegengesetzte Richtung, ein Sich-Bewegen hin zur gesellschaftlichen Selbstbestimmung unserer eigenen Aktivität, der Schub menschlicher Kreativität, die treibende Kraft menschlicher Produktion.

Wir enthüllen einen Antagonismus und unser Enthüllen ist Teil des von uns enthüllten Antagonismus. Unser Öffnen ist Teil eines gesellschaftlichen Kampfes zum Öffnen. Die konzeptionelle Aufspaltung des antagonistischen Begriffs Arbeit ist nur möglich, weil die Kämpfe von 1968 die Arbeit in praktischer Weise aufgespalten haben. Und die andere Seite, das Sich-Bewegen der abstrakten Arbeit, die Abstrahierung unseres Tuns in Arbeit, stellt eine Schließung dar. Die Abstrahierung des Tuns zur Arbeit ist eine Schließung von Konzepten und von gesellschaftlichen Verhältnissen, das Greifen nach anderen Konzepten im Prozess der Schließung, ein soziales Verschmelzen von Verhältnissen zwischen Menschen, ein Schub hin zur Formierung eines Systems mit eigenen Entwicklungsgesetzen, mit eigener identitärer Logik, eigener homogener Zeit. Der Schub hin zu formaler Rationalität, der Schub hin zur Aufklärung. Ein Verschmelzen, das Ihnen Selbstvertrauen, Autorität verleiht, das alles sich so anhören lässt, als wäre es der einzig gangbare Weg.

Folglich ist genealogische Kritik, die Ableitung der Genese verschiedener Begriffe (von Marx in der Einleitung zu den Grundrissen als Rückfahrt bezeichnet) keine Darstellung dessen, wie der Kapitalismus ist. Vielmehr folgt sie der Bewegung dieses Schließens, des Sich-Bewegens hin zu einer Gesellschaft, die Gesetzen unterliegt. Wir verfolgen nicht nur die Bewegung vergangener Prozesse, sondern gegenwärtigen Kampfes.

Aber die Schließung ist niemals vollständig, kann niemals vollständig sein (denn wäre sie es, würden wir sie hier nicht kritisieren). Es ist die Schließung einer Decke über unserem Kopf, von Wänden um uns herum, aber wir können immer noch über die Decke hinaus, über die Wände hinaus sehen. Die Welt abstrakter Arbeit ist eine geschlossene Welt, eine Welt, in der alles tauglich ist. Aber wir sind nicht tauglich. Wir sind Teil einer Welt, die nicht tauglich ist. Wir murmeln, wir murren, wir sind häufig inkohärent, es fehlt uns an Selbstvertrauen, aber wir wissen, dass wir nicht tauglich sind. Konkretes Tun ist untauglich für abstrakte Arbeit. Unsere Stimme ist die der Untauglichkeit, die Stimme des konkreten Tuns.

Wir öffnen eine Kategorie und entdecken die sich dahinter verbergende Untauglichkeit. Wir öffnen eine Kategorie und entdecken die sich dahinter verbergende eigene Krise. Kritische Theorie ist Krisentheorie und Krisentheorie ist kritische Theorie. Eine Geißel für die Kostbarkeit eines großen Teils der "kritischen Theorie", die glaubt, sie kann die Distanz zur Krise und dem gesellschaftlichen Antagonismus, den diese anzeigt, wahren. Ebenfalls eine Geißel für die abtötende Leere der Krisentheorie, die sich selbst als Wirtschaftswissenschaft versteht, die nicht durch das Kopfzerbrechen der Kritischen Theorie belastet ist.

Im Zentrum der Kritik steht das Öffnen des wichtigsten Atoms überhaupt: Arbeit. Konkrete Arbeit (potenziell bewusste Lebensaktivität) existiert in der Form abstrakter Arbeit, existiert jedoch in-gegen-und-jenseits-von abstrakter Arbeit, existiert als Krise der abstrakten Arbeit. Die Krise ist das Sich-Bewegen konkreten Tuns in-gegen-und-jenseits-von abstrakter Arbeit, die Revolution ist die Emanzipation der konkreten von abstrakter Arbeit, der kreativen Stärke menschlicher Aktivität (Produktionskraft) von der dynamischen gesellschaftlichen Kohäsion, die von abstrakter Arbeit gewoben wurde.

Die Kraft der Bewegung des Tuns gegen die Arbeit, das heißt, wie schwierig es der abstrakten Arbeit fällt, sich die menschliche Aktivität unterzuordnen, manifestiert sich in der explosionsartigen Vermehrung des Kredits, der für die gegenwärtige Krise von entscheidender Bedeutung ist. Es manifestiert sich auch in den mannigfaltigen Sprüngen, Fissuren oder Brüchen in der Struktur der kapitalistischen Herrschaft, andere Formen gesellschaftlicher Beziehungen, erschaffende Aktivitäten, die es darauf anlegen, mit der kapitalistischen Rationalität zu brechen. Diese Bewegungen stehen im Zentrum der neuen Reflektion über die Bedeutung der Revolution heutzutage.

Wir spalten das Atom, das zentrale Atom der Arbeit, den Angelpunkt und wir enthüllen eine grundlegende Veränderung in der Grammatik des Antikapitalismus. Sobald wir einmal die Arbeit offen gespalten haben, können wir die Revolution oder den Klassenkampf nicht länger in Begriffen des Kampfes zwischen Arbeit und Kapital fassen. Arbeit (zumindest, wenn wir sie als abstrakte Arbeit verstehen) ist, tagein, tagaus, die Erschafferin des Kapitals. Die Arbeit steht auf derselben Seite wie das Kapital. Unser Kampf ist der Kampf des konkreten Tuns, der Antrieb hin zur bewussten Lebensaktivität, gegen Arbeit und Kapital.

Dies ist es, was die Kämpfe in den Fabriken und außerhalb der Fabriken aussagen: wir sind nicht Arbeit, wir lieben die Arbeit nicht, wir kämpfen gegen die Arbeit, wir kämpfen, um unser Tun von der Arbeit zu emanzipieren. Wir wollen unser dem widmen, was wir tun wollen, dem, was wir als wichtig erachten. Dies ist die politische Wette, die heute im Zentrum der Krise steht.

Ich sagte, ich komme mit einer Mission. Dies ist meine Mission: dafür zu sorgen, dass die Arbeit unmöglich als einheitliche Kategorie behandelt werden kann, dafür zu sorgen, dass es unmöglich ist, den Kapitalismus als Kampf der Arbeit gegen das Kapital zu analysieren, ohne die Kategorie der Arbeit zu öffnen.

E-Mail: johnholloway@prodigy.net.mx


Bibliographie:

Marx, Karl (1867/1984), Das Kapital, Bd. 1 (MEW 23) (Berlin: Dietz Verlag).
Marx, Karl (1867/1987), "Marx an Engels, in Manchester, 24.8.1867", in: MEW 31 (Berlin: Dietz Verlag), S. 326-327.

Raute

Kate Bobby:

Junge WissenschafterInnen in der Grundlagenforschung: Einzigartige Chance oder systematische Ausbeutung?

Ich bin Molekularbiologin und seit 2009 an der Harvard Universität in Boston als Wissenschaftlerin tätig. Angehörige der hard sciences (Lebenswissenschaften, Physik, Mathematik und Computerwissenschaften) sind meiner Erfahrung nach traditionellerweise weniger gesellschaftspolitisch aktiv, zumindest im direkten Vergleich mit Leuten, die sich mit soft sciences (Sozialwissenschaften) beschäftigen, und neigen dazu, ein existierendes System nicht zu hinterfragen. Das mag zum großen Teil daran liegen, dass ihr Hauptbeschäftigungsfeld - für mich etwa molekularbiologisch-medizinische Fachthemen - nicht unmittelbar mit gesellschaftlicher Entwicklung oder politischer Situation zu tun hat, aber dennoch einen großen Teil der Konzentrations- und Denkfähigkeit beansprucht. Dennoch gibt es zahlreiche Missstände in der Arbeitssituation von jungen WissenschaftlerInnen der hard sciences, über die kaum kritisch reflektiert wird. Die momentane Situation könnte, meiner Einschätzung nach, gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung und das Vorankommen der hard sciences selbst haben, wodurch es umso wichtiger wird, über Änderungen und Verbesserungen nachzudenken. Dieser Artikel ist ein Versuch, die Situation für Außenstehende verständlich zu machen, Probleme aufzuzeigen und mögliche Lösungsansätze zu finden.


Die klassischen Karriereschritte in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung

Um das herrschende System vorzustellen, möchte ich meinen bisherigen Werdegang sowie den möglichen zukünftigen Werdegang darlegen, da dieser, von kleinen Variationen abgesehen, der klassischen Laufbahn einer jungen WissenschaftlerIn der hard sciences, oder zumindest der Biowissenschaften, entspricht. Nach dem Schulabschluss habe ich Biologie an der Universität Wien studiert und mich dabei auf Genetik und Molekularbiologie spezialisiert. Bereits die Diplomarbeit am Ende des Studiums umfasst 8 bis 12 Monate Arbeit in einem der molekularbiologischen/biochemischen Labors der Universität bzw. anderer Institutionen, sofern ein Betreuer an der eigenen Universität existiert. Dabei wenden sich die jungen StudentInnen direkt an die LeiterInnen der jeweiligen Forschungsgruppen (im Fachjargon spricht man vom principal investigator), die sie in ihren Labors aufnehmen, wenn gegenseitiges Interesse besteht. An diesem Punkt beginnt klassischerweise die wissenschaftliche Ausbildung einer MolekularbiologIn: Erfahrenere KollegInnen vermitteln zunächst laborbasierte Spezialtechniken, die gebraucht werden, um die gestellten wissenschaftlichen Fragestellungen hinreichend zu beantworten. Da diese Techniken für AnfängerInnen recht anspruchsvoll sein können, wird ein beträchtlicher Teil der Zeit auf ihr Erlernen verwendet, während die eigentliche wissenschaftliche Ausbildung - Wie stelle ich die richtige Frage? Wie beantworte ich meine Frage? Wie kontrolliere ich, dass meine Ergebnisse interpretierbar sind und nicht zu falschen Schlüssen führen? - mehr nebenbei abläuft. Die DiplomstudentIn verbringt dabei bereits 8 bis 10 Stunden täglich im Labor und bekommt eine geringfügige "Bezahlung" für ihre Arbeit (etwa 300 Euro im Monat). Nach 8 bis 12 Monaten intensiver Laborarbeit wird die Diplomarbeit zusammengestellt, welche die zusammen mit der GruppenleiterIn erarbeiteten Fragestellungen erläutert und die experimentellen Ergebnisse zusammenfasst, die der Beantwortung dieser Fragestellung dienen. Bereits in diesem frühen Stadium bekommt die StudentIn vermittelt, dass ihre wissenschaftliche Karriere einzig und allein von Publikationen in guten Journalen abhängt. "Gut" definiert sich in den hard sciences am sogenannten impact factor, einem numerischen Wert, der die Häufigkeit, mit der Artikel aus diesem Journal in anderen Artikeln zitiert werden, beschreibt. So gut wie alle Publikationen in der molekularbiologischen Forschung unterlaufen vor ihrer Veröffentlichung ein peer review, wo gleichgestellte KollegInnen (so genannte peers) ihre Fachmeinung zu einem eingereichten Artikel abgegeben und dann dessen Veröffentlichung empfehlen oder ablehnen. Häufig wird die mögliche Veröffentlichung des Artikels an gewisse Voraussetzungen geknüpft - meist weitere experimentelle Arbeit, um die eine oder andere der aufgestellten Hypothesen zu untermauern. Die junge StudentIn realisiert, dass der Großteil der Experimente im Labor sehr zeitraubend ist, und glaubt zu verstehen, dass ihre einzige Chance, etwas soweit zu bringen, dass es publiziert werden kann, darin liegt, rund um die Uhr an Experimenten zu arbeiten. Bereits DiplomstudentInnen verbringen häufig 50 bis 70 Stunden in der Woche im Labor - gegen eine Bezahlung von 300 Euro im Monat.

Nach Abschluss des Diplomstudiums ist eine Doktorarbeit die Voraussetzung, um in der akademischen Forschung arbeiten zu können. Die Doktorarbeit ähnelt im Großen und Ganzen der Diplomarbeit, nur dass Umfang und Zeitrahmen um einiges wachsen. Wiederum findet die DoktorandIn einen principal investigator, der oder die bereit ist, sie im Labor aufzunehmen. Die Wahl des principal investigators wird auf Grund der Spezialisierung der Arbeitsgruppe getroffen, da diese das eigene Arbeitsthema stark beeinflusst. An diesem Punkt in der Karriere, mit fertigem akademischem Abschluss, bekommt die DoktorandIn zum ersten Mal einen Arbeitsvertrag. Das Gehalt beträgt etwa 1200 Euro netto monatlich, der Vertrag stellt sicher, dass "allfällige Überstunden zu leisten sind". Ich persönlich habe mich einer Arbeitsgruppe an der Medizinischen Universität Wien angeschlossen, um meine Doktorarbeit zu schreiben. Manche meiner KollegInnen haben sich entschieden, ins Ausland zu gehen, um dort an ihrer Dissertation zu arbeiten - die Bedingungen sind hinsichtlich der arbeitsrechtlichen Situation ähnlich oder sogar schlechter, da DoktorandInnen in vielen Ländern keinen Arbeitsvertrag erhalten und dadurch jederzeit kündbar sind. Die von der Diplomarbeit bereits konditionierten jungen DoktorandInnen greifen erneut die experimentelle Laborarbeit auf und verbringen 50 bis 70 Stunden pro Woche im Labor. Sie müssen jetzt bereits selbständiger arbeiten, werden nicht mehr direkt betreut und gewöhnen sich daran, sich selbst neue experimentelle Techniken beizubringen. Viele Techniken, so herausfordernd sie am Anfang auch erscheinen mögen, werden schnell zu Routine, müssen aber trotzdem weiterhin ausgeführt werden und verbrauchen etwa 60% bis 70% der gesamten im Labor verbrachten Zeit. Prinzipiell könnten speziell ausgebildete technische AssistentInnen diese Aufgaben im Regelfall besser erfüllen als die DoktorandInnen.[1]. Da solche AssistentInnen aber mehr Gehaltskosten verursachen und insgesamt weniger Arbeitsstunden ableisten, ist es für jede GruppenleiterIn kostengünstiger, den DoktorandInnen diese Arbeit zu überlassen. Geld ist - wie überall in der Grundlagenforschung - knapp und bei Stellen von technischen Assistenten wird als erstes gespart. Hier existiert es eine seit Jahren stetig wachsende Gruppe an DissertantInnen der hard sciences, die für ein vergleichsweise geringfügiges Gehalt 50 bis 70 Stunden in der Woche arbeiten, die Mehrheit ihrer Zeit mit Routinearbeit verbringen und von deren Einsatz und Ergebnissen der Erfolg und das Weiterkommen der Arbeitsgruppe und damit ihrer LeiterInnen, der principal investigators, abhängen. Die DissertantInnen konkurrieren dabei um eine geringere Anzahl sogenannter Postdoc-Stellen, die der nächsten Stufe der wissenschaftlichen Karriereleiter entsprechen. Nach Abschluss der Dissertation bewirbt sich die junge WissenschaftlerIn um eine solche Stelle als postdoctoral research fellow. Diese Stellen sind knapp; häufig erwartet die LeiterIn der nun ausgewählten Arbeitsgruppe, dass die postdocs sich ihr Gehalt selbst bezahlen, indem sie sich für eines der wenigen postdoctoral fellowships, also Stipendien speziell für Postdocs, bewerben. Um diese Stipendien gibt es eine scharfe Konkurrenz; ohne Publikation in einem der Top-Journale sind sie schwer zu bekommen. Während solche Stipendien in Österreich hauptsächlich vom Staat vergeben werden, gibt es in den USA auch zahlreiche private Stiftungen, die postdocs finanzieren, allerdings sind dabei die Forschungsgebiete auf das Interessensgebiet der Stiftung beschränkt (wie etwa Brustkrebs oder Leukämie). Mein Partner, ebenfalls ein Wissenschaftler, und ich haben uns an diesem Punkt unserer Karriere entschieden, ins Ausland zu gehen. Der Grund war, dass zum einen Postdoc-Stellen in Österreich rar sind, aber auch, dass von uns als WissenschaftlerInnen erwartet wird, Auslandserfahrungen zu sammeln und uns an den Topuniversitäten im Ausland weiter ausbilden zu lassen.

Während es gewiss eine einzigartige Chance darstellt, ohne großen Aufwand einige Jahre in einem anderen Land zu verbringen - die Arbeitssprache der Wissenschaft ist Englisch, Visa werden als Bildungsvisa vergeben, die ohne viel Aufwand zu bekommen sind -, beinhaltet es auch große Probleme, für deren Bewältigung die jungen WissenschaftlerInnen keinerlei Unterstützung erhalten: die Kosten eines Umzugs; die Herausforderung, für den Partner eine Arbeitsstelle am gleichen Ort zu finden, Schul- oder Kindergartenplätze für Kinder zu sichern, etc. Nichtsdestotrotz sehe ich es als ein Privileg und als Chance, ein paar Jahre an einer Universität wie Harvard forschen zu dürfen. Dieses Gefühl des Privilegiertseins und des Dankbarseinmüssens trägt aber noch zusätzlich zu dem Druck bei, der auf den jungen ForscherInnen lastet: Mensch sollte schließlich alles tun, um diesem Privileg oder dieser Chance gerecht zu werden. Als postdoc wird das gewohnte System weiter angewandt: Arbeit von mehr als 50 Stunden pro Woche im Labor. Mittlerweile sind die postdocs um die 30 Jahre alt, verdienen etwa 1800 Euro im Monat netto und verbringen nach wie vor 60% bis 70% ihrer Zeit mit Routinearbeiten. Mitunter bekommen sie eine technischen AssistentIn zur Seite gestellt, die ihnen einen Teil der Routinearbeit abnimmt; dies ist, vor allem für junge postdocs, jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Ohne einen festen Arbeitsvertrag sind sie selbst dafür verantwortlich, Geld über Stipendien heranzuschaffen, um ihr Gehalt abzudecken. Wie bereits zuvor wird wie verrückt gearbeitet, um den nächsten Karriereschritt zu schaffen: selbst ein prinicipal investigator zu werden, um eine eigene Arbeitsgruppe zu leiten. Wiederum existiert eine geringere Anzahl an GruppenleiterInnen-Stellen für postdocs, wiederum können nur die Besten weiterkommen und wiederum hängt der Erfolg der GruppenleiterIn, die die postdocs beschäftigt, von der Produktivität letzterer ab.


Ein sich selbst erhaltendes System der Ausbeutung?

Durch die detaillierte Beschreibung der Karriereschritte einer jungen WissenschaftlerIn der hard sciences kann bereits erkannt werden, wie das System funktioniert, wie es sich selbst erhält und wie es nahezu dafür geschaffen wurde, junge Leute ohne Rücksicht auszubeuten. Es ist ein Pyramidensystem: viele StudentInnen der Naturwissenschaften, wenige Dissertationsplätze. Viele DissertantInnen, wenige Postdoc-Stellen. Zu viel postdocs, noch weniger GruppenleiterInnenstellen, ganz zu schweigen von Stellen mit sogenanntem tenure, also der Festanstellung einer WissenschaftlerIn an ihrer Institution. Auf Grund dieser Pyramide mit einer stetig breiter werdenden Basis besteht ständiger Druck: Druck zum Erfolg, Druck zu publizieren, und Druck, die Beste zu sein. Der Druck wird von den GruppenleiterInnen auf ihre postdocs und DissertantInnen weitergegeben. Arbeiten diese nicht ohnehin schon freiwillig mehr als 50 Stunden in der Woche (sie unterliegen schließlich dem gleichen Druck), wird der Einsatz mehr oder weniger subtil eingefordert (siehe dazu jenen Brief, den ein junger Gruppenleiter der Caltech Universität im Jahre 1996 in Kalifornien an einen seiner Dissertanten verschickt hat und der im Internet traurige Berühmtheit erlangt hat:

http://www.lettersofnote.com/2011/03/i-expect-you-to-correct-your-work-ethic.html). Mir sind unzählige Geschichten bekannt, wo gegen jegliches Arbeitsrecht Dienste eingefordert wurden: Anwesenheit im Labor an Wochenenden und in Nächten, keine Urlaubserlaubnis, etc. Die Jungen gehorchen, immer in der Hoffnung und Furcht, dass ihre Karriere und ihr Leben einzig und allein von ihrem Arbeitseinsatz abhängen, auch wenn er ein unmenschlicher ist. Man kann sich vorstellen, wie wenig ein solches System jene Aspekte fördert, die für Wissenschaft eigentlich essentiell sind: Zusammenarbeit, Austausch, Diskussion, Kreativität. Eine der essenziellsten Grundlagen wissenschaftlichen Fortschritts bleibt auf der Strecke: das Denken. Ein überarbeiteter, müder junger Mensch, der ständigem Stress unterliegt, kann unmöglich klare Gedanken fassen, geschweige denn die komplexen und vernetzten Ideen entwickeln bzw. überdenken, die notwendig wären, um tatsächlich gute Wissenschaft zu betreiben. Die GruppenleiterIn, selbst ständig überarbeitet, bringt ebenso weder Zeit noch Energie auf, diese Missstände zu beheben, oder trägt - wie vorher erwähnt - sogar noch zu deren Manifestierung bei. Obwohl jede GruppenleiterIn selbst einst in der Situation ihrer postdocs oder DissertantInnen war und möglicherweise darunter gelitten hat, wird das System weitergetragen. Das vorherrschende Gefühl ist, dass man das ja auch selbst durchgestanden hat, also werden es die eigenen Leute wohl ebenso schaffen. Zudem ist der Erfolgsdruck groß: Wenn man den eigenen Leuten das Recht auf menschliche Arbeitsbedingungen zugestehen geben würde, schädigt das die eigene Karriere (so ist man überzeugt).

Das System erhält sich also selbst aufrecht und wird kaum hinterfragt. Jahr für Jahr bringt es zahlreiche Publikationen in Top-Journalen hervor - ein viel zu großer Teil davon erweist sich im Nachhinein als falsch oder kann nicht reproduziert werden. Auch das ist ein Ergebnis des riesigen Drucks, der auf den WissenschaftlerInnen lastet - es werden Dinge nicht ausreichend getestet, überinterpretiert und vorschnell publiziert. Das System spuckt Jahr für Jahr Leute aus, die keinen Platz mehr darin finden oder keinen mehr finden wollen. Durch ihre gute Ausbildung bleiben diese Leute glücklicherweise nicht auf der Strecke - dennoch sind Depressionen oder gesundheitliche Probleme nach Jahren der Überarbeitung keine Seltenheit. Das System selektiert zudem automatisch jene, die wenig Wert auf soziale Bindungen legen, keinerlei Interessen außerhalb der Arbeit hegen und oft rücksichtlose Ellenbogenmenschen sind. In Kombination mit ein wenig Glück und natürlich auch wissenschaftlichem Talent sind es mehrheitlich solche Leute, die im System bleiben und selbst ForschungsgruppenleiterInnen werden. Es stellt sich die Frage, ob das die Leute sind, denen man das wissenschaftliche Weiterkommen der Menschheit, zumindest aber der hard sciences überlassen will?

Die Zukunft sieht nicht gerade rosig aus: Mit der Weltwirtschaftskrise wird Geld knapper, Wissenschaft wird als gesellschaftlicher Luxus betrachtet, den man sich in harten Zeiten nicht leisten kann und will. Forschungsgelder werden Jahr für Jahr gekürzt, selbst in traditionell forschungsorientierten Ländern wie den USA wird das Geld knapp. Wissenschaft wird zum harten Business: Nur die "Besten" kommen an Geld, nur die "Besten" überleben. Die Publikationen in Top-Journalen werden wichtiger denn je, einer größer werdenden Kette von riesigen Verlagshäusern, welche die Top-Journale besitzen, kommt eine nahezu allmächtige Stellung zu. Ist es das, was wir, die Menschheit, wir, die WissenschaftlerInnen für die Zukunft wollen?


Was wir anders machen könnten

Es gibt nicht wenige Stimmen, in der Wissenschaft und anderswo, die meinen, dass Konkurrenz für Fortschritt und schnelles Weiterkommen essenziell ist. Nur Druck erzeugt Leistung, nur der Wettbewerb bringt die Wissenschaft in dem Tempo voran, das es braucht, um die Menschheit voran zu bringen. Ich möchte dem energisch widersprechen: science is not business! Mir ist klar, dass jeder Beruf oder auch jede Berufung, als welche die Wissenschaft oft betrachtet wird, einen gewissen Leistungsdruck mit sich bringt, und es ist weltfremd, diesen völlig von sich zu weisen. Zudem kann eine gewisse Menge an Wettbewerb in der Wissenschaft stimulierend wirken. Doch wir brauchen Maß - die herrschende Situation ist unerträglich für ihre ProponentInnen und nicht zielführend für die wissenschaftliche Weiterentwicklung.

Was sind mögliche Lösungsansätze? Eine neue und (noch) sehr kleine Bewegung in Deutschland hat erste Ideen zur Lösung unserer Probleme vorgeschlagen. Sie nennen sich die Vertreter der slow science (siehe dazu das "Slow Science Manifesto": http://slow-science.org/). Ihr Grundsatz: "science needs time to think..." (Wissenschaft braucht Zeit zum Nachdenken.) Wissenschaft funktioniert nicht nach einem Zeit- oder Geschäftsplan. Wir brauchen Zeit, um zu denken, zu lesen, zu experimentieren und uns zu irren. Wir dürfen nicht gezwungen werden, Dingen eine Bedeutung beizumessen, bevor wir uns ihrer sicher sind. Wir können uns nicht selbst in Zwangsjacken stecken.

Wie also könnte eine solche Änderung zu Stande kommen? Der Kern liegt bei den WissenschaftlerInnen selbst. Wenn wir uns entschließen, die Dinge zu ändern, dann können sie sich ändern, zumindest in dem kleinen Rahmen, der unser eigenes Umfeld ausmacht. Wir erhalten dieses System aufrecht, wir legen uns gegenseitig Fesseln an, es liegt an uns, diese Fesseln zu entfernen. Wir müssen uns besinnen, was uns zu WissenschaftlerInnen macht, wie wir mit dieser Berufung umgehen wollen und wie wir sie gestalten wollen. Wir müssen zur Freiheit zurückfinden, uns Zeit zu nehmen und überlegt zu handeln. Wir müssen sicherstellen, dass unsere Arbeit die Qualität hat, die es braucht, um die Wissenschaft und die Menschheit voranzubringen.

Natürlich gibt es externe Faktoren, die eine Rolle spielen, die jedoch weniger unserem Einfluss unterliegen und schwieriger zu ändern sind. Gesellschaftlich gesehen bräuchte die Wissenschaft mehr staatliche Gelder. Gelder sollten nicht immer zwingend an eine Anwendbarkeit der Projekte geknüpft werden (wie etwa der Behandlung einer bestimmten Krebsform) - Grundlagenforschung muss frei sein, wir dürfen nicht gezwungen werden, Anwendbarkeit herbeizureden, die es möglicherweise nicht gibt oder die einfach nicht vorhergesehen werden kann. ForschungsgruppenleiterInnen sollten genügend Mittel bekommen, um einen Teil der experimentellen Arbeit von technischen AssistentInnen durchführen zu lassen, so dass die WissenschaftlerInnen ein wenig Zeit gewinnen können.

Durch bessere Arbeitsteilung könnte der herrschende Druck ein wenig nachlassen. Die Beziehung von technischen AssistentInnen und WissenschaftlerInnen ist dabei automatisch von geben und nehmen geprägt, da beide Berufsgruppen einander in ihren jeweiligen Spezialisierungen unterweisen und helfen können. Forschungsgelder sind meist an Publikationen geknüpft: Die Zeitrahmen sollten dahingehend geändert werden, dass die Wissenschaftler nicht gezwungen sind, Publikationen mit Daten zu veröffentlichen, von deren Richtigkeit sie nicht überzeugt sind.

Die Publikationen und Top-Journale sind ein weiterer wichtiger Punkt, den es zu überdenken gilt. Es ist unbestreitbar wichtig, getane Arbeit zu publizieren, damit die Welt, und vor allem die wissenschaftliche Welt, von der eigenen Arbeit erfährt und auf diese aufbauend weitere Hypothesen entwickeln kann. Wir müssen jedoch die Diktatur der Top-Journale durchbrechen. Nicht nur bezahlt die Wissenschaft große Summen, um ihre Arbeit in diesen Journalen zu publizieren, sie tritt gleichzeitig auch alle Rechte an die Journale ab, welche dann, wiederum für große Summen, die Rechte, diese Daten einzusehen, an die Wissenschaft zurückverkauft.

Wissenschaft gehört den WissenschaftlerInnen bzw. der ganzen Menschheit, wir sollten unsere Daten nicht an Journale verschenken, nur um sie ihnen dann wieder abzukaufen. Sogenannte open access journals (d. h. frei zugängliche Zeitschriften) sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Anstatt unsere eigenen Daten wieder an uns zu verkaufen, sind diese Journale frei zugänglich, das Publizieren von Artikeln in diesen Journalen ist allerdings ein wenig teurer. Jedes Journal braucht eine Basisfinanzierung - diese könnte durch solche Gelder abgedeckt werden, möglicherweise könnten auch staatliche Gelder helfen. 99% der Artikel heutzutage werden online abgerufen, Journale müssten nicht mehr in Druck gehen. Das Review-System basiert bereits jetzt nicht auf dem Journal selbst, sondern wird von peers (gleichgestellten Kollegen; siehe oben) übernommen, die kaum Bezahlung erhalten. Ein von WissenschaftlerInnen für WissenschaftlerInnen geführtes System von Journalen - unterstützt von staatlichen Geldern - könnte möglicherweise so funktionieren.

Ich glaube, dass man durch solche und weitere Änderungen eine langfristige Verbesserung der Arbeitssituation junger WissenschaftlerInnen, aber auch der Qualität wissenschaftlicher Arbeit erreichen könnte. Jeder Mensch funktioniert auf andere Art und Weise und so auch jede WissenschaftlerIn. Alle müssen ihr eigenes Tempo und ihre eigene Art der Kreativität und Produktivität finden, doch wir müssen den Druck lockern, der uns unflexibel und starr macht - ein Zustand, der jeglicher Idee wissenschaftlicher Freiheit zuwiderläuft.

Natürlich sind die oben geschilderten Probleme in den Naturwissenschaften in einem gesamt-gesellschaftlichen Kontext entstanden und nur schwer davon zu trennen. Die globalisierte Wirtschaft des 21. Jahrhunderts ist leistungs- und wettbewerbsorientiert sowie an der Maximierung des Profits ausgerichtet. Sie lässt der Wissenschaft, nicht überraschend, keinen geschützten Raum, um anders vorzugehen oder nach anderen Regeln zu spielen. Dennoch müssen Änderungen an irgendeinem Punkt ansetzen und ich glaube, dass wir als wissenschaftliche Gemeinschaft eine gewisse Macht haben, solche Änderungen in Gang zu setzen. Wenn wir uns besser organisieren, mehr hinterfragen und aktiver die Zukunft der Wissenschaft in der Art und Weise gestalten, wie wir uns das vorstellen, können wir erreichen, dass Wissenschaft wieder zu dem wird, was es einmal war: ein Entdecken, Erkunden, Verirren, Erkennen und schließlich Vorankommen. Ein übermäßig romantisiertes Ideal? Vielleicht, oder aber auch nicht.

E-Mail: Kontakt über: redaktion@grundrisse.net


Anmerkung:

[1] Technische AssistentInnen stellen einen wichtigen Teil der wissenschaftlichen Labors und Arbeit dar. Im Gegensatz zu den WissenschaftlerInnen erfahren sie eine Ausbildung, die mehr auf Labortechniken und -praktiken fokussiert ist und weniger auf wissenschaftliche Fragestellungen. In der Regel sind sie schneller und geschickter bei der Durchführung der laborbasierten Standardtechniken, vor allem im Vergleich mit jüngeren, technisch unerfahrenen WissenschaftlerInnen, und können dadurch einen großen Teil zum Vorankommen der wissenschaftlichen Arbeit leisten. Oft werden solche Stellen auch von jungen Leuten besetzt, die nur für einige Jahre bleiben, um dann selbst ein Studium oder eine Dissertation zu beginnen. Die arbeitsrechtliche Situation ist für TechnikerInnen ein wenig besser als für WissenschaftlerInnen: Sie erhalten häufig fixe Arbeitsverträge und ihnen werden - da sie nicht notwendigerweise davon abhängig sind, in der akademischen Forschung Karriere zu machen - in der Regel normale Arbeits- und Urlaubszeiten zugestanden.

Raute

Anton Pam:

Privilegiertes Rädchen im System?

Persönliche Überlegungen aus dem Arbeitsalltag eines Universitätsassistenten

Ich bin politisch in der linken Szene aktiv und arbeite schon seit 2004 an der Universität Wien als Universitätsassistent. Jedoch habe ich nur selten über meinen Arbeitsalltag kritisch reflektiert oder meine Erfahrungen in die Debatte eingebracht. Linke Kritik an der Uni jammert häufig über zu wenig Geld und Zeit für Forschung und Lehre, ohne die Universität als System zu hinterfragen. Oft werden Forderungen gestellt, ohne sich der eigenen privilegierten Position bewusst zu werden. Angesicht der "Bologna-Reformen" wird von vielen kritischen WissenschaftlerInnen der Status Quo verteidigt. Eine Kritik sollte jedoch mit einer Selbstreflektion anfangen.


Meine Arbeitssituation

Mit provozierenden Parolen wie "Zerschlagt die Universität"[1] kann ich wenig anfangen, da mir meine Arbeit zum großen Teil Spaß macht und ich mich auch damit identifiziere. Die Grenzen zwischen Arbeit, Interessen and Engagement sind fließend und oft nur schwer voneinander zu trennen. Ich habe eine Chefin, die mir viele Freiräume lässt und wenig monotone Aufgaben aufbürdet. In der Forschung und im Unterricht konnte ich von Anfang an selbstständig arbeiten und mir die Themen frei aussuchen. In der Regel halte ich mich an die vertraglich festgeschriebene Arbeitszeit. Um meine Dissertation bzw. Habilitation fertigzustellen oder wichtige Vorträge für Konferenzen vorzubereiten, gehe ich auch schon mal am Wochenende ein paar Stunden ins Büro. Leider fällt mir die Abgrenzung von der Arbeit manchmal schwer. Ich kann mich nicht daran erinnern, in den letzten Jahren meine Dienst-Emails länger als eine Woche nicht gelesen zu haben. Die Bewerbung für eine Konferenz in den USA, auf die ich jedes Jahr fahre, fällt immer auf den Sommer und ich bin deshalb schon in so manchem Urlaub in ein Internet-Cafe gegangen. Zwei bis drei Mal im Jahre fahre ich zu Konferenzen ins Ausland an Orte wie Melbourne, Hawaii oder Atlanta. Oft verbinde ich die Konferenzteilnahme mit einem kurzen Urlaub, was zu einer weiteren Verquickung von Arbeit und Freizeit führt. Im Gegensatz zu Deutschland sind die Universitäten in Österreich finanziell besser ausgestattet. Eine UniversitätsassistentIn verdient nach der Promotion über 2000 Euro netto im Monat. Voll- und Teilfinanzierung von Auslandsreisen mehrere Male im Jahr, längere Freistellungen vom Dienst unter Beibehaltung der Bezüge für die Forschung, 13. und 14. Monatsgehalt, keine Mahngebühren in der Bibliothek, während der Arbeitszeit in Bibliotheken gehen können, kostenlose Weiterbildungen, bezahlter Lehrendenaustausch mit dem "Erasmus"-Programm, nicht unbedeutende Gehaltszulagen bei Übernahme einer Funktion usw. sind die Privilegien, die die "internen" Mitarbeiter in Anspruch nehmen können. Was für die Teilnahme an Konferenzen selbst bezahlt werden muss, kann man später durch die Steuererklärung zurückbekommen. Externe Lehrbeauftragte sind von den meisten dieser Privilegien ausgeschlossen.

Drei Jahre lang übte ich als Studienprogrammleiter eine Funktion mit einigen Entscheidungskompetenzen aus, wie z.B. die Anrechnung von Lehrveranstaltungen von anderen Universitäten sowie Wahlfächern, die Kontrolle des Lehrbudgets, Vorsitz bei allen Magister-Abschlussprüfungen sowie die Vergabe von Lehraufträgen an externe Lehrbeauftragte. Debatten über die Sabotage des Universitätsbetriebs erscheinen mir als weltfremd. "Bummelstreik" bei der Arbeit hätte in meinen Fall dazu geführt, dass Studierende die Familienbeihilfe nicht rechtzeitig beantragen, Nicht-EU-Ausländer das Visum nicht verlängern oder andere einen Job nicht antreten können, weil ein Zeugnis fehlt.

Im System drin zu bleiben, ist keine leichte Aufgabe. Ich bin für eine halbe Stelle nach Wien gezogen und habe zuerst eine Schwangerschaftsvertretung für ein Jahr gehabt, die dann noch mal um ein Jahr verlängert wurde. Meine Dissertation musste ich innerhalb von zwei Jahren fertig stellen, weil dann am Institut eine neue Stelle frei wurde. In die Dissertation ist sicher auch viel nichtbezahlte Zeit eingeflossen. Nach der Promotion habe ich eine ganze Stelle bekommen (AssistentInnensäule 1), die 2012 ausläuft, weil man nicht länger als sechs Jahre an einer Universität in Österreich befristet beschäftigt sein darf ("Kettenvertragsregelung"). Dann wird es sich entscheiden, ob ich nicht mehr weiter beschäftigt werden kann oder eine relativ sichere und unbefristete Stelle bekomme. Ich versuche, dieses Jahr mit meiner Habilitation fertig zu werden. Bis vor einigen Jahren konnten Habilitierte mit einer Stelle an der Universität einen Antrag auf Pragmatisierung (Verbeamtung) stellen, der in der Regel genehmigt wurde. Dieses Verfahren wurde abgeschafft. Bisher ist es den österreichischen Universitäten nicht gelungen, eine festgelegte Laufbahn, die auf der Erfüllung von Leistungsvereinbarungen und Evaluierungen beruht, zu etablieren. In den USA bekommen WissenschaftlerInnen auf einer "tenure track"-Stelle, nach der Erfüllung von Leistungsauflagen und Evaluierungen eine unbefristete und sichere Anstellung ("tenure"). Nun wurden auch an der Universität Wien solche "Laufbahn-Stellen" eingerichtet, allerdings sind an meiner Fakultät in diesem Jahr bisher ganze drei (!) solche Stellen ausgeschrieben worden. Aus Kostengründen möchte die Universität nicht, dass aus der Erfüllung von Leistungsvereinbarungen ein Anspruch auf eine weitere Beschäftigung entsteht. Den jungen WissenschaftlerInnen bleibt als Alternative nur ins Ausland zu gehen oder in akademischen Projekten außerhalb der Universität zu arbeiten. Einige meiner KollegInnen haben Stellen in den USA oder Großbritannien bekommen.

Die Ansprüche an uns sind hoch und relativ klar. Wer weiter kommen will, muss in anglo-amerikanischen "Peer Review-Journals"[2] auf Englisch veröffentlichen und auch Monographien und Sammelbände werden zunehmend diesem Verfahren unterzogen. Wir sollen Auslandserfahrungen sammeln und mit Stipendien an anderen Unis forschen. Viele junge WissenschaftlerInnen haben sicher "hochwertigere" Publikationslisten als so manche ProfessorInnen, die vor 10 oder 20 Jahren berufen wurden. Trotz der hohen Ansprüche sind die weiteren Perspektiven für viele nach der Dissertation oder sogar Habilitation unklar. Trotzdem muss gesagt werden: Während große Teile der Bevölkerung entfremdete und oft uninteressante Lohnarbeit leisten, haben wir immer noch die Möglichkeit während der Arbeit zu forschen, zu lesen, zu reflektieren, zu diskutieren oder zu schreiben. Es ist ein großer Unterschied, während der Arbeitszeit ein Buch schreiben zu können oder wie viele arbeitslose GenossInnen in der "Freizeit". Jede Kritik an der Universität muss die eigene privilegierte Stellung im Vergleich zu vielen anderen Teilen der Bevölkerung berücksichtigen und kann nicht nur auf die Verteidigung oder den Ausbau der eigenen Pfründe zielen. Die eigene Stellung als privilegierter Kopfarbeiter muss zum Ausgangspunkt der Überlegungen werden.


Bildung und das System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung

Die Universität ist wie das Bildungswesen ein System gesellschaftlicher Arbeitsteilung. In der Schule entscheidet es sich meistens, welche Menschen HandarbeiterInnen werden oder in Jobs mit "niedrigen Qualifikationen" arbeiten und welche Menschen weiter ausgebildet werden, um später Arbeit im "Überbau" oder in leitenden Funktionen auszuüben. In der Form des Abschlusses wird jeder Mensch mit "sozialem Kapital" ausgestattet, das er / sie allerdings selbst verwerten muss. Die Einen gehen sofort auf den Arbeitsmarkt und die Anderen beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Studium. Deshalb nutzten viele Studierende die Universität auch, um dem Arbeitsmarkt für einige Jahre zu entkommen. Während die Schule in erster Linie klar definiertes Wissen vermittelt, gilt die Universität als Ort der Wissensproduktion und kritischer Reflektion über die Gesellschaft. Die meisten Schulen sind bisher noch fordistisch organisiert (Fächer im 45-minuten Takt nach einem genauen Plan, ständige Überwachung durch Noten, tägliche Hausaufgaben und Prüfungen, Beginn und Ende der Einheiten mit der Klingel). Wohnen die SchülerInnen, wie oft im ländlichen Raum, weiter entfernt von der Schule, müssen sie zu Zeiten wie FabrikarbeiterInnen aufstehen. Die Schule dient nicht zuletzt der Disziplinierung der SchülerInnen. Sie lernen Pünktlichkeit, Geduld, Zuverlässigkeit, Anerkennung von Autoritäten und Hierarchien und vor allem still zu sitzen. Die Universität war zumindest (in Deutschland) lange weniger klar strukturiert. Eine relativ freie Auswahl der Fächer, sogenannte "Sitzscheine" (Kurse ohne Prüfung) und das weitgehende Fehlen einer Anwesenheitspflicht boten Freiräume, die weder Schule noch ein "normales" Beschäftigungsverhältnis bieten konnten. In vielen Fächern wurden die entscheidenden Noten erst am Ende des Studiums vergeben.

Nicht vergessen werden sollte allerdings, dass auch die Universität eine streng hierarchische Organisation war und ist. Die wissenschaftliche Ausbildung führt zu einer weiteren Spezialisierung und Herausbildung der Arbeitsteilung. Neben der horizontalen Gliederung in Fächer- und Themenschwerpunkte, gibt es noch eine vertikale Hierarchie (Reinigungspersonal, Studierende (BA, MA), DoktorandInnen, Verwaltungspersonal, externe MitarbeiterInnen, StudienassistentInnen, UniversitätsassistentInnen Säule 1 und 2, außerordentliche ProfessorInnen, ProfessorInnen, Studienprogrammleitung, DekanIn, RektorIn), die auch in der Vergabe von Titel (BA, MA, Dr., Habilitation usw.) ausgedrückt wird. Als Doktor und Universitätsassistent ist meine Position im vertikalen und horizontalen Hierarchiecluster ziemlich genau definiert. Ich übe Macht aus und anerkenne Machtstrukturen. Das fällt mir in der Regel nicht schwer, da ich eine Professorin als Vorgesetzte habe, die mir in Lehre und Forschung große Freiräume lässt und mich unterstützt. Es fällt auch deswegen leicht, weil ich häufig glaube, so handeln zu müssen, damit den Studierenden eine gute Lehre und interessantes Studium geboten wird. Vor diesem Hintergrund kommt allerdings die kritische Reflektion über das System zu kurz und die innere Logik des Apparates wird übernommen.


Anpassung oder die gespaltene Persönlichkeit

Die Anpassung an das System findet auch statt, weil zwischen dem Job und dem politischen Engagement außerhalb der Universität nicht getrennt werden kann. Während der Arbeit beschränke ich mich überwiegend auf die speziellen wissenschaftlichen Themen, in die meine Persönlichkeit natürlich auch mit einfließt. Thesen, die sich nicht im Rahmen des "Genre" Wissenschaft belegen lassen, stelle ich nicht auf. Stellungnahmen zur Lage der Welt gebe ich in den Kursen mit konkreten Themen nicht ab. Einer Studierenden, die sich auf Karl Marx bezieht, gebe ich nur eine gute Note, wenn sie überzeugend argumentiert und sich an die Regeln den "Genres" hält. Dieses Verhalten ist nicht nur durch Opportunismus zu erklären, sondern auch durch die Erfahrung, dass eine klare Vorgabe von politischen Positionen Studierende eher einschüchtert. Was gibt es schlimmeres als Lehrende, die nur ideologische Positionen von sich geben und von denen Studierende nichts lernen. Schon im Studium war mir jeder konservative Professor, von dem etwas Neues zu lernen war, lieber als sozialdemokratische Schwätzer, die mit ihrer Parteilichkeit auch noch kokettierten. Ich habe auch als Vorsitzender von Prüfungen miterlebt, in denen nur die richtige Ideologie abgefragt wurde nach dem Motto "Hat sich die Lage der Frauen nach dem Eindringen der Kolonialmacht verschlechtert?". Das Ja reichte als richtige Antwort aus. Die Vorstellung von professioneller Wissenschaft kann eine Entpolitisierung fördern, die die Spaltung der Persönlichkeit in einen Arbeits- und Freizeitmenschen erleichtert. In Österreich werden keine Gesinnungsrituale wie ein schriftliches Bekenntnis zur sogenannten "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" wie in Deutschland verlangt. In einigen deutschen Bundesländern müssen schon HilfswissenschaftlerInnen ("Hiwis") einen Eid auf das Grundgesetz schwören. Vor allem in den 1970er Jahre wurden Menschen aus dem Universitätsdienst entfernt, bei denen Zweifel an der Treue zum Grundgesetz bestanden.


Scheinökonomisierung der Wissenschaft

In den 1970er Jahre lief fast jede linke Kritik an der Universität als Institution darauf hinaus, den "Elfenbeinturm" jenseits der Produktion und das "Lernen um des Lernens Willens" zur Ausbildung des bürgerlichen Individuums zu kritisieren. Ein größeres Maß an Autonomie der Universitäten vom Staat war ursprünglich eine linke Forderung, die nun unter anderen Vorzeichen umgesetzt wird. Heute wird die stärkere Verbindung der Hochschule mit der gesellschaftlichen Praxis auch von "neo-liberaler" Seite gefordert. Damit ist jedoch eine stärkere Ausrichtung auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts gemeint. Das führt häufig zu einer grotesken Scheinökonomisierung der Universität, in der verzweifelt versucht wird, betriebswirtschaftliche Kriterien auf Geisteswissenschaft und Forschung anzuwenden. Die Universität in ein Profitsystem zu verwandeln, ist unter den gegenwärtigen Bedingungen in Europa nicht möglich. Zum einen fehlt im Gegensatz zu den USA die Bereitschaft von Studierenden und Eltern für ein Studium 30.000 bis 60.000 Dollar pro Jahr zu bezahlen, noch gibt es viele Unternehmen, die große Summen spenden, ohne einen direkten ökonomischen Nutzen zu haben. Von daher werden Punkten und Statistiken eine Bedeutung beigemessen als handele es sich um Geld oder Waren, als ob die Anzahl der AbsolventenInnen einer Produktionszahl von Glühbirnen entsprechen könnte. Die Qualität von Glühbirnen ist leicht zu überprüfen. Wie soll die Qualität des Produkts "AbsolventIn" überprüft werden? Außerdem soll die AbsolventIn KundIn und Produkt zugleich sein.

Nicht wenige Diskussionen über die Frage, wie durch welches Punktesystem die Leistung einer MitarbeiterIn oder auch durch "European Credit Points" die StudentInnen bewertet werden sollen, erinnern mich an das maoistische China. Soll der Bauer für das Melken der Kuh drei oder vier Arbeitspunkte in der Volkskommune bekommen? Warum wird das Melken der Kuh höher bewertet als das Ausmisten des Stalls? Wenn wir für die Reparatur des Traktors fünf Arbeitspunkte vergeben, überschreiten wir nicht das Budget unserer Volkskommune? Auch durch Planvorgaben bestimmte statistische Werte zu erzielen, spielt eine immer größere Rolle. Lange konnte man bei Budgetverhandlungen mit der Zahl der Studierenden argumentieren. Plötzlich hieß es, dass nur noch die PrüfungsteilnehmerInnen und Abschlüsse zählen. Gut ist es, wenn die Studierenden mit dem Studium schnell fertig werden, aber nicht zu schnell. Eine Planungssicherheit gibt es nicht, weil die Botschaften sich ständig ändern können. Selbst die "Neo-Liberalen" könnten fragen, lohnen sich die Kosten (Zeit und Geld) für die Evaluierungen, wenn man den Nutzen betrachtet? Denn schon eine Bauernweisheit sagt: "Vom vielen Wiegen wird die Sau nicht fetter". Es werden hunderte Statistiken mit Prüfungszahlen, Abschlüssen, Frauenanteil, StudienabbrecherInnen usw. gesammelt sowie die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen gezwungen, ihre Veröffentlichungen in die RAD ("http://international.univie.ac.at/de/portal/rad/") Research Activities Documentation)-Datenbank einzutragen, ohne dass klar ist, nach welchen Kriterien bewertet oder bepunktet werden soll. Bisher hat sich an der Uni Wien kein einheitliches System durchgesetzt, den "Wert" der Publikationen der MitarbeiterInnen in ein statistisches System zu übersetzen. Viele Journale sind nicht in den europäischen Ranking-Systemen enthalten und die Ranking-Systeme selbst sind umstritten. Ein Kollegin von der Business-School Frankfurt erzählte mir, dass in ihrem Arbeitsvertrag festlegt ist, dass sie weniger Stunden im Semester unterrichten muss, wenn sie eine bestimmte Punktzahl nach einem Ranking von wirtschaftswissenschaftlichen Journalen gemäß der deutschen Tageszeitung (!) Handelsblatt erzielt. Deshalb braucht eine WissenschaftlerIn heute eine "Publikationsstrategie", wonach er oder sie erst die Rankings in Erwägung zieht, bevor ein Artikel eingereicht wird. Dadurch haben Menschen, die in Journalen mit niedrigeren Rankings publizieren, einen "Wettbewerbsnachteil". Für die Lobbyarbeit um eine Verbesserung der Rankings oder die Manipulation von Statistiken wird immer mehr Zeit aufgewendet. Eine Herausgeberin eines britischen Journals forderte mich auf, einen Protestbrief gegen das Ranking ihrer Publikation in Australien als Nummer Zwei statt Nummer Eins zu unterschreiben. Ein anderes Journal bat mich, doch vier Buchbesprechungen von ihnen in meinem Artikel zu zitieren, wahrscheinlich um ihre Zitierhäufigkeit zu erhöhen, was ein Faktor des Rankings ist. Das Rankingsystem von Journalen scheint vor allem in Europa ad absurdum geführt zu werden.

Das soll nicht heißen, dass ich jede Form von Leistungskontrolle ablehne. Sicherlich ist es unmöglich, den "Wert" einer wissenschaftlichen Publikation statistisch zu messen. Trotzdem sollte es Mechanismen gegen Machtmissbrauch geben. Es sollte z.B. nicht hingenommen werden, wenn eine ProfessorIn, die aus öffentlichen Geldern bezahlt wird, sich auf den Unterricht nicht vorbereitet oder gar der Lehrverpflichtung nicht nachkommt, sich nicht an die Fristen für die Bewertung von Abschlussarbeiten hält oder überhaupt keine Forschung mehr betreibt. Derzeit sind die Leistungskriterien vor allem für MitarbeiterInnen wichtig, die keine feste Stelle haben, und sie dienen damit mehr als Disziplinierung von oben nach unten als einer Kontrolle der Macht. Auch die "Employability", die Beschäftigungsfähigkeit der AbsolventInnen auf dem Arbeitsmarkt, kann nicht gemessen werden. Da es bei vielen Themen und Lehrveranstaltungen keinen direkten praktischen Nutzen für den Arbeitsmarkt geben kann, muss eben eine ausgedacht werden. Bei der Gestaltung neuer Studienpläne weiß jeder, dass ein Studium keine Berufsausbildung ist, trotzdem müssen ein paar Absätze in der Studienordnung stehen über das Beschäftigungsprofil für die Studierenden und vielleicht noch ein Gutachten der Wirtschaftskammer eingeholt werden. Vieles ist ein "so tun als ob", ein Spiel wie wenn eine europäische Universität nach den Kriterien ökonomischer Verwertbarkeit geführt werden könnte. Es wird sich zeigen, wie sich dadurch die Verhaltensweisen der Menschen verändern werden und ob ein Punktesystem geeignet ist, die Rolle des ökonomischen Zwangs zu ersetzen oder eine Kombination davon.


Beschleunigung des Studiums und die Ökonomisierung des Denkens

Vor allem hat sich die Art zu Studieren in den letzten zehn Jahren verändert. Die Zeit als die Universität als Experimentierfeld zur Selbstfindung dienen konnte, ist vorbei. Vielen Studierenden geht es hauptsächlich darum, möglich schnell durch das Studium zu kommen und einen lückenlosen Lebenslauf vorweisen zu können. Es gibt keine Veranstaltung mehr ohne Prüfungen und nur noch wenige ohne Anwesenheitspflicht. Der Stundenplan ist voll. Der Kampf um einen Platz in einem Seminar scheint bei den "Massenstudiengängen" Teil der Ausbildung zum Konkurrenzverhalten zu sein. Die (Schein)-Ökonomisierung der Ausbildung hat auch zu einer Ökonomisierung des Denkens geführt: "Was muss ich genau leisten, um welche Note zu bekommen?" Anstatt zu Leistung zu animieren, bewirkt das Notensystem in der Praxis häufig das Gegenteil. Viele Studierende haben in der Schule kritisches Denken und die Infragestellung von Autoritäten nie gelernt. Manche sagen, sie können sich nicht selbst disziplinieren und ohne Druck von außen arbeiten, wollen daher Noten und klare Anweisungen wie in der Schule. Ich habe den Eindruck, dass viele Studierende mit nichts mehr verunsichert werden können, als ihnen die Aufgabenstellung selber zu überlassen. Es ist schwierig, die Lerngewohnheiten der Schule an der Universität zu durchbrechen. Ohne eine Aussicht auf eine Note macht der gemeine Studierende nichts mehr. Nur was angerechnet werden kann, macht auch einen Sinn. Wird zur Teilnahme an einem Workshop mit internationalen ExpertInnen eingeladen, kommen gleich E-Mails mit der Frage, für welche Lehrveranstaltung der Workshop anrechenbar sei. Eine US-amerikanische Universität, bei der ich einmal einen Vortrag gehalten habe, teilt an die Studierenden ein Heft aus und sie bekommen für die Teilnahme an einer Abendveranstaltung einen Stempel. Gibt es kein größeres Eingeständnis des Scheiterns, Studierende zu motivieren, als eine "Stechuhr" einzuführen? Die Überlegungen, welcher Job durch das Studium zu bekommen ist, sind wichtiger denn je. Einige setzen sich selbst so unter Druck, dass sie nicht mehr ein Jahr im Ausland studieren wollen, sondern nur noch einige Monate, um keine Zeit zu verlieren. Im Gegensatz zum alten Diplomstudiengang mit offenem Ende, wo es manchmal keine klare Studienordnung gab, helfen nun "Student Point" und andere Serviceeinrichtungen, möglichst schnell das System zu verstehen und kein "Orientierungssemester" zu verplempern.

Engagement und Reflektion wird auch für Studierende immer schwieriger, die wie viele MitarbeiterInnen in einem Laufrad stecken und einen fast unüberschaubaren Berg von Deadlines abarbeiten müssen. Wie in vielen Branchen der Wirtschaft wird ergebnisorientierte Arbeit eingeführt, bei der es nicht mehr darum geht, eine bestimmte Zeit im Büro zu sitzen, sondern zu einem festgelegten Termin das "Produkt" abzuliefern. Das bringt zum einen die Freiheit gleitender Arbeitszeiten. Zum Anderen kann es temporär zu extremen Arbeitsbelastungen führen, die auch die "Freizeit" einnehmen. Die "Deadline" wird wichtiger als der Dienstplan. Teile des Unterrichts bestehen darin, die Studierenden darauf zu trimmen, Deadlines einzuhalten. Früher hatte man an der Uni Wien drei Semester Zeit eine Hausarbeit abzugeben, heute sind es maximal die Semesterferien plus einen Monat (Ende der Nachfrist der Anmeldung zum nächsten Semester). Bisher konnten weder Lehrenden noch Studierenden der recht flexible Umgang mit Deadlines ausgetrieben werden. Besonders geeignet zum Trainieren des richtigen "Zeitmanagements" ist E-Learning, da die Plattform so eingestellt werden kann, dass Hausaufgaben nur bis zu einem bestimmten Tag vom System angenommen werden. Statt langen Hausarbeiten in den Ferien kann auch mit kleineren Deadlines innerhalb des Semesters gearbeitet werden. Mittlerweile können die Lehrenden sogar sehen, ob und zu welcher Uhrzeit ein im System angemeldeter Studierender ein Dokument geöffnet hat. Nach meinen Eindruck haben viele Studierende diese zusätzliche Kontrollfunktion von E-Learning erkannt und melden sich nicht gerne für Kurse an, die innerhalb des Semesters den meisten Arbeitsaufwand verlangen. Sie wollen zwar, dass der Lehrende alle seine Materialien online stellt, aber das eigene Referat oder andere Beiträge sollen lieber nicht für jede KursteilnehmerIn sichtbar sein. Auch die Versuche, die Teilnahmevorsetzungen für Kurse durch ein Online-System streng durchzusetzen, funktionieren nur bedingt. Der Computer soll selbst erkennen, wenn die Vorsetzungen nicht erfüllt werden, und die Studierende gar nicht erst zulassen. Obwohl das System jedes Semester verbessert wird, gelingt es Studierenden immer wieder, "Schlupflöcher" zu finden und sich z.B. über andere Studienkennzahlen trotzdem für den Kurs anzumelden. Die Lehrenden verwenden viel Zeit damit, mit den Studierenden über Ausnahmen zu diskutieren oder das Einhalten der Regeln zu überwachen. Es ist fraglich, ob die "Computerisierung" der Kontrolle wirklich zu weniger Arbeit führt.


Die Noten und Ich

Verwunderlich ist allerdings auch, dass bisher niemand das österreichische "Einheitsnotensystem" in Frage stellt (nur glatte Noten von 1 bis 5), das eine genauere Differenzierung nicht möglich macht und daher im Widerspruch zur "neo-liberalen" Leistungsideologie steht. In Deutschland gibt es hingegen die Komma-Noten. Die "Kosten" für die Abschaffung der "Sitzscheine" durch Benotung in allen Lehrveranstaltungen darf nicht unterschätzt werden. ProfessorInnen, die zwei Vorlesungen halten, müssen ca. 400 Klausuren korrigieren (lassen), anstatt forschen zu können. Damit sie das überhaupt noch bewältigen können, führen manche Multiple Choice-Tests ein. Das hat wiederum zur Folge, dass die Studierenden Dinge für die Prüfung auswendig lernen und dann wieder vergessen. Gerade in Bezug auf Evaluierungen von MitarbeiterInnen und Noten in Vorlesungen ist es verführerisch "neo-liberal" mit den zu hohen Kosten zu argumentieren. Eine Kritik am Noten-System zu entwickeln, ist allerdings schwieriger. Auch ich gebe jedes Semester viele Noten. Zum einen ist mir klar, dass Noten nicht unbedingt die Leistung steigern, sondern genutzt werden können, um mit dem möglichst geringsten Aufwand durch das Studium zu kommen. Außerdem wird als Lehrender eine Vorselektion für den Arbeitsmarkt ausgeübt. Noten sind nicht gerecht, da jeder Lehrende seine eigenen Maßstäbe hat. Gerade Vergleichbarkeit ist nicht gegeben. Natürlich spielt auch der persönliche Eindruck eine Rolle. Einer Studierenden, die für gut gehalten wird, wird schneller eine gute Note gegeben als jemandem, der/die in die schlechte "Schublade" eingeteilt wurde. Trotzdem widerspricht die Vergabe von Einheitsnoten von eins bis zwei meinem Gerechtigkeitsinn. Warum soll eine StudentIn, der/die sich Mühe gegeben und gute Ideen hat, die gleiche Note bekommen, wie jemand, der/die von Wikipedia abgeschrieben hat? Ist es sinnvoll, Studierende, die vom wissenschaftlichen Arbeiten keinen blassen Schimmer haben, immer durchkommen zu lassen, damit sie dann bei der Abschlussarbeit scheitern? Definitionskriterien für "Leistung" und "Qualität" müssen immer kritisch hinterfragt werden, trotzdem würde ich diesen Begriff nicht grundsätzlich ablehnen. Die LeserIn einer Abschlussarbeit erkennt doch, ob sie von der VerfasserIn gut durchdacht und fundiert recherchiert wurde oder nicht. Der Widerspruch ist klar und dennoch schwierig lösbar: Die eigenen Ansprüche an Kreativität und Qualität unterstützen die gesellschaftliche Funktion der Selektion für den Arbeitsmarkt, die ich eigentlich nicht ausüben möchte. Oft sind gerade junge Lehrende strenger, weil sie, wenn sie etwas machen, es besser machen wollen als der alte Professor, der vielleicht denkt: "Wem schadt's denn? Mir is eh alles wurscht."

Beim Schreiben dieses Textes ist mir meine Stellung als Lehrender gegen die Studierenden deutlich geworden. Gerade für engagierte Lehrende kann es frustrierend sein, wenn viele Studierende kein besonderes Interesse an ihrem selbstgewählten Studium haben. Es ist immer noch möglich, kritisches Denken und analytischen Fähigkeiten an der Universität zu lernen, wenn es wirklich gewollt wird. Die Teilung zwischen Lehrenden und Studierenden ist im Moment schwer in Frage zu stellen, weil ein großer Teil der KursteilnehmerInnen kaum Vorkenntnisse hat, nicht aus eigenem Interesse liest oder sich gar eine eigene Meinung bildet. Als Vorsitzender in Magister-Abschlussprüfung habe ich auch gemerkt, wie schnell man sich an neue Rollen gewöhnt. An der anderen Seite des Tisches wird auch in anderen Kategorien gedacht. Es ist nicht verwunderlich, dass sich viele ProfessorInnen nach 20 Jahren Lehre kaum noch in die Rolle des nervösen Studierenden hineinversetzen können, für den es um viel geht. Ohne die Studierenden mit einzubeziehen, ist eine kritische Reflektion des Systems und der eigenen Rolle nicht möglich.


Keine politische Opposition im "Ständestaat"

Gegenwärtig gibt es an der Universität keine interventionsfähige Opposition, der ich mich anschließen wollte. Auf der einen Seite steht das Rektorat, das die "neo-liberalen" Reformen beschleunigt und auf der anderen Seite eine "unheilige Allianz" von Kräften, die aus unterschiedlichen Gründen den Status Quo verteidigen wollen. Bei den unzähligen Sitzungen auf den verschiedenen Ebenen, an denen ich teilgenommen habe, wurde nie auch nur eine Frage politisch diskutiert. Durch die ständigen Änderungen der Studienpläne und Institutionen wird der Apparat der MitarbeiterInnen auf Trab gehalten. Man lernt schnell die Schlagwörter selbst zu benutzen, um seine eigene Forschung absichern zu können. Die Umsetzung der Pläne und Verordnungen gilt als Preis für selbstbestimmtes Forschen. Die Agenda ist so eingerichtet, dass jeder Versuch die Fragen von der Ökonomisierung der Bildung oder auch der Verschulung der Universität politisch zu diskutieren, erst gar nicht zu Stande kommt. So ist es nicht verwunderlich, dass der Anstoß zur Kritik von außen durch die Studierenden-Proteste 2009 kommen musste. Leider ist von diesem Druck nun nichts mehr zu spüren. Auch die meisten (heimlichen) Kritiker der "neo-liberalen" Reformen argumentieren wieder "juristisch" oder weisen auf Widersprüche in Verordnungen hin. Wie auch der Betriebsrat, so ist auch die ÖH (Österreichische Hochschülerinnenschaft) fest in der Hand von quasi Parteiorganisationen, was Engagement nicht unbedingt attraktiver macht. Mit der Gewerkschaft bin ich noch nie in Berührung gekommen. Es scheint keinerlei Bestrebungen zu geben, neue Mitglieder zu gewinnen. Die Arbeiterkammer zieht mir jeden Monat 0,5 Prozent von meinem Bruttolohn ab, ohne sich mir jemals in einem Brief vorgestellt haben. Die Sitzungen der nach "Ständen" getrennten vier Kurien (ProfessorInnen, Mittelbau, allgemeines Personal und Studierende) sind in der Regel so langweilig, dass besonders jüngere KollegInnen sich kaum engagieren. Oft geht es in Kuriensitzungen nur darum, zu erraten, was der Rektor will oder wann er wem welche Zusagen gemacht hat. Zwischen denjenigen, die dank der alten Gesetzbebung quasi verbeamtet sind, und den Jüngeren, die unter Existenzdruck arbeiten müssen, scheinen Welten zu liegen. Die "externen" MitarbeiterInnen, die jedes Semester hoffen müssen, einen neuen Vertrag zu bekommen, sind aus den Kommunikationsstrukturen weitgehend ausgeschlossen. Die Trennlinien verlaufen hier nicht nur zwischen Alt und Jung. Auch Habilitierten ohne feste Stelle wird eine prekäre Beschäftigung angeboten, wenn sie Masterarbeiten mit einem Werksvertrag betreuen sollen. Konflikte entbrennen häufig auch nicht entlang des ständestaatlichen Konstrukts, sondern zwischen Abteilungen und Instituten. Die Einteilung in vier Kurien erscheint mir künstlich und hat mit dem Arbeitsalltag wenig zu tun. Die Auflösung der Kurien und ihre Ersetzung durch ein einheitliches "Faculty-Modell" könnte ein Schritt in die richtige Richtung sei, allerdings wird das Interesse an den "Selbstverwaltungsgremien" nicht steigen, wenn sie keine wirklichen Entscheidungskompetenzen haben. Besonders fraglich finde ich die Versuche, eine Scheindemokratie zu etablieren, wo die Mitbestimmung abgeschafft wurde. Viele Gremien wie Institutsversammlungen, Studienkonferenzen oder Curricular-Arbeitsgruppen, die nur beratende Funktion haben, stimmen trotzdem noch ab. Es kann zwar nicht mitentschieden werden, aber in Curricular-Arbeitsgruppen soll die Verantwortung für neue Studiengänge übernommen werden. Statt die Infragestellung der herkömmlichen Strukturen von "neo-liberaler" Seite als Chance zu begreifen und selber Kritik zu entwickeln, wird von vielen nur versucht, das Alte unter neuem Namen weiter zu betreiben.


Alles Elite?

Seit einigen Jahren wird von "neo-liberaler" und konservativer Seite versucht, den Begriff "Elite" positiv zu besetzen, die Einrichtung von Elite-Universitäten wird gefordert. Problematisch ist auch die inflationäre Verwendung des Eliten-Begriffs von links. Gibt es Zugangsbeschränkungen (wie in fast allen Ländern der Welt), wird gleich von der Einführung eines "Elite-Studienganges" gesprochen und so getan, als ob es ein Menschenrecht sei, dass jeder in Wien Publizistik studieren darf. Was ist eigentlich eine Elite-Universität? Nur ein paar Zahlen: 2008 hatte die Harvard-Universität mit 3,46 Milliarden US-Dollar ein ähnliches Budget wie das österreichische Ministerium für Wissenschaft und Forschung für alle Universitäten und weitere Ausgaben. Insgesamt besaß Harvard 2008 ein Vermögen von 36,8 Milliarden US-Dollar. Die Universität Wien hat 6,7 Millionen Bücher, Harvard aber 16,2 Millionen. Bisher ist es eine Illusion, in Kontinentaleuropa eine Eliteuniversität zu schaffen, die mit den US-amerikanischen vergleichbar wäre. Zum einem ist der finanzelle Aufwand sehr hoch und politisch bisher nicht durchzusetzen, die Ressourcen derart ungleich zu verteilen wie in den USA. Durch die deutsche "Exzellenzinitiative", in der die gewinnenden Unis und Projekte einige Millionen Euro pro Jahr mehr kommen, werden die Unterschiede zwischen den Universitäten vergrößert, von der Finanzkraft der amerikanischen Top-Universitäten werden auch die Gewinnerinnen trotzdem weit entfernt sein. Oft wird der Eindruck erweckt, dass es früher ohne Studiengebühren und bei einer Tabuisierung des Elitenbegriffs keine soziale Selektion gegeben hätte. Wie ist es zu dann zu erklären, dass auch bei einem kostenlosen Studium ohne Zulassungsbeschränkungen der Anteil der ArbeiterInnenkinder trotzdem abgenommen hat? Ist es nicht positiv, dass endlich wieder offen über Eliten gesprochen wird, anstatt so zu tun, als würden Klassenherkunft und sozialer Habitus keine Rolle mehr spielen? Was war verlogener als die sozialdemokratische Gleichheitsideologie der 1970er Jahre, nach der scheinbar alles für alle offen war? Im alten Magisterstudiengang brachen in Deutschland über die Hälfte der Studierenden das Studium ab und bekamen nie einen Abschluss. Der BA wird daher nicht ganz zu Unrecht als "Abschluss für Studienabbrecher" bezeichnet.

Es gilt auch die Erfahrung in den "real-sozialistischen" Ländern miteinzubeziehen Als Ex-Leninist habe ich mit dem Elitebegriff weniger Probleme als viele SozialdemokratInnen. Die Idee einer revolutionären Avantgarde war immer schon elitär. Nicht jede sollte in die "Kader-Partei" aufgenommen werden. Das Universitätssystem in der Sowjetunion, der DDR oder China beruhte in einen viel größeren Maß auf dem Ranking der Hochschulen und der Auslese der Studierenden als in Westdeutschland oder Österreich. Zumindest zeitweise wurden dadurch Studierende aus "bildungsfernen Schichten" besonders gefördert. In China weiß heute jedes Schulkind, welche Universitäten als die besten des Landes gelten. Es wird immer Menschen geben, die engagierter und aktiver sind als andere, die größere Risiken eingehen, intelligenter sind, mehr lesen oder besser erklären können. Daraus sollte natürlich kein Herrschaftsanspruch abgeleitet werden und die Frage gestellt werden, woher diese Unterschiede rühren. Damit hängt natürlich auch die Frage von "sozialem Kapital" und Habitus zusammen. Im Moment wird leider der akademische (und bildungsbürgerliche) Habitus kaum in Frage gestellt. In der gegenwärtigen Debatte muss vor allem die Entpolitisierung des Elitenbegriffs hinterfragt werden. Viele Fragen sind heute offen: Soll in einer nachkapitalistischen Gesellschaft jeder Zugang zu allem gewährt werden, ohne Einbeziehung von Fähigkeiten sowie der gesellschaftlichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten?


Die Notwendigkeit eines Netzwerkes

Je detaillierter ich über meinen Arbeitsalltag schreibe, um so mehr verstricke ich mich in der Logik des Hochschulsystems. Eine grundsätzliche Kritik an der Universität kann nur im Kontext der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt werden. Es scheint paradox zu sein: In dem Moment, wo Selbstdisziplinierung und Selbstausbeutung die Fremddisziplinierung durch Stechuhr und Fließband in der Ökonomie ersetzen, wird die Universität immer mehr verschult. Alles soll durch die Lehrenden benotet und überwacht werden. Im Gegensatz dazu sollen sich die späteren ArbeitsnehmerInnen ihr eigenes Panoptikum bauen. Nicht alles, was die RektorInnen für "Employability" halten, muss auch von den KapitalistInnen so bewertet werden. Oft wird in linker Kritik das ideologische Geschwätz von der Universität als Wirtschaftsunternehmen mit der Realität eins zu eins gesetzt. Der Zusammenhang zwischen Universität und Arbeitsmarkt muss genauer herausgearbeitet werden. Welche Funktionen haben Universitäten in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft? Was sind die gesellschaftlichen Gründe für die Reformen der Hochschulen? Inwiefern handelt es sich um objektive Notwendigkeiten und was ist Ideologie, bzw. wie werden Notwendigkeiten konstruiert? Warum werden für Arbeiten, für die vor 20 Jahren keine Matura gebraucht wurde, heute Universitätsabschlüsse verlangt? Auf die (Schein)-Ökonomisierung der Wissenschaft kann nur mit einer Politisierung der Debatte geantwortet werden. Allerdings macht es im Moment wenig Sinn, diese Debatten in den bestehenden Gremien anzustoßen. Wir brauchen Orte der theoretischen Reflektion, die jenseits des Alltagsgeschäftes liegen und nicht an institutionelle Grenzen gebunden sind. Zunächst könnten wir ein Netzwerk der kritischen Wissenschaft aufbauen - ein anderes Forum, in dem ProfessorInnen, AssistentInnen, MitarbeiterInnen und Studierende sich austauschen können. Vor und nach den Studierendenprotesten von 2009 hat es mehrere Organisationsversuche gegeben. Sie sind entweder nach einiger Zeit eingeschlafen oder es blieben nur noch ein dutzend Leute übrig. Zum einen ist es in Zeiten der Prekarisierung schwierig, noch weitere zusätzliche und vor allem regelmäßige Termine wahrzunehmen. Außerdem gibt es auch unterschiedliche Herangehensweisen. Soll sich die Kritik in erster Linie gegen die "Bologna-Reformen" richten, die "alte" Universität wieder herbeigewünscht oder eine grundsätzliche Kritik an den Hochschulen als Institutionen entwickelt werden? Auch die persönlichen Erfahrungen sind kein einfacher Ansatzpunkt, weil die Arbeitsbedingungen unter den verschiedenen ProfessorInnen stark variieren. Da für viele das Verbleiben an der Universität in Zukunft unklar ist, denken sich manche, warum sie überhaupt Uni-Politik machen sollen. Sicherlich gibt es an der Uni noch einige Leute links von der Sozialdemokratie, die sich noch gar nicht kennen und Lust haben, gemeinsam Kritik an der Universität als System zu entwickeln. Mich interessieren in diesem Zusammenhang vor allem vier Punkte:

1. Entwicklung einer fundierten politischen und theoretischen Kritik an der Universität als System innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Dabei wäre es sinnvoll, Texte aus der Vergangenheit und Gegenwart zu sammeln, die sich diese Aufgabe gestellt haben (z.B. Gramsci, Adorno, Althusser, Derrida, Gorz, Edufactory, Uninomade usw.).

2. Beschäftigung mit alternativen und radikalen Bildungsreformen in der Vergangenheit. Die vielseitigen Erfahrungen in der jungen Sowjetunion, dem kulturrevolutionären China, dem anarchistischen Spanien oder auch in der DDR spielen in der Debatte im Moment gar keine Rolle. Viele vertreten einfach ohne kritische Reflektion die sozialdemokratische Ideologie der 1970er, die sich vor allem gegen Studiengebühren und "Leistungsorientierung" richtet. In diesem Zusammenhang ist die Frage interessant, ob sich die Bedeutung und Funktion von Bildung und Wissen im Post-Fordismus grundlegend gewandelt hat und daher auch Alternativen zum bestehenden Bildungswesen neu formuliert werden müssen.

3. Was heißt kritische Wissenschaft oder Widerstand heute? Gibt es in anderen Ländern Ansätze, von denen wir etwas lernen können? Es geht darum, eine offensive Kritik zu entwickeln und eine politische Kraft jenseits der "neo-liberalen ReformerInnen" und der "unheiligen Allianz" gegen alle Veränderungen aufzubauen.

4. Macht es Sinn Forderungen aufzustellen oder programmatische Überlegungen zu entwickeln? Bei der "Uni brennt"-Bewegung 2009 wurde ein Forderungskatalog[3] entwickelt, der später kaum noch diskutiert wurde.

Ein Netzwerk an der Universität Wien und in Österreich kann nur ein Anfang sein. Die Internationalisierung der Bildungsapparate wird auch uns früher oder später zur Internationalisierung der Organisierung zwingen.

E-Mail: Anton.pam@gmx.net


Anmerkungen:

[1] Andre Gorz (1971): "Zerschlagt die Universität"
http://www.grundrisse.net/grundrisse24/ZerschlagtDieUniversitaet.htm

[2] "Peer Review" bedeutet, dass mindestens zwei externe Gutachter, die dem Autor nicht bekannt sind, den anonymisierten Artikel begutachten. Auf Grund der Bewertungen entscheidet dann die Redaktion über die Veröffentlichungen. Im deutschsprachigen Raum gibt es hingegen nur Änderungsvorschläge der Redaktion. Die meisten wissenschaftlichen Verlage in Deutschland und Österreich drucken bei Büchern immer noch einfach die Manuskripte ab, ohne Review oder Editieren.

[3] Siehe http://unibrennt.at/?page_id=11819

Raute

Adrian Wilding:

In-gegen-und-jenseits der marktförmigen Universität: Die Studierendenproteste in Großbritannien 2010 und 2011

Übersetzt von Ina Klötzing, Marcel Stoetzler und Lars Stubbe

Einleitung: Hintergrundinformationen zu den Protesten

2010 fanden in Großbritannien die größten und heftigsten politischen Proteste für Bildung seit Jahrzehnten statt. Diese Proteste zeichneten sich nicht nur durch die Kühnheit mit der die Studierenden den britischen Staat konfrontierten, sondern auch durch das Niveau ihres Kampfes und den radikalen Charakter der gestellten Forderungen aus. In kürzester Zeit entkräfteten diese Proteste den verbreiteten Irrglauben der Neunziger, dass Studierende nicht eigenständig handeln würden, konservativ seien und sich nur noch als reine Kunden eines Bildungsartikels sähen (eine weitverbreitete Annahme zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts). Dieser außergewöhnliche Aufstand der britischen Studierenden vermittelt Hoffnung auf die Zukunft eines Bildungssystems, das die Machthabenden Großbritanniens mit allen Mitteln zu demontieren suchen.

Um die Gründe für die Studierendenproteste in Großbritannien zu verstehen, ist ein wenig geschichtlicher Hintergrund hilfreich, insbesondere zu den Veränderungen und der "Vermarktlichung" [Einführung von Marktstrukturen] des britischen Hochschulwesens in den letzten zehn Jahren. Die Transformation beginnt mit dem überwältigenden Sieg von "New Labour" und der Wahl Tony Blairs zum Premierminister im Jahr 1997. "New Labour", hatte Bildung zum Hauptthema ihres Wahlprogramms gemacht und ein berühmter Wahlslogan Tony Blairs lautete: "Education, Education, Education!" [Bildung, Bildung, Bildung]. Für jede Labourregierung, von der traditionellerweise eine Politik links von der Mitte erwartet wurde, musste Bildung ein wichtiger Bestandteil ihres Politikkonzepts sein. Blair versprach im Wahlkampf den Zugang zu Bildung zu erweitern und zu vereinfachen, Fachhochschulen zu neuen Universitäten zu machen und deren Abschlüsse denen der alteingesessenen Universitäten gleichzustellen. Vor 1990 war das akademische Bildungssystem fast ausschließlich steuerfinanziert und mit Ausnahme der reichsten Haushalte erhielten alle Studenten Stipendien für Gebühren und eine Ausbildungsförderung zur Sicherung der Lebenshaltungskosten (kein großer Betrag, aber genug zum Überleben). Dieses Bildungssystem und seine Finanzierungsmodalität waren das Vermächtnis eines Sozialstaates und einer Bildungspolitik des "Nachkriegskonsenses". Es gab damals eine breite Übereinstimmung im gesamten politischen Spektrum über den gesellschaftlichen Wert von Bildung und dessen Finanzierung durch eine progressive Einkommenssteuer.

Der Angriff auf dieses soziale Bildungssystem wird normalerweise mit Thatchers neoliberaler Politik während der achtziger Jahre assoziiert, aber es war faktisch Tony Blairs Politik, eine Politik einer nur dem Namen nach sozialdemokratischen Partei, die Thatchers neo-liberale Agenda erfolgreich umsetzte. Denn nachdem New Labour die Wahl 1997 gewonnen hatte, kam es in allen Politikfeldern und insbesondere im Bildungsbereich zu vermehrtem Sozialabbau und zur Einführung von Marktmechanismen, deren Ausmaß selbst Thatcher neidisch gemacht hätte. Das Bildungswesen wurde zum Kernpunkt der neoliberalen Transformationspolitik. Mit der Kürzung von Universitätsszuschüssen wurde gleichzeitig von diesen erwartet, die Fehlbeträge zunehmend durch höhere Studiengebühren auszugleichen. Zunehmend wurden Studentenkredite bereitgestellt (dem Bafög vergleichbar), mit denen die Studierenden nun die Universitätsgebühren und den Lebenserhalt (Essen, Miete usw.) zu bestreiten hatten und die nach Aufnahme einer Berufstätigkeit und Erreichung eines Mindestgehaltes wieder abbezahlt werden sollten. Die Marktwirtschaft durchdrang mehr und mehr die akademische Bildung, so wurde Bildung zu einem Produkt, dessen Kosten mehr und mehr vom Steuerzahler auf den Studierenden selbst übertragen wurden. Während das Studium mit Ausbildungsförderung vom Studierenden als Selbstzweck betrachtet werden konnte, verwandelte es sich durch das von der Marktwirtschaft durchdrungene Bildungswesen in eine Ware, die das Individuum auf Jahre (vielleicht ein Leben lang) mit hohen Schulden belasten würde. Mit dem Eindringen des Marktes in die Hochschulbildung wurde der Gebrauchswert eines Hochschulabschlusses zunehmend zu einem Tauschwert.

Vielleicht weil sie erahnten, dass die Einführung von Marktmechanismen akademische Standards untergraben könnte, suchte die unter New Labour gebildete Regierung nach Wegen diese sicherzustellen. Dies geschah jedoch in der eher perversen Form von Maßnahmen zur Messung des Forschungs-Outputs von AkademikerInnen denn zur Messung der Verbesserung von studentischen Lernerfolgen. Die sogenannte Forschungsbewertung ("Research Assessment Exercise"), die vorgibt, dass die DozentInnen jedes Jahr eine Mindestanzahl von im "peer-review"-Verfahren begutachteten Artikeln oder Büchern veröffentlichen, sollte die Qualität der Forschung verbessern, hatte jedoch einen gegenteiligen Effekt auf die Qualität der Lehre, da die mit Forschung verbrachte Zeit für den Studierendenkontakt fehlte. Es setzte sich ein alptraumhaftes Szenario durch, in dem Studierende ein rein instrumentelles Verhältnis zum Lernen entwickelten - dabei betrieben sie das Lernen nicht um seiner selbst willen, sondern nur mit dem Ziel einen Abschluss zu erlangen, der ihnen den Weg zu einem Job ebnen sollte, welcher es ihnen erlauben würde, die Schulden abzubezahlen, deren Aufnahme ihnen überhaupt erst den Universitätsbesuch ermöglicht hatte - während ihre DozentInnen nur wenig Zeit für die Lehre hatten, weil sie gezwungen waren, die meiste Zeit mit Schreiben und Veröffentlichen zuzubringen. Die Universitätsfakultäten wurden nun von GeschäftsführerInnen geleitet, deren einzige Aufgabe es war trotz Kosteneinsparungen bessere Ergebnisse und Forschungsbewertungen zu erzielen. Anstatt jedoch langfristig zu investieren, um bessere Ergebnisse zu erzielen, wurde versucht, Abkürzungen zu nehmen, wie etwa der Einsatz großer Teile des Budgets zur Anwerbung akademischer "Superstars", die hochrangig bewertete Forschungen durchführten und publizierten, jedoch von den Studenten nur selten gesehen oder gehört wurden.

So wie die Universität Blairscher Prägung einen neuen Typus DozentIn einstellte, war sie in erheblichem Ausmaß auch in der Lage ihre Studierenden auszuwählen. Auch diese Wahl unterlag in zunehmendem Maß wirtschaftlichen Faktoren. Britische Universitäten führten jetzt zunehmend gestaffelte Gebühren ein, d.h. dass ausländische Studenten höhere Gebühren zahlen mussten, mit denen die Ausfälle der staatlichen Finanzierung kompensiert werden sollten. In diesem Sinne war die Öffnung Chinas für die Außenwelt ein Geschenk des Himmels, da sie in einem neuen Studierendenmarkt hohe Gebühren verlangen konnte. In dieser Zeit wurden von akademischen "Whistleblowern", d.h. anonymen InformantInnen (manchmal auch als "NestbeschmutzerInnen" abgewertet), zunehmend Geschichten ans Licht gebracht, aus denen hervorging, dass es zu einer so genannten "Zensureninflation" gekommen sei, d.h. dass Studierende bessere Zensuren erhielten, als sie verdienten. So kamen Vorwürfe ans Licht, nach denen auf Akademiker Druck ausgeübt wurde, damit diese weiterhin Zensuren in einer Art "Normalverteilung" gäben, trotz sich verschlechternder Unterrichtsqualität, verringerter Kontaktzeit zwischen Studierenden und DozentInnen und zunehmenden Plagiatsfällen. Nicht zuletzt die Guttenberg-Affäre hat ja gezeigt, welche Bedeutung diese hierzulande haben.


Die Wahl im Jahr 2010, das Sparprogramm und der "Browne Report"

Allgemeine öffentliche Unzufriedenheit mit New Labour im Vorfeld der Wahl 2010 (einschließlich deren Bildungs- und Hochschulpolitik) führte zu unerwartetem Zulauf für eine dritte Partei, den Liberal Democrats. (Nicht zu verwechseln mit den deutschen Liberal Demokraten - die Politik der britischen Liberal Democrats war etwas weiter links von New Labour angesiedelt). Der Umschwung zu den Liberal Democrats lag teilweise an ihren löblichen Versprechen in Bezug auf Bildung, insbesondere die Abschaffung der Studiengebühren und die Rückkehr zur steuerfinanzierten Hochschule, was Bildung wieder zu einem gesellschaftlichen Gut gemacht hätte.

Die Wahlergebnisse aus dem Jahr 2010 sind wohlbekannt: Zum ersten Mal seit 1945 erlangte keine Partei im britischen Parlament eine absolute Mehrheit. Dies lag zum großen Teil am unerwartet hohen Wahlerfolg für die Liberal Democrats. Die Ereignisse nach der Wahl ähneln deutschen Verhältnissen: es kam zu einer Koalition zwischen den Konservativen und den Liberal Democrats. Für das Regierungsprogramm wurden verschiedene Kompromisse ausgehandelt, um die vielfältigen Wahlversprechen der beiden Parteien umzusetzen. Was diese Kompromisse allerdings in Wirklichkeit bedeuteten, konnten sich nur wenige Wähler und Wählerinnen der Liberal Democrats vorstellen. Nick Clegg, jetzt stellvertretender Premierminister, sollte im Bereich der Hochschulbildung die Ergebnisse des "Browne Reports" umsetzen, dessen Empfehlungen jedoch nicht die Abschaffung der Gebühren vorsahen, mithin also den Wahlversprechen der Liberal Democrats widersprach. Die Gebühren würden nun von derzeit 2.000 Pfund pro Jahr (2.300 Euro) auf 6.000 bis 9.000 Pfund pro Jahr (6.800 bis 10.000 Euro) angehoben, eine überraschende Wende und ein Verrat durch diese erst seit kurzem beliebte Partei. Nur ein paar Monate nach der allgemeinen Wahl stimmte das Parlament mit einer knappen - aber ausreichenden - Mehrheit für die Einführung dieser Pläne. Gleichzeitig protestierten Studierende zornig und gewalttätig vor den Mauern des Parlaments.

Die Hochschulpolitik der Koalition bedeutete effektiv eine 80%ige Kürzung der staatlichen Finanzierung von Hochschulen. Dieser Verlust an Geldern sollte zum einen durch Kosteneinsparungen (also Entlassung von Lehrpersonal und Schließung von sogenannten "unwirtschaftlichen Fachgebieten", wie z.B. moderne Sprachen) gedeckt werden. Zum größten Teil aber sollten diese 80% direkt auf die individuellen StudentInnen in Form höherer Gebühren umgelegt werden. Um diesen Schlag für die Studierenden etwas abzumildern, sollten mehr Kredite zur Verfügung gestellt werden, die dann im Laufe des Lebens zurückzuzahlen sind, womit das von New Labour eingeführte System ausgeweitet werden sollte. Gleichzeitig machte die Regierung die Auflage, dass nur die Universitäten, die sich um ein breites soziales Spektrum von Studierenden bemühten, die höchste Gebührenrate von 9.000 Pfund pro Jahr verlangen dürfen. Tatsächlich erhoben jedoch fast alle den vollen Betrag und versprachen den Zugang auf breitere Bevölkerungsgruppen auszudehnen, denn keine wollte als Universität zweiter Wahl angesehen werden.

Die 180-Grad-Wende der Liberal Democrats in punkto Studiengebühren führte dazu, dass viele Wähler sich vehement über den Verrat beklagten und zu einem steilen Absturz der Partei in den Umfragen. Tatsächlich bewirkten die ersten Monate der Koalition eine weitgehende Desillusionierung mit der Parlamentspolitik überhaupt. Letztere wurde nun als Kuhhandel, schmutziges Tauschgeschäfte und leichtfertiger Verrat gesehen. Nach über 50 Jahren Herrschaft von Einparteienregierungen war Großbritanniens erste Erfahrung mit einer Koalitionsregierung für viele eine riesige Enttäuschung. So wie das Parlament in der Verhinderung der Beteiligung am Irak Krieg versagte, schien es, als könne eine Koalitionsregierung den Willen des Volkes ebenso einfach ignorieren wie eine Einparteienregierung.


Die Proteste

Während die Regierungskoalition ihre Verhandlungen aufnahm, begannen sich erste GegnerInnen gegen die Erhöhung der Gebühren zu formieren. Vor allem den Liberalen nahestehende Studierende radikalisierten sich, demonstrierten in großen Zahlen und besetzten Hochschulgelände, hauptsächlich an Londoner Universitäten aber auch an vielen anderen Universitäten überall im Land. Die Proteste weiteten sich schnell aus und bald waren tausende Studierende und SchülerInnen, d.h. zukünftige Studierende beteiligt. Die ersten von mehreren Aktionstagen wurden organisiert.

Tag Nummer 1: Der 19. November 2010 war nicht nur für viele Studierende und junge Leute auf den Straßen Londons bedeutend, sondern auch für die Medien, die über diese Demonstrationen mit hoher Präsenz berichteten. Dieser Tag hat zweifellos seine Kultmomente, insbesondere die Erstürmung des Millbank Tower, der Parteizentrale der Konservativen Partei, wo die Zahl der DemonstrantInnen die der Polizei übertraf. Ebenso bedeutsam war die Demonstration rund um den Cenotaph, Londons berühmtes Denkmal zur Erinnerung an die Gefallenen beider Weltkriege. Beide Ereignisse sollten am nächsten Tag von der konservativen Presse dazu genutzt werden, die DemonstrantInnen als "VandalInnen ohne Respekt für Besitz und Tradition" zu beschimpfen.

Am Donnerstag, dem 9. Dezember 2010, auch "Tag X" benannt, wurde im Parlament über die Dreifachgebühren abgestimmt und Studierende, deren Eltern und DozentInnen protestierten gemeinsam. Der Erfindungsreichtum der demonstrierenden jungen Leute zeigte sich an den neuen und medienaffinen Methoden, um ihre Botschaft bezüglich der Kosten der von der Regierung beschlossenen Gebührenanhebungen zu vermitteln. Der sogenannte "Book Bloc" wurde dabei als bemerkenswertes und kluges Element des Protestes genutzt. Während der Demonstrationen trugen die StudentInnen riesige Büchermodelle und zeigten so mit Scharfsinn, Humor und Ironie was Bildungsabbau in der Praxis bedeutet. Zum Einsatz kamen Titel wie Herbert Marcuses "Der eindimensionale Mensch", in Anspielung auf den Status der neuen "marktwirtschaftlich handelnden" Studierenden, Josef Hellers "Catch 22", ein Verweis auf die schwierigen oder gar unmöglichen Entscheidungen vor denen die Studierenden von heute stehen, und Becketts "Endspiel", das für die düstere Zukunft verschuldeter Studierenden steht.

Während die Studierenden versuchten, die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, verfolgte die Polizei am "Tag X" andere Ziele. Ihre Bereitschaft zur gewalttätigen Niederschlagung der Proteste zeigte sich an zwei Vorfällen: so wurde der Aktivist und Rollstuhlfahrer Jody McIntyre aus seinem Rollstuhl gezerrt. Er wurde später von einem Polizisten beschuldigt, bedrohliches Verhalten gezeigt zu haben. Ebenso macht der Fall des Philosophiestudenten Alfie Meadows die Aggressivität und Gleichgültigkeit der Staatsorgane deutlich. Zuerst wurde er von einem Polizisten niedergeknüppelt, wobei er einen heftigen Schlag auf den Kopf erhielt, dann wurde ihm ein Krankenwagen verweigert, das Krankenhaus wies ihn ab, da es "nur für PolizistInnen reserviert war", und schließlich fiel er in ein Koma. Die Öffentlichkeit wurde über diese Vorfälle von Polizeibrutalität kaum informiert, da sich die überwiegend konservative Presse auf einen anderen einprägsamen Moment konzentrierte, als nämlich Prinz Charles und seine Frau Camilla mit dem Auto mitten im Protest festsitzen und das Paar "von einem wütenden Mob bedroht wurde".

Die Methoden mit denen der Staat, insbesondere die Polizei, gegen die Protestierenden vorging, zeigen die andere Seite der Geschichte von 2010. Die Studierenden mussten sich auf den Einsatz der durch die Polizei seit späten Neunzigern angewendeten "außergewöhnlichen Maßnahmen" einstellen, wie z.B. das Filmen der DemonstrantInnen durch die Polizei, die Abnahme von Fingerabdrücken und DNS-Proben. Die Regierung hat auch neue Gesetze angewendet, die als Antiterrorgesetze nach dem 11. September verabschiedet wurden und die auf den sogenannten "Binnenextremismus" (Protestierende aus der linken und grünen Gruppen) zielen. Sie ermöglichen die Inhaftierung von Verdächtigen über lange Zeiträume und sehen lange Haftstrafen für relativ geringe Verbrechen vor. Das Gesetz wird dazu eingesetzt, jeden zu kriminalisieren, der einen starken Dissens mit der Regierungspolitik zeigt.

Hier sie besonders auf die von der Polizei zum Einsatz gebrachte Technik Einkesselns verwiesen, wobei die Polizei die Demonstrierenden umzingelt und sie sich nicht fortbewegen können, gleich einem Kessel mit heißem Wasser. Die Cameron-Regierung bezeichnet dies in Orwellschem Neusprech als "Verwahrung in der öffentlichen Sicherheit", was in der Praxis bedeutet, dass Menschen umringt und festgehalten werden und stundenlang, während der jüngsten Proteste oft bis spät in die Nacht, keinerlei Zugang zu Toiletten, Wasser oder Nahrung haben.

Dennoch ist diese Taktik nicht unangefochten geblieben. ProtestlerInnen vom G8 Gipfel 2009 klagten gegen die London Metropolitan Police vor dem obersten Gerichtshof Großbritanniens, dem High Court, der das Einkesseln als ungesetzlich verurteilte. Andere Studierendengruppen klagen derzeitig am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ihre Klage lautet, dass das Einkesseln eine "kollektive Bestrafung" oder einen de facto-"Freiheitsentzug ohne Verurteilung" bedeutet, was gegen die Genfer Konvention verstößt. Jedenfalls scheint das Einkesseln zum Eigentor der Polizei werden, denn anstatt die jungen DemonstrantInnen zu verängstigen, hat es sie stärker radikalisiert.


Besetzung, Flugblätter, Neue Organisationen, Neue Alternativen

Während der Demonstrationen wurden auch mehr und mehr Universitätsgebäude besetzt. Mithilfe der Sozialen Netzwerkmedien und der Veröffentlichung mehrerer Online-Magazine und -manifeste stellten die besetzenden Studenten Verbindungen zur weltweiten Öffentlichkeit her. Viele dieser Flugschriften waren durchdrungen von einer kraftvollen Rhetorik und gaben aufschlußreiche Analysen, die sich nicht nur auf frühere Klassenkämpfe stützten, wie etwa die Ereignisse von 1968, sondern auch auf jüngere Darlegungen Bezug nahmen, wie etwa das französische Buch "L'Insurrection qui vient" (Der kommende Aufstand).[1]

Eine Gruppe der BesetzerInnen und ProtestlerInnen schrieb eine wortgewandte Verteidigung des Einsatzes von Gewalt gegen Sachen während der Proteste: "Gebrochen und sprachlos durch die Zahnräder der Gesellschaftmaschinerie, zerstören wir Dinge um teilzuhaben: die Regeln, das Gesetz, Fenster, Eigentumsrechte, Normen, die vom Staat bestimmte Nutzung öffentlichen Raumes".[2] Diese interessante Idee von einer "Zerstörung als Teilhabe an der Gesellschaft" ging über die normalerweise genutzte Verteidigung von Protesten hinaus und zeigte, dass es legitime Formen politischer Aktion gibt, die die Grenzen liberaler, verfassungsgebundener Politik überschreiten.

In den Monaten seit den ersten Protesten wurden verschiedene Organisationen gegründet um die Ziele der Bewegung weiter voranzubringen. Die London Student Assembly, das Education Activists Network und Netroots wurden von Studenten ins Leben gerufen um die Vorgehensweise und Zusammmenarbeit für die Zukunft auszuarbeiten. Eine Gruppe, genannt UK Uncut, ist einflussreich und mobilisiert gegen Studiengebühren und das Sparprogramm. UK Uncut argumentiert überzeugend, dass es beim Sparprogramm der Regierung nicht wirklich darum geht, dass alle am gleichen Strang ziehen um die Staatsverschuldung zu reduzieren, sondern dass das Regierungsprogramm nur eine ideologische Waffe der Reichen und ihrer politischen Vertreter gegen die öffentlichen Dienstleistungsanbieter ist. UK Uncut nutzt neuartige, legale und medienaffine Mittel um auf die Abschreibungstaktiken großer Firmen, wie z.B. die Bekleidungsfirma "Top Man" oder das Mobilfunkunternehmen Vodafone hinzuweisen. Die Gruppe versucht so aufzuzeigen, dass das Sparprogramm unnötig wäre, wenn Körperschaftssteuerzahlungen an den Staat richtig ausgeschöpft würden, Steueroasen verboten wären und die Einführung einer Steuer für größere Banktransaktionen eingeführt würden.

Teile der Studierendenbewegung nahmen Kontakt mit den Gewerkschaften auf, um mehr Unterstützung zu erhalten. Und einige der Gewerkschaften erwiderten das, namentlich "Unite", Großbritanniens größte Gewerkschaft, deren Vorsitzender seine und andere Gewerkschaften aufforderte, mit der "großartigen Studierendenbewegung" zusammenzuarbeiten. Unite half bei der Organisation des "March for the Alternative" am 26. März 2011. Am Protest gegen das Sparpaket nahm eine geschätzte halbe Million Menschen auf den Straßen Londons teil, es war die größte Demonstration in Großbritannien seit dem Protest gegen den Krieg im Irak.

Interessanterweise bestand der Widerstand der Studierenden gegen den Bildungsabbau nicht nur aus rein negativer Gegenwehr, sondern es wurden auch positive Alternativen zu den aktuellen Bildungsformen erprobt und geschaffen. Beispiele dafür sind neue Formen der Akademie, die alternative Modelle zu den neoliberalen, in Analogie zum Markt gestalteten Universitäten bieten. Auf ehrenamtlicher Basis organisieren AkademikerInnen an der "Really Free School", der "Really Open University"[3] freie Vorlesungen und Seminare. In ähnlicher Weise folgt die "University of Strategic Optimism" [Universität für strategischen Optimismus] der ehrwürdigen dadaistischen Tradition und gibt Vorlesungen in Banken und Einkaufshäusern, mit dem Versprechen "die Märkte zu bilden, wenn die Bildung vermarktet wird". Ein anderes Modell ist das des "Social Science Centre" an der Universität von Lincoln. Hier bestimmen die Studierenden die Gebührenhöhe selbst und bezahlen nur das, was sie sich leisten können, außerdem sind sie gleichberechtigt an der Organisation des Zentrums beteiligt. Durch solche Gruppen versuchen Studenten und gleichgesinnte DozentInnen eine Art "vorwegnehmender Politik" zu schaffen, in der eine antihierarchische und nicht marktorientierte Organisationsform bewusst den Charakter einer noch-nicht-existierenden befreiten Gesellschaft antizipiert.

Neben der Kreation neuer Formen direkter Aktion, neuen Koalitionen und vorwegnehmender Politik, suchten und entwickelten die Studierenden neue Wege um ihren Protest effektiver zu gestalten. In Zusammenarbeit mit SoftwareingenieurInnen wurde eine neue Technologie entwickelt, "Sukey" genannt.[4] Diese nutzt die neuen Social Media um Protestler zu warnen, sodass sie dem Einkesseln durch die Polizei entgehen können. Geschickt entmachtet sie so auf legalem Weg eine wichtige Waffe der Polizei gegen die DemonstrantInnen. Daran zeigt sich, dass die Internettechnologie und Social Media als Mittel des Klassenkampfes verstanden werden müssen. Eben jene Technologie, die im Leben junger Menschen immer wichtiger wird, wird somit auch mehr und mehr zum Teil ihres Kampfes.


Theoretische Reflexionen und Erkenntnisse für die Zukunft

Aus einer theoretischen Perspektive heraus können die gegenwärtigen Studentenproteste von verschiedenen Blickrichtungen untersucht werden, wobei ich mich hier auf zwei beschränken werde. Zunächst können uns die Ideen des italienischen Theoretikers Giorgio Agamben nützlich sein, um die Handlungen, mit denen der Staat auf die Proteste reagierte, zu verstehen. Agamben schreibt, dass in der gegenwärtigen Gesellschaft der Ausnahmezustand zur Norm wird.[5] Diese Vorstellung kann uns dabei helfen, die "außergewöhnlichen Maßnahmen" zu erklären, mit denen der britische Staat Opposition durch Kriminalisierung zu unterdrücken sucht, zum Beispiel unter Rückgriff auf die Terrorismusgesetzgebung. Die Klassifizierung des Protests als tatsächlich oder potentiell terroristisch erlaubte der Polizei - sofern sie überhaupt irgendwelcher Ermutigung bedurft hätte - die politische Opposition der studentischen Unruhen mit gewaltsamer Niederschlagung, Einkesselung und Bespitzelung zu beantworten.

Ergänzend zu der Konzentration der Perspektive auf die Macht des Staates, das Gesetz zur Niederwerfung der Opposition zu benutzen, muss jedoch eine von der gesellschaftlichen Basis ausgehende Blickrichtung eingenommen werden. Dadurch kommt die bemerkenswerte Macht der Opposition und die beachtliche Stärke und Entschlossenheit der Handlungen der jugendlichen Protestierenden ins Visier, auf die der Staat lediglich reagiert und vor der er sich ganz offensichtlich fürchtet. Eine nützliche Perspektive, die die Stärke sowohl der Protestierenden wie auch des Staates, und auch den Erfindungsreichtum, mit dem jede Seite auf die Handlungen der jeweils anderen reagiert, in Rechnung stellt, scheint mir der aus dem autonom-marxistischen Diskurs stammende Begriff der "Kampfzyklen" zu bieten, in denen die kämpfenden Parteien abwechselnd die Oberhand gewinnen.

Die Frage nach dem Inhalt dieser Zyklen, lässt sich sinnvoll mit Ansätzen "libertärer KommunistInnen" wie etwa John Holloway erklären, die das Wesen gegenwärtiger gesellschaftlicher Konflikte im Kampf um die Reduzierung des Lebens auf Kapitalakkumulation und -verwertung sehen. Dem gegenüber steht der Versuch, neue Formen gesellschaftlicher Verhältnisse und der "Selbst-Inwertsetzung" heute zu entwickeln.[6] Die Studierendenproteste können als Teil eines umfassenden Kampfes zur Schaffung von Gesellschaftsverhältnissen verstanden werden, die sich auf Freiheit, Demokratie und Selbstorganisierung und nicht auf der bloßen Reproduktion von Kapital und traditionellen Gesellschaftshierarchien gründen. Wir können insofern sagen, dass die Studierendenaktionen "in-gegen-und-über-das-Kapital-hinaus" stattfinden, um einen Ausdruck Holloways zu benutzen. Es sind nicht nur einfach Proteste innerhalb des Kapitalverhältnisses, die leicht einzudämmen wären, sondern auch Kämpfe gegen das Kapitalverhältnis und sie drängen zu einem gewissen Grade auch "darüber hinaus", indem sie eine befreite, nicht-hierarchische und nicht-geldförmige Gesellschaftsform vorwegnehmen. In dem während der gegenwärtigen Proteste oft gesehenen Slogan "streiken, besetzen, umgestalten" kommt dieses Ziel zum Ausdruck. Es geht nicht nur darum, zu protestieren, sondern etwas Neues aufzubauen, zum Beispiel Bildungsformen, die Bildungseinrichtungen ohne Profit oder Schulden vorwegnehmen.

Ich denke, dass der "(post-)autonomistische" oder "libertär-kommunistische" Ansatz uns auch über die eher beschränkte und einschränkende Ansicht hinausführen kann, nach der diese Proteste nur Wirkung zeitigen können, wenn sie an ein linkes Parteiprojekt angebunden sind. Obwohl nur wenige der Protestierenden Bündnisse mit linken Parteien ganz ausschließen würden, scheinen die meisten unter ihnen sich doch der Stärke, Spontaneität und des zutiefst demokratischen Charakters ihrer Aktionen bewusst zu sein. Sie sind sich im Klaren darüber, dass ihre demokratischen, horizontalen Strukturen und die Spontaneität und Energie die sie gemeinschaftlich ausstrahlen weit über das hinausgeht, was sich gewöhnlich in politischen Parteien findet. Zwar stimmt es, dass Bündnisse mit Parteien und Gewerkschaften unumgänglich sein werden, um den Protesten unmittelbare Wirkungskraft zu verleihen, doch wir sollten den Protestierenden darin folgen, dass sie darauf beharren, Bündnisvereinbarungen auf der Grundlage der Vorstellungen der Aktiven, derjenigen, im Handgemenge solch bemerkenswerte Spontaneität und solchen Mut gezeigt haben, selbst zu treffen und nicht etwa den Bedingungen der politischen Parteien zu folgen, die insbesondere in Großbritannien, historisch immer versucht haben, radikales Handeln zu kooptieren und ihren dogmatischen Schemata unterzuordnen.

Abschließend ich es wichtig zu sagen, dass das Ergebnis der Proteste immer noch nicht klar ersichtlich ist. Wir wissen noch nicht, ob die Ziele erreicht wurden. Der Kampf wird nicht nur gegen den Bildungsabbau geführt, sondern gegen den Neoliberalismus, die Finanzkrise und die Kürzungspolitik. Zwischen den StudentInnen, ArbeiterInnen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen wurden Verbindungen geschaffen, aber wie stark und dauerhaft diese sein werden, ist ungewiss. Auch ist ungewiss, ob die Studierenden die Medien und die breite Öffentlichkeit für sich gewinnen können, da beide, die Studierenden und ihre konservativen GegnerInnen, versuchen, den Kontext der Proteste in ihren Sinn zu beeinflussen. Die Nutzung von Gewalt bleibt weiterhin umstritten. Einerseits nutzt die konservative Presse diese als rhetorische Waffe um die Proteste zu verunglimpfen, andererseits würde die Presse, so scheint es, ohne "kriminelle" Zerstörung die Forderungen der Studierenden einfach ignorieren. Erfolg oder Niederlage beruhen teilweise auf den internationalen Verbindungen der Protestbewegungen und ob die Studierenden Europa- und weltweit gemeinsam gegen den Bildungsabbau vorgehen können. International erleben wir, dass Bildungsabbau als "Bildungsreformen" verkauft werden.[7] Fakt ist, dass die Bildung privatisiert, die Lehrtätigkeit abgewertet und die StudentIn zur bloßen KundIn eines Produkts wird, für das er/sie wahrscheinlich ein Leben lang Schulden abbezahlen muss und das keine feste und gut bezahlte Anstellung mehr garantiert. Wenn wir etwas von den britischen Protesten gelernt haben, dann dieses, dass zwischen den Bewegungen in Großbritannien, Deutschland, Spanien, Griechenland, Italien, Amerika usw. Übersetzungs-, Verständigungs- und Verbindungsarbeit geleistet werden muss. Nur gemeinsam lässt sich die Politik des Sozialabbaus beenden und eine Alternative finden.

E-Mail: a.m.wilding@open.ac.uk


Anmerkungen:

[1] Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand (Nautilus, 2010)

[2] Escalate Collective, "This is Actually Happening".
http://www.mediafire.com/?8pdquwddvs6359i

[3] Es gibt in Großbritannien eine aus Steuergeldern finanzierte "Open University", Anm. L. S.

[4] Nach einem alten Kinderlied: "Polly put the kettle [Kessel] on / Sukey take it off again".

[5] Giorgio Agamben, Ausnahmezustand: Homo Sacer I,I Frankfurt, Suhrkamp, 2004

[6] John Holloway, Kapitalismus Aufbrechen. Münster, Dampfboot Verlag, 2010.

[7] Richard Münch, Akademischer Kapitalismus - Über die politische Ökonomie der Hochschulreform (Suhrkamp. 2011)

Raute

Jan Bönkost:

Im Schatten des Aufbruchs

Das erste Berufsverbot für Horst Holzer und die Uni Bremen

Wir haben die pluralistische Inquisition bei den Berufsverboten am Werk gesehen, wir haben erlebt, dass unter diesem Druck viele widerrufen haben und dass die, die zum Widerruf nicht bereit waren, zuverlässig als erste dem Aufräumen im akademischen Mittelbau zum Opfer vielen. [...] Horst Holzer ist das schändlichste Beispiel.
Alexander von Hoffmann[1]

Schon in den Anfangsjahren der Bundesrepublik war es zu politisch motivierte Entlassungen im öffentlichen Dienst gekommen. Die von der Regierung Adenauer betriebene ideologische, ökonomische und militärische Integration der BRD in den westlichen Machtblock des heranbrechenden Kalten Krieges ging einher mit der Furcht, kommunistische Elemente könnten die neue freiheitlich-demokratische Grundordnung gezielt untergraben. Schon ein Jahr nach der Verabschiedung des Grundgesetzes legte der sogenannte Adenauer-Erlaß daher fest, dass die Mitgliedschaft in über einem Dutzend konkret benannter Organisationen, unter ihnen die KPD, die FDJ und der Verein der Verfolgten des Naziregimes (VVN), grundsätzlich eine Verletzung der Beamtenpflichten darstelle. Die antikommunistische ausgerichtete Politik der ersten Bundesregierung führte jedoch bereits kurz darauf zum gänzlichen Verbot der FDJ und 1956 auch der KPD. Bis zur legalen Neugründung der DKP im Jahr 1968 wurden daher unzählige Ermittlungsverfahren gegen angebliche Kommunist_innen geführt. Die SPD hingegen, die aus der Opposition heraus bisher für eine rasche Wiedervereinigung und außenpolitische Neutralität gestritten hatte, folgte auf Grund der anhaltenden und vom raschen Wirtschaftswachstum begünstigten konservativen Wahlerfolge schließlich den Konzepten des politischen Gegners. Im Godesberger Programm akzeptierten die Sozialdemokrat_innen 1959 die politische Westbindung, bekannten sich zur Marktwirtschaft und beschritten so ihren Wandel von der Arbeiter- zur Volkspartei. Dabei entfernten sie sich programmatisch zunehmend von ihrer linken Basis und schlossen 1961 mit dem SDS gar ihren gesamten parteinahen Hochschulverband und seine Sympathiesant_innen wie Wolfgang Abendroth aus.

Das auf diese Weise heimatlos gewordene gesellschaftskritische Milieu verschaffte sich als Neue Linke in der außerparlamentarischen Opposition, mit den zahlreichen K-Gruppen, den antiautoritären Spontis und als Stadtguerilla jedoch schon bald wieder Gehör. Gleichzeitig gelang es 1969 auch der SPD mit Willy Brandt zum ersten Mal die Bundesregierung anzuführen. Zu ihrem zentralen außenpolitischen Anliegen wurde den direkten Konflikt mit der DDR und das militärische, immer wieder an den Rand eines Atomkrieges treibende Kräftemessen der NATO mit dem Warschauer Pakt in einer "Neuen Ostpolitik" zu entspannen. Innenpolitisch wurde Brandt für diesen Kurswechsel stark unter Druck gesetzt. Denn aufgeschreckt vom eigenen Machtverlust, der Neugründung der DKP, dem von Rudi Dutschke angekündigten "Marsch durch die Institutionen" und den ersten Aktionen der RAF, wähnte die konservative Opposition in Parlament und Öffentlichkeit die Unterwanderung von Gesellschaft und Staat erneut unmittelbar vor Augen. Um seine internationalen Annäherungsbemühungen, denen ein mögliches Verbot der neuen DKP entgegenstand, nicht zu gefährden, ließ sich Brandt Anfang 1972 mit den Bundesländern auf den Kompromiss ein, die überall vermuteten "Extremisten" individuell, aber dennoch systematisch aus dem Staatsdienst herauszuhalten. Der Kanzler der angetreten war, mehr Demokratie zu wagen, legitimierte im "Radikalenerlass" daher erneut die Auswahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst nach deren verfassungstreuer Gesinnung. Sichergestellt wurde diese ab sofort über eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz zu den Mitgliedschaften in verfassungsfeindlichen Organisationen und Initiativen. Bis der Bund diese Hexenjagd 1976 einseitig wieder aufkündigte, Bayern jedoch als letztes Bundesland erst 1991 eine verdachtsabhängige Bedarfsanfrage einführte, wurden die politischen Aktivitäten von 3,5 Millionen Menschen überprüft; Rund 1250 Personen wurde in oftmals langjährigen juristischen Verfahren die Einstellung in den Staatsdienst verweigert, über 250 Beamte auf ähnlich zermürbende Weise entlassen.[2] Sie sind die vergessenen Opfer Willy Brandts[3], der es, wie John Philipp Thurn in einer Retrospektive schildert, geschafft hat, dass nach "Kindergarten" und "Blitzkrieg" auch der Begriff "Berufsverbot" Eingang in andere Sprache erhielt.[4]

Am wenigsten vergessen sind bis heute die zahlreichen Berufsverbotsfälle im Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb. Denn der Fachkräftebedarf, der bis 1973 kontinuierlich wachsenden westdeutschen Wirtschaft, auf der einen und die hochschulpolitischen Forderungen der Studierendenbewegung auf der anderen Seite waren zwischen 1965 und 1975 der Anlass für den bis dato größten Aus- und Umbau der deutschen Hochschullandschaft. Die gesellschaftspolitische Aufbruchsstimmung schuf dabei Raum für zahlreiche Experimente, die weit über das hinausgingen, was auch die sozialliberalen Bundes- oder Landesregierungen jener Zeit aushalten wollten oder konnten. Zum konfliktträchtigsten Fall dieser Phase avancierte die Universität Bremen. Seit der Wissenschaftsrat 1960 einen massiven Ausbau des deutschen Hochschulwesens empfohlen hatte, wurde in der Hansestadt die Gründung einer Universität vorbereitet. Zehn politisch kontroverse Jahre später war daraus das "Bremer Modell" einer neuen Hochschule erwachsen, deren Lehr- und Forschungsaktivität sich jenseits des als überkommen kritisierten akademischen Rahmens projektartig an den drängenden Problemstellungen einer demokratischen und sozialen Gesellschaft orientieren sollte. Zum Ausgangspunkt dafür war bestimmt worden, dass die neue Uni auch ihre eigenen Konflikte offen und demokratisch, in gleicher Augenhöhe aller Beteiligten, austragen sollte. Noch vor der Aufnahme des Lehrbetriebs fiel deshalb die bürgerliche Öffentlichkeit und Politik über die neue Hochschule her und verpasste ihr den Ruf der "roten Kaderschmiede". "Diese heftige konservative Opposition gegen die Bremer Universität war zu erwarten", erwiderte ihr Gründungsrektor anlässlich des ersten Semesterbeginns im Oktober 1971.

"Eine [..] Universität als Ort kritischer Wissenschaft [..] gerät unausweichlich in Konflikt mit gesellschaftspolitischen Kräften. Warum? Ganz einfach deshalb, weil gewichtige gesellschaftliche Interessen fürchten, durch solche Kritik beeinträchtigt zu werden."[5]

In der Hast des, wegen der "Ausbildungskrise" um zwei Jahre vorverlegten Studienbeginns, waren die ersten Professor_innen nicht vor April berufen worden. Unter ihnen auch der junge Münchner Soziologe Horst Holzer. Dieser hatte bisher erfolgreich den Pfad zu einer akademischen Laufbahn beschritten. Sein Studium der Soziologie, Volkswirtschaftslehre, Psychologie, politischen Wissenschaften und des öffentlichen Rechts in Wilhelmshaven und München hatte er schließlich 1963 am Frankfurter Institut für Sozialforschung beendet.[6] Der Einfluss Adornos war es hier, der ihm Anstöße zu einem kritischen und engagierten Wissenschaftsverständnis gab.[7] Nach einem kurzen Intermezzo in der Markt- und Meinungsforschung war er seit 1964 wissenschaftlicher Mitarbeiter des in der hiesigen Soziologie vor allem für seine Arbeit zur deutschen Sozialstruktur angesehenen Karl-Martin Bolte an der LMU München. Dort hatte Holzer 1966 mit einer Zeitschriftenstudie promoviert[8] und mit Hilfe eines zweijährigen DFG-Stipendiums 1970 zum Thema "Massenkommunikation und Demokratie" habilitiert. Anschließend und parallel zu seiner Bewerbung in Bremen wurde er im April 1971 am Münchener Institut für Soziologie zum wissenschaftlichen Rat und Professor, formal zunächst als Beamter auf Probe, ernannt. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule war ihm mittlerweile in seiner thematischen Nähe zur Medien- und Kommunikationswissenschaft und mit seinen Erfahrungen aus der Studentenrevolte zunehmend suspekt geworden.[9] Seine als "Gescheiterte Aufklärung?" erschienene Habilitationsschrift[10], offenbarte eine Hinwendung zur politischen Ökonomie. Die Bremer Berufungskommission "Kommunikation und Ästhetik" sprach sich auf Grund der "herausragenden wissenschaftlichen Qualifikation", "didaktischen Kompetenz" und "hervorragenden Eignung" für das "Bremer Modell" und sein konstitutives Projektstudium einstimmig dafür aus, Holzer "als Hochschullehrer auf Lebenszeit (H4) für den Bereich Kommunikationswissenschaft zu berufen."[11] Der zu diesem Zeitpunkt 35-jährige habe sich in zahlreichen Publikationen

"als ein Wissenschaftler ausgewiesen, der die Prozesse und Implikationen der durch die Massenmedien vermittelten öffentlichen Meinungsbildung kritisch zu analysieren und in den gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen weiß. Dabei ist besonders seine Fähigkeit hervorzuheben, die Analysen mit Hilfe der Kategorien einer kritischen Soziologie und zugleich auf der Basis umfangreicher volkswirtschaftlicher Kenntnisse vorzunehmen."[12]

In unterschiedlichen Facetten fassen der Gründungsrektor Thomas von der Vring[13], das Bremer Komitee gegen Berufsverbote[14] und die Horst Holzer nahestehende Zeitschrift kürbiskern[15] das weitere Einstellungsprozedere zusammen: Ende April informierte ihn der Bremer Wissenschaftssenator Moritz Thape über seine Berufung durch den von der sozialliberalen Koalition gestellten politischen Senat der Freien Hansestadt Bremen. Die SPD, wegen ihrer Wissenschaftspolitik ohnehin zahlreichen Angriffen ausgesetzt, verteidigte ihre Entscheidung zu diesem Zeitpunkt auch gegen die parlamentarischen Zweifel der CDU an Holzers wissenschaftlicher Qualifikation. Denn je stärker die personellen Konturen der Bremer Uni sichtbar wurden, desto schärfer wurde auch die auf Landes- wie auf Bundesebene um ihre Eckpfeiler ausgetragenen politischen Kontroversen. Doch noch vor dem vereinbarten Arbeitsbeginn zerbrach am 1. Juni, keine fünf Monate vor den Bürgerschaftswahlen, die Bremer Regierungskoalition. Die um ihre eigene Profilierung bemühte FDP weigerte sich, die von der SPD betriebene Berufungspolitik für die neue Reformuniversität, die viele junge und kritische Wissenschaftler_innen nach Bremen zog, noch länger mittragen.

Weil die beamtenrechtliche Ernennung Holzers in den daraufhin einsetzenden landespolitischen Wirrungen nicht zum vereinbarten Zeitpunkt vollzogen war, erhielt er von der Universität Anfang Juli einen Honorarvertrag, um seine Arbeit zum Wintersemester dennoch vorbereiten zu können. Schon kurz darauf teilte ihm Gründungsrektor Thomas von der Vring allerdings mit, dass seine Ernennung am 14. Juli von der nur noch aus den SPD-Senatoren bestehenden Landesregierung beschlossen werden sollte. "Ich bin autorisiert, Ihnen zu versichern, dass in dieser Sitzung über ihre Einstellung positiv entschieden wird."[16] Doch an diesem Tag beschloss der Senat statt dessen, die Ernennung Holzers zurückzustellen und ein Gutachten über sein politisches Verhalten bei seinem bisherigen Arbeitgeber, dem bayerischen Kultusminister Hans Maier anzufordern, der als Politikwissenschaftler schon seine Habilitation begutachtet hatte. Denn die beamtenrechtliche Überprüfung seiner Person hatte ergeben, dass er nicht nur Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) und des Bundes demokratischer Wissenschaftler war, sondern auch in der Deutschen Kommunistischen Partei.

Nach der Drohung der universitären Berufungskommission, ihre weitere Arbeit einzustellen, und einem kurze Zeit später angeblich positiv eingetroffenen Gutachten empfahl Thapes Senatsdirektor, Holzer könne nun beruhigt seinen Umzug nach Bremen in die Wege leiten. Doch allem positiv entfaltetem Schein zum Trotz, lehnte der nach dem Koalitionsbruch verbliebene Bremer SPD-Senat kaum eine Woche später am 27. Juli 1971 die Ernennung Holzers, der mittlerweile seine Münchner Wohnung gekündigt hatte und nach Bremen gezogen war[17], ab. Zwei Tage darauf waren die Gründe der Presse zu entnehmen. Bildungssenator Thape teilte mit,

"der Senat sei nicht bereit, Mitglieder von rechts- oder linksradikalen Gruppierungen als Beamte nach Bremen zu holen 'Da ist die Grenze, die wir nicht überschreiten. Das gilt für NPD wie für DKP', sagte Thape und unterstrich, die Landesregierung habe dabei bedacht, daß die DKP nicht verboten ist."[18]

Bereits ein halbes Jahr bevor Willy Brandt am 28. Januar 1972 zur politischen Absicherung seiner Ostpolitik den von der konservativen Opposition und den Bundesländern geforderten Radikalenerlaß unterzeichnete, der die Unterwanderung des öffentlichen Dienstes durch kommunistische Kräfte verhindert sollte, vollstreckte das kleinste Bundesland damit sein erstes Berufsverbot. Die politisch begründete Ablehnung des nur Monate zuvor in München zum Professor ernannten Horst Holzers gibt so den faden Beigeschmack der Bremer Universitätsgründung. Sie ist die zynische Note im ansonsten verständlichen Lobgesang des ersten Rektors auf den damals kurzzeitigen Mut der Bremer SPD: "Wir würden nicht auf die Idee kommen, heute etwa in Bayern eine solche Universität aufbauen zu können."[19] Dennoch musste die Universität nach der Ablehnung Holzers erleben, wie die Unruhe unter den zwar berufenen, aber noch nicht verbeamteten Hochschullehrer_innen stieg und ihre Bereitschaft, den nahenden Lehrbetrieb vorzubereiten merklich sank.

Die versagte Hochschullehrerstelle brachte Horst Holzer anhaltende und bundesweite Aufmerksamkeit. Der Verband deutscher Studentenschaften, die Bundesassistentenkonferenz, die GEW, die Deutsche Journalistenunion, verschiedene Universitätsinstitute und Professor_innen protestierten. Als einer von ihnen schrieb Kurt Sontheimer, Münchner Politikwissenschaftler und SPD-Mitglied, dem Bremer Bürgermeister Hans Koschnick:

"Was immer die Beweggründe für diese Entscheidung gewesen sein mögen, sie ist in dieser Form sicherlich nicht vertretbar und sollte darum schleunigst revidiert werden. Es steht der Hansestadt Bremen sicherlich nicht gut an, demnächst durch ein Gericht erinnert zu werden, dass Ihre Regierung sich verfassungswidrig verhält."[20]

Eindringlich hatte zuvor bereits der Tübinger klassische Philologe Walter Jens, der auch dem Bremer Gründungssenat angehörte und als Gastprofessor an der neuen Uni lehren sollte, am Beispiel Holzers Anstoß an der Bremer Berufungspraxis genommen:

Ich fände es richtig, nützlich und gut, wenn jeder Kandidat [..] genau auf seine wissenschaftliche Qualifikation hin untersucht wird - aber eben darauf und nicht, ob er vielleicht, irgendwann, es wird berichtet, man kann ja nie wissen, verdächtig ist das schon, früher machte man so etwas nicht - das und das geäußert hat. [..] auch ich hätte hier und dort anders loziert, zum Beispiel unbedingt die beiden führenden Kommunikationswissenschaftler Holzer und Knilli [..] berufen: Ein Fachbereich "Kommunikation und Ästhetik" sollte sich die Chance, mit Hilfe der beiden "Asse" einen einzigartigen Schwerpunkt in Bremen zu bilden, nicht entgehen lassen. Aber, das sind Erwägungen akademischer Art; und nur auf solche, im genauesten Wortsinn, kommt es ja an. Würden an ihre Stelle, wie sich aus einigen Pressesentenzen herauslesen lassen könnte, Dossiers des Verfassungsschutzes treten: dann doch lieber gar keine Universität in Bremen.[21]

Horst Holzer klagte vor dem Bremer Verwaltungsgericht. Währenddessen blieb er in München tätig, da der Bremer Senat ebenfalls die Bitte seiner schon ernannten Kollegen abgelehnt hatte, ihn bis zur juristischen Klärung auf Honorarbasis zu beschäftigen.[22] Ein Jahr später zur mündlichen Verhandlung am 8. November 1972 demonstrierten 4.000 Menschen vor dem Gerichtsgebäude.[23] Dennoch bestätigte das Verwaltungsgericht die Nichteinstellung aus politischen Gründen. Das Urteil veröffentlichte die Pressestelle der Uni Bremen wegen der großen Nachfrage in einer Auflage von 600 Exemplaren. Darin war begründet, es

"darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt. Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger nicht. [..] Indem das Beamtengesetz sich nicht darauf beschränkt, die Verletzung dieser besonderen Verpflichtung des Beamten disziplinarrechtlich zu ahnden [..], vielmehr [..] Bewerber vom Beamtenstatus fernzuhalten sucht, die ihre Verpflichtung [..] nicht werden erfüllen können oder bei denen die künftige Erfüllung dieser Verpflichtung zweifelhaft ist, kommt das besondere Interesse des Staates zum Ausdruck, es möglichst überhaupt nicht zu entsprechenden disziplinarrechtlichen Verstößen [..] kommen zu lassen."[24]

Politisch konsequent bestätigte das Gericht damit die affirmativen Grenzen auch des Bremer Wissenschaftsbetriebes und die daran anknüpfende, nach rechtstaatlichen Prinzipien nicht zu vertretende präventive Gesinnungsstrafe. Den im Urteil benutzten Widerspruch zwischen einer freiheitlich-demokratischen und marxistisch-leninistischen Gesellschaftspraxis, auf die Holzer qua seiner DKP-Mitgliedschaft reduziert war, nahmen die Richter_innen zum Anlass, eine nicht überschreitbare Trennlinie zwischen kritischer Wissenschaft und Politik zu markieren.

"Wissenschaft und Lehre [..] kann zwar, auch wenn sie zu einer Prognose künftiger Entwicklungen führen, als solche nicht gegen die freiheitliche Grundordnung verstoßen. Praktisch-politische Ziele eines Wissenschaftlers können aber nicht deshalb eine beamtenrechtliche Sonderbehandlung erfahren, weil sie auf dem Boden einer bestimmten wissenschaftlichen Grundhaltung erwachsen [..] sind."[25]

Für Holzer wurde dieser Umgang in Bremen zum biographischen Einschnitt. Denn das so um wissenschaftspolitischen Fortschritt bemühte Bundesland hatte ihn mit seinem Verhalten akademisch nachhaltig diskreditiert. Alle seine weiteren Versuche im Wissenschaftsbetrieb Fuß zu fassen schlugen fehl. 1972 wurde sein Ruf an die ebenfalls neu gegründete Universität in Oldenburg vom niedersächsischen Kultusminister verhindert, 1973 sein erster Listenplatz an die Pädagogische Hochschule Berlin nicht vom akademischen Senat akzeptiert und in Marburg scheiterte er im gleichen Jahr erneut am Widerstand des Kultusministeriums. Gegen diese insgesamt vierte Bestätigung seines Berufsverbotes ergriffen unter anderem auch Max Frisch, Martin Walser und Rainer Werner Fassbinder das Wort.[26] Holzers Ablehnungen wurden sämtlich jedoch nicht bloß gleichlautend mit seiner DKP-Mitgliedschaft begründet.

Andreas Scheu und Thomas Wiedemann kommen in ihrer Bewertung der außeruniversitären Einflüsse auf Holzers akademischen Berufsweg zu dem Schluss, dass durch den Umgang mit seiner Parteizugehörigkeit in Bremen ein "später kaum noch zu revidierendes Urteil gefällt [wurde], auf das sich alle folgenden Entscheidungen gegen Holzer stützten."[27]

Zu den Folgen dieser konsequenten politischen Aburteilung zählen Scheu und Wiedemann auch, dass Holzers nun m Stigma seiner Außenseiterrolle in seinem wissenschaftlichen Wahlgebiet, der Medien- und Kommunikationsforschung, überschattete wurde. Im Zuge der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung um 1970 hatte Holzer zu den junge Wissenschaftlern gehört, die mit ihrem Versuch einer theoretischen Erweiterung auch zum Sturm auf die deutsche Kommunikationswissenschaft bliesen. Für die Form ihres Scheiterns ist der Umgang mit seiner Person beispielhaft, und auch in einem weiteren Kontext exemplarisch für den gesellschaftlichen Umgang mit allzu kritischen Intellektuellen. "Holzer galt als Demokratiegegner und personifizierte die Gefahr einer linken Unterwanderung des universitären Betriebs."[28] In einer Auflistung von Scheu und Wiedemann[29] wurden seine Arbeiten von Fachkollegen als introvertiert und subjektiv, formal und methodisch schwach oder gleich als "Prostitution empirischer Daten" diskreditiert.

"Der Habitus als gesellschaftskritischer Soziologe entsprach nicht den Anforderungen eines Faches, das sich verstärkt als empirische Sozialwissenschaft definiert und eindeutig von normativen wissenschaftlichen Perspektiven distanziert hat. Außerdem waren die etablierten Fachvertreter der Kommunikationswissenschaft eher konservativ."[30]

Dass dieser aus fachlicher Sicht zwar häufig radikale Positionen vertrat, aber zu Unrecht als Ideologe diffamiert wurde, äußert über die Distanz von drei Jahrzehnten auch Wolfgang Langenbucher.[31] Die von ihm retrospektiv reklamierte "gnadenlose Verfolgung"[32] Holzers nahm dennoch ihren weiteren Lauf. Denn als 1974 in München seine Verbeamtung auf Lebenszeit bevorstand, distanzierte sich der bayerische Kultusminister Hans Maier von ihm. Mit Verweis auf das Bremer Urteil und seine wissenschaftlichen Arbeiten, die Maier selbst als Habilitationsgutachter wenige Jahre zuvor noch positiv bewertet hatte, entließ er Horst Holzer aus dem Staatsdienst.[33] Dieser beschritt abermals den Weg vor das Verwaltungsgericht. Daraufhin ließ das Kultusministerium, angeblich zur Vorbereitung des bevorstehenden Rechtstreits, alle Bücher Holzers inklusive ihrer Katalogkarten aus der Münchner Universitätsbibliothek entfernen.[34]

Mit dem überraschend gewährten einstweiligen Rechtsschutz und "allerlei politisch-atmosphärischer Druck" gelang es den Prozess sechs Jahre lang zu verschleppen.[35] Als sich jedoch Ende 1980 ein Urteil erneut zu Ungunsten Holzers und "den derzeit noch bewahrten Standard der Wissenschaftsfreiheit" ankündigte,[36] schien ganz unverhofft Hilfe von der Uni Bremen zu erwachsen. Die Forderung nach seiner Einstellung war dort weiterhin aktuell und bisweilen auf Veranstaltungen auch mit seiner Anwesenheit untermauert.[37] 1979 hatte er zudem bereits einen Lehrauftrag an der politisch mittlerweile angezählten Reformuniversität wahrgenommen.

Im Münchner Verfahren ging es mittlerweile um die Rückforderung Holzers Beamtenbezüge seit Ausstellung des Entlassungsbescheides vor sechs Jahren, also um nicht weniger als seinen persönlichen finanziellen Ruin.[38] "Wir brauchen jetzt einen Stopper vor dem Abgrund",[39] schrieb Holzers Anwalt Anfang Dezember 1980 nach Bremen. Seit eineinhalb Jahren wurde dort schon versucht, unter den gewandelten politischen Gegebenheiten doch noch die Voraussetzungen für eine Einstellung Holzers an der Uni zu schaffen. Denn unter dieser Bedingung hatte sich das Land Bayern zu einem juristischen Vergleich bereit erklärt, um, wie Holzers Anwalt in den Norden übermittelte, "den nationalen und internationalen Unwägbarkeiten dieses Pilotfalles der Wissenschaftsfreiheit noch einmal auszuweichen, bzw. sie herunterzuspielen."[40] Holzer sollte demnach, auf Grund der doch noch in Bremen erhaltenen Stelle, in München selbst um seine Entlassung aus dem bayerischen Beamtenverhältnis ersuchen. Die Entlassungsklage und auch die finanziellen Rückforderungen wollte man in München im Gegenzug als gegenstandslos betrachten.

Mitte Dezember 1980 wandte sich deshalb eine Initiative Bremer Hochschullehrer mit über 200 Unterstützer_innen und "in der Hoffnung, daß sich ungeachtet der schwierigen Lage unserer Universität alle Mitarbeiter zur Verteidigung demokratischer Rechte und der Wissenschaftsfreiheit zusammenfinden können"[41] an alle Kolleg_innen:

"Der 'Fall Holzer' belastet seit Jahren das gemeinsame Bemühen um Reformen und um die Durchsetzung von Wissenschaftsprinzipien in demokratischer Verantwortung. Vielfältige öffentliche Erklärungen in der Bundesrepublik Deutschland und im Ausland belegen, dass Wissenschaftsfreiheit und Pluralismus im Lande Bremen an diesem Fall gemessen werden. Der 'Fall Holzer' ist beispielhaft. Sie alle können heute zu einer Lösung beitragen - und damit beispielhaft wirken. [...] Sollte in Bremen unmöglich sein, was in Bayern möglich war? [...] Wir glauben, daß unsere Bitte um Ihre Unterstützung die Grenze des Zumutbaren nicht überschreitet. Das Nein zu Diskriminierung und Stigmatisierung von Minderheitspositionen, - sollte es unzumutbar sein? Die Zumutung uns allen gegenüber besteht in der Einschränkung von Freiheitsrechten, nicht aber in der Aufforderung, Schutz vor Verfolgung zu gewähren."[42]

Der noch dem Geist des Bremer Reformmodells verpflichtete Uni-Rektor Alexander Wittkowsky bemühte sich daraufhin ein ausdrücklich politisches Votum der gesamten Universität für den Abschluss des im Falle Holzers 1971 begonnen Berufungsverfahrens und die Erlaubnis, alles dafür Nötige unverzüglich in die Wege zu leiten.[43] Denn auch die Bremer SPD hatte zwischenzeitlich zu einer etwas liberaleren Einstellungspraxis zurückgefunden, war jedoch vor allem auf eine kapazitäts- und kostenneutrale Einstellung Holzers aus.[44] Genau am Vorwand dieser Verteilungsfrage erhitzten sich nun an die universitären Gemüter als Lagerkampf zwischen den sozialdemokratisch dominierten Hochschulgruppierungen auf der einen und allen übrigen linken Kräften auf der anderen Seite. Während der Rektor an einer politisch-moralischen Grundsatzentscheidung interessiert war und die Suche einer geeigneten Stelle zu verschieben trachtete, konterte der in dieser Sache besonders aktive Wirtschaftswissenschaftler Heinz Schäfer, dass in den anbrechenden Zeiten finanzieller Einschränkungen nicht einfach aus politischen Sympathien eine beliebige Stelle vergeben werden könne. Die GEW forderte, dass bei der Einstellung ihres Mitglieds Horst Holzer "wieder der normalen Weg beschritten wird" und er 10 Jahre nach seiner nie zurückgenommenen Berufung endlich eine Stelle erhalten müsse. Mit den gleichen Worten bestand jedoch die mehrheitlich sozialdemokratische ÖTV darauf, dass nun im anbrechenden Jahr 1981 der "normale Weg" nicht verlassen werden dürfe und wies darauf hin, dass Holzer sich in diesem Sinne und zu einer möglichen Lösung seiner Probleme doch auf eine der gegenwärtig ausgeschriebenen Stellen bewerben könne.[45] Anstelle einer positiven Willensbekundung zu Holzers Einstellung brachte der Akademische Senat daher zunächst nicht mehr zu Stande als den Auftrag eines weiteren Gutachtens zu Holzers wissenschaftlicher Arbeit seit 1971. In einer turbulenten Auseinandersetzung Anfang Februar 1981 schließlich[46] konnten weder die Initiativen des Ökonomen Jörg Huffschmid noch die des Politikwissenschaftlers Detlef Albers, der bereits 1967 den legendären Muff unter den Talaren zu vertreiben suchte, Bewegung in die Angelegenheit bringen. Selbst der Vorschlag des Philosophen Hans Jörg Sandkühlers, man könne Holzer wie parallel auch den DDR-Dissidenten Rudolf Bahro ohne öffentliche Ausschreibung als wissenschaftlichen Mitarbeiter einstellen und die Warnung des Rektor vor einer "Zerrüttung" der universitären Selbstverwaltung erreichten die Holzer-Gegner_innen nicht hinter ihren formalen Einwänden. Eine Mehrheit für die Einstellung Holzers an der Uni Bremen war nicht zu erringen "Da haben wir einfach nicht mehr mitgemacht. Der AS wurde gesprengt"[47], verkündeten tags darauf die Studierenden des MSB Spartakus. "An der Universität, in den Gremien sind die Zeichen auf Sturm gesetzt. Der Wind bläst scharf aus der rechten Ecke. Von dort aus soll 'alles anders werden'." Sie setzten damit die Ablehnung Holzers - diesmal schon auf universitärer Ebene - in den Kontext einer gewandelten sozialdemokratischen Hochschulpolitik, die, 10 Jahre nach ihrer Gründung, nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine politische Konsolidierung der Universität Bremen zum Ziel hatte. Der an die Gründungsideale eines demokratischen Wissenschaftsbetriebs appellierende akademische Schulterschluss war vor diesem Hintergrund ausgeblieben.

Holzer war somit der Rettungsanker in seinem Münchner Prozess abhanden gekommen. Noch viel dringender mußte er nun, ohne eine neue Stelle in Bremen, um ein Urteil mit weitreichenden finanziellen Folgen gegen ihn zu verhindern, selbst um seine Entlassung aus dem bayerischen Beamtenverhältnis ersuchen. Er behielt lediglich seine Position als Privatdozent in München und nahm von 1984 an über elf Jahre einen Lehrauftrag an der Uni Klagenfurt war. Schließlich jedoch wollte ihm die Ludwig-Maximilian-Universität wenigstens noch zu formalen akademischen Ehren verhelfen. Aber auch die Ernennung zum außerplanmäßigen Professor wurde ihm 1994 vom bayerischen Kultusministerium verwehrt. Weiteren Initiativen für und Entscheidungen gegen ihn erübrigten sich durch seinen Tod im Alter von nur 65 Jahren im Jahr 2000.

Die 1981 noch vor ihrem Eintreffen in Bremen bedeutungslos gewordenen Gutachten zu seiner Person zeichnen das Bild eines produktiven und bei seinen Studierenden beliebten Wissenschaftlers, der von der Soziologie her in der Massenkommunikationsforschung eigene wissenschaftliche Akzente setzen konnte und dessen Kenntnisse weit über seine eigenen Theorie- und Methodenansätze hinausreichten.[48] In akademisch nüchtern gehaltener Sympathie beschreibt Karl Martin Bolte darin auch, was Holzer so nachhaltig zum politischen Makel und akademischem Stolperstein wurde:

"Wenn man nach dem wissenschaftlichen Standort des Autors fragt, zeigen die Arbeiten eine pointierte Stellungnahme für die historisch-materialistische Perspektive. Hierbei ist allerdings festzustellen - und dies scheint mir wesentlich -, daß Holzer nicht zu jenen gehört, die den historisch-materialistischen Ansatz zu verabsolutieren versuchen. Sein spezifisches Anliegen zielt m. E. vielmehr darauf hin, den Nachweis zu erbringen, wo die spezifischen Erkenntnischancen dieses Ansatzes liegen, und welche Aspekte kaum erklärbar sind, wenn man ihn unberücksichtigt läßt."[49]

Über drei Jahrzehnte wurde er dennoch darauf reduziert pseudowissenschaftlicher und staatsgefährdender Marxist zu sein und bei jeder Gelegenheit entsprechend behandelt. Das verbindet seine Biographie nicht nur mit dem erfolglosen Kampf um eine kritische Medien- und Kommunikationswissenschaft, sondern macht ihn darüber hinaus zum erschreckenden Beispiel für alle jene kritischen Wissenschaftler_innen, an denen die harten Grenzen des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs aufscheinen. Das selbst die mit revolutionärem und reformerischen Eifer entstandene Bremer Universität sich innerhalb einer nur zehnjährigen Geschichte von ihm distanzierte, macht den "Fall Holzer" zu einer eigenen Strophe im Abgesang eines bedeutenden Versuchs, diese Grenzen zu durchbrechen.

E-Mail: jan@boenkost.de


Anmerkungen:

[1] von Hoffmann, Alexander (1988), Schlussbemerkungen eines Spätaufklärers : Rede zum Abschied vom Fach Publizistik an der Freien Universität Berlin, in: medium - Zeitschrift für Hörfunk, Fernsehen, Film, Presse, 18. Jg, No. 2 (April), S. 15.

[2] Thurn, John Philipp (2007), Angst vor kommunistischen Briefträgern : Zur Geschichte und Gegenwart der Berufsverbote, in: Forum Recht, 25. Jg., Heft 3, S. 89.

[3] Histor, Manfred (1989), Willy Brandts vergessene Opfer : Geschichte und Statistik der politisch motivierten Berufsverbote in Westdeutschland 1971 - 1988, Ahriman-Verlag, Freiburg.

[4] Thurn, S. 90.

[5] Gründungssenat der Universität Bremen (1971b), Protokoll der Sondersitzung vom 14. Oktober, S. 9.

[6] Zu Angaben über Horst Holzers Lebenslauf siehe: O. A. (1971a), Bibliographische Notiz, in: kürbiskern : Zeitschrift für Literatur und Kritik, o. Jg, No. 4 (Sonderdruck: Dokumentation eines Verfassungsbruchs: Bremer Senat gegen Prof. Holzer), S. 7. Langenbucher, Wolfgang R. (2000), In Gedenken an Horst Holzer, in: Publizistik - Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Jg. 45, No. 4 (Dezember), S. 500-501. Scheu, Andreas / Wiedemann, Thomas (2008), Kommunikationswissenschaft als Gesellschaftskritik - Die Ablehnung linker Theorien in der deutschen Kommunikationswissenschaft am Beispiel Horst Holzer, in: medien & zeit - Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart, Jg. 23, No. 4, S. 9-17.

[7] O. A. (1971a). Scheu / Wiedemann, S. 9, 11.

[8] Holzer, Horst (1967), Illustrierte und Gesellschaft : zum politischen Gehalt von "Quick", "Revue" und "Stern, Rombach, Freiburg.

[9] O. A. (1971a). Langenbucher, S. 500.

[10] Holzer, Horst. (1971), Gescheiterte Aufklärung? Politik, Ökonomie und Kommunikation in der Bundesrepublik Deutschland, Piper, München.

[11] Berufungskommission III (Kommunikation und Ästhetik) (1971), Vorschlag der Berufung Horst Holzers, 10. März, aus: Zentrales Archiv der Universität Bremen, 2/BK-Nr. 1757b.

[12] A.a.O., S. 2.

[13] Gründungssenat der Universität Bremen (1971a), Sitzungsprotokoll 51/1 (13. September), TOP 4: Rechtslage und Rechtsgutachten zum Fall Holzer, S. 7-14.

[14] O. A. (1981), Das Berufsverbot, in: Bremer Komitee gegen Berufsverbote (Hrsg.) (1981), Horst Holzer an die Bremer Uni! : Eine Dokumentation, erweiterte Broschüre der "Initiative zur Einstellung von Horst Holzer an der Bremer Universität", Universitätsarchiv Bremen, 7/D-Nr. 1203, S. 3-11.

[15] O. A. (1971b), Dokumentation eines Verfassungsbruchs: Bremer Senat gegen Professor Holzer, in: kürbiskern : Zeitschrift für Literatur und Kritik, o. Jg, No. 4 (Sonderdruck: Dokumentation eines Verfassungsbruchs: Bremer Senat gegen Prof. Holzer), S. 2-6.

[16] O. A. (1971b), S. 3. O. A. (1981), S. 4.

[17] VG Bremen (1972), Urteil vom 16. November, Az: II A 233/1971, in: Pressestelle der Universität Bremen (1973), "Uni Info" vom 9. Februar, Universitätsarchiv Bremen, 1/AS-Nr. 247a.

[18] O. A. (1971c), Holzer wegen Mitgliedschaft in der DKP abgelehnt, in: Bremer Nachrichten, 29. Juli.

[19] Gründungssenat der Universität Bremen (1971b), S. 11.

[20] Sontheimer, Kurt, hier zitiert aus: O. A. (1971b), S. 6.

[21] Brief von Walter Jens an Thomas von der Vring vom 6. April 1971, hier zitiert aus: Loewe, Werner (1972), Hochschulreform zwischen Demokratisierung und Berufsverbot / Zur Entwicklung der Universität Bremen, in: Berndt, Elin-Birgit u.a. (Hrsg.), Erziehung der Erzieher: das Bremer Reformmodell; ein Lehrstück zur Bildungspolitik, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, S. 23.

[22] Gründungssenat der Universität Bremen (1971a), S. 11

[23] Aktion gegen das Berufsverbot (1973), Zeitung der Aktion gegen das Berufsverbot an der Uni Bremen, erschienen anläßlich des 1. Jahrestages des Radikalenerlasses am 25. Januar, Universitätsarchiv Bremen, 7/P-Nr. 1969.

[24] VG Bremen (1972), S. 24f.

[25] A. a. O., S. 30.

[26] Scheu / Wiedemann, S. 14.

[27] A. a. O., S. 15.

[28] A. a. O., S. 16.

[29] A. a. O., S. 15.

[30] A. a. O., S. 16.

[31] Langenbucher, S. 500f.

[32] A. a. O., S. 501.

[33] O. A. (1981), S. 6.

[34] O. A. (1974), Personalien : Horst Holzer, in: Der Spiegel, 27. Jg, No. 27 (1. Juli), S. 106.

[35] Zu Verlauf, erwartetem Ausgang und zur Strategie Holzers Anwalts siehe: Brief von RA an Rektor vom 3.12.80.

[36] Brief des RA Schmitt-Lermann an den Rektor der Uni Bremen (3. Dezember 1980), S. 2, in: Akademischer Senat der Universität Bremen (1980a), Vorlage 121/8 für die Sitzung 11/8 (17. Dezember).

[37] Zum Beispiel anläßlich des 5. Jahrestages des Radikalenerlasses auf einer Veranstaltung des Bremer Komitees gegen Berufsverbote (AStA Universität Bremen (1976), Zwei erste Möglichkeiten gegen Berufsverbote aktiv zu werden, in: asta-aktuell, o. Jg, o. Nr. (26. Januar), S. 2).

[38] Albers, Detlef / Artus, Hans-Gerd / Bahr, Hans-Dieter / Bechert, Johannes / Beck, Johannes / Däubler, Wolfgang / Hickel, Rudolf / Jäger, Hans-Wolf / Krämer-Badoni, Thomas / Preuß, Ulrich K. / Reichelt, Helmut / Sandkühler, Hans Jörg / Stuby, Gerhard (1980), Offener Brief an alle Mitarbeiter der Universität, in: Bremer Komitee gegen Berufsverbote (Hrsg.) (1981), Horst Holzer an die Bremer Uni! : Eine Dokumentation, erweiterte Broschüre der "Initiative zur Einstellung von Horst Holzer an der Bremer Universität", Universitätsarchiv Bremen, 7/D-Nr. 1203, S. 12f.

[39] Brief des RA Schmitt-Lermann an den Rektor der Uni Bremen, S. 2.

[40] A. a. O.

[41] Albers et al., S. 12.

[42] A. a. O., S. 12f.

[43] Akademischer Senat der Universität Bremen (1980), Sitzungsprotokoll 11/8 (17. Dezember), TOP 9a: Abschluss von Berufungsverfahren - hier: Wissenschaftlicher Rat und Professor Dr. Horst Holzer, S. 27-31.

[44] Akademischer Senat der Universität Bremen (1980), S. 28. Albers et al., S. 13.

[45] GEW Bezirksvorstand Gesamthochschule (1981), Flugblatt für die Einstellung Horst Holzers vom 20. Februar, in: Bremer Komitee gegen Berufsverbote (Hrsg.) (1981), Horst Holzer an die Bremer Uni! : Eine Dokumentation, erweiterte Broschüre der "Initiative zur Einstellung von Horst Holzer an der Bremer Universität", Universitätsarchiv Bremen, 7/D-Nr. 1203, S. 16.

[46] Akademischer Senat der Universität Bremen (1981a), Sitzungsprotokoll 13/8 (4. Februar und 11. Februar), TOP 7a: Abschluss von Berufungsverfahren - hier: Wiss. Rat und Prof. Dr. Horst Holzer, S. 10-16.

[47] MSB Spartakus (1981), Neues Berufsverbot für Holzer? Studenten haben AS-Sitzung gesprengt!, Bericht in "Spartakus : Zeitung des MSB Spartakus Bremen" vom 12. Februar, Universitätsarchiv Bremen, 7/P-Nr. 1271, S. 1-3.

[48] Akademischer Senat der Universität Bremen (1981b), Begutachtung der seit dem Jahr 1971 vorgelegten Publikationen Prof. Dr. Holzer, Vorlage 239/8 für die Sitzung 17/8 (13. Mai).

[49] Bolte, Karl Martin, Gutachten über Prof. Dr. Holzer, S. 3, in: A.a.O.


Literatur:

Albers, Detlef / Artus, Hans-Gerd / Bahr, Hans-Dieter / Bechert, Johannes / Beck, Johannes / Däubler, Wolfgang / Hickel, Rudolf / Jäger, Hans-Wolf / Krämer-Badoni, Thomas / Preuß, Ulrich K. / Reichelt, Helmut / Sandkühler, Hans Jörg / Stuby, Gerhard (1980), Offener Brief an alle Mitarbeiter der Universität, in: Bremer Komitee gegen Berufsverbote (Hrsg.) (1981), Horst Holzer an die Bremer Uni! : Eine Dokumentation, erweiterte Broschüre der "Initiative zur Einstellung von Horst Holzer an der Bremer Universität", Universitätsarchiv Bremen, 7/D-Nr. 1203, S. 12f.

Akademischer Senat der Universität Bremen (1980), Sitzungsprotokoll 11/8 (17. Dezember), TOP 9a: Abschluss von Berufungsverfahren - hier: Wissenschaftlicher Rat und Professor Dr. Horst Holzer, S. 27-31.

Akademischer Senat der Universität Bremen (1981a), Sitzungsprotokoll 13/8 (4. Februar und 11. Februar), TOP 7a: Abschluss von Berufungsverfahren - hier: Wiss. Rat und Prof. Dr. Horst Holzer, S. 10-16.

Akademischer Senat der Universität Bremen (1981b), Begutachtung der seit dem Jahr 1971 vorgelegten Publikationen Prof. Dr. Holzer, Vorlage 239/8 für die Sitzung 17/8 (13. Mai).

Aktion gegen das Berufsverbot (1973), Zeitung der Aktion gegen das Berufsverbot an der Uni Bremen, erschienen anläßlich des 1. Jahrestages des Radikalenerlasses am 25. Januar, Universitätsarchiv Bremen, 7/P-Nr. 1969.

AStA Universität Bremen (1976), Zwei erste Möglichkeiten gegen Berufsverbote aktiv zu werden, in: asta-aktuell, 26. Januar, S. 2, aus: Zentrales Archiv der Universität Bremen, 7/F-Nr. 90.

Berufungskommission III (Kommunikation und Ästhetik) (1971), Vorschlag zur Berufung Horst Holzers vom 10. März, Universitätsarchiv Bremen, 2/BK-Nr. 1757b.

Brief des RA Schmitt-Lermann an den Rektor der Uni Bremen (3. Dezember 1980), S. 2, in: Akademischer Senat der Universität Bremen (1980a), Vorlage 121/8 für die Sitzung 11/8 (17. Dezember).

GEW Bezirksvorstand Gesamthochschule (1981), Flugblatt für die Einstellung Horst Holzers vom 20. Februar, in: Bremer Komitee gegen Berufsverbote (Hrsg.) (1981), Horst Holzer an die Bremer Uni! : Eine Dokumentation, erweiterte Broschüre der "Initiative zur Einstellung von Horst Holzer an der Bremer Universität", Universitätsarchiv Bremen, 7/D-Nr. 1203, S. 16.

Gründungssenat der Universität Bremen (1971a), Sitzungsprotokoll 51/1 (13. September), TOP 4: Rechtslage und Rechtsgutachten zum Fall Holzer, S. 7-14.

Gründungssenat der Universität Bremen (1971b), Protokoll der Sondersitzung vom 14. Oktober, S. 9.

Histor, Manfred (1989), Willy Brandts vergessene Opfer : Geschichte und Statistik der politisch motivierten Berufsverbote in Westdeutschland 1971 - 1988, Ahriman-Verlag, Freiburg.

Langenbucher, Wolfgang R. (2000), In Gedenken an Horst Holzer, in: Publizistik - Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Jg. 45, No. 4 (Dezember), S. 500-501.

Loewe, Werner (1972), Hochschulreform zwischen Demokratisierung und Berufsverbot / Zur Entwicklung der Universität Bremen, in: Berndt, Elin-Birgit u.a. (Hrsg.), Erziehung der Erzieher: das Bremer Reformmodell; ein Lehrstück zur Bildungspolitik, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, S. 13-25.

MSB Spartakus (1981), Neues Berufsverbot für Holzer? Studenten haben AS-Sitzung gesprengt!, Bericht in "Spartakus : Zeitung des MSB Spartakus Bremen" vom 12. Februar, Universitätsarchiv Bremen, 7/P-Nr. 1271, S. 1-3.

O. A. (1971a), Bibliographische Notiz, in: kürbiskern : Zeitschrift für Literatur und Kritik, o. Jg, No. 4 (Sonderdruck: Dokumentation eines Verfassungsbruchs: Bremer Senat gegen Prof. Holzer), S. 7.

O. A. (1971b), Dokumentation eines Verfassungsbruchs: Bremer Senat gegen Professor Holzer, in: kürbiskern : Zeitschrift für Literatur und Kritik, o. Jg, No. 4 (Sonderdruck: Dokumentation eines Verfassungsbruchs: Bremer Senat gegen Prof. Holzer), S. 2-6.

O. A. (1971c), Holzer wegen Mitgliedschaft in der DKP abgelehnt, in: Bremer Nachrichten, 29. Juli.

O. A. (1974), Personalien : Horst Holzer, in: Der Spiegel, 27. Jg, No. 27 (1. Juli), S. 106.

O. A. (1981), Das Berufsverbot, in: Bremer Komitee gegen Berufsverbote (Hrsg.) (1981), Horst Holzer an die Bremer Uni! : Eine Dokumentation, erweiterte Broschüre der "Initiative zur Einstellung von Horst Holzer an der Bremer Universität", Universitätsarchiv Bremen, 7/D-Nr. 1203, S. 3-11.

Scheu, Andreas / Wiedemann, Thomas (2008), Kommunikationswissenschaft als Gesellschaftskritik - Die Ablehnung linker Theorien in der deutschen Kommunikationswissenschaft am Beispiel Horst Holzer, in: medien & zeit - Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart, Jg. 23, No. 4, S. 9-17.

Thurn, John Philipp (2007), Angst vor kommunistischen Briefträgern : Zur Geschichte und Gegenwart der Berufsverbote, in: Forum Recht, 25. Jg., Heft 3, S. 89-93.

VG Bremen (1972), Urteil vom 16. November, Az: II A 233/1971, in: Pressestelle der Universität Bremen (1973), "Uni Info" vom 9. Februar, Universitätsarchiv Bremen, 1/AS-Nr. 247a.

von Hoffmann, Alexander (1988), Schlußbemerkungen eines Spätaufklärers : Rede zum Abschied vom Fach Publizistik an der Freien Universität Berlin, in: medium - Zeitschrift für Hörfunk, Fernsehen, Film, Presse, 18. Jg, No. 2 (April), S. 9-17.

Raute

Mario Becksteiner:

Militant Research and Research Militancy

Einleitung

Beide Begriffe sind für viele Studierende und auch für manch langjährig gediente/n AkademikerIn, insbesondere im deutschsprachigen Raum, befremdlich, fordern sie doch ein grundsätzliches Verständnis von Wissenschaft heraus. Wir werden in unserem Artikel versuchen eine Annäherung an das Konzept der militanten Untersuchung darzulegen. Beginnend mit einer begrifflich/theoretischen und historischen Verortung, gehen wir über zu einigen grundlegenden Überlegungen theoretischer Natur. Dabei greifen wir auf Oskar Negt und Alexander Kluge zurück, die unseres Erachtens eine etwas verschüttete und zu wenig beachtete Inspirationsquelle militanter Untersuchung sein können. Ihr Ansatz gibt sowohl wichtige Hinweise zur Frage widerständiger Subjektivität im Kontext intersubjektiver Widerspruchskonstellationen, als auch zur Frage gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge so wie deren Konstitution.

Die persönliche Motivation zur Beschäftigung mit militanter Untersuchung entstand bei uns aus der Universitätsbewegung 2009/10 in Wien, sowie der schon längeren Unzufriedenheit, zumindest eines der Autoren, mit der Mainstream-Forschung im Bereich der Industrie- und Arbeitssoziologie sowie der Gewerkschaftsforschung. Die Unibewegung war für uns und für viele andere eine positive Irritation. Die Autonomie der Proteste, die Experimentierfreudigkeit mit neuen Formen der Organisierung und der eingesetzten Kampfformen, war quantitativ und qualitativ unseres Erachtens neu für Österreich. Auch die radikalen Debatten in Teilen der Bewegung und die aus gewohnten Formen der politischen Repräsentation ausbrechenden Momente offensichtlich überschüssiger Subjektivität wirkten inspirierend, aber warfen auch viele Fragen auf. Der Text ist vorläufiges Ergebnis von Diskussionen der beiden Autoren untereinander aber zusehends auch in einem breiteren Kontext. Die treibende politische Frage ist für uns, wie konstituiert sich Widerständigkeit auf subjektiver Ebene, welche Zusammensetzungsprozesse führen zu einer Entfaltung und welche Schlüsse sind daraus politisch zu ziehen (Diese Frage bleibt im Artikel offen und wäre Gegenstand einer eigenen Auseinandersetzung).

Militanz ist offensichtlich nur schwer vereinbar mit dem Postulat einer Mainstreamwissenschaft, die sich an Sachlichkeit, Objektivität und Distanzierung orientiert. Insbesondere der humboldtsche Bildungsbegriff und das darauf aufsetzende Wissenschaftsverständnis ist geprägt von einer Trennung des noblen Räsonierens über Gesellschaft und der mit Anrüchigkeit in Verbindung gebrachten Tat, der theoretisch unterfütterten politischen Aktion im Sinne gesellschaftlicher Veränderung. Historisch ist dies Verbunden mit dem Scheitern bürgerlicher Revolutionen im deutschsprachigen Raum. "Die der Bildungstheorie immanente Kritikfähigkeit wurde in die Köpfe der Menschen verbannt, ab nun erschöpft sich Bildung in der Reflexion - die Aktion erhielt den Nimbus des primitiven und Anrüchigen. Ganz in diesem Sinne hat Hegel den Unterschied zwischen dem revolutionären Frankreich und Deutschland einmal folgendermaßen charakterisiert: »Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe, dabei lässt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner«." (Ribolits in: Plattform Massenuni (Hg.), 49) Anders ausgedrückt vollzog sich im deutschsprachigen Raum eine fetischisierte Trennung im wissenschaftlichen Bereich, nämlich der zwischen Kopfarbeit im Sinne von Forschung und Theoriebildung und der politischen Handarbeit im Sinne einer praktischen Involviertheit der Wissenschaft in gesellschaftliche Kämpfe. Diese Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit im wissenschaftlichen Betrieb führte - und hier ist Österreich noch einmal stärker betroffen als zum Beispiel Deutschland - auch zu einer massiven Unterrepräsentation von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im wissenschaftlichen Betrieb. Betrachtet man zum Beispiel die Forschung zu industriellen Beziehungen in Österreich, so sind zwei Momente sehr augenscheinlich. Erstens gab und gibt es eine starke Konzentration auf die Frage der makropolitisch-korporatistischen Einhegung des industriellen Konflikts im Sinne einer funktionalistischen, auf die Verbände und politischen Organisationen orientierten Forschung und Politikberatung, eingebettet in wohlfahrtsstaatliche Diskurse. Zweitens zielen Forschungen in der so genannten Arbeits- oder Industriesoziologie zumeist auf die strukturellen Veränderungen in der Arbeitswelt. Wenn Belegschaften oder BetriebsrätInnen auftauchen, dann zumeist als Opfer der Veränderungen oder als Unterstützungsbedürftige, um mit den Veränderungen zu Rande zu kommen. Hier verbindet sich die Neutralität und Objektivität einer bürgerlichen Wissenschaft mit den spezifischen paternalistischen Herrschaftsdiskursen des österreichischen korporatistischen Systems. Unter diesen Rahmenbedingungen verschwand in Österreich allerdings auch der Begriff der "Militanz", der in der Arbeitssoziologie andere Länder existiert, zwar nicht als Mainstream-Begriff, aber durchaus als heuristische Provokation, die eine Existenzberechtigung verteidigen konnte. Spricht man in Österreich über "Militanz", so werden in erster Linie zwei Assoziationsketten damit verknüpft. Zum ersten, die dem Wortstamm entsprechende Kette, nämlich "militare", "als Soldat dienen", wobei Militanz auch sehr schnell als Keimform "nicht-demokratischer" politischer Eskalationsstrategien angesehen wird, welche nicht selten als Springquelle autoritärer Tendenzen identifiziert werden. Der zweite Strang verknüpft sich, insbesondere in der politischen Debatte mit der verkürzten Assoziation eines bestimmten "Milieus" politischer Aktivität, die auf Gewaltanwendung verkürzt wird, DIE Autonomen oder DIE AnarchistInnen. Insbesondere dieser Strang wird entweder als denunziatorischer Begriff in der Öffentlichkeit verwendet (siehe die Debatte um "militante Tierschützer" oder "militante Feministinnen") oder als Signifikation der nicht mehrheitsfähigen Ablehnung des politischen Systems.

In anderen gesellschaftlichen Konstellationen besitzt der Begriff der Militanz eine andere Konnotation. Militanz wird hier weniger im Sinne der vertikalen militärischen Struktur gesehen, sondern als die Aktivität antagonistischer Subjekte an der gesellschaftlichen Basis. So weisen Länder mit weniger engen integrativen Tendenzen im Bereich der industriellen Beziehungen auch in der Arbeitsforschung einen heuristischen Begriff der Militanz auf, der die Basisaktivität als wichtigen Moment gesellschaftlicher Kämpfe wahrnimmt. Das bedeutet nicht, dass nicht von vielen diese Militanz als Störfaktor institutionalisierter Konfliktlösungsmechanismen gesehen und damit zum Objekt von Regierungstechniken erklärt wird. Es bedeutet schlichtweg, dass auch aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung von Militanz an der Basis - zum Beispiel im gewerkschaftlichen Kontext - diese nicht vollkommen negiert werden kann. "Militant Research", speist sich eben aus dieser Sichtweise von Militanz. Wir setzen ganz bewusst bei diesen Begriffen an, weil für österreichische Verhältnisse die Betonung der Militanz im zweiteren Sinne eine begriffspolitische und heuristische Provokation darstellt. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zusehende Unfähigkeit etablierter politischer Kräfte ebenso wie auch die autoritären Tendenzen der neoliberalen Staatlichkeit, provozieren geradezu den Blick auf emanzipatorische und antagonistische Momente an der Basis unserer Gesellschaften, um politische Resonanzräume dafür zu öffnen. Die auf unterschiedlichen Ebenen krisenhafte Entwicklung des "real existierenden Kapitalismus" eröffnet zurzeit auch realiter eine Perspektive der Hinwendung zu antagonistischer Subjektivität im Wissenschaftsbetrieb. Doch verweilen die Benennungen derartiger Forschung noch im Kanon der vermeintlichen wissenschaftlichen Objektivität. Das Vorwort "kritisch" hat Konjunktur, Konzepte der Aktionsforschung oder des "strategic research" im Bereich von Gewerkschaftsforschung/Organizing und Arbeitssoziologie gedeihen. Doch eine klare und auch öffentlich gemachte politische Positionierung dieser Forschung lässt sich damit nicht deutlich machen. "Militant research", lässt allerdings wenig Zweifel darüber aufkommen, was der Standpunkt der eigenen Wissensproduktion ist. Die vermeintliche Objektivität DES Wissenschaftsbetriebs ist mit dem Bezug zur antagonistischen Militanz und der Selbsttätigkeit über ein gutes Stück schon zurückgewiesen.

Hier geht es uns um ein Wissen, das die Subjekte ins Zentrum stellt, das ihre Selbstverortung in widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren eigenen Standpunkt sowie Möglichkeiten der Intervention in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zum Ausgangs- und Zielpunkt der Wissensproduktion macht. Es geht also um ein Wissen, das die eigenen widersprüchlichen Existenzbedingungen in kapitalistischen, patriachalen, bürokratischen oder staatlichen Herrschaftsverhältnissen erforscht. Und das benennt auch den Kern dessen, was wir in Anlehnung an collectivo situaciones als "research militancy" bezeichnen. "We think of our practice as a double movement: to create ways of being militants that escape the political certainities established a priori and embrace politics as research (in this case it would be 'research militancy'), and, at the same time, to invent forms of thinking and producing concepts that reject academic procedures, breaking away from the image of an object to be known and putting at the centre subjective experience (in this case, it would be 'militant research')." (Collectivo Situaciones in: Shukaitis/Graeber/Biddle 2007, 74)

"Militant research" verweist auf eine lange Praxis einer Theoriebildung von Unten, die ihren Resonanzraum zumeist nicht im bürgerlichen Wissenschaftskanon gesucht und gefunden hat, sondern in historischen und aktuellen Auseinandersetzungen in und über unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche. Dabei allerdings ist der Begriff der Theoriebildung selbst zu problematisieren. Theorie, als die systematische Ausarbeitung synthetisierender Begriffssysteme, liegt in der Tradition des "militant research" nicht immer vor. Vielmehr handelt es sich häufig um ein (Erfahrungs-)Wissen, das aus der Notwendigkeit widerständiger Praxis gegenüber den unterschiedlichsten Formen von Unterdrückung entsteht und dafür offen bleibt. Es ist ein Wissen, das oft in verborgenen Praxen beheimatet ist und historisch immer wieder seinen Ausdruck in Revolten, Revolutionen und Aufständen fand und findet. Es ist ein Wissen, das oft fragmentarisch bleibt, da es nicht zum Zwecke der theoretischen Ausformulierung entstand, sondern aus der Notwendigkeit, die eigenen Möglichkeiten des sich zur Wehr Setzens zu erkennen und kommunizierbar zu machen, aber nicht nur in der Negativität der Ablehnung verweilt, sondern Spuren neuer Formen von Vergesellschaftung beinhalten kann. Und es ist ein Wissen, das nur schwer oder kaum den Eingang gefunden hat in den Kanon der bürgerlichen Theoriebildung: nicht nur, weil es sich oft der akademischen Kultur und einer theoretischen Diskurssprache entzieht, sondern auch, weil es sich nicht einfach aus seinem spezifischen (widerständigen) Kontext herauslösen und in die Ordnung theoretischer Normierung einpassen lässt. Es entsteht dort, wo die Ordnung der bürgerlichen Welt und deren theoretisch-/begriffliche Erfassung an die Schranken ihrer eigenen konstruierten Objektivität stößt.

Einen der wichtigsten Resonanzräume fand diese Form der Theoriebildung in den ArbeiterInnenbewegungen und immer wieder gab und gibt es Versuche, derartiges Wissen als strategiebildenden und organisatorischen Kern in der ArbeiterInnenbewegung zu positionieren. Rosa Luxemburg, die mehr als viele ihrer ZeitgenossInnen auf die Selbstaktivität und die Spontaneität der Massen setzte, schätzte die Artikulation dieses Gegenwissens als wichtigen Motor revolutionärer Energie. Sie betonte, es "ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer laut zu sagen, was ist." Viele in der ArbeiterInnenbewegung blieben diesem Grundsatz der Artikulation des Gegenwissens treu. Zum Beispiel ging die Philosophin Simone Weil selbst geraume Zeit in die französischen Fabriken und beschreibt in ihren Fabrikstagebüchern die erniedrigenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen ihrer Zeit. Ebenfalls in Frankreich führten mehrere Gruppen sozialistisch orientierter WissenschafterInnen systematische Untersuchungen zur Frage der Situation und Widerständigkeit von ArbeiterInnen durch, zum Beispiel die Gruppe "Socialisme ou Barbarie". In der gleichnamigen Zeitschrift wurden regelmäßig so genannte "tèmoinage" veröffentlicht, Selbstzeugnisse von ArbeiterInnen über ihre Lebenssituation und ihren alltäglichen Kampf gegen die betriebliche Tyrannei, die den Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen bildeten. (vgl. dazu: Gabler 2009)

Dieses anklagende "zur Sprache bringen" wirkte stimulierend für viele linke WissenschafterInnen. Nicht nur wurde damit die Anonymität, Uniformität und vermeintliche Rationalität der Fabrik aufgebrochen und die Widersprüche ans Licht gezerrt, sondern es erschloss sich zudem für viele WissenschafterInnen eine vollkommen andere gesellschaftliche Realität. Die von den ArbeiterInnen zur Sprache gebrachten Selbsteinschätzungen und Sichtweisen der Welt konstituierten eine Realität, die über weite Strecken im Widerspruch stand zur herrschaftlich geformten Öffentlichkeit im Betrieb, im Staat, in den Medien, in den Parteien, aber auch zur Öffentlichkeit, die durch die bürgerliche Wissenschaften konstruiert wurde.

In einigen marxistischen Gruppen und Kreisen verdichtete sich nach dem 2. Weltkrieg und angesichts der immer offensichtlicher werdenden Versteinerung der stalinistischen Parteien die Erkenntnis, dass radikale gesellschaftliche Veränderung nur bewerkstelligt werden kann, wenn die Analyse und Strategiebildung dort ansetzt, wo kapitalistische, patriachale, bürokratische, staatliche und andere Herrschaftsprozesse auf die Widerspenstigkeit und den Widerstand der Subjekte in ihren Lebens- und Arbeitszusammenhängen treffen. Nicht mehr die Partei, der Staat oder die Bewegungen des Kapitals standen für diese Gruppen im Zentrum der Analyse und Strategiebildung, sondern die selbsttätigen und widersprüchlichen Subjekte, die sich gleichzeitig mit der Herrschaft engagierten und trotzdem immer wieder in Opposition zu ihr traten. Das Ernstnehmen der Subjekte in ihrer historisch und räumlich jeweils spezifisch und oft auch widersprüchlich hergestellten Autonomie gegenüber unterschiedlichster Herrschaftsformen (also zum Beispiel auch gegenüber der Partei, den Gewerkschaften, als auch natürlich gegenüber dem Kapital und vermeintlich breit akzeptierten gesellschaftlichen Normen), bildete die Grundlage dieser theoretischen Arbeit.

Diese Form der Theoriebildung verweigerte sich nicht nur einem Sozialismusverständnis, das sich in staatsinterventionistischen, reformistischen oder stalinistischen Parteiprojekten erschöpfte, sondern es wendete sich auch gegen eine strukturalistische Marxinterpretation, die über weite Strecken die Subjektivität und Widerständigkeit von Menschen an die Führung durch Parteien koppelte und damit die historische Kraft der autonomen Kämpfe unterbetonte. Dementsprechend erfassen collectivo situaciones mit Tronti einen sehr eingänglichen Wechsel im Erkenntnishorizont des "miltant research": "Capital was always the prime actor in the historical drama; workers organizations were left to scramble to adjust to its latest deprivations. Against this Mario Tronti... proposed what he termed a »Copernican Shift«. Let us, he said, re-imagine history from the assumption that resistance is primary and it's capital that must always readjust." (Shukaitis/ Graeber 2007: S. 27)


Conricerca

Der italienische Operaismus, die theoretisch und politisch einflussreichste aber nicht einzige Strömung des autonomen Marxismus, stellte sich zu Beginn der 60er Jahre am konkretesten die Frage der Verbindung von Theorie und politischer Praxis. Romano Alquati, resümiert im Vorwort zur Wiederherausgabe seiner Texte 1974 (Alquati in: TheKla Nr.: 6), die Versuche bezüglich einer politisch motivierten Wissenschaft. Als positiv bewertet er das Entstehen einer Idee der "conricerca", das Konzept der "Mit-Untersuchung". Den Kern dieses Konzeptes bildete der Versuch, das Subjekt-Objekt Verhältnis zwischen ForscherIn und Untersuchungsobjekt aufzulösen. Forschung und Erfahrung sowie subversive Aktion sollten sich befruchten und neue Formen des Wissens und neue Subjektpositionen sowohl von WissenschafterInnen als auch von ArbeiterInnen entstehen lassen. Rückblickend stellt Alquati allerdings fest, dass diese Intention im besten Fall nur bruchstückhaft verwirklicht wurde. Strategisch zielte das Konzept der "conricerca" darauf ab, die Autonomie der Kämpfe zu befeuern und Verbindungen zwischen Wissenschaft und ArbeiterInnen auf Basis eines ArbeiterInnenstandpunktes aufzubauen, doch blieb es laut Alquati bei Experimenten und Annäherungsmodellen.

Was allerdings ohne Zweifel als wichtige erkenntnistheoretische Errungenschaft und als immanent politischer Moment dieser Forschung bleibt, ist die Entmystifizierung des Begriffs der Spontaneität, wie er auch von dissidenten MarxistInnen früher oft hochgehalten wurde. Spontaneität der Kämpfe oder "der Klasse", zurückgeführt auf die grundsätzliche und oft mythologisch überhöhte Ablehnung kapitalistischer Gesellschaft durch ArbeiterInnen wurde analytisch dekonstruiert und mit dem Begriff der Klassen(neu)zusammensetzung versucht erfassbar zu machen. Die Neuzusammensetzung speist sich aus zwei Momenten, der technischen und der politischen Neuzusammensetzung. Die technische Neuzusammensetzung kann subsumiert werden als die psycho-physische Zurichtung von Arbeitssubjekten unter dem aktuellen Stand der Entwicklung der Produktivkräfte, inklusive der erweiterten Reproduktionsfähigkeit des Kapitals, gesichert durch die staatlichen und auch zivilgesellschaftlichen Institutionen. Die politische Neuzusammensetzung speist sich aus den Formen des Widerstandes, den gebrochenen aber oft trotzdem devianten, dissidenten und subversiven Momenten von Subjektivität, gegenüber der auf Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte befindlichen kapitalistischen Gesellschaftsformation. Insbesondere die weite Fassung des Begriffs der technischen Neuzusammensetzung im Zuge postfordistischer Entwicklungen, der verstärkten Subsumtion von Gesellschaftlichkeit unter das Kapitalverhältnis (fabrica diffusa), schärfte den Blick für Widerstände abseits der industriell imaginierten ArbeiterInnenklasse. Feministische, ökologische, stadtteilbezogene oder migrantische Kämpfe wurden zu wichtigen Terrains der Formierung widerständiger Subjektivität. Die vermeintliche Spontaneität erschien nun analytisch und auch politisch antizipativ erfassbar als oft untergründiger Prozess der Neuzusammensetzung.

Im folgenden wollen wir einen vielleicht etwas verschütteten Zugang des Denkens einer autonomen Subjekttheorie darlegen, nämlich den von Oskar Negt und Alexander Kluge, die gemeinhin nicht als "Militante" bezeichnet werden, aber unseres Erachtens eine militante Subjekttheorie entwickelt haben. Die Wahl ist aber auch aus vier weiteren Gründen auf Negt und Kluge (im weiteren nur noch N/K) gefallen. Erstens weisen sie einen mythologischen Zugang zu Widerständigkeit von Lohnabhängigen zurück und begründen das aus einer Subjekttheorie heraus, die, geprägt durch die Frankfurter Schule, vorsichtig ist gegenüber voluntaristischen und opportunistischen Abgleitflächen in Richtung "Arbeitertümelei". Zweitens bieten sie mit ihrem Ansatz Andockpunkte an poststrukturalistische Subjekttheorien, die wir allerdings nicht weiter ausführen können. Drittens ist es eine pragmatische aber auch zugleich problematische Entscheidung, denn zumindest einer der AutorInnen forscht im Bereich der Arbeits- und Gewerkschaftsforschung und steht damit in einem Naheverhältnis zur Frage von Arbeitskämpfen und deren Konstitution im Bereich widersprüchlicher Subjektivität. Und viertens erscheint der starke Subjektbezug von Negt und Kluge sehr fruchtbar einsetzbar für postfordistische Arbeitswelten, weil er immer wieder Widersprüche innerhalb der Subjekte betont, was auf die heutigen postfordistischen Arbeitsrealitäten sehr stark zutrifft.


Macht und Widerstand

Trontis Aufruf dazu, sich die Geschichte neu anzueignen, verweist auf ein Denken von Macht, das wir als ein "radikal relationales" auffassen. Zum Verständnis eines relationalen Machtbegriffs schreibt Alex Demirovic: "Denn Macht stellt eine Relation zwischen den herrschenden Klassen bzw. Fraktionen und den Herrschaftsunterworfenen dar und ist kein Ding, dass man besitzen kann." (Demirovic in: Bescherer/Schierhorn (Hrsg.) 2009, 70) Macht in Form eines Verhältnisses zu denken bedeutet, dass Macht und die Ausübung von Macht in Form von Herrschaft immer auch ihren Gegenpol benötigt um sich zu konstituieren. Damit bekommt eine Formulierung von Karl Marx im Manifest der kommunistischen Partei, nämlich dass die Geschichte "die Geschichte von Klassenkämpfen" ist, eine Wendung. Klassenkampf passiert in Permanenz und ist nicht nur getrieben von der Expansions- und Bewegungslogik des Kapitals, sondern die Macht des Kapitals und seine unterschiedlichen Herrschaftspraxen müssen beständig ankämpfen und sich anpassen an die Versuche der vermeintlich Machtlosen, sich einem gegebenen Machtverhältnis zu entziehen oder innerhalb desselben eine Neuverteilung der Kräfte in Gang zu setzen. Woher schließlich kommt das permanente Bedrohungspotential der Macht von Oben durch subversive, deviante, dissidente oder widerständige Subjektivität? Gibt es doch den Anschein, als würden sich die Menschen die meiste Zeit in ihr Schicksal fügen und würden ihre Existenz als Lohnabhängige akzeptieren. Woher kommen Motive dieser Revolten, des Aufbegehrens, die für eine gewisse Zeit die bürgerliche Ordnung in Frage stellen können und an deren Horizont die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft erkennbar wird? Im Zentrum der militanten Forschung steht also die Frage von Subjektivität zwischen Widerstand und Anpassung. Diese Frage wurde und wird von militanten WissenschafterInnen aufgegriffen. Viele begannen zuerst im Lichte von Arbeitskämpfen und erst später im Kontext anderer gesellschaftlicher Kämpfe, diese Fragen mit einer Re-Lektüre von Marx zu bearbeiten. Ziel war es, die dogmatische und starre Leseart des marxschen Werkes aufzubrechen. Kern der Kritik war, die Klassen und ihre Kämpfe, sowie ihre spezifische Zusammensetzung wieder als Akteure zu positionieren, also das Primat der Kämpfe gegenüber der Bewegung des Kapitals wieder herzustellen.

Ihre Kritik an dogmatischen und strukturalistischen Marxinterpretationen zielte darauf ab, dass diese zu stark auf die kapitalinherenten Bewegungen blickten und zu wenig auf den andauernden und konfliktorischen Prozess der Verwandlung von menschlicher (lebendiger) Arbeit in tote Arbeit. Die Analyse der Kapitalwerdung und -bewegung beleuchte zu wenig ihren Gegenpol, nämlich das menschliche Arbeitsvermögen als Faktor, der nicht vollkommen in der Kapitallogik aufgeht, N/K formulieren demnach sogar etwas über das Ziel hinausschießend: "Offensichtlich besitzen wir eine ausgeführte Theorie der politischen Ökonomie des Kapitals: Das Kapital von Marx. Der Gegenpol dazu ist eine politische Ökonomie der Arbeitskraft. Hierzu existiert kein theoretisches Fundament. Marx hat diese politische Ökonomie der Arbeitskraft, die als Gegenseite des Kapitals in seinen Gedankensystem immanent vorausgesetzt ist, nicht niedergelegt." (Kluge/Negt 1981: S. 88) Nicht einfach nur in der Kapitalbewegung liegen die Widersprüche verborgen, die zu Motiven in Richtung Revolte und Ablehnung weisen, sondern in der Kollision und der Artikulation der Kapitallogik mit einem noch näher zu spezifizierenden "Eigensinn" des Menschen. Im Zusammentreffen und der je historisch als auch räumlich spezifischen Artikulation der beiden Momente sehen N/K die Konstitutionsmomente widerständiger Subjektivität.


Politische Ökonomie der Arbeitskraft

Wie auch Marx gehen sie davon aus, dass Menschen grundsätzlich die Befähigung haben, durch Verausgabung ihres Arbeitsvermögens ihre Umwelt zu verändern. Diese grundsätzliche Befähigung, das Arbeitsvermögen, kann unterschiedlich gesellschaftlich organisiert sein. N/K verorten im Arbeitsvermögen sowohl kooperativ-assoziative Momente als auch das Potential in Richtung konkurrenz- und wettbewerbsbasierter Momente. Beide Momente bilden keine in die eine oder die andere Richtung grundlegende anthropologische Konstante, sie sind vielmehr als Potentiale menschlichen Arbeitsvermögens angelegt. Dies ist vielleicht erklärungsbedürftig. N/K sehen das menschliche Arbeitsvermögen und der darin angelegten Assoziations- und Kooperationsfähigkeit nicht als vom Rest der Gesellschaft entkoppelte Kategorie. Ihr analytischer Schwerpunkt liegt auf der gesellschaftlichen Einbettung dieses Arbeitsvermögens. Das menschliche Arbeitsvermögen, die lebendige Arbeit in Form der Aneignung und Umwandlung natürlicher oder vorgefundener Begebenheiten, bildet einen Moment der Selbstregulation, der eigene Logiken besitzt. Für sich alleine betrachtet, würde das Arbeitsvermögen vieler Individuen einen Zusammenhang herstellen, der sich versucht auch als solcher anzuwenden. Diese Selbstregulation der Arbeitsvermögen existiert allerdings realita nur in Form des Zusammenhangs mit anderen Ebenen der Selbstregulation und im Kontext der Entfremdung der Menschen. So kann verstanden werden, dass es keinen Sinn ergibt, sich analytisch auf die kooperativ-assoziativen Potentiale alleine zu berufen, sie existieren nicht isoliert, sondern nur in einem breiteren gesellschaftlichen und historisch konkreten Zusammenhang, der sich ebenfalls versucht als solcher anzuwenden. Eine Mythologisierung stellt analytisch eine Sackgasse dar. "Im engeren Sinne bezeichnet Selbstregulierung die spezifischen Prozesse des Subjektiven Anteils: das, was in der Bewegung das Lebendige ausmacht. Praktisch: der Eigensinn der lebendigen Art. Man muss dafür nicht von einer Lebenskraft, einem spezifischen subjektiven Elan oder von primären Trieben, die man nicht weiter zurückführen könnte, ausgehen. Es genügt die Beobachtung, dass etwas, das einen Zusammenhang bildet, sich auch als ein solcher Zusammenhang anzuwenden versucht". (N/K: S55/56)

Für analytische Zwecke kann der Begriff des Zusammenhangs zweigeteilt werden. Einmal als der Zusammenhang des Lebendigen, als Moment der Selbstregulation in diesem Zusammenhang. Die zweite Ebene stellt den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang her. Dieser ist in sich strukturiert durch die Durchdringung unterschiedlicher Momente der Selbstregulation sowie durch die Bedingungen der Entfremdung im System der "toten Arbeit" (wir kommen später auf diese Bezeichnung zu sprechen). Wie wir also sehen, ist die bloße Gegenüberstellung der beiden Potentiale nicht zulässig, vielmehr müssen sie immer in den jeweils historisch und räumlich konkreten Aktivierungs- und Repressionsmomenten und in ihrer gegenseitigen Durchdringung analysiert werden. Mit Bezug auf die Herausbildung eines kapitalistischen Arbeitsdispositivs müssen Selbstregulationsmomente spezifisch mit dem System der "toten Arbeit" artikuliert und damit herrschaftlich angepasst werden. In dieser Artikulationsbewegung entstehen laut Negt/Kluge spezifische Arbeitsdispositive, also gesellschaftlich dominante Vorstellungen und konkrete gesellschaftliche Materialisierung von dem, was Arbeit ist, jeweils historisch spezifisch auf der Höhe dessen, was wir als historisch spezifischen Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Produktivkräfte bezeichnen würden. Dieser Prozess der Herstellung gesellschaftlich dominanter Arbeitsdispositive ist nun kein rein repressiver, also kein Prozess der ungebrochen von oben nach unten wirkt, sondern einer, der in und an den Subjekten eine Reihe von psychischen und physischen Arbeitsleistungen in Form einer Herstellung innersubjektiver Anpassung verlangt. Doch wo die Notwendigkeit innerer Anpassungsprozesse existiert, dort besteht auch das Potential zum Widerspruch, zur Verweigerung der eigenen Anpassung und nicht zuletzt die des Scheiterns. Es sind gerade diese inneren Anpassungsleistungen an herrschaftlich gewollte Arbeitsdispositive, die in Individuen Widersprüche zwischen kooperativen und konkurrenzbasierten Potentialen konstituieren, die in Permanenz von diesen bearbeitet werden müssen und einen "Eigensinn" konstituieren, der sich aus oft negierten Zusammenhängen der Selbstregulation speist. Diese Spannungen können sich in historisch, räumlich, sprich gesellschaftlich konkreten Situationen ihren Weg bahnen, in Revolten und Aufständen, aber auch in regressiven Momenten, wie massenhaft verbreiteter Depression oder auch in faschistoiden Tendenzen. Dieser Produktionsprozess der Herstellung eines kapitalistischen Arbeitsdispositives innerhalb der Subjekte und die daraus entstehenden Spannungen sind für uns der zentralste Moment für militante Forschung. Er verweist auf den "Eigensinn" der Subjekte, der immer wieder aus den überschüssigen Momenten von Subjektivität hervorgehen kann, die über die bürgerliche Ordnung hinausweisen. Die Frage, die sich nun aufdrängt, ist die nach den Strategien und Mechanismen, die bemüht sind, diesen Eigensinn einzufangen und durch seine Reintegration dem kapitalistischen Arbeitsdispositiv seine Dominanz zu sichern. Dazu müssen wir den niemals abgeschlossenen Prozess der Herstellung eines kapitalistischen Arbeitsdispositives und das Konzept des Systems der "toten Arbeit" im Sinne von N/K näher beleuchten.


Ursprüngliche Akkumulation in Permanenz

Für viele an Marx orientierte TheoretikerInnen stellt der Prozess der ursprünglichen Akkumulation den Anfangspunkt kapitalistischer Vergesellschaftung dar. Durch die Zerschlagung agrarisch und feudal dominierter gesellschaftlicher Strukturen werden die Menschen in einem Trennungsprozess von ihren eigenen Produktionsmitteln losgelöst. Menschen wurden damals (werden es freilich auch noch heute) oft durch gewaltsame Prozesse in eine Existenzform gedrängt, in der ihre einzige Chance zu überleben darin besteht, das letzte, was sie noch besitzen, nämlich ihre Arbeitskraft, in Form von Lohnarbeit zu verkaufen. Marx sieht darin die Herstellung der Bedingung der Möglichkeit kapitalistischer Akkumulation, die Durchsetzung von Lohnarbeit als basaler Voraussetzung kapitalistischer Entwicklung auf breiter gesellschaftlicher Ebene und die Verankerung von Lohnarbeit als paradigmatischen Reproduktionsmoment einer großen gesellschaftlichen Gruppe.

Aus Sicht von N/K gibt es allerdings einen untergründigen und permanenten Prozess ähnlich der ursprünglichen Akkumulation, eben den der Herstellung des kapitalistischen Arbeitsdispositives, der Aneignung und Inkorporierung des menschlichen Arbeitsvermögens und seiner Selbstregulation und den assoziativ - kooperativen Potentialen. Es ist dies ein niemals abgeschlossener gesamtgesellschaftlicher Produktionsprozess von kapitalistischen Arbeitssubjekten, der in Permanenz mit und an Antagonismen arbeitet. Es ist bis zu einem gewissen Grad auch ein permanenter Prozess der ursprünglichen Akkumulation, also ein Trennungsprozess, der versucht, kooperativ-assoziative Momente abzutrennen und im kapitalistischen Arbeitsdispositiv neu zu bearbeiten und unter der Dominanz dissoziativer und konkurrenzbasierter Momente zu reorganisieren. Das heißt, das kapitalistische Arbeitsdispositiv, das sich genau auf diesen grundlegenden Koordinaten von Konkurrenz, Dissoziation und Vereinzelung aufbaut, muss in Permanenz reproduziert und je nach Stand der historisch spezifisch vorherrschenden Produktions- und Akkumulationsparadigmen auch neu hergestellt, erneuert und durchgesetzt werden.

Halten wir nun kurz einige Dinge fest: wie wir gehört haben, entsteht für Negt und Kluge widerständige Subjektivität also aus der Kollision zweier Potentiale, die beide nicht ausgelöscht werden können. Das Kapital ist in Permanenz dazu angehalten, das kapitalistische Arbeitsdispositiv zu erneuern oder zu stabilisieren. Aus diesem äußeren Zwang entstehen innerhalb der Subjekte permanent(e) Konflikte, da es ja ihnen als ArbeiterInnen überlassen bleibt, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Potentialen herzustellen, die im menschlichen Arbeitsvermögen enthalten sind. So sehr die Bemühungen von Seiten des Kapitals auch intensiviert werden, die seiner Logik zuträglichen Momente zu aktivieren, der "Eigensinn" der Subjekte ist nicht vollkommen zu zerschlagen. Ja es kann sich, wie die historische Entwicklung zeigt, sogar ins Gegenteil verkehren. Je intensiver die subjektinternen Anpassungsleistungen werden, desto unwahrscheinlicher gelingt den Subjekten eine harmonische Balance im Inneren, desto wahrscheinlicher verstärken sich Motive des Abweichens von der Logik des kapitalistischen Arbeitsdispositives. Die Frage, die sich nun stellt, ist natürlich, welche Angebote innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gemacht werden, damit die Bearbeitung der inneren Widerspruchskonstellation zugunsten der Affirmation herrschaftlicher Verhältnisse und zuungunsten der Revolte und des Aufbegehrens ausgeht.

Dazu ziehen N/K noch einmal die beiden Begriffe menschliche (lebendige) Arbeit und tote Arbeit heran. "Lebendige Arbeit schlägt sich in Produktion nieder, sie verschwindet darin. Diese geronnene Form von Arbeit nennt Marx tote Arbeit. Solche tote Arbeit sind z.B.: Maschinen, gebahnte Wege (Beziehungen), das gesellschaftliche Produktionsverhältnis, das Geschichtsprodukt, z.B. Geld, Staat. Die lebendige Arbeit steht der Gesamtheit ihrer Vorgeschichte gegenüber: der toten Arbeit. Der zweite Widerspruch in der politischen Ökonomie der Arbeitskraft lautet: Die Masse der toten Arbeit stellt sich der lebendigen Arbeit als Übermacht dar" (N/K, 98) Und in einer Fußnote merken N/K an: "Tote Arbeit ist kein Arsenal von bloßen Dingen. Vielmehr sind es menschliche Beziehungen, Subjektivität in Objekt gewordener Gestalt, ein gesellschaftliches Verhältnis." (N/K, 98-99) Das Verständnis von lebendiger Arbeit geht für N/K also weit über den uns geläufigen Begriff von Arbeit hinaus. Lebendige Arbeit verstanden als Arbeitsvermögen umfasst affektive Tätigkeiten genauso wie die stoffliche Umwandlung unserer Umwelt, diese lebendige Selbsttätigkeit des Menschen gilt es in einem kapitalistischen Arbeitsdispositiv umfassend und herrschaftlich zu reorganisieren, im System der "toten Arbeit". Die "tote Arbeit", als relativ autonomes System gegenüber der lebendigen Arbeit, tritt auch aufgrund der zeitlichen Dimension, von der Lebensspanne des einzelnen Individuums unabhängiges Verhältnis, als objektive Realität auf. "Es tritt hinzu, dass die Masse der toten Arbeit sich in Klassengesellschaften in der Verfügungsmacht der Unterdrückerklasse befindet. ... Das gilt im Grundsatz." (N/K, 99) N/K fügen hinzu, dass dieser Grundsatz in der Realität allerdings vielschichtiger ist. Innerhalb des Systems der "toten Arbeit" existieren natürlich gegensätzliche Positionen, die um die anteilige Kontrolle des Systems kämpfen (z.B.: gewerkschaftliche Lohnkämpfe), sie sind notwendige, systemimmanente Kämpfe, denn ansonsten würde die Dynamik kapitalistischer Entwicklung abbrechen und es zu einer Erstarrung kommen.

Die vermeintliche Objektivität des Systems wirkt allerdings nicht nur auf die öffentlich ausgetragenen Kämpfe, wie Lohnkämpfe, sondern wirkt bis in die subjektinternen Widerspruchskonstellationen. Es bildet ein gesellschaftliches Gerüst, auf dessen Basis sich jeweils historisch konkret ein orientierendes Gravitationsfeld von Normen, Praxen, institutionalisierten Verhaltensweisen usw. entwickelt, welches das Begehren von Subjekten auf sich zieht und an sich bindet. So gesehen kann festgehalten werden, dass durch politische Institutionen und Rituale etc. Begehren kanalisiert wird. Durch die Verheißungen des Geldes und der daran gekoppelten Konsummöglichkeit wird z.B. das Begehren nach einem besseren Leben in konsumtive Bahnen gelenkt.

Diese Normen und gesellschaftlichen Verhältnisse bieten ein Set von Gesetzen und gesellschaftlich anerkannten Konfliktbearbeitungsstrategien, die vermeintlich eine neutrale Instanz darstellen. Das System toter Arbeit erzeugt also eine gesellschaftliche Gravitationskraft, die orientierend auf die inneren Konflikte der Subjekte und auch auf gesellschaftliche Kämpfe wirkt. Dieses Gravitationsfeld bewirkt, dass sich Menschen oft und trotz ihrer inneren Widersprüche, öffentlich angepasst verhalten. Alle anderen Motive, die abweichend sind, werden in einer Öffentlichkeit, deren Grundstruktur aus toter Arbeit besteht, nicht repräsentiert, sondern negiert, unterdrückt, umgelenkt auf die Fluchtpunkte, die das System zur Verfügung stellt oder im Wortsinn Foucaults therapiert.


Und jetzt ... !?

Ist somit Revolte, Revolution, Devianz, Dissidenz oder Subversion vergebene Liebesmüh, wenn das Resultat von Kämpfen anscheinend dazu tendiert, von "toter Arbeit" eingefangen zu werden? Mitnichten. "Im Resultat geht nie der Prozeß auf. Das Resultat selbst ist ein stillgestellter Ausschnitt des Prozesses, deshalb ist vom Resultat aus der Gesamtprozeß nicht zu rekonstruieren, aus dem Prozeß auch nicht zwingend das Resultat." (N/K, 104) Pfuhh, dieses Plädoyer für eine interpretativ offene Geschichtsschreibung und für eine grundsätzlich offene zukünftige Geschichte lässt aufatmen. In diesem Plädoyer für die Offenheit steckt allerdings ein wichtiger methodischer Hinweis. "Militant research" muss sich in erster Linie der widersprüchlichen Prozeßhaftigkeit der geschichtlichen Zusammensetzungsprozesse öffnen. Nicht das Resultat der Kapitalakkumulation, sondern der Prozess der widersprüchlichen Herstellung der Bedingung der Möglichkeit des Akkumulationsprozesses und die permanent notwendige Entfremdung von Assoziationsvermögen und insbesondere dessen Gegenteil, die unterhalb der bürgerlichen Öffentlichkeit liegenden Prozesse der Herstellung der Selbstregulation im assoziativen Zusammenhang, also die "Ökonomie der Assoziation" (N/K, 111) sind die Ansatzprozesse für Emanzipation und das Zentrum der Untersuchung. Dieser "Eigensinn" enthält das über die bestehenden Verhältnisse hinausweisende Potential. "Unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation lautet die Frage: In welchem Zusammenhang hätten diese Kräfte von sich aus die Tendenz, ihre historische Vereinigungsfähigkeit zu übertreiben und zusammenzufinden. Der Akzent liegt auf den Worten: von sich aus. Die Perspektive der Untersuchung muß sich also auf das selbsttätige Moment dieser Arbeitsvermögen richten. Nicht auf die Stelle, an der es sich vereinigen sollte, kommt es an, sondern auf die Stelle, an der sie dies tatsächlich tun." (N/K, 111)

N/K verstehen Revolutionen als einen autonomen gesellschaftlichen Produktionsprozess von Zusammenhängen, in dem unterschiedliche Momente des Eigensinns zusammenfinden, und sich "übertreiben". "Dann ist Revolution aber kein bloßer Prozeß der Machtergreifung (Macht arbeitet nicht selber). Revolution ist ein Produktionsprozeß, der alle verschiedenen Eigensinnigkeiten der Selbstregulierung in einen assoziativen Zusammenhang setzt; die Arbeit dafür leisten die Selbstregulierungen selber. Der revolutionäre Prozeß - wenn er emanzipatorisch ist - arbeitet an den dafür erforderlichen Räumen und Zeiten, er bildet Schutzkreise, das revolutionäre Resultat stellt er nicht her." (N/K, 71) Militante Untersuchung kann als produktiver Eingriff, der sich "auf Bahnung und die Produktion von Zusammenhängen" konzentriert, verstanden werden. "Diese Formseite entsteht nicht selbsttätig. ... Bloße Theorie leistet diese Arbeit nicht, bloße Praxis auch nicht. Man muß sich den Eingriff, d.h. die organisierende Orientierung in der Haltung verankert vorstellen (also nicht nur in den Gefühlen, nicht nur im Verstand und nicht nur in den äußeren Handlungsketten). Als Haltung bezeichnen wir die Momente, in denen Potentiale und aktuelle Vergegenständlichung auf einen Augenblick zusammentreten." (N/K, 84)


Resonanzräume öffnen

Aus dem gesagten lässt sich klar erkennen, militante Untersuchung ist eingreifende Forschung. Nicht nur ein Verstehen, sondern auch ein Handeln im Sinne der Selbstinvolviertheit. Militante Untersuchung bietet so unsere These, die Möglichkeit widerständige Organisierung entlang der sich wandelnden Subjektivität zu konstituieren, ohne dabei auf ewige "Wahrheiten" zurückzugreifen. Es ist eine Möglichkeit der Organisierungpraxis, die Subjekte der Veränderung nicht paternalistisch über die Ziele oder den Weg hin zu gesellschaftlicher Veränderung belehrt, sondern im Zentrum die Selbsttätigkeit des Eigensinns hat. Die Untersuchung kann weiterführende Verbindungslinien ziehen und Vorschläge zur Herstellung von Zusammenhängen machen. Vorschläge sind es, die Resonanzen erzeugen können, keine dogmatischen Stehsätze. Vorschläge sind Türöffner für Debattenräume. Und damit kommen wir zum Schluss. Theorie und Wissenschaft im Sinne militanter Untersuchung erzeugt kein Wahrheitswissen oder objektivierte Theoriegebäude, sondern versucht in und als Bewegung die Wege der Emanzipation auf Basis historisch und räumlich konkreter Bedingungen zu erkunden und im besten Fall zu antizipieren.

E-Mail: mario.becksteiner@univie.ac.at


Literatur:

Andrea Gabler (2009): Antizipierte Autonomie. Zur Theorie und Praxis der Gruppe »Socialisme ou Barbarie« (1949-1967), Hannover

Stevphen Shukaitis/David Graeber/Erika Biddle (2007) (Hg.): Constituent Imagination. Militant Investigations; Collective Theorization, Oakland/Edinburugh

Oskar Negt und Alexander Kluge (1981): Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M.

Plattform Massenuni (Hg.): Jenseits von Humboldt. Von der Kritik der Universität zur globalen Solidarischen Ökonomie des Wissens, Wien

Peter Bescherer/Karen Schierhorn (Hrg.) (2009): Hello Marx. Zwischen "Arbeiterfrage" und sozialer Bewegung heute, Hamburg

Raute

Arno Uhl:

Der Kongress der viele ist

Theoretische Erörterung von (anti-)repräsentativen Praxen am Beispiel des Wiener Solidarökonomie Kongresses 2009

Einleitung

Im Februar 2009 fand in Wien ein Solidarökonomie Kongress statt, an dem über 1000 Personen partizipierten. Ich war von Anfang an intensiv in den Organisationsprozess involviert und wollte schon lange eine Reflexion über diesen verfassen. Nun habe ich den Beginn einer neuen Organisationsphase für einen zweiten Kongress, der vermutlich 2012 stattfinden soll (www.solidarische-oekonomie.at), zum Anlass für diesen Text genommen.

Der Kongress war vom Anspruch getragen, Hierarchien und Repräsentation zu vermeiden, indem sich die Vorbereitungsgruppe ausschließlich darauf beschränkte, einen Raum für Kommunikation und Vernetzung zu öffnen, innerhalb dessen alle Personen und Gruppen die gleichen Möglichkeiten haben sollten, sich einzubringen. Das klingt zwar einfach, die konsequente praktische Umsetzung dieses Zieles ist allerdings eine wesentlich vertracktere Angelegenheit. So hat die Vorbereitungsgruppe zahlreiche experimentelle und unkonventionelle Wege beschritten und dabei Erfahrungen gemacht, die für andere Kongresse, aber auch ganz generell für Organisationsprozesse sozialer Bewegungen interessant sein können. Es geht in diesem Text demzufolge nicht um die konkreten Inhalte des Kongresses, sondern ausschließlich um dessen Form; also um den Vorbereitungsprozess und die Kongressstruktur. Nach deren Beschreibung und vor der eigentlichen kritischen Nachbetrachtung erschien es mir notwendig, zwei sehr allgemeine theoretische Ausführungen als Reflexionsgrundlagen einzuschieben. Erstens eine Kritik von Repräsentation im Waren produzierenden Patriarchat[1]. Zweitens eine "Theorie der Praxis", die versucht sich jenen Widersprüchen zu stellen, in die jegliche gesellschaftlichen Emanzipationsversuche verstrickt sind. Anstelle einseitiger ideologischer Antworten geht es um eine dialektische Vermittlung zwischen Systemimmanenz und -transzendenz, also der Verbesserung der Lebensbedingungen innerhalb der bestehenden Gesellschaft einerseits und einer Überwindung des bestehenden Systems andererseits.


Konzepte "Politischer Akteur" oder "offener Raum"

Jede Vorbereitungsgruppe für einen Kongress oder ähnliche Veranstaltungen sollte sich die Frage stellen, ob sie sich als politische Akteurin versteht oder ob sie einen offenen Raum schaffen will, da beide Zugänge sich weitgehend ausschließen. Das Verständnis als "politische Akteurin" setzt voraus, eine klar abgegrenzte homogene Position zu vertreten, um diese im Machtkampf der öffentlichen Politiksphäre durchzusetzen zu können. Dafür bedarf es in Bezug auf bestimmte Fragen Gleichgesinnte. Ein offener Raum setzt hingegen lediglich voraus, ein grobes inhaltliches Feld abzustecken innerhalb dessen auch Personen mit heterogenen bis unvereinbaren Positionen zusammenkommen können, um sich kennen zu lernen, zu vernetzen, zu diskutieren oder irgendeinen anderen subversiven Unsinn zu treiben. Viele große Kongressvorbereitungsgruppen, wie zum Beispiel die des "Austrian Social Forums", haben sich diese Frage offensichtlich nie gestellt bzw. war ihnen der Widerspruch zwischen den beiden Zugängen vermutlich nicht bewusst. Bei diesen Kongressen wurde nach außen hin das Bild eines offenen Raumes vermittelt, um möglichst viele Leute anzusprechen und zur Teilnahme zu bewegen. Doch spätestens wenn die Mobilisierungsphase vorbei war, begannen Prozesse, in denen versucht wurde, das politische Gewicht aller teilnehmenden Personen zu verwenden, um gewisse politische Positionen zu befördern. Vom ASF bzw. der Orga Gruppe wurde zum Beispiel eine Demonstrationen gegen den Irakkrieg oder für Steuergerechtigkeit organisiert. Welche Positionen durch Manifeste, Aktionen, Aussendungen und andere repräsentative Artikulationsformen an die Öffentlichkeit kommuniziert werden, muss aber irgendwer irgendwo beschließen. Sehr oft findet das in der Vorbereitungs- bzw. Organisationsgruppe statt, die lediglich aus ein paar Personen besteht. Aber auch wenn wir von einem basisdemokratischen Ideal ausgehen, also davon, dass der Prozess transparent verläuft und allen TeilnehmerInnen der Zugang weitestgehend ermöglicht wird, indem zum Beispiel eine Abschlussversammlung am Kongress stattfindet, um gemeinsam ein Manifest zu verfassen, führt kein Weg um Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Positionen vorbei, denn es ist schon allein technisch nicht möglich in so beschränkter Zeit innerhalb einer heterogenen Masse ohne Manipulation einen Konsens zu finden. Je heterogener der offene Raum im Vorfeld angekündigt wurde und je weiter diese Absicht erfolgreich realisiert wurde, desto mehr Positionen müssen dann in diesem Entscheidungsprozess übergangen werden, um zu einem politisch verwertbaren Ergebnis kommen zu können. Innerhalb des gesamten Kongresses werden Konkurrenz und taktisches Kalkül dadurch zu tragenden Prinzipien in der Kommunikation und im Umgang miteinander. Wer sich nicht durchsetzen kann, wird überfahren. TeilnehmerInnen, die keine Lust haben sich an solchen Machtkämpfen zu beteiligen, die vom Entscheidungsprozess nichts wussten, oder die nicht daran teilnehmen konnten, finden dann erst im Nachhinein heraus, wofür sie angeblich eingetreten sind. Das Konzept eines offenen Raumes wird hier zum Köder und zur Werbestrategie der Repräsentationswütigen. Meine Erfahrungen auf solchen Kongressen haben jene Überlegungen vorangetrieben, die dann in die Organisation des Solidarökonomie Kongress eingeflossen sind.


Konkreter Organisationsprozess und Kongressstruktur

Beim Solidarökonomie Kongress sollte dem Konzept eines "offenen Raumes" auf allen denkbaren Ebenen so weit wie möglich entsprochen werden. Die Vorbereitungsgruppe stand von Anfang an allen Interessierten offen. Die oft via Doodle ermittelten Treffen wurden ausgesendet und auf der Homepage veröffentlicht. Die interne Kommunikation lief über eine Mailverteilerin, die alle Interessierten subskribieren konnten. Der aktuelle Organisationsstand wurde über einen Newsletter und die Homepage laufend transparent gemacht. Die Homepage selbst war so, wie der gesamte Kongress, als offene Plattform konzipiert. Für den Kongress und seine Organisation haben wir von Anfang an drei Organisationsgrundlagen beschlossen: Die Vorbereitungsgruppe stand immer allen offen, aber einmal im Konsens getroffene Entscheidungen konnten nur im Konsens wieder aufgelöst werden. Das war wichtig, um Verlässlichkeit für alle bereits Involvierten zu schaffen, weil sonst jede neue Person den bisher erarbeiteten Charakter des Kongresses wieder in Frage hätte stellen können. Die Vorbereitungsgruppe verzichtete auf jegliche inhaltliche Gestaltung durch gezielte Einladungen.[2] Sie organisierte ausschließlich den offenen Rahmen für Gruppen und Personen, um Programmpunkte einzubringen, ohne dabei irgendwelche Inhalte zu bevorzugen. Dieser Charakter galt über den eigentlichen Kongress hinaus für alles was im Rahmen des Organisationsprozesses entstand, wie die Homepage oder ein geplantes Buch, das dann aber nie zu Stande kam. Die Vorbereitungsgruppe bezog keine inhaltlichen Positionen und besetzte auch den Begriff "Solidarische Ökonomie" nicht. Aus der Notwendigkeit heraus ein Feld abstecken zu müssen, innerhalb dessen sich Personen angesprochen fühlen, wurde bloß ein einziger vager Aufruftext verfasst. Dieser sollte nicht mehr erweitert oder verändert werden können, da neue Formulierungen immer auch eine neue Positionierung bedeuten. Nur die Kürzung war für Mobilisierungszwecke zulässig, z.B. für Flyer, Poster, Aussendungen etc...

Kurz nachdem diese Strukturen geschaffen und Grundsätze festgelegt waren, verfassten wir eine offene Einladung und verbreiteten diese. Es wurde nicht nur dazu eingeladen, inhaltliche Beiträge einzubringen, sondern auch einzuladen. Neben den zu diesem Zweck produzierten Flyern und Plakaten, wurde der Aufruf auch in möglichst vielen Zeitungen und Internetseiten veröffentlicht. Ausschlaggebend zu Beginn war, dass alle Personen in der Vorbereitungsgruppe den Aufruf an ihnen bekannte Personen und Gruppen weiterleiteten. Die inhaltliche Ausrichtung war insofern am Anfang noch an uns gebunden, aber durch die Aufforderung an alle weitere Personen einzuladen, konnte die Einladungspolitik und inhaltliche Gestaltung eine Eigendynamik entfalten. JedeR konnte verschiedenste Formate einbringen, also von klassischen Frontalvorträgen bis zu Open Space[3] oder Performances. Wir hatten einen Zeitplan erstellt, der 1,5 stündige Einheiten vorsah, wobei allen freistand, für ihre Beiträge mehrere Einheiten zu nutzen. Beiträge konnten auf der Homepage mit Beschreibung, zeitlichen Präferenzen, technischen und räumlichen Anforderungen eingetragen werden. Hierfür gab es eine Deadline, um ein Programm veröffentlichen und drucken zu können. Auf diese Weise kamen rund 130 Programmpunkte und 17 Buch- oder Infostände zusammen. Die Programmpunkte teilten wir dann gleichmäßig auf die vorgesehenen Einheiten auf, wobei es keine Bevorzugung oder sonstige spezielle Behandlung irgendwelcher Formate gab.

Wir ließen Räume unbesetzt, um spontanen Beiträgen oder Leuten, die sich nicht rechtzeitig angemeldet hatten, ebenfalls Platz zu bieten. Am Kongress gab es ergänzend zum gedruckten Programm eine riesige Papierwand mit dem Zeitplan, um zusätzliche Beiträge anzukündigen zu können. Im Rahmen dieser Struktur wären die TeilnehmerInnen stark voneinander isoliert geblieben und es wäre nur wenig zur Vernetzung gekommen. Daher gab es zwei Vernetzungs-Open-Spaces, während denen keine anderen Aktivitäten stattfanden. Dort konnten sich große Gruppen zu bestimmten Themen finden und Kontakt für eine weitere Zusammenarbeit aufnehmen. Aus diesem Open Space sind vermutlich Netzwerke entstanden, die weiter existieren, auch wenn ich konkret nur von einer Guerilla Garding Gruppe weiß, die sich in der Folge ein paar Mal getroffen hat. Art und Umfang großer und dezentraler Vernetzungsprozesse nach einer solchen Veranstaltung lassen sich fast nicht erfassen. Die Möglichkeit an einem Kongress teilzunehmen ist natürlich immer auch an die Lebenssituation der einzelnen TeilnehmerInnen gebunden. Um zu verhindern, dass manche aus finanziellen Gründen nicht teilnehmen können, wurden keine fixen Tagungsgebühren eingehoben. Durch selbst bestimmbare Solidarbeiträge kamen trotzdem über 10.000 Euro herein. Verpflegung, Unterbringung in einer Turnhalle und Kinderbetreuung für die drei Tage waren gratis bzw. konnten beim Solidarbeitrag mitbedacht werden. Wir haben auch eine Fahrtkostenrückerstattung angeboten, die nicht an konkrete Gegenleistungen, wie einen Programmpunkt zu organisieren, gebunden war. Auch hier war die Selbsteinschätzung der TeilnehmerInnen gefragt. Da wir die anfallenden Kosten und Einnahmen vor dem Kongress wegen des offenen Charakters nicht einschätzen konnten, haben wir nur jenen die vollständige Rückerstattung zugesagt, für die es ausschlaggebend war. Alle anderen hätten einen prozentuellen Zuschuss je nach unseren Möglichkeiten bekommen, aber schlussendlich konnten wir allen, die einen Antrag gestellt hatten, die vollen Fahrtkosten rückerstatten.

Die Homepage www.solidarische-oekonomie.at wurde wie der Kongress als offener Raum konzipiert. Alle Bereiche waren frei gestaltbar. JedeR konnte Termine, Links, Projektbeschreibungen und inhaltliche Beiträge veröffentlichen. Lediglich eine Anmeldung mit Synonym und Passwort war erforderlich um Einträge durch Spamprogramme im Internet vorzubeugen. Wie schon angekündigt, werde ich im Weiteren einige allgemeine, aber für die weiteren Reflexionen grundlegende, Überlegungen zu "Repräsentation" und zur "Theorie politischer Praxis" anstellen, bevor ich mich den konkreten Erfahrungen und Problemen widme.


Repräsentation - von der Machtasymmetrie zum Repräsentationsfetisch[4]

Klassisch ist die anarchistische Repräsentationskritik. Sie lässt sich vermutlich durch zwei Punkte zusammenfassen. Einerseits begreift sie Herrschaft als Machtasymmetrie in zwischenmenschlichen Interaktionen. Die RepräsentantIn spricht, handelt oder entscheidet für eine andere Person. Sie enthebt dadurch die andere Person in diesem Bereich ihrer Selbstbestimmung. Die Kritik würde auch dann treffen, wenn dem Selbstbild der parlamentarischen Demokratie entsprechend, die Mehrheit über die Minderheit entscheiden würde. Die zweite wichtige Achse der Kritik richtet sich jedoch bereits gegen das parlamentarische Selbstbild, dass durch Wahlen mitentschieden werden kann. Die RepräsentantInnen entscheiden letztlich auch oder sogar ausschließlich nach ihrer eigenen Interessenslage. Die Handlungen der RepräsentantInnen und der Wille der Repräsentierten stimmen also schlichtweg nicht überein. Insofern entscheiden PolitikerInnen aus Eigeninteresse über die große Mehrheit der Menschen. Dieser Herrschaftskritik ist sicherlich einiges abzugewinnen. Allerdings begrenzt es sich auf unvermittelte Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten. Dabei übersieht es die Formen subjektloser Herrschaft, die durch den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang vermittelt werden und schlussendlich nicht nur über die Repräsentierten sondern auch über die RepräsentantInnen bestimmen. Repräsentation ist im aktuellen historischen und gesellschaftlichen Kontext mehr als einfach nur ein neutrales Werkzeug zum Fällen von Entscheidungen, an dem einzig die Machtasymmetrie bzw. ungleiche Verteilung zu kritisieren ist. Nicht nur in staatlichen Institutionen, sondern innerhalb der politischen Sphäre an sich entfaltet sich eine Eigenlogik und -dynamik, die weit über Intentionalität von Eigeninteressen hinausgeht und diese sogar negiert. Das ist insofern für jegliche Organisationsprozesse bedeutsam als das der Versuch RepräsentantInnen zu vermeiden und Entscheidungsmacht gerecht zu verteilen alleine Herrschaft noch nicht verhindern kann. Das Repräsentationsspektakel verwandelt jegliche Positionen und Ideen in selbstzweckhafte Inszenierungen und konstituiert dementsprechend die politischen Subjekte. Ich werde daher versuchen, thesenhaft eine Minigenealogie des Repräsentationsfetischs[5] zu formulieren, um die subjektlose Herrschaft greifbar und angreifbar zu machen.

Mit dem Beginn der Moderne, dem Entstehungsprozess des Waren produzierenden Patriarchats und der modernen Staatlichkeit ging eine Trennung der Gesellschaft in die Sphären der Ökonomie und der Politik[6] einher. Die durch das staatliche Gewaltmonopol und Rechtssystem gesicherte Eigentums- und Vertragsordnung wurde dabei zur unveränderlichen Grundlage dieser neuen Gesellschaftsordnung. Die Gestaltungsmacht der politischen Sphäre bleibt durch diesen Rahmen begrenzt und entpuppt sich in zweierlei Hinsicht als bürgerliche Illusion. Einerseits sind die Tätigkeiten in der politischen Sphäre[7] nicht wertproduktiv und dadurch von einer indirekten Finanzierung über erfolgreiche Akkumulation abhängig, also primär von Steuern. Jedes staatliche Interesse gilt daher zuerst immer der wirtschaftlichen Prosperität und somit einer Art übergeordnetem Gesamtinteresse aller nationalen Einzelkapitale. Aber auch darüber hinaus gehende Politik nicht staatlicher Institutionen oder AkteurInnen ist wertunproduktiv, wie z.B. von NGO. Sie hat dadurch schlussendlich ebenfalls immer abhängig von Abgaben aus dem im Verwertungsprozess geschaffenen Mehrwert. Es besteht also auch hier immer ein strukturelles Interesse an einer erfolgreichen Akkumulation, wenn auch nicht unbedingt in einem nationalstaatlichen Rahmen. Andererseits kommt der Politik als Feld gesellschaftlicher Machtkämpfe eine Vermittlungsinstanz zwischen Interessensgegensätzen zu, die jedoch erst aus den die Widersprüchen der Produktionsweise hervorgehen; z.B. der zwischen Arbeit und Kapital. Die Repräsentation ist die zentrale Form, die diese Interessenvertretung im endlosen Machtkampf annimmt. Sie darf nicht nur in einem quantitativen Sinn verstanden werden, also wie viele Personen durch eine Wahl, Petition oder sonstige Formen direkter Mandate vertreten sind. Das ist vielleicht ihr Ursprung oder ihre Grundform. Wichtiger ist die Anerkennung der Repräsentation durch andere, und dafür gibt es andere Techniken als die vertragsrechtliche Vorstellung von Mandaten erfassen kann. So kann eine Attac-FunktionärIn in Medien oder bei VerhandlungspartnerInnen in Anspruch nehmen, die globalisierungskritische Bewegung zu repräsentieren. Entscheidend sind hier Faktoren wie Medienarbeit oder Glaubwürdigkeit durch ExpertInnentum.

Repräsentation unterliegt einer Dynamik anonymer Konkurrenz, die nicht primär aus gesellschaftlichen Interessenskonflikten heraus entsteht, sondern aus dem selbstzweckhaften Wettstreit um die Ausweitung des Repräsentationsanspruches, aus dem heraus erst nach Interessen gesucht wird oder die sogar erst produziert werden. Durch diese Konkurrenz getrieben, muss Repräsentation ständig versuchen, zwei widersprüchliche Bewegungen in sich zu vereinen. Einerseits die Ausweitung des Repräsentationsanspruchs über Personen, weil es Macht bedeutet. Das zeigt sich bei Parteien noch relativ klar in Wahlergebnissen, ist aber in vielen anderen Fällen wesentlich schwieriger zu erfassen. Diese Ausweitung impliziert eigentlich Heterogenität um eben möglichst viele gesellschaftliche Interessenslagen bzw. Gruppen abzudecken. Während also die ökonomischen Konkurrenzprozesse auf die Individuen atomisierend und vereinzelnd wirken, veranlasst der politische Konkurrenzprozess beständig nach Gemeinsamen zu suchen und das Getrennte imaginär wieder zu vereinen. Die Politik geht dazu über dieses Vereinende nicht einfach nur in objektiven Interessensgegensätzen zu suchen, sondern auch selbst zu produzieren. Das gilt für reaktionäre Kategorien, wie "Nationalität", genauso wie für progressive, wie "Prekariat" und natürlich auch "Solidarische Ökonomie".

Andererseits kann Repräsentation aber ihrem eigentlichen Wesen nach nur mit einer Stimme sprechen und daher auch nur ein einziges Interesse oder eine einzige Meinung haben. In diesen Zwang zur Vereinheitlichung muss sie die Pluralität, die sie zuvor suchte, wieder negieren. Es ist klar, dass sie hierfür Herrschaftstechniken entwickeln muss, die es ihr ermöglichen, unterschiedliche Interessen und Positionen auf eine zu reduzieren, selbst wenn diese an sich noch so unvereinbar sind. Zentral ist hier natürlich nicht so sehr die Herstellung einer wirklichen Anerkennung durch die Repräsentierten, sondern der Anschein, um eine öffentliche Anerkennung des Repräsentationsstatuses zu erlangen. Vor diesem Hintergrund bedeutet jede abweichende Meinung oder gar Kritik im Hinblick auf die Ausweitung des Repräsentationsanspruchs eine Schwächung und im Hinblick auf die Vereinheitlichung eine Kampfansage um die Deutungshoheit und Hegemonie. Es liegt also in der Funktionsweise der Repräsentation, eigene Probleme bzw. die eigene Widersprüchlichkeit zu verstecken und zu leugnen. Sie ist demnach das Gegenteil von Selbstreflexion, der Grundlage jeder Emanzipation.

Mit dem verdinglichten Zwangscharakter der Repräsentation verhält es sich in mancher Hinsicht ähnlich, wie mit dem Zwangscharakter der Warenproduktion. Die Repräsentation entlarvt sich in dem bisher umrissenen Prozess als Selbstzweck mit einer Eigendynamik und -logik. Während es beständig so scheint, als bedürfe es Repräsentation und Macht, um etwas bestimmtes zu erreichen, verkehrt sich hinter dieser Fassade vom Mittel zum Zweck und verselbstständigt sich gegenüber ihren konkreten Inhalten, wie der Interessensvertretung und dem Erstellen politischer Konzepte. Diese Inhalte treten hier nicht nur hinter diese Mittel zurück, sondern werden selbst zum Mittel um den Repräsentationsanspruch auszuweiten. Der Charakter einer solchen Politik ist die Inszenierung von Entscheidungsfreiheit, während sie letzten Endes die Verwaltung der Notwendigkeit garantiert muss. Die Verselbstständigung und der blinde Wachstumszwang spiegeln sich an vielen konkreten Erscheinungen wieder, wie zum Beispiel in einer Fokussierung auf Medienpräsenz, auf Mitglieder- oder auf TeilnehmerInnenzahlen innerhalb vieler politischer Gruppierungen.

Als Totalität erfasst diese Politikform nicht nur BerufspolitikerInnen, wie Partei- oder NGO-FunktionärInnen, die existenziell von ihrem Beruf abhängig sind und die somit unmittelbar an das Repräsentationssystem gefesselt sind. Sie erfasst auch Individuen und Kollektive, die außerparlamentarisch und nicht erwerbsmäßig agieren. Es ist nicht nur so, dass sie herrschende Kommunikations- und Organisationsformen mangels Wissen über Alternativen bloß imitieren, sondern sie sind auch materiell an den Repräsentationsfetisch gebunden. Sie können sich ohne Repräsentation in der politischen Arena nicht artikulieren und sind daher auf sie angewiesen, um sich in Machtkämpfen behaupten zu können. So steht zum Beispiel in vielen an sich basisdemokratischen und konsensorientierten Kollektiven unhinterfragt fest, dass bei vielen inhaltlichen Fragen eine einheitliche Linie gefunden bzw. festgelegt werden muss. Im Rahmen der auf unvermittelte Herrschaft begrenzten Kritik, wie ich sie anfangs als klassisch anarchistische dargestellt habe, scheint hier Herrschaft und Repräsentationen schon überwunden zu sein. So gut basisdemokratische Ansätze auch sein mögen, muss auch ihre Integration in das herrschaftsförmige Repräsentationssystem erkannt werden; selbst dann, wenn diese Kritik keine unmittelbaren Lösungen anbietet.


Theorie der Praxis - sich nicht dumm machen lassen von der Dummheit

Eine "Theorie der Praxis" muss erkennen, dass sich die Widersprüche, die dieses Gesellschaftssystem formieren, nicht systemimmanent lösen lassen. Wir müssen im Alltagsleben, wie in der (anti-)politischen Praxis, einen Umgang mit diesen Widersprüchen finden. Repräsentation ist dabei eines jener Übel, wie Geld oder Gewalt, die nicht vermieden werden können, selbst dann, wenn wir sie noch so konsequent zu überwinden trachten. Die KommunistIn braucht Geld und die AntimilitaristIn muss sich mit Gewalt gegen Gewalt wehren. Repräsentation brauchen wir, um uns im Feld der Politik überhaupt artikulieren zu können und in den dortigen Machtkämpfen nicht einfach unterzugehen. Aus dieser Perspektive erscheint der Widerspruch noch ausschließlich zwischen "guten Idealen" und "gesellschaftlichen Notwendigkeiten" zu verlaufen. In einem gewissen Maße ist das auch zutreffend, aber die Lösung eines Widerspruchs zu Gunsten einer Seite bedeutet immer Ideologisierung und Verblendung, insofern sich beide Seiten eines Widerspruches gegenseitig bedingen. So liegt zum Beispiel die Emanzipation von den traditionellen Geschlechterverhältnissen nicht einfach beim Weiblichen; im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit[8] nicht einfach in der Arbeit oder den Interessen des Proletariats; und im Widerspruch zwischen den Interessen zweier Staaten nicht nur beim Schwächeren. Richtige Emanzipation besteht letzten Endes in der Überwindung jener gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Widersprüche produzieren; also der Überwindung des Waren produzierenden Patriarchats und des Staates. Bei der "transzendentalen Praxis" als einzig legitimer stehen zu bleiben, würde allerdings Scheinradikalität und wiederum Ideologisierung bedeuten, und sich in einer stumpfsinnigen ganz-oder-gar-nicht-Revolutionsromantik verlieren. Dem "guten Ideal" der Systemüberwindung steht nämlich nichts Geringeres gegenüber als die "gesellschaftliche Notwendigkeit" innerhalb des Systems zu überleben. Eine wirklich konsequente Auflösung dieses Widerspruchs zu Gunsten der Systemüberwindung, fällt letztlich mit Selbstmord in eins. Die "immanente Praxis", verstanden als soziale Kämpfe fürs Überleben und für ein besseres Leben innerhalb dieser Gesellschaft, ist also eine "gesellschaftliche Notwendigkeit". Hier befinden wir uns tendenziell auf der Seite der Benachteiligten und Marginalisierten. Diese Seite konsequent einseitig zu Ende zu denken, würde bedeuten sich in reiner Widerspruchsbearbeitung und Systemreproduktion zu verlieren, weil es erfordert, sich auf jene problematischen Spielregeln einzulassen, die die Probleme erst hervorbringen.

Eine dialektische "Theorie der Praxis" bedeutet Widersprüche denken und aushalten zu können, um sich nicht dumm machen zu lassen und langfristig auf ihre Überwindung zielen zu können. Jede Praxisform lässt sich auf Grund ihrer notwendigen Systemimmanenz zu Recht kritisieren, aber kann allein deshalb noch nicht verworfen werden. Die Relativierung, die darin steckt, bedeutet jedoch keine Beliebigkeit und läuft auch nicht auf einen "goldenen Mittelweg" hinaus. Es geht darum, zu fragen, wie der Umgang mit den Widersprüchen ausschauen kann. Inwieweit verbessern sie immanente Lebensbedingungen? Inwieweit tragen sie transzendentales Potential in sich. Wie lassen sich beide Momente möglichst intensivieren? Erst eine Selbstkritik im Sinne einer Einsicht in diese Widersprüchlichkeit vermag es, das subversive Potential möglichst weit zu treiben, auch wenn selbst die am weitesten fortgeschrittenen Praxisformen immer noch notwendigerweise widersprüchlich und kritisierenswert bleiben müssen. Eine fortschrittliche Praxis braucht immer die bedingungslose Kritik der Verhältnisse, was eben auch die eigene Praxis mit einschließt. Die Forderung sich keine Illusionen zu machen, ist die Forderung den Zustand zu beenden, der dieser Illusionen bedarf. Die "Praxis der Theorie", also die reine Negation und abstrakte Kritik, darf dabei aber nicht auf die positiven Seiten der Praxis vergessen und das darin notwendigerweise enthaltene Spannungsfeld zwischen Immanenz und Transzendenz übersehen.

In diesem Spannungsfeld ist es die Aufgabe jeder denkenden Person auf die transzendentale Seite zu drängen, weil schließlich nur hier die Chance auf Emanzipation durch die Überwindung der gesellschaftlichen Totalität besteht und aus dem systemischen Laufrad ausgebrochen werden kann. Während die "transzendentale Praxis" als Praxis positiv bestimmt ist, lässt sich das Transzendentale an ihr bloß negativ bestimmen. Das ergibt sich aus Ableitungen an der Gesellschaftskritik[9] und ist seinem Wesen nach als utopisches, nicht genau bestimmbar und spekulativ. Nicht-Geld kann vieles sein: Raub, ein Geschenke, Selbstversorgung oder Kommunismus. In vielerlei Hinsicht nimmt eine "transzendentale Praxis" den Charakter von Verweigerung an. Inwieweit sie dabei jedoch transzendentale Momente entfaltet, ist durch die abstrakte Analyse nur begrenzt zu ermitteln. Das lässt sich erst im nachhinein klarer feststellen, wenn sich die transzendentalen Momente verdichten; also nachdem eine auf Systemüberwindung zielende Praxis eine Massenbewegung erfasst oder hervorgerufen hat und die Phase der Subversion in eine der Revolution bzw. der radikalen Transformation übergeht. Die bisherigen Ausführungen laufen darauf hinaus, dass es nicht eine bestimmte richtige Praxis geben kann, sondern ein weites Spektrum emanzipatorischer Praxen, die unterschiedliche Umgänge mit den Widersprüchen versuchen. Emanzipatorische Praxis sollte sich daher immer als experimentell verstehen und versuchen sich ihrer eigenen Widersprüchlichkeiten, bewusst zu machen. Das alles bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch sehr viele Praxisformen als eindeutig reaktionär verworfen werden können und auch sollten. Trotzdem glaube ich, dass mit der Einsicht viel gewonnen wäre, dass sich viele heftige Diskussionen innerhalb der radikalen Linken um immanent unlösbare Widersprüche drehen. Die wechselweise formulierte Kritik ist dabei zwar oft richtig, dient aber vermutlich eher dem Zweck, die Kritik an der eigenen Widersprüchlichkeit auszublenden. So verwandelt sich Kritik in ihr Gegenteil; in ideologische Verblendung. Zum Beispiel blamiert sich jedeR, der/die die Bezahlung politischer Aktivitäten prinzipiell als totale Anpassung verteufelt, genauso wie alle, die selbst organisierte oder unkommerzielle Strukturen als "selbst-ausbeuterisch" denunzieren. Eine ernstzunehmende Praxis kann sich selbst einfach nicht zu ernst nehmen. Clowns aller Ränder vereinigt euch!


Repräsentationsverweigerung und Öffnung der Repräsentation

Die Praxis kann also in Bezug auf Repräsentation sehr verschiedene fortschrittliche Formen annehmen, die aber immer widersprüchlich und kritisierenswert bleiben. Ich will hier zwischen zwei Strängen differenzieren: Repräsentationsverweigerung und Öffnung der Repräsentation. Ein Beispiel für "Repräsentationsverweigerung" sind viele autonome Grüppchen. Sie zielen ganz bewusst nicht auf ihre Erweiterung und verzichten auf zahlreiche Kommunikationsweisen wie Pressearbeit. Diese Form ermöglicht eine Konzentration auf innere Prozesse und teilweise vielleicht abweichende Erfahrung zur widerlichen Dynamik der Repräsentation. Aber mit dem Rückzug von der politischen Ebene schwindet tendenziell auch die Relevanz in politischen Machtkämpfen. Der andere Strang ist die "Öffnung der Repräsentation". Zum Beispiel durch kollektive Namen wie zum Beispiel "Luther Blissett", der in Italien und darüber hinaus für zahlreiche Kommunikationsguerillaaktionen verwendet wurde. Ein Beispiel, das ich aus meiner Praxis besser kenne, ist W.E.G.[10]. Hier können alle Personen inhaltliche Stellungnahmen im Namen der gesamten Gruppe abgeben. Zum Beispiel haben bei Einladungen zu Podiumsdiskussionen einfach alle, die Lust hatten, während der Veranstaltung auf einen Podiumsplatz rotiert. Dieser spielerische Zugang setzt Vertrauen zu den anderen oder den Luxus großer Gelassenheit gegenüber politischen Machtkämpfen voraus, da er für informelle Repräsentation anfällig ist. Solche Ansätze lassen sich schwer vermitteln und oft wird hier von außen einfach alles durch die Repräsentationsbrille gesehen und bestimmte Inhalte oder Personen als repräsentativ für die Gruppe wahrgenommen. Aber selbst wenn der Ansatz funktioniert, wird dadurch kein einheitliches Bild vermittelt. Innerhalb der Logik der Repräsentation wirkt das meist nur unprofessionell oder sogar verrückt und wird nicht ernst genommen. Politischer Einfluss lässt sich so wesentlich schwerer entfalten.


Offener Raum als Öffnung und Verweigerung der Repräsentation

Das Kongress Konzept eines "offenen Raumes" stellt eine Mischung aus der "Verweigerung -" und der "Öffnung der Repräsentation" dar. Die Vorbereitungsgruppe beim Solidarökonomie Kongress versuchte diesem Konzept folgend jegliches repräsentatives Auftreten ihrerseits zu verhindern. Im Verzicht auf Abschlussmanifeste und ähnliches wurde diese Verweigerung auch auf den Kongress ausgedehnt. Der Kongress selbst und auch die Strukturen, wie die Homepage, stellen eine "Öffnung der Repräsentation" dar. Beim Solidarökonomie Kongress in Wien wurde versucht, dem Konzept eines "offenen Raumes" auf allen Ebenen möglichst weitgehend umzusetzen. Es war ein Versuch Hierarchien zu verhindern, die praktische Negation der Repräsentation möglichst weit zu treiben und das Ziel einer befreiten Gesellschaft in der Praxis unmittelbar zu verwirklichen. Natürlich nicht weil dieses Unterfangen unmittelbar von Erfolg gekrönt sein kann, sondern um möglicherweise transzendentale Momente zu entfalten und zum Prozess der Überwindung beizutragen. Der repräsentationskritische Moment des "Offenen Raums" hat den Zweck, einen temporäreren Freiraum zu schaffen, in dem politische Konkurrenz abgeschwächt und der Spielraum für Kommunikationsformen abseits der Repräsentation erweitert sind. Was in einer gramcisanischen Schlacht um Hegemonie affirmiert wird, und sich so in der gesellschaftlichen Immanenz verliert, soll hier ausgeschaltet werden: Nämlich, dass jede Artikulation einer anderen Meinung oder gar Kritik in der politischen Sphäre ausschließlich in eine Schwächung des eigenen diskursiven Position übersetzt wird. Selbstkritik ist überhaupt nur möglich, soweit dieser Aspekt der Repräsentation außer Kraft gesetzt werden kann. Bei dieser Art des Freiraum geht es darum, die Inhalte gegenüber ihrer selbstzweckhaften Form zu stärken; also an der Fetischisierung zu rütteln und sie teilweise erfahrbar zu machen, auch wenn sie im durch den gesellschaftlichen Gesamtszusammenhang begrenzten Rahmen nicht aufgehoben werden kann. Einen Begriff, wie "solidarische Ökonomie", zu verwenden, zielt natürlich gleichzeitig darauf ab, sehr viele Personen und Aktivitäten unter diesem allgemeinen und unkonkreten Konzept zu vereinen. Es wird hier also der erste Schritt der Repräsentation getan, ein Gemeinsames, ein kollektives Subjekt zu finden oder selbst diskursiv zu produzieren. Begriffe, wie "Prekariat", tragen hier der Notwendigkeit der Repräsentation Rechnung, um mit anderen Konzepten in die Öffentlichkeit vorzudringen und neue Personen zu erreichen. Dies dient dem Zweck einer politischen Stärkung jener sozialen Bewegungen, die sich unter diesem Begriff vereinen. Die praktische Negation der Repräsentation liegt also darin, den zweiten Schritt zu unterlassen, diesen Begriff wieder zu besetzen und einzuengen und so durch Herrschaftstechniken aus dieser Menge wieder ein politisches Subjekt zu machen. Das Konzept bewegt sich hier auf eine bestimmte Weise im Widerspruch zur antihierarchischen Repräsentationsverweigerung und zum politischen Einfluss.


Probleme mit der Öffnung der Repräsentation

Eines der offensichtlichsten Probleme mit diesem Kongresskonzept ist, dass es den Zugang zu enorm viel Infrastruktur und vor allem Raum erfordert. Das Ausmaß der Kongressesteilnahme lässt sich durch die totale Öffnung nicht planen und fast gar nicht reglementieren. Schlussendlich bestimmt erst die Partizipation den Bedarf an Ressourcen. Im Fall des Kongresses mussten wir schlussendlich noch eine Schule zusätzlich zu den ursprünglichen universitären Räumlichkeiten anmieten. Wenn der Andrang die Möglichkeiten sprengt, wären in unserem Fall zum Beispiel 300 Beiträge angemeldet worden, wüsste ich nicht, wie sich der Bedarf reduzieren ließe ohne eine Selektion von Beiträgen vorzunehmen. Es ist also ein sehr Ressourcen aufwendiges Konzept.

Ein weiterer Widerspruch ist, dass mit der Öffnung auch die eigene Gestaltungsmacht aufgegeben wird. Der Raum wird damit auch für jene problematischen Inhalte geöffnet, die in der Gesellschaft ohnehin dominieren. Es wäre dem Konzept nach zwar theoretisch durchaus möglich gewisse Beiträge zu blocken, aber auf die üblichen Antis[11] ließ sich angesichts des gigantischen Veranstaltungsausmaßes nicht mehr wirklich achten. Andere wichtige organisatorische Konzepte lassen sich im offenen Raum gar nicht umsetzen. Ein wichtiger Punkt der hierunter fällt ist, dass Frauen zumindest die Hälfte der Beiträge gestalten sollten. Beim Kongress haben Frauen, soweit sich das überhaupt eruieren lässt, nur ungefähr ein Drittel der Beiträge geliefert. Hier zeigt sich ganz klar, wie sich die patriarchale Norm im Kongress reproduziert. Für die Zukunft stellt sich hier definitiv die Frage wie diesem Problem innerhalb des Konzeptes "offener Raum" zumindest entgegengewirkt werden kann. Wer diesbezüglich Einfälle hat, soll sich bitte melden. Das Aufgeben der Gestaltungsmacht bedeutet auch, nur mehr begrenzt radikale Gesellschaftskritik hineintragen zu können. Diese läuft Gefahr, wie auch sonst überall, unterzugehen. Die Alternative, einen inhaltlich klar ausgerichteten Kongress zu machen, bringt aber ähnliche Probleme mit sich. Dort tummeln sich meist immer nur die üblichen Verdächtigen, und diese isolieren sich damit noch stärker. So gesehen birgt der offene Raum zumindest das Potential für radikale Ansätze, den eigenen Sumpf zu verlassen.

Ein konkretes Problem hat sich auch hinsichtlich der internationalen Partizipation aufgetan. Es gab einerseits bewusst einen lokalen Fokus. Deshalb wurde der Aufruftext neben Englisch, Französisch, Spanisch und Türkisch auch gezielt in Kroatisch, Serbisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch und Ungarisch übersetzt; den Sprachen der österreichischen Nachbarländer. Es war vielen wichtig sich nicht vollständig in eine regionale Isolation zu begeben und damit eine gewisse weltweite Vernetzung und Perspektive zu ermöglichen. Die Reisekosten für so weite Entfernungen wären jedoch viel zu hoch gewesen, um unbegrenzt zusagen zu können. Natürlich kann so etwas auch nicht egalitär auf der Basis funktionieren, dass sich die Personen ihre Reise selber zahlen. Die Öffnung der Einladungspolitik hatte also durchaus geographische Grenzen. Das hat dazu geführt das einige stark dafür plädierten, internationale Gäste einzuladen und hier doch eine repräsentative Auswahl zu treffen, während andere das als unvereinbar mit den Grundsätzen des Kongresses ablehnten. Schlussendlich fanden wir einen Konsens. Alle InskribientInnen des Newsletters und der Mailverteilerin wurden angeschrieben, ob sie gerne jemanden einladen wollen. Falls alle Vorschläge finanzierbar gewesen wären, hätten wir alle Vorgeschlagenen eingeladen, falls es zu viele geworden wären, war geplant gewesen allen abzusagen. Diese Lösung wäre vermutlich auf die Nicht-Finanzierbarkeit und damit ausschließlich lokale Beteiligung hinausgelaufen, aber durch den späten Zeitpunkt der Diskussion im Organisationsprozess, wurde eine einwöchige Deadline für Vorschläge gesetzt. So wurden schließlich nur vier Personen vorgeschlagen, wobei das Colectivo Situaciones absagte. Nach der Deadline kamen noch einige weitere Vorschläge, die den finanziellen Rahmen bereits gesprengt hätten. Viele andere werden ihre Vorschläge nach Ablaufen der Deadline gar nicht mehr vorgebracht haben. Diese Lösung funktionierte also nur insofern, als sie Selbstbetrug war und der internationale Einladungsprozess nicht wirklich geöffnet war. Alle Einladungsvorschläge in dieser kurzen Zeit kamen aus der Vorbereitungsgruppe. Auch hier ist die Frage ob es eine Lösung für dieses Problem gibt noch unbeantwortet. Ich vermute, dass das Konzept eines vollkommen offenen Raumes auf eine gewisse lokale Begrenzung hinauslaufen wird. Personen und Gruppen außerhalb der Kongressorganisation können natürlich internationale Gäste einladen und deren Kosten bezahlen. Das als Lösung zu verstehen, würde aber ignorieren, dass die finanziellen Möglichkeiten hierfür sehr ungleich verteilt sind und sicher nicht mehr als gleicher Zugang zur inhaltlichen Partizipation betrachtet werden kann. Diese Hierarchien durch finanzielle Möglichkeiten zeigen sich bei der Einladung internationaler Gäste natürlich besonders drastisch. Durch den Verzicht auf Kongressbeiträge, Fahrtkostenrückerstattung, Kinderbetreuung, kostenlose Unterbringung und Essen, sowie durch die Gleichbehandlung der Beiträge, haben wir dem so gut entgegengewirkt, wie es uns möglich schien.


Probleme mit der Verweigerung der Repräsentation

Ein Grundproblem mit der bewussten Repräsentations- und Artikulationsverweigerung ist, dass es zwar leicht ist als Vorbereitungsgruppe keine öffentlichen Statements abzugeben, dass aber jede darin involvierte Person einzeln natürlich Positionen vertritt. Sobald von einer Person bekannt ist, dass sie in die Vorbereitung involviert ist, wird sie automatisch als repräsentativ für den Kongress wahrgenommen. Dem sollte zwar entgegengewirkt werden, indem in einem solchen Fall unsere Grundsätze und die Subjektivität der artikulierten Position explizit betont werden sollen; verhindern lässt es sich jedoch nicht. Im Gegenteil, das Konzept ist durch informelle Repräsentation sehr leicht missbrauchbar. Es setzt enormes Vertrauen in diesen Grundkonsens und eine gewisse Gelassenheit voraus und stirbt vermutlich mit der Beteiligung der ersten EntristIn oder sonst wie Repräsentationswütigen. Soweit ich das beurteilen kann, ist uns dieses Unterfangen beim letzten Kongress gut gelungen. Niemand hat sich als SprecherIn des Kongresses inszeniert. Lediglich im Rahmen einer Diskussion über Tauschkreise, die über den Newsletter geführt wurde, entstand für viele der Eindruck, dass diese nicht gewollt sind. Personen der Organisationsgruppe, inklusive mir, artikulierten eine fundamentale Kritik an der den Tauschkreisen zu Grunde liegenden Zinskritik. Hier wurde der politischen Logik der Repräsentation entsprechend die formulierte Kritik als Versuch verstanden, das Kritisierte hinauszudrängen. Die Kommunikation drehte sich also nicht um den Inhalt der Kritik, sondern primär um deren repräsentatives Gewicht und deren Machtstatus. Hier ist es jedoch gelungen zu vermitteln, dass unsere Positionen nicht als repräsentativ für den Kongress zu verstehen ist.

Ein weiteres Problem hat sich mit dem Bedürfnis nach Pressearbeit aufgetan. Kurz vor dem Kongress, in mitten des ohnehin immensen Organisationsstresses, ist der Wunsch aufgekommen, auch bürgerliche Massenmedien anzuschreiben, weil so Menschen vom Kongress erfahren könnten, die keinen Zugang zu unseren Kommunikationskanälen haben. Dafür - so wurde sicher zu recht argumentiert - ist es notwendig deren Anforderungen entgegenzukommen und etwas Anschauliches in Form von praktischen Beispielen anzubieten. Um hier aber nicht eine repräsentative Auswahl treffen zu müssen, haben wir eine recht kreative Lösung gefunden. Allen bisher angemeldeten TeilnehmerInnen und anderweitig mit uns in Kontakt getretenen Personen wurden angeschrieben. Ihnen wurde die Möglichkeit geboten mit einer kurzen ungefähr dreizeiligen Vorstellung und ihren Kontaktdaten in die Aussendung aufgenommen zu werden. Auf diese Weise kamen über zwanzig Projekt- und Gruppenbeschreibungen zusammen, was sicher nicht den Anforderungen einer kurzen und knappen Presseaussendung entspricht. Das war aber sicher nicht der einzige Grund, warum es schlussendlich fast kein Medienecho gab. Vor allem wurde von uns nicht wirklich viel Aufwand, wie persönliche Kontaktaufnahmen betrieben. Unsere Lösung einer offenen Presseaussendung kann außerdem nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die JournalistInnen für sie interessante Projekte herausgepickt hätten und das wären jene Projekte gewesen, die sich auch sonst im Wettkampf um Selbstdarstellung gut behaupten. Es hätte sich damit schlussendlich eine informelle Repräsentation eingeschlichen und Bedeutungshierarchien zu einem gewissen Grad wieder reproduziert. Trotz dieser Probleme sehe ich in diesem Umgang eine interessante Möglichkeit Medienarbeit zu machen und trotzdem Repräsentation zu subvertieren.

Über den begrenzten Rahmen des Kongresses hinaus besteht natürlich auch der berechtigte Einwand, dass der Begriff "Solidarische Ökonomie" durch den Kongress bekannt gemacht und ihm damit politische Bedeutung gegeben wird, aber durch die gleichzeitige Nichtbesetzung und inhaltliche Leere des Begriffs, die Besetzung einfach nur anderen AkteurInnen überlassen wird. Noch dazu ist anzunehmen, dass diese vorwiegend von jenen gemacht wird, die große Routine in der öffentlichen Selbstinszenierung besitzen und sich vermutlich damit korrelierend nicht gerade durch ihre Fortschrittlichkeit im Sinne einer Einsicht in soziale Verhältnisse, also Radikalität auszeichnen. Die allgegenwärtige Konkurrenzsituation macht eben den Zwangscharakter der Repräsentation aus und die Widersprüchlichkeit ist unumgänglich. Der andere Zugang wäre hier in eine grausliche, diskursive Schlacht zu ziehen, um das semiotische Feld der "Solidarische Ökonomie" schlussendlich mit anderen, wunderschönen feministischen und kommunistischen Inhalten zu überziehen. Das ist sicher auch notwendig, aber wir haben uns hier schlichtweg entschieden ein ganz Experiment mit einem ganz anderen Fokus zu machen und zumindest am Kongress einen Waffenstillstand durchzusetzen. Nur soweit es gelingt, die Repräsentationslogik und ihre Eigendynamik zu umgehen, können sich sonst negierte Aspekte wie Kooperation, Vielfalt und Selbstkritik entfalten. In solchen Freiräume können utopische Momente entstehen, die unfetischisierten Interaktionsformen näher kommen und einen wichtigen Teil in der praktischen Negation der Verhältnisse spielen.


Fragend gehen wir voran

Eine Stärke im Kongresskonzept sehe ich in der spezifischen Vermittlung im uralten Konflikt zwischen reformerischen und revolutionären Bestrebungen. Der Konflikt hat in der Geschichte oft enorm hinderliche Züge angenommen, die weder den systemimmanenten Kämpfen nützen noch die Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse vertiefen. Derzeit dominiert ohne Frage eine Seite. Falsche Hoffnungen und Selbstlügen haben Hochkonjunktur. Die radikale Linke hingegen befindet sich in einer Isolation. Darüber ob selbst gewählt oder hineingedrängt, lässt sich streiten, aber sie hat es sich dort ohne Frage oft sehr selbstgefällig eingerichtet. Ich glaube, dass große "offene Räume" eine wichtige Möglichkeit bieten können, aus der Isolation heraus zu kommen ohne sich erst ein politisches Terrain erkämpfen zu müssen. Die Hoffnung für eine neue Blüte der Kritik liegt darin, dass es zahlreiche Leute gibt, die beginnen sich politisch zu engagieren und dadurch auch die Erfahrung machen zu scheitern, denen aber das analytische Instrumentarium fehlt, um die gesellschaftlichen Ursachen zu erfassen. Diese Leute kommen zahlreich zu solchen Veranstaltungen und die Aufgabe fortschrittlicher Kräfte wäre deshalb dort dieses Instrumentarium anzubieten und die falschen Hoffnungen zu enttäuschen. Hierzu will ich an dieser Stelle alle zum nächsten Kongress einladen. Es gibt keinen richtigen Kongress und überhaupt keine richtige Praxis im Falschen. Uns bleiben nur begrenzte und widersprüchliche Experimente. Sicher lässt sich nur sagen, dass es einer fundamentalen Gesellschaftskritik und der durch sie geschaffenen Perspektive bedarf, die gesellschaftliche Totalität zu zerstören, die uns in diesen Widersprüchen gefangenhält und ein gutes Leben für alle verhindert. Bis zum Ende dieser Verhältnisse und damit auch dem Ende der Politik bleibt das Scheitern untrennbar an jeden Versuch der Verbesserung der Lebensbedingungen gebunden. Wer auf Repräsentation komplett verzichtet, bleibt machtlos um etwas zu verändern, und wer nach ihr strebt, verliert sich in der fetischisierten Eigendynamik. In diesem Spannungsfeld gefangen ist die Frage emanzipatorischer Bewegungen, wie die Welt verändert werden kann ohne die Macht zu ergreifen; und zwar nicht nur die Staatsmacht sondern jegliche im Repräsentationsfetisch gefangene politische Machtposition. Nur eine theoretische Perspektive der Systemüberwindung zu bewahren ist ein bisschen wenig und die praktische Seite der Negation verlangt nach kreativen Experimenten, in denen wir die Begrenztheit und Widersprüchlichkeit schlichtweg aushalten müssen. Die Revolution als Prozess wird insofern die Form spielerischer Experimente annehmen und eine kritische Masse global überschreiten müssen um aus dieser Misere herauszukommen und der Kongress und das Modell eines "offenen Raums" war hier hoffentlich mehr Beitrag als Hindernis dazu.

E-Mail: Arno.Uhl@reflex.at


Anmerkungen:

[1] Statt "Kapitalismus" bevorzuge ich für die Bezeichnung des herrschenden Gesellschaftssystems "warenproduzierendes Patriarchat", ein Begriff der von Roswitha Scholz geprägt wurde, da diese Gesellschaft sowohl durch die Logik der Warenproduktion als auch durch eine alles durchziehende patriarchale Herrschaftsmatrix geprägt ist.

[2] Das bedeutet nur, dass es keine offiziellen oder irgendwie privilegierten Kongressgäste gab. Jede konnte einladen und das haben auch alle aus der Organisationsgruppe gemacht.

[3] Bei einer Versammlung kann jede Person eine Arbeitsgruppe zu einem Thema ausrufen, vorausgesetzt sie übernimmt auch deren Koordination. Nachdem alle in Kleingruppen waren, können die Ergebnisse in einer Abschlussrunde präsentiert und diskutiert werden.

[4] Es ist hier angesichts des abstrakten Charakters der Ausführungen wichtig nicht zu vergessen, dass es sich immer um eine historisch verortete Analyse der Kategorie "Repräsentation" handelt und nicht um eine allgemeine überhistorische Definition.

[5] Um Repräsentationsfetisch wirklich adäquat zu erfassen, bräuchte es eine ausgereifte Kritik der Politik und des Staates. Abgesehen davon, dass ich glaube, dass hier ohnehin noch große Lücken in der kritischen Theoriebildung bestehen, bin ich auch noch alles andere als sattelfest in den bestehenden Konzeptionen.

[6] Im Feudalismus verbindet sich die Verfügungsgewalt über das Land mit der politischen Hoheit. Erst mit der sukzessiven Monopolisierung der Macht bildet sich schließlich der Staat heraus, der sich durch ein fixes bürokratisches Verwaltungs- und Rechtssystem, sowie ein Gewalt- und Steuermonopol auszeichnet.

[7] Darunter fallen Verwaltungstätigkeiten staatlicher Institutionen; die Produktion von Konzepten & Ideen; rechtliche Entscheidungen und politische Machtkämpfe.

[8] Arbeit nicht im Sinne menschlich produktiver Tätigkeit, sondern verstanden als Tätigkeit zur Schaffung von Tausch- bzw. Geldwert.

[9] Hier spielen ebenfalls existierende Bedürfnisse eine Rolle, die als historisch gewordene jedoch auch immer Teil der Kritik sein müssen. Trotzdem ist das transzendentale Moment insofern eben nicht nur negativ bestimmt.

[10] Die Wertkritische Emanzipatorische Gegenbewegung versucht umsonstökonomische Projekte zu organisieren und ist vor allem für den Kost-Nix-Laden, die Schenke und das Theoriebüro bekannt.

[11] rassistisch, existisch, homophob, antisemitisch ...

Raute

Buchbesprechung von Anton Pam

Clemens Knobloch: Wir sind doch nicht blöd: Die unternehmerische Hochschule

Münster: Westfälisches Dampfboot, 2010, 264 Seiten, Euro 24,90

Die Kritik der unternehmerischen Hochschule

Spätestens seit den Studierendenprotesten in Österreich 2010 werden die Reformen des Hochschulsystems in einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert. Clemens Knobloch hat mit "Wir sind doch nicht blöd: Die unternehmerische Hochschule" eine ausführliche Kampfschrift gegen die "neo-liberalen" Reformen am deutschen Beispiel verfasst. Sein Buch bietet eine Übersicht durch den Dschungel der neuen Konzepte und Institutionen. Um hier nur einige wichtige zu umreißen: In ganz Europa wurden die Studiengänge auf das sogenannte "Bologna-System" umgestellt. Das beinhaltet die Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen sowie eines vermeintlich einheitlichen "European Credit Point System" (ECTS) zur Bewertung des Zeitaufwandes für Studierende pro Kurs und Studiengang. Diese Maßnahme sollte die Mobilität der Studierenden erhöhen und den Wechsel der Universität erleichtern. "Bologna" wird von der EU und nationalen Regierung als europäische Marke entwickelt. Auch einzelne Universitäten müssen "Profilbildung" betreiben und sollen um "exzellente" oder zahlkräftige Studierende sowie Drittmittel (Gelder von Wissenschaftsfonds und Unternehmen) konkurrieren. Fakultäten, Studiengänge, neueingestellte ProfessorInnen und wissenschaftliche MitarbeiterInnen werden externen Evaluierungen ihrer Leistungen unterworfen, die für das Fortkommen und die Finanzierung zentral sind.

Durch ein Ranking von wissenschaftlichen Journalen nach ihrer Bedeutung soll der Wert von Veröffentlichungen messbar gemacht werden. Eingesetzte Gremien, die zum Teil auch mit ehemaligen Managern besetzt sind, übernehmen die Leitung der Hochschulen. Demokratisch gewählte Selbstverwaltungsgremien werden schrittweise entmachtet. Außerdem wird die Hochschullandschaft "diversifiziert" und hierarchisiert. In Deutschland werden Gewinner der sogenannten "Exzellenz-Initiative" - einzelne Universitäten oder Cluster - mit zusätzlichen Millionen von Bund und Ländern gefördert und damit die Unterschiede zwischen den Universitäten vergrößert.

Der populistische Angriff auf die Selbstverwaltung

Knobloch erklärt im ersten Teil des Buches überzeugend, wie es überhaupt möglich war, diese Reformen durchzusetzen. Seit Jahrzehnten hatten die Universitäten mit chronischer Unterfinanzierung bei steigenden Studierendenzahlen zu kämpfen. Zwischen 1980 und 2010 stiegt die Zahl der Studierenden in Deutschland von 1,03 auf 2,11 Millionen. Von Politik und Medien wurde erfolgreich ein Diskurs über den "korporativen Erstickungstod" der Universitäten vom Zaun gebrochen, in deren Selbstverwaltungsgremien "Besitzstandswahrer" alle Reformversuche blockieren würden. Um wieder aktionsfähig zu werden, müsse diese Blockade gebrochen werden. Ironischerweise findet der Angriff auf die "alte" Universität unter den wohlklingenden Parolen "Autonomie", "Hochschulfreiheit" und "Selbstverantwortung" statt. (S.22). Knobloch meint, dass das "New Public Management" von den linken KritikerInnen der Universität gelernt habe, ihre Schlagworte aufgreife und ihnen neue Bedeutungen gebe. Besonders wird heute die "gesellschaftliche Verantwortung" der Universitäten betont. Die "Autonomie" bedeute aber, dass die Hochschulen mit den Ministerien der Landesregierungen nur noch "Zielvereinbarungen" abschließen und damit ihre Finanzierung nur noch teilweise durch den Staat gedeckt wird. An den Universitäten im Bundesland Nordrhein-Westfalen umfasste z.B. der garantierte Globalhaushalt nach der Einführung des "Hochschulfreiheitsgesetzes" 2007 nicht mal mehr die volle Lohn- und Gehaltssumme der Uniangehörigen (S.25). Mit gesellschaftlicher Verantwortung sei nun gemeint, möglich effizient AbsolventInnen für die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zu produzieren. Der Autor meint zu Recht, dass der Diskurs von faulen und ineffizienten ProfessorInnen in ihrem "weltfremden Elfenbeinturm" sich einer populistischen Beliebtheit in breiten Teilen der Bevölkerung erfreue. Daher würde es von vielen begrüßt, dass die Universität nicht mehr selbst Maßstäbe für ihre Leistungen festlegen soll, sondern von "unabhängigen Gutachtern" von außen bewertet wird.

Im Zuge dessen hat sich ein mächtiges Akkreditierung(un)wesen herausgebildet. "Unabhängige" Agenturen bewerten z.B. neue Studiengänge. Ihre Urteile sind für die Genehmigung zentral. In Deutschland können JuristInnen bisher nicht sagen, ob die Akkreditierungsagenturen, die 15.000 bis 20.000 Euro pro Studiengang kassieren, unter öffentliches Recht oder Privatrecht fallen (S.109). Die Pflichtakkreditierung aller Studiengänge durch private Agenturen als radikales "Entöffentlichungsprogramm" ist interessanterweise bisher ein deutscher Alleingang (S.83). Knoblauch weist mehrfach darauf hin, dass die einflussreiche Bertelsmann-Stiftung sowohl viele "Reformen" vorgedacht hat als auch im Evaluierungswesen stark vertreten ist. Zum Glück macht der Autor daraus keine Verschwörungstheorie, in der sich Bertelsmann das deutsche Hochschulwesen unterworfen hat.

Verunsicherung als Erziehungsprogramm

Knobloch zeigt auch, dass es bei der Einführung von Studiengebühren in mehreren Bundesländern nicht nur um zusätzliche Gelder für die Universitäten geht. Er sieht Studiengebühren vor allem als Erziehungsprogramm gegenüber den Studierenden sich selbst als unternehmerisches Humankapital und das Studium als eine Investition in die Zukunft zu begreifen. In diesem Zusammengang weist er auf mehrere Widersprüche hin. Einerseits werden die Studierenden von der Universität als KundInnen geschätzt, anderseits aber einem "System von tausend Nasenringen" in Form von Prüfungen und vorgeschriebenen Modulen unterworfen, weil sie sonst zur Faulheit und Bummelei neigen könnten (S.167). Der Kunde erwartet zwar Qualität für sein Geld, möchte aber anderseits möglich schnell (und leicht) durch sein Studium kommen. Zwar könne die Zahlung von Gebühren das Selbstbewusstsein des Kunden erst ein Mal stärken, aber die minutiöse Bürokratie von Modulen und Kreditpunkten würde ihm die Flügel schon wieder stutzen. Die StudienabbrecherInnen der Zukunft seien kognitiv eher unterfordert, aber bürokratisch überfordert. Knobloch zeigt, dass viele Maßnahmen gar nicht so funktionieren wie sie von ihren Erfindern erdacht wurden. Etwas gewagt ist jedoch die Behauptung, dass die ständigen Reformen und das Zielwirrwarr der Stresserzeugung bei Hochschulangestellten und Studierenden dienen würde, um Verunsicherung als Machtmittel einzusetzen. Dabei verlören die Unterworfenen ihr Selbstbewusstsein und die Unkosten der Herrschaft könnten auf sie abgewälzt werden (S.118). Auch wenn es sicher richtig ist, dass an den Universitäten Verunsicherung vorhanden ist, stellt sich Knobloch gesellschaftliche Herrschaft hier zu einfach vor. Es scheint, dass irgendwo jemand sitzt, der ständige Regeländerungen ausheckt, um alle zu verunsichern. Die Implementierung der "Reformen" wird sicherlich auch von einer nicht zu kontrollierenden Dynamik der Interaktion zwischen den verschiedenen Ebenen und AkteurInnen beeinflusst. Außerdem darf man auch ideologische Blindheit nicht unterschätzten. Viele Befürworter von "Bologna" haben sicher selber geglaubt, dass alles in ihrem Sinne funktionieren wird.

Das Lob der alten Massenuniversität

Knoblochs Kritik an der unternehmerischen Hochschule ist weitgehend überzeugend. Er hat sich durch die Dokumente der "Think Tanks" und Universitätsleitungen durchgearbeitet. Leider unterscheidet er nicht immer zwischen Absichtserklärungen und der Realität an den Universitäten. Einige Thesen sind sicher polemisch überspitzt und empirisch nicht untermauert. So stellt er z.B. den heutigen Studierenden ein studentisches Milieu der 1980er Jahre als "alternativ-oppositionellen Lebenstill" gegenüber (S.140). Damals hätte die Propaganda vom unternehmerischen Selbst nicht den Hauch einer Chance gehabt. Gegen Ende neigt das Buch zur Idealisierung der Universität vor den "Bologna-Reformen". Zwar grenzt sich Knobloch mehrfach von Konrad Liessmann ("Theorie der Unbildung", 2006) ab, der in der Pose des Bildungsbürgers über den Untergang des europäischen Abendlandes jammert. Diese Haltung und deren Wirkungslosigkeit hätten den "managerialen Putsch" erst möglich gemacht (S.149). Am Ende hält Knobloch ein Plädoyer für eine selbstbewusste Massenuniversität, die sich nicht den Zwängen des Marktes unterwerfen soll.

Vor "Bologna" hätten die Hochschulangestellten den Ansturm der Studierenden eigentlich ganz gut bewältigt und trotzdem noch weiter geforscht und damit ihre "Effizienz" bewiesen. Durch die derzeitigen "Reformen" seien Motivation von Lehrenden und Studierenden hingegen angeschlagen und die Wissenschaft sei bedroht, wenn sie auf die Verwertbarkeit für die Wirtschaft reduziert werde. So fasst Knobloch zusammen: "Bildung und Wissenschaft für frei bleibende Zwecke. Spätere Verwertung nicht ausgeschlossen. Das wäre ein Leitbild für eine wirklich autonome Universität. Wobei ausdrücklich gilt: Die wirtschaftliche Verwertung ist eine unter vielen (...). Wem nützt Bildung, die durch ökonomischen Druck stromlinienförmig gemacht wurde?" (S.252). So bleibt der Eindruck, dass Knoblauch sagen möchte, dass auch für den Kapitalismus die alte Massenuniversität die besseren WissenschafterInnen und AbsolventInnen hervorgebracht hat. Denn was nicht direkt für die Verwertung produziert wird, kann besser verwertet werden. Die Frage bleibt dann natürlich, worin das kritische Potential der alten Hochschule überhaupt bestand? Sollte man die "Bologna-Reformen" als Tendenz des Kapitalismus, sich selbst zu untergraben begreifen? Dagegen würden die disziplinierenden Effekte für Studierende und Hochschulangestellte sprechen, die Knobloch selbst ausführlich beschreibt. Leider geht er nicht darauf ein, inwiefern sich auch der Kapitalismus in den letzten 30 Jahren verändert hat. So erscheinen die Reformen als Produkt von "neo-liberalen" Diskursen.

Keine Kritik des bürgerlichen Wissenschaftsbegriffs

Eine Kritik gesellschaftlicher oder universitärer Arbeitsteilung (Hand- und Kopfarbeit, Geschlechterrollen, ProfessorInnen und MitarbeiterInnen usw.) oder des bürgerlichen Wissenschaftsbegriffs findet nicht statt. Im Gegenteil beklagt Knobloch: "Die eigentümliche Macht der Universität bestand jedoch darin, den äußeren Mächten ihre eigene Form aufzuzwingen, die Transformationsmacht des wissenschaftlichen Feldes, in dem nur zugelassen wurde, was selbst als wissenschaftliche Frage formuliert werden kann." (S.264) Bestürzend sei der Zugriff von MarktakteurInnen auf dieses Feld. Meiner Meinung nach waren die Fragen, die als "wissenschaftlich" zugelassen wurden, immer begrenzt und konnten selten das bestehende System in Frage stellen. Die Verwissenschaftlichung von Debatten ist auch problematisch, wenn z.B. versucht wird nachzuweisen, dass Marx Theorien (un)wissenschaftlich seien, anstatt mit offenem Visier politisch zu argumentieren. Bis heute greifen rechte Organisationen das politische Engagement von Studierendenvertretungen oder Lehrenden an, weil das ihre Kompetenz überschreiten würde. Die Abtrennung eines eigenen Machtbereichs der Wissenschaft von der Gesellschaft wurde auch in linken bzw. kommunistischen Bewegungen im vergangenen Jahrhundert kritisiert. Zum einem muss hinterfragt werden, wenn sich "ExpertInnen" mit Theorien und Fußnoten gegenüber "LaiInnen" unangreifbar machen wollen. Der akademische Titel stattet die SprecherIn mit einer Macht aus, bevor sie den Mund überhaupt aufgemacht hat. Eine fortschrittliche Wissenschaft habe sich in den Dienst der Umwälzung der revolutionären Gesellschaft zu stellen und sich als Teil der sozialen Bewegungen zu begreifen, galt damals.

Die Frage der Verwertbarkeit von Forschungsergebnissen für die Gesellschaft wurde auch von linker Seite aufgeworfen. Zum Beispiel könnte eine wissenschaftliche Untersuchung der Besitzverhältnisse Teil einer Kampagne zur Bodenreform sein. Anstatt einfache Menschen nur als Gegenstand der Forschung zu betrachten, sahen linke WissenschaftlerInnen sie als ihre eigentlichen Auftraggeber. Die "Beforschten" sollten ein Mitspracherecht bekommen. Natürlich besteht die Gefahr einer Verflachung und Instrumentalisierung der Wissenschaft auch in diesem Zusammenhang. In den real-sozialistischen Staaten wurde Forschung oft für tagespolitische Zwecke oder Propaganda instrumentalisiert. Das Problem des Verhältnisses von Wissenschaft zur politischen Bewegung muss weiter debattiert werden und kann heute, da diese Bewegung in Deutschland und Österreich fehlt, nicht gelöst werden.

Dass die "eigentümliche Macht der Universität" und Wissenschaft nun von den VertreterInnen des "New Public Management" gebrochen wird, ist natürlich zu bedauern, weil noch vorhandene Freiräume weiter eingeschränkt werden. Knoblochs Buch ist ein guter Einstieg in die unternehmerische Hochschule. Auch für Menschen, die an Universitäten arbeiten und täglich mit den "Bologna-Reformen" konfrontiert sind, bietet "Wird sind doch nicht blöd" durchaus einige neue Erkenntnisse.

Raute

Buchbesprechung von Sebastian Kalicha

Achim Bühl: Islamfeindlichkeit in Deutschland. Ursprünge, Akteure, Stereotype.

Hamburg: VSA Verlag, 2010, 320 Seiten, Euro 22,80

Auf antirassistische Arbeit ist in emanzipatorischen und linken Kreisen ein Hauptaugenmerk gerichtet - völlig zurecht. Zu versuchen, die Mechanismen offenzulegen, wie Gruppen als "fremd" und im weiteren Verlauf häufig als "minderwertig" konstruiert werden und wurden, ist unerlässlich, um gegen RassistInnen aller Art aktiv werden zu können. Unausweichlich ist deshalb auch die Frage, wie das Phänomen der Islamfeindlichkeit behandelt wird. In der Szene scheint man sich teilweise offenbar recht schwer damit zu tun den richtigen Umgang hiermit zu finden. Viele (teilweise etwas seltsam anmutende) Fragen werden im Zuge solcher Diskussionen, in denen die Fronten schnell etwas verhärtet wirken, immer wieder aufgeworfen: gibt es so etwas wie Islamfeindlichkeit überhaupt? Hat das alles irgendetwas mit Rassismus zu tun oder ist das alles ohnehin nur legitime und notwendige Religionskritik, die völlig zu unrecht als Rassismus diffamiert wird? Ist das alles gar eine Strategie "der IslamistInnen" , um das Thema des Antisemitismus ins Abseits zu drängen? Sachliche Antworten auf derartige Fragen erhält man nur schwer, wobei positiv angemerkt werden muss, dass in jüngster Zeit zu diesem Thema verstärkt Brauchbares publiziert wurde. Das Buch des Soziologen Achim Bühl zu Islamfeindlichkeit in Deutschland ist - soviel sei vorweg verraten - eines dieser lesenswerten Publikationen zu diesem Thema.

Aber nicht nur in aktivistischen Kreisen herrscht Verwirrung und Uneinigkeit: Thilo Sarrazin kann schier unglaubliches von sich geben, und der politische Mainstream meint bloß, er habe sich wohl etwas im Ton vergriffen. Die Thesen an sich, die er in seinem Buch, in Zeitungsinterviews und Pressekonferenzen von sich gibt, werden in ihren Grundzügen nicht oder kaum angezweifelt (lediglich sein "Juden-Gen"-Sager wurden von allen Seiten abgelehnt), der inhärente Rassismus als "provokante Thesen" verharmlost. Sarrazin genauer analysierend, kommt Bühl zu treffenden Schlüssen wie: "Verschwörungstheorien gepaart mit dystopischer Bevölkerungsprognostik, dies war das Einmaleins rassenhygienischer Handbücher. Wie in der rassistischen Eugenik, so werden auch bei Sarrazin Migranten in Gruppen unterteilt und mit wertenden, stereotypen Eigenschaften versehen. [...] Die platzierende Sortierung von Intelligenz, Charaktereigenschaften und Integrationsfähigkeit in Abhängigkeit von ethnischer Zugehörigkeit und ihrer 'genetischen Ausstattung' ist faschistische Rassenhygienik pur." (S. 139f) Der Autor kommt durch sorgfältige Analyse zu dem ganz richtigen Schluss, dass es hier nicht um ein "im Ton vergreifen" geht, sondern um Rassismus, der als solcher benannt und angeprangert werden muss. Sein Beitrag zu der "Sarrazin-Debatte" ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Und Sarrazin ist nur eine Facette dieses komplexen und auch historisch interessanten Phänomens der Islamfeindlichkeit. Was uns zu einer weiteren Stärke des Buches führt: der Autor belegt eindrücklich, dass Islamfeindlichkeit kein Phänomen ist, das es erst seit kurzem oder, wie so oft angenommen wird, seit dem 11. September gibt. Gut ein Drittel des Buches widmet sich den historischen Wurzeln dieses Phänomens (die laut dem Autor mindestens bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen), und wie es, gemeinsam mit dem Antisemitismus, vor allem während der Reconquista (die als "Geburtsstunde des modernen Rassismus" und "Wurzel des antisemitischen wie antimuslimischen Rassismus" beschrieben wird), essentiell war, um das auch heute noch so intensiv bemühte "christlich-europäische Abendland" auf Kosten der "Anderen" konstruieren zu können. Diese Konstruktion sei von Anbeginn an zutiefst antijüdisch und antimuslimisch gewesen.

Dass der Autor viel Wert darauf legt, Sachverhalte die er diskutiert, erstmal genau zu definieren, ist zu begrüßen. Diese akkurate Herangehensweise lässt sich z.B. auch daran erkennen, dass es ein eigenes Kapitel gibt, das sich mit der Frage beschäftigt, welcher Begriff denn nun der angemessene sei, um diese Problematik zu diskutieren: Islamfeindlichkeit, Islamophobie, anitmuslimischer Rassismus, Antiislamismus, Muslimfeindlichkeit, ... die Wahlmöglichkeiten sind zahlreich. Bühl hält den recht gängigen Begriff der Islamophobie für nicht geeignet. Er argumentiert, dass antimuslimischer Rassismus/Islamfeindlichkeit keine diffuse Angst, keine Phobie ist, die den Rassisten/die Rassistin zum Opfer seiner/ihrer Unwissenheit oder irrationalen Ängste macht, sondern eine "intentionale sowie rationale gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" (S. 292) sei. Er führt weiter aus: "Judenfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit stellen weder eine Phobie dar, noch ein Vorurteil, sondern ein Denken und Handeln, das auf die Existenz des Anderen zielt. [...] Judenfeinden wie Islamfeinden ist weder psychologisch noch pädagogisch zu begegnen, sondern letztendlich nur politisch [...]". (S. 295)

Dies führt zu einem weiteren äußerst spannenden Thema, das das Buch (leider aber zu kurz) anschneidet: das Verhältnis von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Bühl stellt zu Beginn des Kapitels die Frage, ob es legitim sei "Islamfeindlichkeit mit Antisemitismus zu vergleichen?". (S. 271) Eine spannende Frage, über die besonders heftig gestritten wird. Wer jetzt aufschreckt und ein plattes "die Muslime sind die Juden von heute"-Gerede erwarten, liegt glücklicherweise falsch. Achim Bühl stellt einige essentielle Dinge klar. Es geht ihm darum, diese beiden Phänomene "komparatistisch [zu] betrachten, Parallelen heraus[zu]arbeiten sowie Grenzen des Vergleichs [zu] markieren." (S. 272, Hervorhebung S.K.). Und auch, dass diese Herangehensweise "per definitionem auf eine Relativierung der in der Komparatistik einbezogenen Objekte hinausliefe" sei, so der Autor, "wissenschaftlich [...] nicht haltbar" (S. 285) und macht unmissverständlich klar, dass die Shoah eine dieser deutlichen Grenzen ist, die es zu ziehen gilt. Leider ist dieses Kapitel trotz seiner spannenden Ausführungen verhältnismäßig kurz ausgefallen. Eine ausführlichere Analyse hätte dem Buch gut getan, da speziell zu diesem Themenfeld brauchbare und sachliche Analysen äußerst rar sind.

Zusammengefasst kann gesagt werden, dass das Buch eine kohärente Analyse des Phänomens der Islamfeindlichkeit bietet. Es ist von einer klar antirassistischen Position aus geschrieben, dessen argumentative und rhetorische Schärfe (und in diesem Sinne Parteilichkeit) gut tut. Von historischen Abhandlungen bis hin zu akkuraten Analysen der bekanntesten ExponentInnen der sog. "IslamkritikerInnen" wie Thilo Sarrazin, Ralph Giordano, Necla Kelek, Alice Schwarzer oder der Aktion 3.Welt Saar, hat das Buch alles zu bieten und ist zudem auf dem aktuellen Stand der Diskussion und Forschung.

Raute

Buchbesprechung von Robert Foltin

Marianne Pieper / Thomas Atzert / Serhat Karakayali / Vassilis Tsianos: Biopolitik in der Debatte.

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, 343 Seiten, Euro 39,95

Dieses Buch ist die Fortsetzung von "Empire und die biopolitische Wende" von denselben Herausgeber_innen und ebenso ein Ergebnis der Tagung "Zukunft und Visionen des Sozialen" des Research Centre for Feminist, Gender and Queer Studies am Institut für Soziologie der Universität Hamburg im Dezember 2003. Ergänzt wird es durch neue Beiträge und solche, die früher entstanden sind. Die Tagung war als Auseinandersetzung mit der Theorie von "Empire" gedacht, wie sie von Michael Hardt und Toni Negri vorgeschlagen wird[1]. Auf Verschiebungen in der Diskussion, etwa die Bevorzugung des Begriffs "biopolitische Produktion" statt immaterieller und affektiver in "Common Wealth" konnte noch nicht eingegangen werden. Gerade aus feministischer Perspektive wurde die "Aufteilung" in tendenziell "männlicher" immaterieller Arbeit und der "weiblichen" affektiven Arbeit kritisiert (vgl. Schultz im besprochenen Band).

In der Diskussion um Biopolitik wird das "ganze Leben" einbezogen, darum soll hier kurz die "biopolitische Wende" angesprochen werden. Nach seiner Einführung durch Michel Foucault wurde der Begriff Biopolitik mit Verzögerung populär gemacht: Er beschreibt bestimmte Logiken und Technologien der Machtausübungen über die Bevölkerungen. Immer mehr Einzeluntersuchungen wurden durchgeführt, zuerst als Analyse der Umgang mit dem Leben wie etwa in der Medizinethik oder allgemein philosophisch wie etwa durch Agambens "Homo Sacer", schließlich in einer Reihe von Untersuchungen über liberale "Regierungsformen" (Gouvernementalität). In "Empire" wurde der Blickwinkel verändert, neben der Machtausübung von oben als "Biomacht", wurde "Biopolitik" als Widerständigkeit gesehen. Schon Foucault spricht davon, dass sich auch die Widerstand leistenden Kräfte auf das Leben und den Menschen als Lebewesen berufen (vgl. Lemke im besprochenen Band). Die Zeit, in der die Biopolitik in die Diskussionen eingeht, ist nicht zufällig mit dem Auftreten vielfältiger Bewegungen verbunden, der Ökologiebewegung, der Zweiten Frauenbewegung, der Antipsychiatrie und Anti-Gefängnisbewegung, der Kämpfe gegen Medikalisierung sowie der Schwulen- und Lesbenbewegung (S. 11). Diese Widerständigkeiten richten sich gegen die Biopolitik als Kontrolle der Bevölkerungen, und machen dadurch die Körper und das Leben produktiv, die vorher diszipliniert wurden. Jetzt versucht der Kapitalismus diese Produktivität wieder auszunützen, als Förderung von Selbstverantwortung und Autonomie, durch die Akzeptanz der Selbstbestimmung der Körper, aber auch der Ausgrenzung des nicht Verwertbaren. Der Blickwinkel des Produktiv-Machens der Unterdrückung und der Widerstand dagegen sind ein Ansatzpunkt in "Empire".

Dieser wird von drei Beiträgen kritisiert. Thomas Lemke (S. 109ff: Imperiale Herrschaft, immaterielle Arbeit und die Militanz der Multitude) kritisiert an "Empire", dass sich Multitude ("produktiv-kreative Biopolitik") und Empire ("parasitär-abschöpfende Biomacht", S. 124) praktisch unversöhnlich gegenüber stünden. So konnten zwar ein wichtiger Reflexionsprozess ausgelöst werden, aber es würden keine konkreten Konzepte angeboten, wie "eine demokratische und autonome Selbstproduktion möglich" sei (S. 125). Susanne Schultz (S. 129ff: Gegen theoretische Strategien der Ganzheitlichkeit: Eine feministische Kritik an "Empire") meint, dass Hardt und Negri einen Beitrag zur feministischen Theoriebildung versprechen, tatsächlich aber kein Instrumentarium anbieten, um das sich verändernde Verhältnis von Produktion und Reproduktion zu beschreiben. Neben der Kritik des Begriffs der "affektiven Arbeit" als einer (vielleicht unbewussten) Festschreibung der geschlechtlichen Verhältnisse werden die "imperialen Subjektivitäten" als hybride Strukturen bereits jenseits der Ausbeutung und Unterdrückung verortet, was noch einmal die geschlechtlichen Herrschaftsverhältnisse verschleiert. Stefanie Graefe (S. 263ff: Zwischen Wertschöpfung, Rebellion und "Lebenswert": Leben und Biopolitik in "Empire") sieht in der positiven Sichtweise der "Produktivität von Leben" sowohl im sozialen Kollektivkörper wie in der individuellen Kreativität der Subjekte (S. 269) eine Idealisierung der biopolitischen Produktivität, die die Destruktion des herrschenden Empire nicht adäquat erfasst. Zu einer Verteidigung des Konzepts von Empire und Multititude setzen no spoon an (S. 181ff: Das Unbehagen an der Biopolitik), eine "Kooperation von Leuten, die neben der Freundschaft die gemeinsame Erfahrung in linken Projekten verbindet" (S. 341). Sie finden gerade in dieser Theorie die Ansätze zu einer Politik, die sich nicht mehr an Formen der Souveränität oder an Identitäten klammert. Weniger mit "Empire", sondern mit Biopolitik im Allgemeinen, mit dem Blick auf Foucault setzen sich weitere Beiträge auseinander. Maurizio Lazzarato (S. 97ff: Biopolitik / Bioökonomie: Eine Politik der Multiplizität) beschreibt die Verschiebung der herkömmlichen Subjekte von Arbeit und Politik in Richtung vielfältiger minoritärer Subjekte, die durch die Biopolitik "regiert" werden. Stephan Adolphs (S. 141ff: Biopolitik und die anti-passive Revolution der Multitude) konfrontiert Foucaults Konzept der Biopolitik mit der Staatstheorie von Nicos Poulantzas und kann dadurch die marxistischen Fragestellungen mit der Subjektkritik des Poststrukturalismus verknüpfen. Eine historische Untersuchung aus biopolitischem Blickwinkel ist der Beitrag von Tobias Mulot (S. 227ff: Sie schreiben einen Namen in den Himmel. Historische Überlegungen zur Politik der Multitude bei Michel Foucault, Pierre-Simon Ballanche und Jacques Rancière), der den Auszug der Plebejer aus dem antiken Rom als Auftauchen einer nicht repräsentierten Vielstimmigkeit der Multitude erkennt. Astrid Kusser (S. 275ff: Körper in Schieflage. Skizzen einer Genealogie von Tanzen und Arbeiten im Black Atlantic) untersucht "afrikanischen Tanz" und dessen Rezeption im kolonialen Kontext als widersprüchliche Form der Disziplinierung, Aneignung durch die Weißen und Möglichkeiten der Subversion.

Rassistische Strukturen analysieren Marianne Pieper, Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos (S. 193ff: Konjunkturen der egalitären Exklusion: Postliberaler Rassismus und verkörperte Erfahrung in der Prekarität), indem sie die biopolitische Produktivität im Kontext von Rassismus und Prekarität sowohl als Unterwerfung, als auch als dissidentes Potential eines Ermächtigungsprozesses sehen. William Walters (S. 305ff: Mapping Schengenland. Die Grenze denaturalisieren) analysiert die Verschiebung der Kontrolle weg von den historischen Grenzen hin zu einem biopolitischen Raum, der sich über das Territorium der EU und darüber hinaus erstreckt. Ergänzt wird dieses Buch noch durch philosophische Diskussionen. So wird erstmals ein Aufsatz von Achille Mbembe (S. 63ff: Nekropolitik) ins Deutsche übersetzt. Darin wird das Foucault'sche Konzept der Biomacht an Hand kolonialer und postkolonialer Grausamkeiten, etwa in der Plantagen der Kolonien, als Macht des Todes über das Leben analysiert und der Begriff der "Nekropolitik" eingeführt. Damit wird der eurozentristische Blick der Biopolitik korrigiert. Thomas Seibert (S. 163ff: Die Abenteuer der Ontologie. Zwischenbilanz einer laufenden Auseinandersetzung um das biopolitische Sein) ist auf der Suche nach einer "materialistischen Teleologie", die er in der nicht-dialektischen Form des Exodus findet wie auch im Militanten, der am Ende von "Empire" auftaucht: zielgerichtet aktiv als Antwort auf das "zufällige" (aleatorische) Auftauchen der Revolte. Der erste Beitrag ist von Antonio Negri (S. 29ff: Konstituierende Macht), der in den Kämpfen um die Konstitutionen in der frühen Neuzeit, der englischen und amerikanischen sowie der französischen und der russischen Revolution die die subversiven Elemente der Konstituierung herausarbeitet, die sich dort erschöpft haben (konstituierte Macht wurden), aber in Zukunft wieder als Möglichkeit (potentia) der Multitude auftauchen.

Die Übersetzung von Beiträgen der internationalen Diskussion ist von unschätzbarem Wert für die Weiterentwicklung der Debatte im deutschsprachigen Raum, die sonst an einer eigenen Nabelschau leidet und viele internationale Diskurse reflexartig ablehnt. Obwohl "Biopolitik - in der Debatte" ein bisschen zusammengewürfelt wirkt, bieten die unterschiedlichen Beiträge brauchbare Ansätze, die es erlauben, in aktuelle Bewegungen zu intervenieren. Der Bezug auf die Widerständigkeit, die Wendung der pessimistischen Sichtweise Foucault's ins positive bei "Empire" bietet Ansätze für Bewegungen, auch wenn dadurch wieder die Gefahr der Beliebigkeit entsteht. Der Sammelband beschäftigt sich sowohl mit den Möglichkeiten der Revolte wie auch mit den Fallstricken einer zu optimistischen Sichtweise. Der Preis von fast 40 Euro ist ein Hindernis und könnte die Sichtweise provozieren, dass sich dieses Buch auf den akademischen Bereich beschränken soll.


Anmerkung:

[1] Die Diskussion bezieht sich meistens auf "Empire", die Grundthesen werden aber auch in "Multitude" und "Common Wealth" vertreten: Hardt, Michael / Negri, Antonio (2000): Empire. Cambridge (Mass): Harvard University Press. Hardt, Michael / Negri, Antonio (2004): Multitude. War and Democracy in the Age of Empire. New York: The Penguin Press. Hardt, Michael / Negri, Antonio (2009), Commonwealth. Cambridge (MA): Harvard University Press. Statt Hardt und Negri wird aus diesem Grund immer "Empire" verwendet.

Raute

IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 15.9.2011,
Redaktionsschluss der Nr. 40: 15.10.2011,

Die Redaktionstreffen der Grundrisse finden jeden 2. und 4. Montag im Monat um 19 Uhr im "Amerlinghaus",
1070 Wien, Stiftgasse 8 statt. Interessierte LeserInnen sind herzlich eingeladen.

Weitere Infos unter: www.grundrisse.net und unter
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Ein Jahresabo kostet für 4 Nummern Euro 20,-, das 2-Jahres-Abo nur 35,- Euro!
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Medieninhaberin: Partei "grundrisse" Antonigasse 100/8, 1180 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin, Markus Grass, Birgit Mennel, Wolfgang Neulinger, Minimol, Franz Naetar, Anton Pam, Karl Reitter, Georg Wallner

Layout: Karl Reitter

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)


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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
herbst 2011, nr. 39
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2011