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GRUNDRISSE/034: zeitschrift für linke theorie & debatte, sommer 2012


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 42, sommer 2012


Inhaltsverzeichnis

Michael Gehmacher:
Der linke Widerstand gegen die kasachische Diktatur braucht unsere Unterstützung!

Alain Badiou:
"Der Parlamentarismus ist eine Fiktion"

Jannis Chasoglou:
Von Maastricht zu Europe 2020 - Europäische Wirtschafts- und Währungsintegration als Strategie kapitalistischer Herrschaft

Martin Birkner:
Kritische Anmerkungen zu Althussers "Ideologie und ideologische Staatsapparate" & "Über die Reproduktion" anlässlich deren Neu- bzw. Erstauflage

Stefan Junker:
Karl Marx über die verbrecherische Regierung vom 4. September 1870

Leserbrief an die Redaktion:
Anmerkungen zu den 16 Grundrisse-Thesen zur Weltrevolution

Paul Pop:
Antwort auf Leserbrief von Eo

Andreas Exner und Stefan Meretz:
Der schwierige Weg der Transformation. Ein Gespräch zwischen Andreas Exner und Stefan Meretz

Konrad Lotter:
Buchbesprechung: Slavoj Zizek: Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen

Philippe Kellermann:
Buchbesprechung: Jan Ole Arps: Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren

Torsten Bewernitz:
Buchbesprechung: Hoffrogge, Ralf: Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914

Werner Hörtner:
Buchbesprechung: Gerhard Klas: Die Mikrofinanz-Industrie. Die große Illusion oder das Geschäft mit der Arbeit

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Editorial

Liebe LeserInnen,

"Rethinking personalisierte Kapitalismuskritik?" haben wir in provokativer Absicht als Thema dieser Nummer ausgeschrieben. Tatsächlich ist es gleichermaßen weniger und mehr geworden: Wir hätten uns mehr Material über den Kapitalismus als soziales Herrschaftsverhältnis gewünscht, als eines zwischen Menschen bzw. gesellschaftlichen Klassen, und auch mehr zu der Rolle individueller und kollektiver Verantwortung von Personen, Gruppen, Netzwerken und Vereinigungen im Rahmen der Aufrechterhaltung herrschaftlicher Verhältnisse oder aber der Bekämpfung ebendieser. Andererseits lässt sich doch die Mehrheit der Beiträge dieser grundrisse zumindest im weitesten Sinne der Thematik unseres Call for papers zuordnen, bei gleichzeitiger Erweiterung, wie wir hoffen nicht aber Verwässerung des Feldes.

Jannis Chasoglous Text über die Europäische Wirtschafts- und Währungsunsion als Strategie kapitalistischer Herrschaft zeichnet ein deutliches Bild der Strategien des Kapitals im Rahmen des globalisierten Kapitalismus. Die Transkription einer Vorlesung von Alain Badiou über das Verhältnis von Wahlen, Demokratie und Repräsentation anhand der Entwicklung des "Arabischen Frühlings" zeigt in aller Schärfe die konterrevolutionäre Rolle von Wahlen im Prozess revolutionärer Umwälzungen, Stefan Junkers Artikel über Marx und die Pariser Commune wiederum zeigt auf, dass es auch einen Marx jenseits der Analyse des "ideellen Durchschnitts" der kapitalistischen Produktionsweise gibt, mithin den politischen Agitator Marx, der auch - und nicht ohne Grund - vor deftigen Polemiken gegenüber dem Klassenfeind nicht zurückschreckt. Martin Birkner nimmt die deutschsprachige Erstveröffentlichung des umfangreichen Manuskripts "Über die Reproduktion" von Louis Althusser zum Anlass, auf die Leistungen, vor allem aber die Schwächen und Unzulänglichkeiten der Althusserschen Ideologietheorie hinzuweisen. Das ausführliche Gespräch zwischen Andreas Exner und Stefan Meretz über die Schwierigkeiten der Transformation zu einer post-kapitalistischen Gesellschaft wiederum thematisiert die zentralen Fragen nicht- bzw. antikapitalistischen Handelns. Last but not least folgt der Kritik an den in der Nummer 40 abgedruckten "Thesen zur Weltrevolution" von Paul Pop eine Replik des Autors. Nebst den Buchbesprechungen am Ende des Hefts ersuchen wir um besondere Beachtung des Blockupy-Spendenaufrufs sowie der Kampagne gegen die Unterdrückung linker GewerkschafterInnen in Kasachstan im Anschluss an dieses Editorial.

Einen schönen Sommer wünscht
die grundrisse-Redaktion

PS: Weil selbst die unleugbare Tatsache der Mehrsprachigkeit in sich vornehmlich deutsprachig dünkenden Gefilden ein unglaublicher Aufreger sein kann, sei zum Abschluss noch eine internationale Konferenz hingewiesen, die in Wien vom 8.-9. Juni 2012 unter dem Titel "A communality that cannot speak: Europe in Translation" stattfinden wird und bei der es neben Fragen der Übersetzung insbesondere darum gehen wird, was man mit einem Europa noch anfangen soll, das sich längst als unfähig erwiesen hat, mit jenen Krisen umzugehen, die nunmehr nach jahrzehntelanger Auslagerung und Umschichtung auf andere (Teile der Welt) in diversen Formen zurückschwappen
(für mehr Info: http://heterolingual.eipcp.net/konferenz)

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Michael Gehmacher (SLP):

Der linke Widerstand gegen die kasachische Diktatur braucht unsere Unterstützung!

Sehr ruhig sind die Regierungen im Westen, wenn es um die permanenten Menschenrechtsverletzungen in Kasachstan geht. Firmen wie die OMV machen dort große Geschäfte, ehemalige SP-Politiker wie Alfred Gusenbauer und Tony Blair gehören zum gutbezahlten BeraterInnenkreis von Diktator Nasarbajew. Die Pseudowahlen am 15.1. können nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Kasachstan eine brutale Diktatur herrscht. Weite Teile der Bevölkerung leben in Armut.

Am 16.12.2011 verübte das Regime ein schweres Masaker an protestierenden ArbeiterInnen. In der westkasachischen Stadt Schangaösen, streikten seit Monaten rund 4000 ErdölarbeiterInnen für höhere Löhne und eine unabhängige Gewerkschaft. Am offiziellen kasachischen Unabhängigkeitstag, versammelten sie sich am Hauptplatz, um auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Die Polizei ließ in die Menge schießen. Widerstand wurde militärisch unterdrückt, über die Region wurde der Ausnahmezustand verhängt. Unabhängige BeobachterInnen gehen von rund 200 Todesopfern auf Seiten der Bevölkerung, aus. Dazu kommen zahlreiche Folterungen und Vergewaltigungen auf Polizeistationen.

Am 28.4. wurden 3 AktivistInnen der "Sozialistischen Bewegung Kasachstans" bei einer friedlichen Kundgebung grundlos verhaftet und zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt. Dem langjährigen Menschenrechtsanwalt Vadim Kuramshin ist wegen "Verbreitung von Falschmeldungen" mit einer 7 bis 15-jährigen Haftstrafe bedroht. Der Prozess startete am 2. Mai.

100 Tage nach dem blutigen Angriff gab es weltweit Proteste gegen die kasachische Diktatur. Hunderte demonstrierten im schwedischen Göteborg, in Berlin und vielen anderen europäischen Städten. In Wien organisierten SLPlerInnen eine Protestaktion bei den regimetreuen "kasachischen Filmtagen" im Burgkino in Wien. Am ersten Tag gingen wir ins Burgkino und streuten vor dem Kinosaal symbolische Blutlachen aus rotem Plastik aus, um an die Opfer der Dikatur zu erinnern. Gleichzeitig verteilten wir Flugblätter und hielten spontane Ansprachen zur Menschenrechtssituation in Kasachstan. Währenddessen hatten sich andere Leute zu einer Kundgebung vor dem Kino versammelt. Die Aktion endete mit der "Ballad von Zhanaosen" von Laura Rafteseder (bekannt vom Fest der grundrisse und dem Billy Brag-Konzert in Graz). Einem Lied, das die Geschichte des Massakers vom 16.12. nacherzählt ("Ballad of Zhanaozen", ww.youtube.com/watch?v=h9JC0YT9DW0).

Dass internationaler Protest Sinn macht, zeigt die Freilassung von Natalia Sokolova, einer Rechtsanwältin der ErdölarbeiterInnen. Sie wurde zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt und musste nach internationalen Druck freigelassen werden.

Wir brauchen:
Spenden (gehen zu 100% nach Kasachstan):
SLP: PSK 8812.733, BLZ 60.000
(Stichwort/Zweck: Kasachstan Spende)
Infos unter: http://campaignkazakhstan.org
www.slp.at

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Alain Badiou:

"Der Parlamentarismus ist eine Fiktion"

Vorlesung über Demokratie, Wahlen und den "Arabischen Frühling"

Anm. d. Red.: Der vorliegende Text ist die (nicht autorisierte) Übersetzung einer (nicht autorisierten) Mitschrift (von Daniel Fischer) einer Vorlesung von Alain Badiou, die er am 7. Dezember 2011 gehalten hat (siehe http://www.entretemps.asso.fr/Badiou/1112.htm - dort findet sich der ganze Zyklus der öffentlichen Vorlesungen Alain Badious). Wir finden, dass trotz der vorhandenen Übertragungsverluste der Text wichtige Aspekte der gegenwärtigen "Krise der Demokratie" wie auch der Aufstände des "Arabischen Frühlings" anspricht. Titel und Untertitel von der Redaktion, Übersetzung: Francois Naetar

Lassen Sie mich mit einem Thema beginnen, das zurzeit in Mode und das gleichzeitig ein ideologisches Thema ist: Die Volksaufstände, die in der arabischen Welt und darüber hinaus (Spanien, Wallstreet, ...) stattfanden und weiterhin stattfinden.

Der Punkt, den ich dazu anmerken will, ist, dass die ganze Welt diese Bewegungen begrüßt. Überall ist man beeindruckt von der Jugend der Aufständischen, das Emanzipationspotential, welches diese Bewegungen in sich tragen wird allseits betont - und das ist auch meine Position, wie Sie wissen. Und nun finden nach und nach Wahlen statt, die eine Art von entschiedenem Dementi dessen sind, was diese Bewegungen - oder zumindest die vorherrschende Interpretation dieser Bewegungen - anzuzeigen schien. Die Resultate dieser Wahlen erzählen wörtlich eine andere Geschichte:

Es ist ein meist überwältigender Sieg der entweder religiös konservativen Parteien (Ennahdha in Tunsien, der Muslimbrüder in Ägypten) oder der ultraliberalen und ultrareaktionären Parteien (die spanische PPD ist, daran muss erinnert werden, ein Überbleibsel des Francismus) oder der extremen religiösen Rechten (die Salafisten in Ägypten). Die beiden unterschiedlichen bzw. widersprüchlichen kollektiven Berichte - die von den TeilnehmerInnen an den Bewegungen auch so widersprüchlich und als unpassend gesehen werden - sind an zwei mögliche Aspekte dessen gebunden, was Demokratie ist: Alle bewundern die beliebte Seite dieser Bewegung, die Versammlungen, die Innovation, und die Mehrheit der Leute sagt, dass diese Bewegung zur Demokratie in ihrem institutionellen und staatlichen Sinne, nämlich zu Wahlen führen soll. Und siehe da: Die Wahlen erzählen eine andere Geschichte, eine Geschichte, die ein Element des Verdachts, des Misstrauens gegenüber dem was passiert, beinhaltet (in Konsequenz eine Geschichte, die nicht nur anders, sondern völlig gegensätzlich ist.)

Zwei Anmerkungen will ich dazu machen.

1. Zuerst erinnert uns das daran - nennen wir die Dinge beim Namen - dass die Organisierung von Wahlen im Allgemeinen ein konterrevolutionäres Vorgehen ist. Das ist eine historische Tatsache. Ich spreche nicht vom Wahlsystem im Allgemeinen, das eine Funktion des Staates wie andere auch ist, sondern von der Möglichkeit, Wahlen zu organisieren, während die Bewegung unklar und unfertig ist oder gerade Atem schöpft. Um mich an meine eigene Erfahrung zu halten: Die Möglichkeit für de Gaulle, im Juni 1968 Wahlen zu organisieren, war die wichtigste Operation, um die Bewegung zu zerschlagen. Frankreich gespickt mit roten Fahnen - und das Resultat der Wahlen ist ein blaues Parlament. Das ist sehr ähnlich wie das, was in Ägypten passiert. Tatsächlich berichten diese zwei Geschichten zweier unterschiedlicher Länder von der gleichen Konfiguration - einer Konfiguration, die uns daran erinnert, dass die Einheit eines Landes zum Großteil eine staatliche Fiktion ist.

Es gibt ein extremes Beispiel für diese Fiktion: Frankreich 1871. Ist Frankreich 1871 die Pariser Kommune oder ist es die Kammer der ländlichen Reaktionäre und Versailler, die zum Massaker aufrufen und es übrigens dann auch durchführten. Die reaktionäre Mehrheit war vernichtend. Dennoch, vom Standpunkt der Universalgeschichte, das heißt von dem, was eine universelle Spur hinterlässt, wird Frankreich 1871 als die Kommune von Paris und nicht als Versailles gesehen werden. Das Frankreich von Versailles interessiert niemand. Heute ist es nicht Versailles, das uns bewegt; das wissen wir.

Die dialektische Beziehung und Spannung zwischen der Bewegung und der Möglichkeit, sie mittels diverser Manöver in einen Wahlkampf zu verwandeln, ist ein Phänomen, das es schon seit langem gibt und über das man sich nicht wirklich wundern kann. Was passiert in Ägypten, in Tunesien, in Frankreich im Mai-Juni 68? Nun, was passiert, ist, dass die Bewegung nicht in der Lage war, die Abhaltung von Wahlen unmöglich zu machen. Die wirkliche Frage ist, ob sich die Bewegung zeitlich in einer Form entfalten kann, die ihre eigene ist, und vor allem, dass sie sich auch erweitern kann; sie darf sich nicht durch eine Prozedur unterbrechen lassen, die in Wirklichkeit nicht zum Wesentlichen ihrer Konstitution gehört und welche die Form von Wahlen annimmt, in denen die Kräfte des Beharrens, die konservativen Kräfte unvermeidlich die Mehrheit stellen - und das in einer Periode der großen, starken Bewegungen. Wie ich schon betont habe, so zahlreich die Menschen am Tahir Platz auch waren, sie repräsentierten definitiv nur eine kleine Minderheit. Genauso wie bei einer Fabriksbesetzung: Diejenigen, die besetzen, sind immer ein minoritärer Kern. Das ist der Grund, dass die Berufung auf die Idee der Mehrheit als solcher, wenn man ihr die Möglichkeit zur Intervention lässt, klarerweise eine Prozedur der Unterbrechung dessen ist, was die Bewegung vorgab.

Die Organisation von Wahlen als eine staatliche Prozedur (eine Prozedur, zu der nur der Staat in der Lage ist), kann nur dann stattfinden, wenn der Staat in einer Periode der Bewegungen, quasi der Staat in Zeiten des Aufstands, im Wesentlichen seine eigene Macht bewahren konnte. Anders ausgedrückt: Die Fähigkeit Wahlen zu organisieren, zeigt einfach an, dass der Staat nicht gestürzt wurde. Er ist noch immer da, in einer anderen Form, das heißt unkenntlich gemacht. Dass Mubarak gestürzt wurde bedeutet nicht, dass nicht weiterhin die Ägyptische Armee an der Macht wäre. Sie ist immer da, sie manövriert, sie organisiert die Wahlen. Sicher könnte es sein, dass der Staat in Zusammenarbeit mit den verfügbaren konservativen Kräften Ballast abwirft, aber letztlich wird das Resultat sein, dass die Macht an Gestalten übergeben wird, die vom alten Staatsapparat kontrolliert bleiben.

Wie auch immer die gezogenen Schlussfolgerungen sind, es muss verstanden werden, dass eine Wahlprozedur nicht vom Volk organisiert ist. Sie ist immer vom Staat organisiert. Die RevolutionärInnen dürfen niemals die Organisierung von Wahlen zulassen, wenn nicht sie selbst es sind, die sie organisieren. Das ist die Lektion. Wenn man die tatsächlichen Mittel hat, die Organisation von Wahlen zu kontrollieren, dann sind diese was ganz anderes. Das heißt, sie sind eine Komponente der Bewegung selbst. Ein Vorgehen, das wohlgemerkt sehr kontrovers eingeschätzt wurde; einer der ersten Beschlüsse der bolschewistischen Revolutionäre am 17. Oktober war, die provisorische Regierung, die von der installierten Duma im Februar gewählt worden war, aufzulösen (sie haben nicht nur keine Wahlen organisiert, sondern sie haben auf die, die stattgefunden hatten, gepfiffen).

2. Diejenigen, welche die Bewegungen als den Ausdruck dessen, was ich den "Wunsch nach Westen" genannt habe, interpretieren, haben alle gesagt, dass der normale Ablauf in der Abhaltung von Wahlen mündet. Nach dieser Ansicht soll ein despotischer Staat durch die Abhaltung von Wahlen in einen Rechtsstaat verwandelt werden. Aber ich muss feststellen, dass auch diese Leute nicht mit den Resultaten der Wahlen zufrieden sind. Sie wollen Wahlen, aber nur solche, die in ihren Augen zu einem guten Ergebnis führen (d.h. in einem gewissen Sinn wollen sie eigentlich keine Wahlen). Sie wollen beides zugleich haben: Wenn es Wahlen sind, die gewünscht werden, dann wird gewünscht, dass es eine Mehrheit gibt, die anerkennt wird, sie aber wollen eine gute Mehrheit. Ja man fragt sich sogar, wenn man gewisse Reaktionen von denjenigen betrachtet, die diese Bewegungen so bewundert haben, ob sich nicht eine gewisse Nostalgie für die früheren Diktatoren breit macht, die zumindest ein Hindernis für die Islamisten darstellten. Nun, da die Islamisten die Wahlen gewinnen: Was wollt ihr machen? Die Wahlen scheinen frei gewesen zu sein. Die Islamisten, die in den vergangenen Jahren auf absolut blutige Weise unterdrückt wurden, atmen ein wenig auf und die Leute wählen sie. Nun, ich habe das Recht, dieses Resultat zu bedauern, denn ich war gegen die Wahlen. Ich wusste es und ich schrieb, dass, wenn Wahlen abgehalten werden, ein Erfolg der moderaten Islamisten zu erwarten ist. Ich kann mich daher darüber beschweren, dass Wahlen organisiert wurden. Diejenigen aber, die unbedingt Wahlen wollten - ihnen spreche ich das Recht ab, sich darüber zu beschweren, dass die Leute für eine bestimmte Strömung stimmten. Man kann nicht gleichzeitig Wahlen haben wollen, und dass das Ergebnis der Wahlen im Vornherein feststeht.

Nur die konservativen, völlig konterrevolutionären Kräfte wollten wirklich die Wahlen. Die Kräfte der Bewegung wollten sie nicht, weil sie letztlich nur dazu dienten, die Bewegung zerbröckeln zu lassen, sie zu spalten und zu schwächen:

Die westlichen "DemokratInnen" wollten sie eigentlich auch nicht, denn die Leute, die ja ihre Politik machten, waren die Typen von früher, die sie im Übrigen mit einer Vielzahl von Krediten seit Jahrzehnten unterstützt hatten. Die einzige, ich habe es schon angedeutet, die den Mut hatte, auszusprechen: "Ben Ali, das war nicht so schlecht" war Madame Alliot-Marie[1], geben wir ihr einmal mehr diese Ehre. Ich möchte bei dieser Gelegenheit an einen schrecklichen Vorfall erinnern, nämlich an die Unterstützung der Annullierung der Wahlen in Algerien durch die westliche Öffentlichkeit, eine Annullierung, die zu einem zehn Jahre lang andauernden grausamen Bürgerkrieg mit zigtausenden von Toten führte. Dass sich Algerien von diesem Trauma noch nicht erholt hat, ist allein darauf zurückzuführen, dass der Westen den Militärputsch massiv unterstützte, der den Islamisten verbot an die Macht zu kommen, nachdem sie die Mehrheit in einer nach allgemeiner Ansicht regulären Wahl errungen hatten.

Man kann in drei Punkten die vorherrschende Meinung in den Medien, den Regierungen etc. zusammenfassen:

1. Wahlen sind absolut notwendig.
2. Die Leute sollen so wählen wie man soll.
3. Wenn die Leute nicht so wählen wie man soll, ist es besser, dass es keine Wahlen gibt.

Der dritte Punkt widerspricht dem ersten über die Vermittlung des zweiten. Wir kennen das nebenbei auch bei uns (in Frankreich). Als man das Referendum über den Vertrag von Lissabon machte, war die Gesamtheit der medialen Welt, wie Sie wissen, für "Ja", aber die Leute wählten "Nein"; also wurde so getan, als ob die Abstimmung nicht stattgefunden hätte. Wir waren damals schon wie Ägypten jetzt; wir haben falsch gewählt... Und wenn falsch gewählt wird, tritt Punkt drei in Kraft.

Die Geschichte mit dem Referendum in Griechenland (über die Sparmaßnahmen) war einfach großartig. Gegen das griechische Volk werden Maßnahmen - Gehälter, Pensionen etc. betreffend - in bisher nicht gekannter Härte beschlossen, weil dem Land eine CCC Note (der Rating Agenturen) drohe. Ein Unglücklicher (der Ministerpräsident) beschließt aus trickreichen eigenen Überlegungen, ein Referendum abzuhalten. Und was passiert? Die "Demokraten" schäumen vor Wut! Sie halten das für eine Schandtat.

Es muss ernsthaft darüber nachgedacht werden: Die Propaganda für die Demokratie, die Freiheit, etc. ist außerordentlich eingeschränkt; sie ist limitiert durch die Sicherheit, dass das, was daraus entsteht, nicht im Widerspruch zu präzisen und klaren Normen steht. Das demonstriert etwas, das ironischerweise der "parlamentarische Totalitarismus" genannt werden könnte: ein Ausdruck, der den Vorteil hat, den Widerspruch zwischen Totalitarismus und Demokratie zu unterlaufen. Es ist gut erkennbar, dass in der Krise stattfindende Wahlen, - und die Krise ist es, in der die Wahrheit der Dinge erkennbar wird - keinesfalls der Masse der Menschen eine allgemeine Macht geben. Es ist klar, dass Wahlen in Wahrheit nur unter bestimmten Bedingungen zugelassen werden: einerseits als ein Mittel der Repression, wie wir es eben gesehen haben, anderseits aber, und das gilt für alle Fälle, dass die Wahl in einer bestimmten Weise vorgeformt ist. Die Wahlen sind inhaltlich (und nicht nur der Form nach) betrachtet eine Prozedur des Staates, geprägt durch die Vorgabe eines restriktiven und genau festgelegten Konsensus. Es darf zum Beispiel heute nicht unter solchen Bedingungen gewählt werden, bei der die Wahl einen Ausgang haben könnte, der die Logik des Marktes gefährdet. Und die ganze Welt weiß das.

Aus philosophischer Sicht ist es notwendig zur Frage "Was ist Politik?" zurückzukommen: Ich beginne mit einigen elementaren Anmerkungen.

1. Die Politik besteht immer aus drei Komponenten: 1. Die Masse der Leute, und was sie machen und denken: "das Volk"; 2. Unterschiedliche mehr oder weniger organisierte kollektive Formalisierungen (Organisationen, Assoziationen, Gewerkschaften ... Parteien); 3. Endlich die Staatsorgane, zu denen, nach meiner Ansicht, die Organe der ökonomischen Macht hinzugezählt werden müssen; das heißt die Gruppe, die heutzutage die "Entscheider" genannt werden - ein amüsanter Ausdruck; Entscheider von denen eine große Anzahl nicht gewählt wurden - außer vielleicht von ihren AktionärInnen.

Eine Politik besteht immer in der Verfolgung von Zielen durch Ansprechen dieser drei Elemente: Die "klassische" Konzeption dieser Artikulation ("klassisch", in dem Sinn, dass sich alle politischen Konzeptionen seit zwei oder drei Jahrhunderten darauf beziehen) sagt, dass es im Volk eine Vielzahl von Tendenzen gibt, mehr oder weniger an den sozialen Status (die MarxistInnen sagen: an die Klasse), die Kultur, die Altersgruppe, die Herkunft etc. gebunden. Ein "Volk" ist also eine mehr oder weniger homogene Vielfalt, jedenfalls ist sie aber geprägt durch wesentliche Differenzen. Das ist der Grund, warum die Ziele und ebenso die Politiken, die von diesen Tendenzen verfolgt werden, ganz verschieden sein können, je nach Einschätzung der Homogenität oder Heterogenität dieser Vielheit. So kann eine extrem nationalistische oder faschisierende Politik die Homogenität der "Volks" zu erweitern trachten (die Leute, die in ihren Augen nicht dazu passen, müssen eliminiert werden etc.). Im Gegensatz dazu wird eine marxistische Politik auf dem bestimmenden Charakter der Klassenunterschiede insistieren.

Die konstituierten Tendenzen des "Volkes" sind virtuell oder reell repräsentiert durch Organisationen. Dieses Niveau existiert immer, auch wenn die zu betrachtenden Organisationen unterdrückt, verboten etc. sind. Unter ihnen nennt man "Parteien" diejenigen Organisationen, die sich als fähig präsentieren, die Macht im Staat zu erobern. Diese Parteien haben also verschiedene Ziele, je nach den Unterschieden, die auf dem Niveau des "Volkes" existieren können.

Im Inneren dieses Formalismus existieren in der modernen Welt vier größere politische Orientierungen: jeweils benennbar als revolutionär, faschistisch, reformistisch und konservativ. Das Gemeinsame zwischen den revolutionären und den faschistischen Orientierungen ist, dass sie behaupten, dass der Konflikt der Parteien in Bezug auf die Staatsmacht tendenziell gewalttätig sei; das heißt, dass der Konflikt sich nicht durch konstitutionelle Formen normieren lässt. Selbst wenn diese Organisationen die konstitutionellen Formen des Staates benutzen, sind sie außerhalb des herrschenden staatlichen Konsenses. Ihre Konzeption des Staates ist eine Konzeption, in der sie die Gesamtheit des Staates repräsentieren. Sie wollen nicht die Staatsmacht im Konsens mit den konkurrierenden Parteien erobern. Sie wollen direkt den Staat für die eigenen Ziele verwenden, was einen gewissen Grad von Gewalt unvermeidbar macht, denn das heißt, dass sie in ihrer Konzeption des Staates keine Ziele akzeptieren, welche in Widerspruch zu den ihren stehen - das heißt die Politik der anderen Parteien.

Die reformerischen und konservativen Konzeptionen haben ebenfalls einen fundamentalen Punkt gemeinsam: Der Konflikt zwischen ihnen soll stets innerhalb der konstitutionellen Grenzen bleiben, die ihnen gemeinsam sind.

2. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind allerdings die vier Konzeptionen in einem Punkt einer Meinung. Um auf der Ebene des Staates für diejenigen Ziele einzutreten, welche jede Tendenz verfolgt, müssen die kollektiven Interessen repräsentiert werden. Und die Repräsentation nimmt die fundamentale Form der Partei an. Die Fähigkeit, die Staatsmacht zu erreichen, welche die Partei charakterisiert, präsentiert sich in der organisierten Gestalt einer angenommenen Repräsentation der Interessen des Volkes.

Diese Repräsentation kann an Wahlen gebunden sein, aber das ist nicht notwendig so: Die faschistische Partei behauptet, dass sie - ganz unabhängig von Wahlen - die organisierte Repräsentation der Nation sei. Selbst die entschlossensten KommunistInnen sehen ihre Partei als die Partei der ArbeiterInnenklasse, was bedeutet, dass die Partei die ArbeiterInnenklasse auf der Ebene des Staates repräsentiert; wobei sie behaupten, dass die Partei die Vermittlung zwischen den Interessen der ArbeiterInnen und der staatlichen Form ist.

Die Wahlpropaganda aller Parteien gibt vor, dass das, was sie repräsentieren, den Interessen der Mehrheit dient. Also selbst wenn eine Partei eine ganz spezielle Klientel repräsentiert, muss sie sich als der Repräsentantin der Interessen der großen Mehrheit darstellen. Es handelt sich im Allgemeinen um ein Versteckspiel, durch das ersteres hinter Zweiteren verborgen werden soll. Es lassen sich aber immer symptomatische Punkte finden, in denen das Spiel der Repräsentation sich dialektisiert; das ist der Moment, in dem sich die Partikularität und die behauptete Universalität überlagern.

3. In unserem Land ist die moderne Gestalt der Idee der Repräsentation der Parlamentarismus, dessen ideologischer Name die "Demokratie" ist. Zu behaupten, dass das politische System, in dem wir leben die Demokratie ist, ist in einem gewissen Sinn absurd. "Demokratie", das heißt Herrschaft des Volkes, das bedeutet einen Grad von maximaler Teilnahme des Volkes an den politischen Entscheidungen. Aber ich stelle fest, dass in unserem Land die Teilnahme außerordentlich gering ist. In Wahrheit ist es klar, dass wir uns in einer Oligarchie befinden - bestehend aus einer Mischung von "Entscheidern", die einen gewählt, die anderen selbst ernannt; noch andere sitzen an den Schalthebeln der Macht, seien es das Militär oder das Finanzkapital. Diese "Entscheider", haben in allem die Oberhand, sie besitzen die Zeitungen usw. Es kann also gesagt werden, dass das Regime parlamentarisch ist und seine Ideologie, seine Art der Präsentation, sich demokratisch gibt. So gesehen bezeichnet "Demokratie" auch vieles andere.

Die allgemeine Idee des Parlamentarismus ist einfach: Er organisiert die Repräsentation auf allen Ebenen durch dem Wahlmechanismus. Die Strömungen, die es im Volk gibt, können sich frei in verschiedenen Assoziationen organisieren. Es gibt allerdings eine implizite Bedingung: Wenn sich eine der Assoziationen um die Staatsmacht bemüht, das heißt, wenn sie eine Partei ist und versucht, direkt im Staat repräsentiert zu sein, muss sie a) deklarieren, welche Gruppe sie repräsentiert, b) muss sie Teil des impliziten Konsensus sein, der vom Staat vorgeschrieben wird. Anders ausgedrückt, sie muss garantieren, dass sie, falls sie an die Staatsmacht kommt, keine völlig anderen Sachen macht als die Partei vor ihr. Das ist ein Vertrag. Sie ist also, was man eine "Regierungspartei" nennt (die anderen sind die "Interessengruppen", die zu den Wahlen zugelassen werden können zum Zweck die rivalisierenden "Regierungsparteien" zu schwächen.)

Verständlich ist: Weshalb sollte eine Partei, die die Macht besetzt hält, akzeptieren, diese für eine andere Partei aufzugeben, die etwas zu ihren Interessen absolut Konträres machen könnte? Das Ziel ist ja, dass die politischen Abfolgen nicht die Form des Bürgerkriegs annehmen. Was, alles im allen, das vernünftigste Argument zu Gunsten des Parlamentarismus ist; jedenfalls ein besseres Argument als zu sagen, dass der Parlamentarismus Demokratie ist - ein reine Ideologie. Es wird also ein Konsens organisiert, der ReformistInnen und Konservative vereint und Faschisten und Revolutionäre von der Bildfläche eliminiert. Dazu bedarf es einer dritten Kraft, einer mächtigen Basis außerhalb der beiden Hauptkräfte. Und es ist klar, dass in unserer Gesellschaft diese mächtige Basis der Kapitalismus selbst ist, die soziale Organisation genaugenommen.

Es ergibt sich daraus ein subtiles Spiel der Repräsentation. In einem gewissen Sinn präsentieren sich die beiden regierungsfähigen Parteien in den zeitgenössischen Gesellschaften so, als hätten sie unterschiedliche Inhalte. Die einen geben vor, die Interessen der Armen, der ArbeiterInnen, der freien Intellektuellen zu repräsentieren, während die anderen behaupten, die Landverbundenheit, die kleinen Gewerbetreibenden, das Erbe, die Familie etc. zu repräsentieren. Dennoch können Sie in der letzten Zeit in den Zeitungen lesen, dass es eine "Krise der Politik" gibt, dass diese Repräsentationen sich nicht ausreichend unterscheiden. Die Fragen, über welche diese zwei Parteien (denn es sind in der Regel zwei) debattieren, sind nicht notwendigerweise unwichtig (z.B. welche Partei ist die Partei der AKWs?), aber sie müssen so sein, dass sie innerhalb des vorgeschriebenen Konsensus stehen und dass sie seine materielle Basis, den Kapitalismus, intakt lassen.

Es erscheinen also sich voneinander unterscheidende Repräsentationen auf einer Grundlage, die in der Realität eine einzige Repräsentation ist: Der Staat repräsentiert als solcher die globalen Interessen der Vorherrschaft des Kapitals. Die Parteien sind mit zwangsläufiger Konsequenz die politischen Repräsentanten der gleichen Sache und bringen trotzdem die Idee in Umlauf, dass sie die politischen Repräsentanten einer ganz anderen Sache seien. Die politische Repräsentation ist in Identität und Differenz geteilt. Das bewirkt, dass das politische Leben im Parlamentarismus außerordentlich obskur und labyrinthisch ist. Man kann genau so gut sagen, dass diese oder jene Partei die Repräsentantin der Interessen dieser oder jener Gruppe ist, oder auch, wie Marx es in den Jahren 1840 ausdrückte, der Staat besteht aus Agenten der Macht des Kapitals. Dieser Ausdruck könnte als zu scharf erscheinen, aber er ist es nicht. Ein Agent des Kapitals, das ist ein Beruf wie jeder andere auch.

Im Parlamentarismus ist es definitiv so, dass im Gegensatz zu seinem Anspruch, die Politik vollständig dem Staat untergeordnet ist. In seinem verfassungsrechtlichen Rahmen repräsentiert der Staat den Konsensus selbst, durch den eine Politik als möglich erklärt wird. Der Parlamentarismus ist in exemplarischer Weise eine politische Form, die Brüche ausschließt, er ist eine Form, welche die Kontinuität vorschreibt. Das gilt nicht für Diktaturen, die nicht vorgeben auf dem Konsens mit dem vermeintlichen Gegner zu basieren. Sie haben keine andere Vision als ihre staatliche Perpetuierung. Natürlicherweise sind sie Brüchen ausgesetzt und enden nebenbei immer schlecht. Der Parlamentarismus ist grundsätzlich eine imaginäre Politik, eine Fiktion. Er ist eine Politik, die eine theatralische Inszenierung des politischen Lebens vorschlägt (eher nebenbei eine Komödie als eine Tragödie, wenn man es aus der Nähe betrachtet), die in Wirklichkeit den fundamentalen Konsens verdeckt. Wie es sich darstellt, besteht das Theater darin, zweitrangige Differenzen zu wichtigen zu erheben. Wenn es zu weit geht (wenn das Stück nicht gut ist, wenn, wie es im Theater eben passiert, "nichts funktioniert"), kränkelt klarerweise das System ein wenig. Nehmen wir den Ausdruck "der Schonzeit", von der die oder der Gewählte profitiert. Das ist der Augenblick, in welchem der PolitikerIn zugebilligt wird, wirklich diejenige zu seine, der sie vorgibt zu sein; anders ausgedrückt, das ist der Moment, in dem das Publikum an der Inszenierung teilnimmt, ein Moment der Empathie mit der Inszenierung (Brecht würde es Theater ohne Verfremdung - Identifikationstheater nennen). Aber dieser Augenblick hat ein Ende. Und warum? Weil er imaginär ist. Es tritt also das ein, was man "die Abnützung der Macht" nennt, nämlich der Moment, der unmittelbar an die Schonzeit anschließt, in dem bedauernswerte AkteurInnen zu sehen sind, deren Tricks und Ticks etc. ausfindig gemacht werden. Und das Stück wird ausgepfiffen. Was gesehen werden muss, ist, dass dies alles dem Parlamentarismus nicht grundlegend schadet, dass er die anpassungsfähigste, unzerstörbare Gestalt moderner Politik ist. Ich glaube wirklich nicht, dass dies dank der demokratischen Tugenden so ist. Die Leute wissen doch sehr gut, dass ihre tatsächliche Teilnahme an den wichtigen Entscheidungen quasi inexistent ist ...

Es fragt sich, warum eine so spezielle politische Form wie der Parlamentarismus bei uns hegemonial ist. Es muss verstanden werden, dass seine Macht in der Fähigkeit besteht, dauernd die Basis der Dinge zu verschleiern. Die Identität wird präsentiert wie eine Differenz; das ist der dialektische Aspekt des Parlamentarismus. Aus dieser Sicht ist seine wesentliche Kategorie nicht die Demokratie, sondern, wie ich anderswo schon gesagt habe, die Kategorie der Linken. Die Linke ist es, die einen Unterschied verspricht. Sie ist wichtiges Prinzip des parlamentarischen Regimes, da durch sie die Überzeugung hergestellt wird, dass die Identität immerhin wie ein Unterschied präsentiert wird, dass es eine Möglichkeit der Differenz in der Identität selbst gibt. Das ist eine mächtige Kraft. Aber die mächtige Kraft besteht gerade darin, eine Politik des Bruchs zu verhindern, jedenfalls ist das so in unseren Regionen. Der tiefere Grund dafür ist, dass die Politik des Bruchs innerhalb der Vision der klassischen Politik bleibt. Sie bleibt großteils innerhalb der Ansicht der Repräsentation, als Bedingung der Teilnahme an der Macht oder dem Zugang zur Staatsmacht. Da liegt das Problem: Kann man einen Ausdruck der drei Terme - das Volk, die Organisationen und der Staat finden - der nicht durch den Mechanismus der Repräsentation gemessen wird? Die Aufstände, deren Zeuge wir eben waren, sind keine Repräsentation. Eine Massendemonstration in der Art eines Aufstands macht Gesetze nur über sich selbst - selbst wenn sie sich zum Volk von Ägypten erklärt. Sie können leicht sehen, dass eine solche Bewegung kein Mechanismus der Repräsentation ist. Das ist ein Mechanismus des praktischen Ausprobierens, Repräsentation ist hier eine Metonymie[2], um einen rhetorischen Ausdruck zu verwenden; die Bewegung ist eine sich von der allgemeinen Masse lösende Gruppe, die in gewisser Weise für diese allgemeine Masse steht. Die parlamentarische Repräsentation ist ein Term, der einen anderen repräsentiert, er ist metaphorisch[3], um im rhetorischen Vokabular zu bleiben.

Gleichzeitig ist leicht zu erkennen, dass man sich nicht eine Stabilisierung einer Metonymie vorstellen kann. Eine losgelöste Gruppe des Volkes, die diesen Platz besetzt, ihn aufbaut und verteidigt ist gezwungen, sich zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt in das allgemeine Volk zu reintegrieren. Eine losgelöste Gruppe kann im Gegensatz zu den Repräsentanten nicht losgelöst bleiben: Ein Abgeordneter kann sich keine andere Zukunft vorstellen als die, Abgeordneter zu bleiben, umso mehr als bei uns Abgeordneter des Volkes zu sein ein Beruf ist.

An diesem oft diskutierten Punkt möchte ich einen Exkurs einfügen: Viele Leute stellen sich vor, dass man die Demokratie verbessern könnte, indem man sagt: "Das Mandat ist limitiert und danach wird der Repräsentant durch einen anderen ersetzt", "keine Häufung von Mandaten", vielleicht sogar "eine Art von Auslosung der Repräsentanten" etc. Nach meiner Auffassung ist das völlig falsch. Das nimmt die Tatsache nicht zur Kenntnis, dass wir nicht in einer Demokratie sind. Das bewirkt, dass die Macht einer PolitikerIn zum Großteil an ihre Erfahrung, an ihre Kenntnis der Korridore der Macht gebunden ist. Tatsache ist, dass sie, die in einer oligarchischen Umgebung diskutieren soll, ein entsprechendes Gewicht haben muss, um im Angesicht extrem mächtiger Leute, die von niemandem gewählt wurden und die nur ihre privaten Interessen repräsentieren, aufzutreten. Die BürgermeisterIn einer großen Stadt muss mit den Kapitalisten aus der Gegend diskutieren, den "Entscheidern". Sie muss Verträge in Millionenhöhe abschließen usw. Wenn alle wissen, dass sie bei den nächsten Wahlen verschwinden wird, können Sie sicher sein, einen reinen Zustand oligarchischer Macht zu haben. Die großen Barbaren des lokalen Kapitals werden die Dinge in die Hände nehmen, und sie wäre nicht mehr als eine StatistIn - ohne weiter zu betrachten, dass sie sich bei der ersten Gelegenheit korrumpieren lassen würde. Im parlamentarischen Regime müssen die PolitikerInnen hartgesottene Profis sein. Sie in irgendeine BürgerIn zu verwandeln ist eine Eselei. Wenn man eine ernsthafte BefürworterIn der parlamentarischen Regimes sein will, muss man fordern, dass die RepräsentantInnen zumindest so viele Privilegien haben, wie die ersten Mitglieder des CAC (Index des französischen Aktienmarkts). Ich bin völlig einverstanden damit, dass die RepräsentantInnen eines revolutionären Regimes einen asketischen Lebensstil haben, aber im parlamentarischen Regime müssen sie auch einen Chauffeur und einen großen Wagen haben, sonst schauen sie gegenüber von Leuten, die drei Mal so reich sind wie sie selbst, wie bedauernswerte Pekinesen aus.

Das System ist vom innersten Kern her korrupt. Das ist keine Frage der persönlichen Ehrlichkeit der Politiker. Unabhängig von der skandalösen Korrumpiertheit gewisser Individuen ist ein Agent der Macht des Kapitals, wer es auch sei, notorisch korrumpiert. In der Behandlung der Korruption, die wir periodisch betrachten dürfen, wird man einen exemplarischen Fall von Korruption verfolgen, und der gute Mann wird abgestraft werden. Und dann wird gesagt: Das ist doch der Beweis, dass der Parlamentarismus tugendhaft ist. Aber das ist der Beweis von gar nichts, der Unglückliche wird geopfert, so dass sich dasselbe fortsetzen kann - nämlich das System der chronischen Korruption, die das Kapital charakterisiert. Es ist eine subjektive Korruption, die Korruption eines vielleicht wirklich vollständig ehrlichen Typen. Aber da er dem Ganzen dient, ist er implizit korrumpiert. Und man kann es ihm nicht einmal vorwerfen. Denn nach alledem: was machen wir denn, dass es anders werde? Nicht viel ...

Die Schlussfolgerung aus all dem zeigt uns, dass die Frage der Artikulation zwischen den drei oben beschriebenen Ebenen aufgenommen werden muss, und zwar ausgehend von der Untersuchung der Krise dieser Artikulation. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir sagen, dass wir auf der ersten Ebene von der Existenz von massiven Bewegungen, von noch nicht da gewesenen Aufständen (was auch immer ihr Schicksal sei) wissen. Auf der zweiten Ebene sehen wir die Krise der Differenzierung (wir sind nicht mehr in der Lage, auf der Ebene der Organisationen einen effektiven Unterschied zu denken), auf der Ebene des Staates wird mehr und mehr sichtbar, dass er heimlich seine Kontinuität, das heißt seine Identität verpfändet - Was zunehmend extremen Figuren die Möglichkeit eröffnet, wieder in die Politik einzuziehen. Von daher ist das der Beginn einer beunruhigenden und schwierigen Periode des Wiederentstehens von tatsächlichen Unterschieden im Inneren des politischen Spiels. Was derzeit von einem Teil der durchschnittlichen Meinung gefürchtet wird, ist, dass die Krise den Extremismus fördert und das große Risiko des "Populismus" erzeugt. Seltsames Wort - seltsam durch seine negative Kolorierung. Eine gute DemokratIn muss PopulistIn sein, wenn man unter "Demokratie" die Macht des Volkes versteht. Aber es ist gut sichtbar, was das ausdrückt: Die demokratische Fassade des Konsensus wird fragil, die Leute könnten denken, dass dieses System nur fälschlicherweise demokratisch genannt wird, und dass es in Wahrheit das Volk gar nicht repräsentiert.

Es stellt sich also das Problem, zu erkennen, was eine Politik ist, die keine Politik der Repräsentation ist, ohne deshalb eine reaktive Politik zu sein (unter "reaktiv" verstehe ich eine Politik, die keine Repräsentation braucht, weil sie eine identitäre Differenz betont). Gibt es die Möglichkeit, eine Politik zu denken, die für sich die Politik der nicht-identitären Differenz reklamiert?


Anmerkungen:

[1] Michèle Alliot-Marie war französische Außenministerin. Ihr werden gute Kontakte zum ehemals herrschenden Clan um Tunesiens Ex-Präsidenten Ben Ali nachgesagt. Sie musste 2011 zurücktreten, nachdem sie dem tunesischen Regime polizeiliche Hilfe angeboten hatte, um die Revolten niederzuschlagen.

[2] ein sprachlicher Ausdruck, der nicht in seiner eigentlichen, wörtlichen Bedeutung, sondern in einem nicht-wörtlichen, übertragenen Sinn gebraucht wird, der aber in sachlicher Nähe zur wörtlichen Bedeutung situiert ist.

[3] Im Unterschied zur Metonymie ist die Metapher ein uneigentlich gebrauchter sprachlicher Ausdruck, der nicht in sachlicher Nähe zur wörtlichen Bedeutung steht.

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Jannis Chasoglou:

Von Maastricht zu Europe 2020

Europäische Wirtschafts- und Währungsintegration als Strategie kapitalistischer Herrschaft

Zwanzig Jahre ist es nun her, dass die Staaten der damaligen Europäischen Gemeinschaft sich in Maastricht auf dasjenige Vertragswerk einigten, das sowohl die Weichen für die Gründung der Europäischen Union als auch für die Einführung des Euro als gemeinsamer Währung stellte. Die Stadt in den Niederlanden ist seitdem als der Ort des vielleicht wichtigsten Meilensteins der Europäischen Integration zum Synonym für ihre zunehmend monetaristisch-liberale, den Interessen breiter Bevölkerungsanteile immer stärker widersprechende Ausrichtung geworden. Die Mehrheit der kritischen Integrationsforscher sieht dies als Folge der Dominanz neoliberaler wirtschaftspolitischer Konzepte und der Interessen kapitalistischer Unternehmen innerhalb der EU. Diese Autoren wünschen sich eine - möglicherweise umfassende - Reform der Institutionen auf europäischer Ebene, um den Weg hin zu einer stärker wohlfahrtsstaatlich, ökologisch und/oder beschäftigungspolitisch orientierten Europäischen Integration zu ebnen[1]. Demnach wird die EU implizit als neutrales Terrain angenommen, auf dem sich momentan vor allem Konzerninteressen durchsetzen, was aber durchaus auch anders sein könnte. In Abgrenzung von solchen Sichtweisen wird in diesem Artikel die Europäische Integration, wie wir sie von ihren Anfängen bis in die Gegenwart erleben, selbst als Herrschaftsstrategie des Kapitals konzipiert werden. Herrschaft soll dabei für die institutionalisierte Durchsetzung politischer Strategien einer bestimmten Klasse oder Klassenfraktion stehen, mit der die langfristigen Ziele des Erhalts und der Festigung ihrer Position, also des Eigentums an den Produktionsmitteln und möglichst hoher Profitraten, erreicht werden sollen.

Der Europäische Integrationsprozess wird zunächst von seinen Anfängen her beleuchtet und dabei im Wesentlichen in zwei Phasen unterteilt werden. Der Schwerpunkt des Artikels wird auf den Entwicklungen und Implikationen der Integration seit Anfang der 90er Jahre liegen. Es wird darum gehen, wie seitdem in den zentralen Verträgen und Strategiepapieren der EU, insbesondere dem Maastricht-Vertrag, der Lissabon-Strategie, "Global Europe" und der "Europe 2020"-Agenda, die Interessen der großen europäischen Konzerne zum Ausdruck kommen. Es ist weit verbreitet, gerade auch unter kritischen AutorInnen, hinter politischen Entscheidungen der nationalen Regierungen andere, dem angeblichen "nationalen Interesse" fremde Kräfte wirken zu sehen. Die Wettbewerbsorientierung der europäischen Staaten wird oft genug als das unvermeidliche Resultat der "Globalisierung" angesehen, in der die Nationalstaaten angeblich nur noch als Spielbälle hin und hergeworfen würden. Für bewusste Interessenpolitik und auf Vorherrschaft abzielende Strategien des Kapitals bleibt in dieser Betrachtungsweise kein Platz mehr. Hier sollen auch diese Vorstellungen einer kritischen Prüfung unterzogen werden.

Die Europäische Integration treibt mit einer Reihe von Initiativen wie der Wirtschafts- und Währungsunion, der Lissabon-Strategie, der EASDAQ-Initiative, dem Financial Services Action Plan (FSAP) und anderen auch die Integration und Deregulierung der Finanzmärkte voran[2]. Daran sind vor allem in den letzten Jahren auch mächtige Lobbygruppen beteiligt. Ein integrierter paneuropäischer Kapitalmarkt wird von den zentralen EU-Institutionen und den Interessenvertretungen der Großindustrie als Vorrausetzung für die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals allgemein gesehen, weil er die Finanzierungsoptionen für die Geschäftstätigkeit verbessert und so die Profitraten steigert[3]. Gleichzeitig erhöht die Finanzmarktintegration einerseits den Konkurrenzdruck auf kleine und mittlere Unternehmen und wirkt sich andrerseits negativ auf die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen aus, indem die Arbeitslosigkeit hoch bleibt, flexible Arbeitsbedingungen verlangt sowie die sozialen Sicherungssysteme und die Lohnniveaus tendenziell abgebaut werden[4]. Folglich spielt auch der Finanzsektor eine wichtige Rolle als Träger und Profiteur der Europäischen Integration als Herrschafts- und Konkurrenzstrategie des europäischen Kapitals. Aus Platzgründen wird sich die vorliegende Betrachtung jedoch auf das Kapital der Industrie konzentrieren. Das impliziert keineswegs, die engen und wachsenden Verflechtungen zwischen dem Kapital der Kredit- und Kapitalmärkte einerseits und den industriellen Unternehmen zu leugnen. Allerdings äußern sich die materiellen Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen tendenziell entsprechend ihrer Funktion im Verwertungsprozess in verschiedenen politischen Maßnahmen.


Die keynesianisch-antikommunistische Phase der Integration

Es lassen sich im historischen Verlauf der Europäischen Integration grob zwei Phasen unterscheiden: Eine vom Keynesianismus und dem Kalten Krieg geprägte und eine monetaristische und expansive Phase. Erstere begann 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und den Römischen Verträgen von 1957, mit denen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) geschaffen wurden. Es war die Zeit der Blockkonfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die Zeit der Truman-Doktrin und des Griechischen Bürgerkriegs sowie einige Zeit später der Berlin- und der Kubakrise. An die Stelle der Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Großmächten, die in die beiden Weltkriege geführt hatten, trat vordergründig das "containment" des Kommunismus als oberste Priorität - freilich ohne dass deshalb die innerkapitalistischen Rivalitäten jemals verschwunden wären. Um Kriege zwischen den führenden kapitalistischen Staaten Europas künftig unwahrscheinlich werden zu lassen und die Region angesichts starker kommunistischer Bewegungen in Frankreich, Italien, Belgien, Griechenland und anderswo zu einem Bollwerk gegen den Kommunismus zu machen, war eine festgefügte europäische Wirtschaftszusammenarbeit mit einer Politik für den ökonomischen Wiederaufbau der naheliegendste Weg. Außerdem bestand in Paris und London ein Interesse an der Einbindung Westdeutschlands, um eine revanchistische Wende wie nach dem Ersten Weltkrieg zu verhindern.

Die zwei Jahrzehnte des Nachkriegsbooms sahen in den entwickelten kapitalistischen Ländern einen vorher und nachher nie erlebten Schwung an Konzessionen an die ArbeiterInnenklasse. Notwendige Bedingung dafür waren die durch das "Wirtschaftswunder" geschaffenen materiellen Spielräume, doch trotzdem waren es vor allem der Druck der Systemkonkurrenz und eine relativ kampfbereite ArbeiterInnenbewegung, die diese in soziale Errungenschaften verwandelten. In dieser Periode war daher auch die Europäische Integration von einer Politik des Massenkonsums und der Beschäftigungsförderung geprägt. Wie die gesamte Periode, so stand auch die Europäische Union als kapitalistische Herrschaftsstrategie unter dem Namen John Maynard Keynes, indem sie auf Förderung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und die Schaffung stabiler Akkumulationsbedingungen setzte.


Die Wende der 70er

Dies änderte sich, als unter dem Eindruck von Stagflation, dem Kollaps des Bretton Woods-Systems und Weltwirtschaftskrise der Keynesianismus in den 70ern weltweit in die Defensive geriet. Pinochets Militärputsch in Chile 1973, der Machtantritt Deng Xiaopings 1978, die als "Volcker-Schock" bekannte schlagartige Anhebung der Leitzinsen der US-Notenbank durch deren neuen Chef Paul Volcker im Jahr 1979, Margaret Thatchers Wahl zur britischen Premierministerin im selben Jahr und Ronald Reagans Amtsantritt 1981 waren die ersten politischen Siege der neoliberalen wirtschaftspolitischen Doktrin. Mit der Rückkehr des Kapitalismus nach Osteuropa, Russland und China etablierte sie sich schließlich als hegemoniale Weltsicht und Richtschnur des politischen Handelns. Es stellt sich natürlich automatisch die Frage, wie binnen nur eines Jahrzehnts die neoliberale Doktrin trotz ihrer offenkundigen methodisch-theoretischen Defizite und Schwächen als wissenschaftliche Theorie[5] die Positionen des Keynesianismus derartig umfassend überrennen konnte. Sicherlich kam es den "Chicago Boys" und anderen Vertretern des Monetarismus gelegen, dass die keynesianisch geschulte Politik daran gescheitert war, die schweren ökonomischen Turbulenzen der 70er Jahre zu verhindern. Aber da es in den folgenden Jahrzehnten bis zum heutigen Tag auch mit neoliberalen Konzepten nicht gelungen ist, anhaltendes und hohes Wirtschaftswachstum wiederherzustellen, ist der Hauptgrund für den Erfolg der sogenannten "neoliberalen Konterrevolution" wohl an anderer Stelle zu suchen. David Harvey bietet eine Antwort: Die Wende zum Neoliberalismus war eine generelle Offensive zur Bereicherung der herrschenden Klasse auf Kosten aller anderen und zur Zerschlagung der Verhandlungsmacht der Arbeiterschaft. Als Klassenkampf von oben ist der Neoliberalismus demnach eine Strategie zur Festigung der Klassenherrschaft und von Anfang an nie etwas anderes gewesen[6]. Die immense Umverteilung von Renten, Löhnen und Sozialleistungen hin zu Kapitalgewinnen entsprach den neuen Bedürfnissen des hochkonzentrierten Kapitals nach Restauration der Profitmargen. Die damit einhergehende Aushöhlung der inneren Märkte konnte zunächst zum Teil durch die Erschließung der neuen Absatzsphären in Osteuropa, der ehemaligen Sowjetunion und der VR China kompensiert werden. Gleichzeitig drängte die herrschende Politik auch zunehmend auf eine Öffnung ehemals dekommodifizierter Sektoren für private Investitionen (Privatisierung der Rentenfonds, der Hochschulen usw.). Auf den von rechtlichen Schranken weitgehend befreiten Finanzmärkten verschob sich das Schwergewicht zunehmend von den Kredit- auf die Kapitalmärkte und der Finanzsektor schwoll auf ein Vielfaches der produktiven Wirtschaftsbereiche an[7]. Die creatio ex nihilo, in der Natur unmöglich, schien in der Ökonomie möglich und unbegrenzt fortsetzbar. Die relative Abkopplung des Wertpapierhandels und seiner Preisentwicklung von der materiellen Produktion schuf neue wirksame Nachfrage. Durch Ausweitung der Kreditvergabe und Spekulation wurde Kaufkraft geschaffen, der nirgendwo ein realer Wert im Sinne verausgabter abstrakt menschlicher Arbeit gegenüberstand. Auf diese Weise konnte über die letzten drei Jahrzehnte verhindert werden, dass die fortschreitende "Akkumulation durch Enteignung" (Harvey)[8] der erweiterten Reproduktion den Boden unter den Füßen entzog. Wenn also die keynesianisch geprägte Phase der Europäischen Integration vor allem von dem Bemühen geprägt war, politische Spannungen zu beseitigen und die ökonomische Zusammenarbeit zu stärken, um besser den Einfluss der UdSSR bekämpfen zu können, zielt die aktuelle Integrationsphase vor allem auf die Aufwertung des europäischen Kapitals in der weltweiten Konkurrenz ab. Zu diesem Zweck führen die europäischen transnational operierenden Konzerne eine lang anhaltende Offensive gegen die charakteristischen Merkmale der keynesianischen Wirtschaftspolitik und die in dieser Phase errungenen sozialen Rechte. Auch wenn diese Politik bei weitem keine Spezifik der EU-Länder darstellt, dienen doch die verschiedenen Institutionen der Europäischen Integration - hervorzuheben wären z.B. die EU-Kommission, die EZB, die EWWU - vielfach als Hebel zu ihrer Durchsetzung. Der "acquis communautaire" der konzernfreundlichen Integration wird in diesen Institutionen kodifiziert und für alle Mitgliedsländer und Anwärter verbindlich gemacht. Durch besondere "lock-in"-Effekte[9] schränkt die EU zudem auf verschiedensten Wegen, direkt und indirekt, die Handlungsspielräume der nationalen Regierungen ein. Zu nennen wäre hier vor allem der Maastricht-Vertrag, der die Haushaltspolitik der Euro-Länder und derer, die es werden wollen, auf die Einhaltung der Konvergenzkriterien von maximal 3% Haushaltsdefizit und maximal 60% Staatsschuldenquote verpflichtet. Das ist aber nicht alles: Durch die Liberalisierung des Kapitalverkehrs und der Niederlassungsfreiheit kommt es in der EU zu einem Steuersenkungswettbewerb bei den Unternehmens- und indirekt auch den Einkommenssteuern[10]. Indem einerseits ein großes Haushaltsdefizit verboten ist, andrerseits aber auch die Einnahmenseite untergraben wird, nimmt die EU das Volumen der Staatsausgaben von zwei Seiten aus in die Zange. Flankiert wird dieser Mechanismus durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der in der Praxis in aller Regel zugunsten wirtschaftsliberaler und konzernfreundlicher Prinzipien entscheidet[11]. Extreme Beispiele für die Einwilligung von nationalen Regierungen in die Einschränkung ihrer finanziellen Spielräume sind natürlich die Länder, die von der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF heimgesucht werden.

All diese Einschränkungen der politischen Spielräume werden jedoch keinesfalls den nationalen Regierungen gegen ihren Willen diktiert - schließlich war es die souveräne Entscheidung jeder Regierung, sich den Regeln des Integrationsprojektes zu unterwerfen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass es den Regierungen der Mitgliedsstaaten sehr zupass kommt, die Umsetzung unpopulärer Maßnahmen neben den "Sachzwängen der Globalisierung" nun auch den Vorgaben aus Brüssel anlasten zu können. So war in Schweden 1993-94 wohl einer der ausschlaggebenden Gründe für den EU-Beitritt, dass die konservative Regierung sich davon erhoffte, den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat mithilfe der europäischen Ebene unter "Anpassungsdruck" zu setzen[12] - "Anpassung" selbstverständlich an die Erfordernisse der Standortkonkurrenz. Selbst in Ländern wie Griechenland ist es falsch und irreführend, von einer fremden "Besatzung" zu sprechen[13]: Würden die entsprechenden Programme nicht von mächtigen AkteurInnen in diesen Ländern mitgetragen, allen voran den großen Kapitalgruppen, wären sie auch nicht durchsetzbar.


ERT - Lobby für die Interessen des Großkapitals

Das Großkapital der EU überlässt seine Interessenvertretung nicht allein den Regierungen und supranationalen Institutionen auf europäischer Ebene, auch wenn diese in der Vergangenheit durchaus alles taten, um ein solches Vertrauen zu rechtfertigen. Der Anfang der 80er Jahre gegründete European Round Table of Industrialists (ERT), die bedeutendste Lobbygruppe der europäischen Großindustrie, war an der Erstellung aller entscheidenden europäischen Verträge direkt beteiligt[14]. An den "Empfehlungen" des ERT kommt keine Institution der EU vorbei, selbst gesetzt den Fall, dass der Wille dazu bestünde. Die Mitglieder des Round Table beschäftigten 2011 etwa 6,6 Mio. Menschen und legten einen Umsatz von 1,6 Bio. EUR auf die Waage[15]. Besonders stolz scheint man im ERT auf die eigene Rolle beim Zustandekommen der Einheitlichen Europäischen Akte 1985 und der Einführung des Binnenmarkts in den Folgejahren zu sein. So verweist der ERT auf seiner Homepage darauf, dass der ehemalige Kommissionspräsident und große Förderer des Binnenmarkt-Projekts Jacques Delors die zentrale Rolle des ERT öffentlich anerkannt habe[16]. Der ERT hatte in den 80er Jahren seine ökonomische Macht direkt als Hebel eingesetzt, um die Widerstände nationalstaatlicher Regierungen gegen die Einführung des Europäischen Binnenmarkts auszuschalten. Er nutzt ein komplexes Beziehungsgeflecht zu den Schlüsselfiguren der EU-Institutionen wie dem Europäischen Rat, der Kommission, dem Ministerrat, dem Europäischen Parlament und dem europäischen Arbeitgeberverband Businesseurope, um die "Wettbewerbsfähigkeit" zur ersten Priorität der strategischen Ausrichtung der Europäischen Integration zu erheben[17]. Der ERT äußert wirtschaftspolitische Empfehlungen auf den EU-Gipfeln und war maßgeblich an der Erstellung des Maastricht-Vertrags, der Wirtschafts- und Währungsunion, der Lissabon-Agenda und der Finanzmarktintegration insgesamt beteiligt[18]. Letztere etwa wurde bereits in ihren Grundzügen im Voraus von einem "Beratergremium zur Wettbewerbsfähigkeit", dem neben Unternehmensvertretern auch Politiker und Gewerkschaftsführer angehörten, ausgearbeitet. Die Lissabon-Strategie stellte das zentrale Dokument zur strategischen Orientierung der EU in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends dar. Vorbild war die US-Ökonomie aus der Zeit des "New-Economy"-Booms in den 90er Jahren, der in hohem Maße auf den billigen und rechtlosen Arbeitskräften der USA fußte[19]. Charakteristischerweise geriet dieses oft genug als krisenfrei gepriesene Wachstumsmodell bereits 2000, also dem Jahr der Lissabon-Strategie, in die Krise.

Die Wirtschafts- und Währungsunion war zum einen ein Hebel, um mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt und dem Maastricht-Vertrag "fiskale Disziplin" bei den Euro-Anwärtern durchzusetzen. Zum zweiten ermöglicht sie innerhalb der Eurozone einen von Wechselkursschwankungen ungehinderten Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Drittens erlaubt der Euro den europäischen Industriestaaten, mit dem US-Dollar in Konkurrenz um die Vorzüge des Weltwährungsstatus zu treten. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Wirtschaftslobby in der EU sich stark für eine europäische Währungsunion einsetzte.


Lissabon-Strategie und "Global Europe": Wettbewerbsfähigkeit als oberstes Ziel

Die Lissabon-Strategie hatte das erklärte Ziel, bis zum Jahr 2010 die EU "zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen". Um die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen zu steigern, sollte das Wachstum durchschnittlich 3% betragen. Das sollte erreicht werden durch einen Ausbau des freien Verkehrs von Arbeitskräften und Dienstleistungen, außerdem sollten 20 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, die Beschäftigungsquote gesteigert und "soziale Ausgrenzung" bekämpft werden[20]. Zudem wurden im Rahmen der Durchführung bisher geschützte Sektoren für private Investoren geöffnet, Unternehmenssteuern gesenkt, die Arbeitszeit verlängert und die Arbeitsmärkte mit Minijobs und ausgehöhltem Kündigungsschutz "flexibilisiert"[21]. Der europäische Gewerkschaftsbund ETUC begrüßte diese Generaloffensive gegen den Lebensstandard der Lohnabhängigen mit dem Argument, dass Wachstum und Beschäftigung darin auch eine Rolle spielten[22].

Die Lissabon-Strategie fand ihre Konkretisierung in der BRD als Agenda 2010 inklusive der Hartz-Gesetze und der Aushöhlung des kostenlosen Gesundheitswesens. Auf europäischer Ebene mündete sie in die "Bolkestein"-Richtlinie, die in fast allen Dienstleistungsbereichen, auch der öffentlichen Daseinsvorsorge, weitgehende Investitionsfreiheit für private Konzerne durchsetzt und in die "Europäische Nachbarschaftspolitik" (ENP) sowie die "Global Europe"-Strategie in der Handelspolitik.

Die angrenzenden Länder in Osteuropa, die in den zwei Erweiterungsrunden 2004 und 2007 in die EU aufgenommen wurden, haben dem Kapital der bisherigen EU-15-Länder große Potenziale erschlossen. Das Konzept, Osteuropa zum geschützten Jagdgebiet der westeuropäischen Konzerne zu machen, ist weitgehend aufgegangen: Bereits Ende 2006 lag der Anteil der alten EU-Länder an den Direktinvestitionen in den neuen Mitgliedsländern bei fast 80%, wobei die BRD, die Niederlande und Österreich eine besonders herausgehobene Rolle spielten. In vielen Ländern Osteuropas wird der Bankensektor so gut wie ausschließlich durch ausländisches Kapital kontrolliert, so z.B. in Estland, der Slowakei und der Tschechischen Republik[23].

Nach der Osterweiterung, die die EU auf gegenwärtig 27 Mitgliedsstaaten anwachsen ließ, stellte sich die Frage, wie der territoriale Expansionsprozess der Union danach noch fortzusetzen wäre. Eine neue Erweiterungsrunde, die etwa die Ukraine oder Türkei einbeziehen würde, scheint momentan nicht ernsthaft erwägt zu werden, vermutlich aus der Befürchtung, dass die Aufnahme dieser großen Länder die Machtverteilung in der EU zuungunsten der Kernstaaten verändern könnte[24]. Die ENP gibt auf dieses Dilemma eine Antwort: Mit ihr können die Länder östlich, aber mittlerweile vor allem die südlich der EU-Grenzen an den "acquis communautaire" der Union herangeführt werden, ohne dass ihnen eine Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt werden müsste. Auf diese Weise umgibt sich die EU mit einem "Ring befreundeter Staaten", der vor allem zwei Funktionen erfüllt: Die Einbindung Nordafrikas in die Abschottungspolitik gegen MigrantInnen und die Restrukturierung der jeweiligen Volkswirtschaften gemäß den Interessen des EUKapitals, um eine großräumige Freihandelszone zu schaffen, in der europäische Konzerne als tonangebende Wirtschaftsakteure operieren können. Letzteres gestaltete sich im Falle der südlichen Anrainerstaaten deutlich schwieriger als im Falle der marktliberal ausgerichteten osteuropäischen Länder. Deswege n greift die EU zu einer Taktik mit 'Zuckerbrot und Peitsche': Wer schneller die von Brüssel vorgegebenen Reformen durchführt, wird mit finanziellen Mitteln belohnt und umgekehrt können 'Versäumnisse' Sanktionen nach sich ziehen.

Die Folgen der ENP für die Produktionsstruktur der südlichen Länder waren ähnlich verheerend wie die des EWG- bzw. EU-Beitritts der süd- und osteuropäischen Peripherie der heutigen EU: Das Handelsbilanzdefizit der südlichen ENP-Staaten explodierte geradezu von 530 Mio. EUR zu Beginn der Liberalisierungsmaßnahmen 2006 auf 20,4 Mrd. EUR im Jahr 2010[25]. "Global Europe" ist eine 2006 verabschiedete Strategie, die die Handelspolitik der EU in den Dienst der externen Wettbewerbsfähigkeit und damit der Interessen der transnational agierenden europäischen Konzerne stellt. Zentrale Ziele sind die Sicherung der Rohstoffversorgung, eine stärkere Präsenz europäischen Kapitals in den "emerging markets", insbesondere den BRICS-Ländern, der Schutz geistiger Eigentumsrechte, die Liberalisierung der Märkte für öffentliche Aufträge in den Partnerländern sowie die Beseitigung nicht-tarifärer Handelshemmnisse[26]. Strategisches Ziel ist auch hier die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit europäischer Konzerne gegenüber ihren Pendants aus den USA, Japan, China, Indien, Brasilien, Südkorea und anderen Ländern, einschließlich der Durchdringung dieser Märkte durch Direktinvestitionen aus der EU. Der freie Zugang europäischer Waren- und Kapitalexporte geht natürlich in vielen Ländern auf Kosten einheimischer Produzenten, die gegen die Konkurrenz aus Europa keine Chance haben. Diese Märkte, zusammen mit den aus EUSicht zu privatisierenden öffentlichen Beschaffungsmärkten, stellen ein erhebliches Potenzial dar, das die Durchsetzungsfähigkeit des europäischen Großkapitals auf internationaler Bühne bedeutend stärken kann[27].

Da die EU seit etwa 2001 auf Schwierigkeiten stößt, im Rahmen der WTO-Runden ihre Liberalisierungsagenda international durchzusetzen, setzt sie seit einigen Jahren verstärkt auf die bilaterale Ebene. So kann das geballte Programm von Privatisierung, Weltmarktintegration und Liberalisierung gegenüber jedem Land einzeln vertreten und die außenwirtschaftlichen Ziele der EU somit leichter umgesetzt werden[28]. Besonders interessant für die EU ist der kometenhafte ökonomische Aufstieg Chinas, das als "Erfolgsgeschichte der Globalisierung" gefeiert wird. Die Kommission drängt in China zwar auf Beseitigung von Schranken für den Marktzugang, besseren Schutz intellektueller Eigentumsrechte und Abbau der staatlichen Unterstützung für chinesische Firmen[29]. Aber grundsätzlich sieht die EU das Land, das in einigen Verlautbarungen immer noch als "kommunistisch" gebrandmarkt wird, wie selbstverständlich als Kooperationspartner bei der Gestaltung der kapitalistischen Weltordnung an.


"Europe 2020" und alles beim Alten

Sowohl Lissabon als auch "Global Europe" sind seit 2010 in der "Europe 2020"-Strategie zusammengefasst und für die laufende Dekade verlängert worden. Nach Auffassung der AutorInnen des Europe 2020-Papiers befindet sich die EU in einem "moment of transformation" und muss jetzt auf drei zentrale Punkte orientieren: "smart growth", d.h. Wachstum auf Basis von Wissen und Innovation; "sustainable growth", was den Fokus auf Ressourceneffizienz und Umweltfreundlichkeit bei gleichzeitiger Wettbewerbsfähigkeit legt; und "inclusive growth", also Beschäftigungsförderung und "soziale Kohärenz". Konkret sollen bis 2020 75% der Bevölkerung zwischen 20-64 beschäftigt sein, 20 Mio. Menschen vom Armutsrisiko befreit werden, 3% des BIP in Forschung und Entwicklung investiert werden und die Treibhausgasemissionen um 30% reduziert werden. Letzteres Ziel wird freilich sogleich mit einer Einschränkung versehen: Es soll lediglich dann erfüllt werden, "wenn die Bedingungen stimmen". Erreicht werden sollen die ambitionierten Ziele der Strategie durch eine Verbreitung moderner Internetverbindungen, Ressourceneffizienz, erneuerbare Energien, einen modernisierten Transportsektor, den Aufbau einer wettbewerbsfähigen Industrie, die fortgesetzte "Modernisierung" der Arbeitsmärkte und Mobilität der Arbeitskräfte. Ferner sollen die Staatshaushalte mittelfristig konsolidiert werden, aber nicht auf Kosten der wirtschaftlichen Erholung. Die Krisenbekämpfungsmaßnahmen, die zur Rettung der Banken und mit fiskalen Stimuli viele europäische Staaten in die Nähe des Staatsbankrotts getrieben haben, sollen vorerst fortgesetzt werden[30]. Der offensichtliche fundamentale Zielkonflikt zwischen der Förderung internationaler Wettbewerbsfähigkeit durch die bekannten Rezepte zur "Reform" der Sozialsysteme und Arbeitsmärkte einerseits und der Verringerung von Armut, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung andrerseits wird in dem Strategiepapier nicht einmal ansatzweise angesprochen. Es ist daher davon auszugehen, dass wie bereits in der Lissabon-Strategie die Bekenntnisse zu "sozialer Kohärenz" und Armutsbekämpfung deutlich weniger ernst zu nehmen sind als die zur Wettbewerbsfähigkeit.

In der Außenhandelspolitik will die EU weiterhin auf Bilateralismus setzen, so z.B. mit den freihandelsorientierten "European Partnership Agreements" (EPAs) mit den AKP-Staaten. In der Folge verlieren die betroffenen Länder die Einnahmen durch Importzölle, die angesichts der schmalen Steuerbasis einen erheblichen Teil des Staatshaushalts bestreiten[31]. Eine noch weitere Verarmung der lokalen Bevölkerung scheint damit vorprogrammiert. Aus diesem Grund kann die an der Konzernagenda ausgerichtete EU-Handelspolitik angesichts der offiziellen "Entwicklungs"-Rhetorik auch nur mit politischen Kosten durch direkten ökonomischen Zwang durchgesetzt werden[32]. Andrerseits nehmen die verantwortlichen Stellen in der EU auch immer häufiger kein Blatt mehr vor den Mund. So berichtete die Wiener Zeitung 2010 über Überlegungen der EU-Kommission: "Entwicklungshilfe für arme Herkunftsländer - speziell in Afrika - könnte von Rohstofflieferungen als Gegenleistung abhängig gemacht werden"[33]. Um Investitionen und Handelsrouten abzusichern, etwa vor dem Horn von Afrika, wird auch voraussichtlich das Militär eine zunehmend wichtige Rolle spielen[34]. Das "state building" in Krisenregionen hat als ein Hauptziel, dass zumindest die Funktion des Staates als Garant des Privateigentums wiederhergestellt wird.


Geopolitik und Einflusssphären: Europäische Integration als Griff nach der Weltmacht

Das Institute for Security Studies der EU publizierte 2011 ein Papier mit einem "Grand Strategy" genannten Konzept, das einige Grundlinien zur Schaffung eines imperialen Großraums unter Kontrolle der EU vorschlägt[35]. In diesem Großraum, der "Grand Area" sollen alle wesentlichen Ressourcen und Handelsrouten enthalten sein, geopolitische Krisenregionen sollen ausgeschlossen werden und der Raum soll effektiv durch das Militär der Union gegen Widersacher zu verteidigen sein. Explizites Ziel ist die ausschließliche Hegemonie der EU über das Gebiet, das nach Vorstellung des "Grand Strategy"-Entwicklers James Rogers außer der EU den gesamten Mittleren Osten, den Großteil Afrikas, den Indischen Ozean inklusive Indonesiens und etwa die Hälfte der ehemaligen Sowjetunion umfassen soll. Andere Mächte sollen notfalls auch militärisch an der Verwirklichung ihrer Ansprüche gehindert werden, weshalb ein Netz aus EU-Militärbasen in der "Grand Area" anvisiert wird. Ein ähnliches Konzept schwebt dem European Council on Foreign Relations mit der "Eurosphere" vor, in der ungefähr 80 Staaten und 20% der Weltbevölkerung (im Wesentlichen aus der "Grand Area") zur Einflusssphäre der EU erklärt werden[36].

Angesichts des relativen Machtverlusts der EU zugunsten von anderen aufstrebenden Mächten und der Tatsache, dass die EU - wie der Fall Libyen suggeriert - auch weiterhin offenbar nicht in der Lage ist, einen größeren Krieg im Alleingang zu gewinnen, scheinen derartige Weltherrschaftsphantasien zwar außerhalb jeglicher Realität. Sie zeigen aber vor allem, dass man an führenden Stellen der Union nicht bereit ist, sich mit diesem Abstieg abzufinden und daher ähnlich wie die USA immer stärker auf eine offen machtpolitische, militärbasierte Strategie setzt, um die eigene Position im internationalen Kräfteverhältnis zu festigen[37]. Der Lissabon-Vertrag schreibt deshalb für die EU-Mitgliedsstaaten die Verpflichtung vor, "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern", also permanent aufzurüsten[38].

Ganz oben auf der Agenda steht dabei das Thema Energiesicherheit. Die Kommission geht davon aus, dass aufgrund steigender Nachfrage und schwindender Eigenreserven die Abhängigkeit der EU von Ölimporten bis 2030 auf 93% der Gesamtversorgung und bei Gasimporten auf 84% steigen wird[39]. Zwar war bisher die Zufuhr von fossilen Energieträgern nie ernsthaft in Frage gestellt, aber das dürfte sich in Zukunft angesichts zunehmender Ressourcenknappheit ändern. Die EU stößt bei der Verwirklichung ihrer Energiestrategie zum Teil jetzt schon auf erhebliche Schwierigkeiten. Das vermutlich wichtigste energiepolitische Großprojekt der EU ist die Nabucco-Pipeline, die das kaspische Erdgas unter Umgehung des Rivalen Russland über die Türkei und den Balkan nach Mitteleuropa leiten soll. Trotz massiver Unterstützung der USA und EU für das Vorhaben steht seine Umsetzung sehr auf der Kippe: Im Oktober 2011 wurde das Nabucco-Projekt von hochrangigen Energieexperten aus Deutschland als nicht realisierbar bezeichnet, nachdem der Baubeginn schon zuvor mehrfach verschoben wurde und momentan für 2013 vorgesehen ist[40]. Auch wenn es wohl verfrüht ist, das Projekt endgültig abzuschreiben, sieht es derzeit danach aus, als hätte das russische Konkurrenzprojekt der "South Stream"-Pipeline gute Karten, den Machtkampf zu gewinnen[41].

Die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen energiepolitischen Interessen und Aktivitäten der EU-Länder verhindern das Zustandekommen einer einheitlichen und kohärenten Strategie auf dem Gebiet der Energiepolitik[42]. Es scheint somit wahrscheinlich, dass energiepolitische Richtungsentscheidungen wie etwa die über das Verhältnis zu Russland in Zukunft immer öfter zum Auslöser von Spannungen innerhalb der Union werden.


Das ökonomische Gewicht der EU in der Weltwirtschaft

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Gegensätze zwischen den EU-Ländern und anderen Weltregionen tendenziell verschärfen. Die Zeiten, in denen die EU bzw. EWG als "Juniorpartner" der USA eine untergeordnete Rolle im Rahmen der antikommunistischen Blockbildung spielten, scheinen endgültig der Vergangenheit anzugehören. Die EU tritt weltweit immer selbstbewusster für eigene Interessen ein, wenngleich die internen Widersprüche zwischen den Mitgliedsstaaten oftmals ein einheitliches Auftreten erschweren. Mit ihrem Anspruch, innerhalb der ersten Dekade des neuen Jahrtausends zur weltweit führenden Wirtschaftsmacht zu werden, forderte die EU sowohl die "alten" kapitalistischen Zentren USA und Japan als auch die aufstrebenden Schwellenländer wie Indien und China heraus. Dabei handelte es sich nicht um eine bloße Absichtserklärung. Hinter diesen Strategien steht ein relativer Bedeutungszuwachs Europas im Verhältnis zu den USA: Auch 2010, nach einem großen Einbruch, liegt das BIP der EU mit 16,3 Bio US$ immer noch über dem der USA (14,5 Bio US$)[43]. 2008 hatten von den 100 größten Konzernen 64 ihren Sitz in Europa, davon 58 in der EU. Im Vergleich dazu hatten nur noch 18 ihren Sitz in den USA[44]. Das höhere Gewicht der europäischen Konzerne in der internationalen Arbeitsteilung wurde zu einem erheblichen Maße durch grenzüberschreitende Konzentrations- und Zentralisationsprozesse ermöglicht. Für Gretchen Binus sind diese Prozesse, bei denen über Fusionen und Übernahmen der zentralisierende Aspekt vor dem konzentrierenden überwiegt, ein "sozialökonomischer Grundprozess der EU-Integration"[45].

Die Osterweiterung der EU und die damit verbundene Privatisierungswelle ermöglichten von 2003 bis 2007 eine Vervierfachung der grenzüberschreitenden Fusionen, was die oligopolistische Eigentumsstruktur in der EU weiter zugunsten der größten, meistens in den Kernländern beheimateten Konzerne gestärkt hat[46]. Das wachsende Gewicht des transnational operierenden hochkonzentrierten Kapitals zeigt sich auch in einer zunehmenden Außenorientierung der Kapitalakkumulation, sowohl was die Exporte von Waren, als auch die von Kapital angeht. Der Außenhandel der EU wuchs im vergangenen Jahrzehnt viel schneller als die Wirtschaftsleistung insgesamt. Die Exporte der EU wurden 2010 zu ca. 60% von den stark konzentrierten Bereichen Maschinen- und Fahrzeugbau sowie Chemie bestritten[47]. Während die EU beim Warenexport gegen die Konkurrenz aus den BRIC-Staaten eher an Boden verliert, ist sie immer noch Weltspitze beim Kapitalexport: Im selben Jahr kamen 16% der weltweiten Exporte und 32,5% der transnationalen Investitionen aus der EU, die damit weit vor jedem anderen weltwirtschaftlichen Akteur liegt[48]. Der Trend geht dabei in Richtung eines zunehmenden Kapitalflusses in die BRIC-Länder, um auf den dortigen großen Märkten Positionen zu erobern sowie von den Rohstoffreserven und dem wissenschaftlich-technischen Kenntnisstand dieser Länder zu profitieren[49].


Fazit:

Das ökonomische Integrationsprojekt, wie es in seiner gegenwärtigen Form als EU und WWU existiert, entspricht in hohem Maße den Interessen der Konzerne im produzierenden und finanziellen Sektor der Ökonomie. Die Stärkung der internationalen "Wettbewerbsfähigkeit", die selbstverständlich keine Fähigkeit ist, sondern ein Verhältnis zu anderen Staaten, hat oberste Priorität in allen strategisch relevanten Verträgen und Papieren der Europäischen Integration - meistens auch expressis verbis. Bieling schreibt dazu, dass die offiziellen Diskurse über "Zivilisation", "Entwicklung", "Menschenrechte" usw. zwar auch ernst gemeint sein können, aber den geoökonomischen und geopolitischen Zielsetzungen der Union untergeordnet werden[50].

Letzten Endes dient somit das gesamte Integrationsprojekt der Schaffung von günstigen Voraussetzungen für die Akkumulation von Profiten. Dies geschieht zwangsläufig auf Kosten der Konkurrenten im Ausland, aber vor allem auch der Mehrheit der Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten und der in den diversen Partnerschafts- und Nachbarschaftsabkommen assoziierten Länder, die sich mit stagnierenden oder sinkenden Reallöhnen und ausgehöhlten öffentlichen Sozialsystemen abfinden sollen. Dies ist nicht, wie immer wieder behauptet wird, eine "gescheiterte neoliberale Politik"[51], sondern eine durchaus erfolgreiche Politik, die allerdings klare Klasseninteressen vertritt. Gewinner der Europäischen Integration unter den gegenwärtigen Bedingungen ist allerdings auch nicht unbedingt das Kapital insgesamt - im Gegenteil hat die Wirtschafts- und Währungsintegration gerade in vielen peripheren Ländern zu einer regelrechten Deindustrialisierung und Verdrängung kleiner Familienbetriebe geführt[52]. Es sind vor allem die trans- nationalen Konzerne, die als seine Profiteure und wichtigsten Unterstützer den Integrationsprozess prägen[53]. Auch territorial sind daher die Vorteile naturgemäß nicht gleichmäßig verteilt, da aufgrund des sehr ungleichen Entwicklungsstands der EULänder die großen Konzerne ihre Schwerpunkte in den Kernländern wie Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden haben. Insbesondere das deutsche großindustrielle Kapital ist aufgrund seiner starken Exportorientierung und seiner überlegenen Produktivität als ein Hauptprofiteur der Europäischen Integration zu sehen. In der Krise hat Deutschland seinen Vorsprung sogar noch ausbauen können, obwohl mangels wirksamer Nachfrage auf den ausländischen Märkten die Exportüberschüsse zurückgegangen sind[54]. Die negative Reallohnentwicklung hat einen wichtigen Teil zur Verbesserung der deutschen Konkurrenzposition beigetragen: Zwischen 2000 und 2009 sind wegen niedriger Tarifabschlüsse der Gewerkschaften und der Ausweitung atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse die Reallöhne in der Bundesrepublik um 4,5% gesunken[55].

Unzweifelhaft existiert eine Kluft zwischen den Ländern des Zentrums und denen der Peripherie der EU[56]. Es wird aber in einer Reihe von Fällen immer schwieriger, ein Land klar einer der beiden Kategorien zuzuordnen. Frankreich und Italien etwa sind zwei der größten Volkswirtschaften der EU und haben zweifellos einiges Gewicht in der Entscheidungsfindung. Trotzdem sind die Leistungsbilanzen beider Länder seit Einführung des Euro immer weiter ins Minus gerutscht, weshalb vor allem Italien mit ähnlichen strukturellen Problemen wie die anderen südeuropäischen Länder zu kämpfen hat. Auch die Länder der südlichen und östlichen Peripherie der EU sind aber nicht pauschal als Leidtragende des Integrationsprozesses einzuordnen. Vielmehr gibt es auch in diesen Ländern Gewinner und Verlierer der EU-Politik. Der Unterschied ist lediglich, dass einerseits die VerliererInnen, namentlich ArbeiterInnen und Angestellte, Arbeitslose, die meisten Jugendlichen, RentnerInnen und MigrantInnen, noch härter von der in Brüssel beschlossenen Politik getroffen werden als ihre Pendants in den Kernländern und andrerseits auch die Gewinner, die großen Konzerne in Industrie, Handel und Finanzwesen, im europäischen Maßstab eine eher untergeordnete Rolle spielen. Auch die derzeitigen Krisenbekämpfungsmaßnahmen in den südeuropäischen Ländern dienen keineswegs nur ausländischen Interessen sondern auch der Verbesserung der Konkurrenzposition des einheimischen Kapitals. Die Europäische Integration in ihrer jetzigen Form muss daher ungeachtet aller internen Gegensätze als eine gemeinsame Strategie der dominanten Kapitalfraktion in den beteiligten Ländern gesehen werden.

Die internationalen Aktivitäten der EU zeigen zwar einerseits, dass der Integrationsprozess im Kontext der Internationalisierung von Produktion, Handel und Finanzsektor stattfindet. Allerding ist es keineswegs so, dass das europäische Kapital dem keineswegs machtlos gegenüberstehen und unschuldig den Imperativen des weltweit wirkenden Wertgesetzes folgen würde. Es verhält sich genau umgekehrt: Das europäische Kapital positioniert sich selbst aktiv innerhalb der Konkurrenz mit dem Streben nach weltweiter Führerschaft. Dabei werden viele der Voraussetzungen für die weltweit immer weniger gehinderte Mobilität des Kapitals erst aktiv geschaffen, beispielsweise durch die Partnerschaftsabkommen der EU. Seit einigen Jahrzehnten besteht der Schwerpunkt der Herrschafts- und Wettbewerbsstrategie der europäischen Konzerne in der Schaffung eines wirtschaftlichen Großraumes mit günstigen Bedingungen der Kapitalverwertung. Diese Strategie hat mit den europäischen Institutionen gleichzeitig ein spezifisches neues Terrain geschaffen, das selbst wiederum Ort der Implementierung von kapitalistischen Herrschaftsstrategien und des Konflikts zwischen ihnen ist. Dabei ist das strategische Feld, auf dem diese Strategien gebildet und konkretisiert werden, aufgrund der Wesenheiten des europäischen Integrationsprojekts immer begrenzt: Der Boden kapitalistischmarktwirtschaftlicher Verhältnisse darf dabei nicht verlassen werden. Politische Kräfte, die auf die Überwindung dieser Verhältnisse drängen, sind daher in ihrem Handlungsspielraum durch die EU stark eingeschränkt und daher gezwungen, in ihrer strategischen Orientierung die bestehenden Institutionen der Europäischen Integration selbst in Frage zu stellen.

Email: jannis.chas@yahoo.de


Anmerkungen:

[1] Vgl. z.B. Altvater/Mahnkopf 2007: 264.
[2] Bieling 2003: 209-214.
[3] Bieling 2006: 431.
[4] A.a.O. 433f.
[5] Insbesondere wären zu nennen der methodologische Individualismus, die damit verbundene ahistorische Anthropologie des "homo oeconomicus", das Fehlen einer analytisch tauglichen Werttheorie und die Tendenz zu rein ökonometrischen Modellen mit unrealistischen Grundannahmen.
[6] Harvey 2005: 19.
[7] Altvater 2006: 111ff; Foster/Magdoff 2008; Foster 2008.
[8] Harvey 2003.
[9] Gill 1998: Altvater/Mahnkopf2007: 37.
[10] Ganghof/Genschel 2008: 321ff; Genschel/Rixen/Uhl 2008.
[11] Ganghof/Genschel 2008: 329; Scharpf 2008: 70.
[12] Harvey 2005: 113f
[13] So schreibt z.B. attac (2012): "Nun werden die Griechen einer neoliberalen Schocktherapie ausgesetzt", gerade so, als wären es deutsche Besatzungstruppen und nicht eine souveräne Exekutive, die diese "Therapie" umsetzt.
[14] Altvater/Mahnkopf 2007: 125.
[15] Schäfer 2011.
[16] European Round Table of Industrialists.
[17] Prenner 2003: 11f.
[18] Prenner 2003: 13.
[19] Altvater/Mahnkopf 2007: 125.
[20] López Alvarez/Meneghini/Richter 2006.
[21] Groth 2007.
[22] Hyman 2011: 4.
[23] Becker 2008: 9
[24] Wagner 2011b: 3.
[25] Wagner 2011b: 4; Lösing/Wagner 2011: 22f.
[26] Groth 2007.
[27] Fuchs 2007: 1f.
[28] Fuchs 2007: 3
[29] Fuchs 2007: 8f
[30] Europäische Kommission 2010.
[31] Lühmann 2011: 2f.
[32] Lühmann 2011: 3.
[33] Tucek 2010.
[34] Lühmann 2011: 4.
[35] Wagner 2012: 9-11; Wagner 2011a.
[36] Wagner 2012: 10.
[37] Wagner 2012: 11.
[38] Vertrag von Lissabon, Art. 17 (3).
[39] Bieling 2010: 240
[40] Brüggmann 2011.
[41] Bieling 2010: 243f.
[42] Binus 2010: 11.
[43] IMF.
[44] UNCTAD.
[45] Binus 2010: 6.
[46] A.a.O.
[47] Eurostat: 56.
[48] A.a.O, S. 14; UNCTAD.
[49] Binus 2010: 7f.
[50] Bieling 2010: 225.
[51] So z.B. die deutsche Partei "Die Linke" in einer Stellungnahme zur "Europe 2020"-Strategie.
[52] Z.B. in Griechenland, siehe z.B: Stathakis 2010: 6.
[53] Bohle 2006: 346.
[54] Hüssen 2010.
[55] Frankfurter Allgemeine Zeitung 2010.
[56] Becker/Jäger 2011.


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Martin Birkner:

Ideologie als Subjekt ohne Prozess

Kritische Anmerkungen zu Althussers "Ideologie und ideologische Staatsapparate" & "Über die Reproduktion" anlässlich deren Neu- bzw. Erstauflage

Dem Herausgeber Frieder Otto Wolf ist es zu verdanken, dass die Werke eines der einflussreichsten Marxisten des späten 20. Jahrhunderts, Louis Althusser, in deutscher Sprache (wieder) aufgelegt werden. Und nachdem 2011 eine neue Edition des wohl bekanntesten und einflussreichsten Textes von Althusser, "Ideologie und ideologische Staatsapparate", oft - und auch hier - präsentiert wurde, ist seit kurzem auch der "zweite Halbband" des Textes mit dem Titel "Über die Reproduktion" erstmals auf Deutsch erhältlich. Damit liegt über 40 Jahre nach der Abfassung nun endlich jener - deutlich umfangreichere - "Urtext" den deutschsprachigen LeserInnen vor, aus dem Althusser schließlich - mit geringfügigen Änderungen - die Teile für den berühmten "ISA-Aufsatz" entnommen hat. Der akribischen Editionsarbeit von Frieder Otto Wolf ist es zu verdanken, dass der Entstehungsprozess der Althusserschen Ideologietheorie nun in all seinen Phasen nachverfolgt und analysiert werden kann. Dies erscheint mir aus zwei Gründen wichtig: Zum einen aufgrund der Wirkmächtigkeit des ISA-Aufsatzes, der sowohl Generationen von MarxistInnen geprägt als auch ganze Theorieströmungen wie z.B. die Cultural Studies nachhaltig beeinflusst hat, als auch zweitens aufgrund der nach wie vor virulenten Frage, die Althusser dereinst zur Abfassung des Manuskripts bewogen haben dürfte - und die spätestens seit de La Boéties im 16. Jahrhundert verfasster Abhandlung "Über die freiwillige Knechtschaft" all jene umtreibt, die an einer Befreiung der Menschen aus Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen interessiert sind: Was sind die Mechanismen und Praktiken, die die Ausgebeuteten und Unterdrückten am gemeinsamen Kampf um ihre Befreiung hindern?

"Über die Reproduktion" (von mir im Folgenden als "Urtext" bezeichnet) wurde unmittelbar nach den Ereignissen von 1968 verfasst und muss auch als Auseinandersetzung Althussers mit dem Pariser Mai gelesen werden. Als Mitglied der französischen KP, die die Revolte ja verurteilt hatte und der Vereinigung zwischen kämpfenden StudentInnen und dem Proletariat nach Kräften entgegenwirkte, sah sich Althusser wohl oder übel einem Dilemma gegenüber: Einerseits galt es, der reaktionären Parteilinie eine realistischere Position entgegenzusetzen, andererseits durften die grundsätzlichen Kategorien der Partei, wie etwa diejenige des "kleinbürgerlichen" Charakters der StudentInnen, nicht in Frage gestellt werden. Und so zeichnet der Urtext, noch stärker als der spätere ISA-Aufsatz, ein durchaus orthodox marxistisch-leninistisches Bild des Althusserschen Zugangs zur Ideologie-Problematik: Sowohl der Vorrangstellung der Avantgarde-Partei wie auch der Darstellung einer streng leninistischen Denkweise revolutionärer Machtergreifung wird relativ viel Raum eingeräumt. Spannender sind aus heutiger Sicht einige Kapitel, die im ISA-Aufsatz als Ganzes weggelassen wurden, wie jene beiden zu den konkreten Ideologischen Staatsapparaten Recht bzw. Interessensverbände sowie eines über "Reproduktion der Produktionsverhältnisse und Revolution" und der anschließende Aufsatz über Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte.


Recht als Ideologie

Zunächst kurz zum Kapitel über den ISA des Rechts. Althusser beschreibt dessen Systemizität und Formalität, d.h. die Abstraktion der Rechtsprinzipien von den gesellschaftlichen, ökonomischen und in letzter Instanz Eigentumsverhältnissen, von denen diese dennoch abhängig sind. Hier kritisiert er mit Bezug auf Ausführungen von Marx jene Theorien eines "sozialistischen Rechts", die selbst davon abstrahieren, dass Rechtsverhältnisse notwendiger Weise mit bürgerlichen Eigentumsverhältnissen einhergehen, und schließt daraus, dass ein Übergang zu kommunistischen Verhältnissen dementsprechend nicht auf die positiven Werte eines "sozialistischen Rechts" rekurrieren kann, sondern vielmehr analog zum "Absterben des Staates" auch die Institution des Rechts verschwinden muss. Des Weiteren zeigt Althusser die Verbindung von Recht und Repression, d.h., dass ersteres ohne letztere schlicht nicht existieren kann, sowie die notwendige Ergänzung des rechtlichen durch einen moralischen Diskurs. "Das RECHT ist ein formales, systematisiertes System, das nicht-widersprüchlich und (tendenziell) vollständig ist, das nicht für sich alleine existieren kann." (110, Großschreibung und Hervorhebung i. O.)

Es muss sich einerseits auf einen Teil des repressiven Staatsapparats stützen und andererseits bedarf es einer "kleine[n] Ergänzung durch die moralische Ideologie." (Ebd., Herv. i. O.) Erst ein derartiges Verständnis des ISA des Rechts bzw. seiner beiden "Realitäten" Staat und Ideologie lässt uns übergehen zu einer Theorie der Ideologischen Staatsapparate. Warum Althusser dem Recht eine derart zentrale Bedeutung zuspricht, wird in einem weiteren dem Recht gewidmeten Kapitel klar: Weil es "als spezifischer Apparat" - und hier spricht Althusser wieder eine orthodox-leninistische Sprache - "den Überbau in die Basis hinein und innerhalb der Basis artikuliert." (240, Herv. i. O.) Während der schulische ISA unter kapitalistischen Verhältnissen der zentrale Staatsapparat ist (den unter feudalen Verhältnissen führenden kirchlichen ISA beerbend), so ist es die juristisch-moralische Ideologie (unter Hegemonie der juristischen), welche im Kapitalismus die dominante Rolle spielt (vgl. 241). Dies sind meines Erachtens wichtige Erkenntnisse, und umso bedauernswerter ist es, dass Althusser nach der Skizze seiner allgemeinen Ideologietheorie diese nicht hinsichtlich der soeben genannten hegemonialen Aspekte exemplifiziert, sondern anhand der christlichen religiösen Anrufung. Auf die damit verbundenen Probleme werde ich weiter unten zurückkommen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass im Gegensatz zum ISA-Text beim Urtext eine klarere Verortung im (partei)marxistischen Rahmen sichtbar wird. Zwar trübt der vorläufige, entwurfsartige Charakter vieler Textstellen die Stringenz der Argumentation, im Gegensatz zum stark verdichteten ISA-Aufsatz lässt der Urtext jedoch genauere Schlussfolgerungen hinsichtlich der theoretischen Annäherung Althussers an das Phänomen Ideologie zu. Dennoch finden sich hinsichtlich des eigentlichen Anspruchs Althussers, eine Theorie der Ideologie im Allgemeinen zu entwerfen, keine substanziellen Änderungen bzw. Neuigkeiten, sodass sich letztlich die Ausgestaltung der Althusserschen Ideologietheorie angesichts des nun vorliegenden Urtextes nur gering von jener des ISA-Aufsatzes unterscheidet. Die Publikation des Urtextes ermöglicht jedoch differenziertere und somit schärfere Nachweise im Rahmen des Begründungszusammenhanges einer Kritik an der Theorie Althussers selbst.


Gibt es eine Ideologie im Allgemeinen?

Ich möchte zunächst eine stark komprimierte Zusammenfassung der Ideologietheorie Althussers geben, die schwerpunktmäßig der Analyse Isolde Charims folgt, die in ihrer bahnbrechenden Studie (Charim 2002) die Kernbestandteile der Theorie in den knappen Passagen über die Anrufung der Subjekte durch die Ideologie verortet. Charim legt den Schwerpunkt auf den stark verdichteten letzten Teil des ISA-Aufsatzes, in dem Althusser seine Theorie der Anrufung entwickelt. Dem ist insofern zuzustimmen, als Althusser in diesen Passagen am weitesten über die bis dahin bekannten marxistischen Theorien von Ideologie (als falsches Bewusstsein) hinausgeht. Trotzdem muss nach Lektüre des Urtextes die orthodox marxistisch-leninistische Selbstverortung Althussers stärker als noch in Charims Analyse berücksichtigt werden, gerade angesichts der interessensverbandlichen und juridischen "Illustrationen", mit denen er im Urtext seine Analysen anreichert.

Im Zentrum der Theorie der Ideologie findet sich die Figur der Anrufung. Entgegen der weit verbreiteten Sichtweise von Ideologie als bewusster Täuschung der Subalternen durch die herrschenden Klassen verschiebt Althusser die Erklärung der Funktionsweise von Ideologie gleichsam auf eine tiefere Ebene. Das Subjekt, und um dieses geht es ihm im Wesentlichen, ist nicht vorgängig bereits existent und wird dann ideologisch getäuscht oder verblendet, sondern die Ideologie bringt als einen Effekt ihrer Macht das Subjekt überhaupt erst hervor. Den Akt dieser Hervorbringung nennt Althusser "Interpellation", zu Deutsch Anrufung. "Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an", so lauten die Kurzfassung und die Überschrift des wohl wichtigsten Unterkapitels (265).

Die alltagspraktischen Verweise auf die Anrufung konkreter Subjekte durch PolizistInnen - das berühmte "He Sie!" -, worauf sich der bzw. die derart Angerufene umdreht und somit die Anrufung annimmt, sind bereits als sekundäre Akte ideologischer Anrufung zu begreifen. Um als ideologisch anrufbares Subjekt zu funktionieren, muss mensch "schon immer" auch eines sein. Dabei funktionieren die jeweiligen Ideologischen Staatsapparate unterschiedlich, je nachdem welche konkrete Form von Subjektivität sie hervorbringen. Der schulische ISA, von Althusser zu Recht als maßgeblicher Apparat der kapitalistischen Produktionsweise angesehen, erzeugt andere materielle Praktiken und somit andere Ideologien als zum Beispiel der politische oder interessensverbandliche ISA. Eines ist ihnen jedoch gemein, und zwar die Verankerung der Ideologie in den materiellen Praktiken der Menschen. Althusser geht sogar noch weiter und spricht der Ideologie selber eine materielle Existenz zu (259f). Er zeigt dies illustrativ anhand der Paraphrasierung eines Pascalschen Ausspruchs: "Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben." (262) Ideologie beschränkt sich also nicht auf ein "Bewusstsein" - ein Begriff, dem Althusser kritisch bis ablehnend gegenüberstand -, sie ist vielmehr tief in die Körper eingelassen. In diesen materiellen Praxen leben die Menschen ein "imaginäres Verhältnis zu ihren realen Existenzbedingungen", so die Definition der Wirkungsweise von Ideologie.

Im Prozess des Überganges von den Ideologischen Staatsapparaten zur Ideologie "an sich" geht jedoch leider deren Verbindung untereinander verloren. Es sind eben nicht die Staatsapparate, die die Subjekte anrufen, sondern die Ideologie. Welche Funktion genau die ISA im Prozess der Anrufung haben, bleibt ungeklärt. Die Ideologie verwandelt sich so unter der Hand selbst in eine Art metaphysisches Subjekt, was insofern bemerkenswert ist, da ja ein Großteil der vorhergehenden Kapitel sich eben genau mit jenen staatlichen Apparaten auseinandergesetzt hat. So bleibt ungeklärt, welche Funktion die ISA im Rahmen von Anrufungen eigentlich erfüllen; sind sie Medien, Instrumente, Rahmenbedingungen, selbst Subjekte? Wir erfahren es nicht. Was wir erfahren, ist eine Erklärung jener unsichtbaren Macht, die die Subjekte "ganz von selbst" funktionieren lässt, und zwar nicht zufällig genau in jener Form, in der sie durch ihren "freien Willen" die Reproduktion spezifischer Produktionsverhältnisse[1] sicherstellen. Was aber, wenn nicht? Können sinnvolle Aussagen darüber getroffen werden, warum bzw. durch welche Verschiebungen in den Praxen der Menschen "Funktionsstörungen" hervorgerufen werden (können)? Im Rahmen des Althusserschen Ansatzes scheint mir das nicht möglich.

Eine Theorie nicht der konkreten Ideologien, sondern der Ideologie im Allgemeinen wirft also enorme Probleme auf. Diese Probleme stellen sich im Anschluss an den ISA-Aufsatz, werden allerdings auch nach Lektüre des Urtextes nicht entkräftet. Die nun folgenden Kritikpunkte arbeiten sich nicht "nahe am Text" an den Althusserschen Aufsätzen ab, sondern sind eine Art synthetisierendes Fazit einer längeren intensiven Auseinandersetzung.


Problem 1: Ahistorizität (ewige Ideologie = ewiger Staat = ewiges Subjekt)

Um seine Theorie der Ideologie im Allgemeinen von den jeweils konkreten durch die entsprechenden ISA vermittelten Ideologien abzugrenzen, greift Althusser zu einer aus der Freudschen Psychoanalyse entnommenen Figur: Gleich dem Unbewussten wird DIE Ideologie als omnihistorische, d.h. zeitlose, eingeführt (249). Alle menschlichen Gesellschaften (an einer Stelle schränkt Althusser dies zwar auf Klassengesellschaften ein, um sich gleich darauf allerdings zu korrigieren und die Wirkungsweise von Ideologie auf alle Gesellschaftsformationen auszudehnen) produzieren Ideologie (vgl. ebd.). Dies ist für einen Marxisten eine starke Ansage, zumal ja Althusser selbst die Besonderheit der Marxschen Theorie in deren Entdeckung des "Kontinents Geschichte" sah. Die Ideologie allerdings, so Althusser, hat nicht nur keine eigene Geschichte ("ihre" Geschichte ist vielmehr die ihrer "reellen Existenzbedingungen", welche nur qua Wissenschaft erkannt werden kann), auch die Art und Weise ihres Wirkungsprinzips ist jenseits historisch bestimmter Formbestimmungen anzusiedeln.

Dies zeitigt notwendigerweise eine Folge, die konstitutiv mit dem Wirkungsprinzip der ideologischen Anrufung zusammenhängt: Es gibt immer schon Subjekte. "Da die Ideologie ewig (sic!) ist, müssen wir jetzt die Form der Zeitlichkeit aufheben [...] und wir müssen sagen: Die Ideologie hat immer schon die Individuen als Subjekte angerufen [...] Die Individuen sind immer schon Subjekte." (270, Herv. i. O.) Im Rahmen eines autobiografischen Einschubs erzählt Althusser dann sein eigenes immer-schon-Subjekt-Sein im Rahmen zahlreicher Anrufungen (familiarer, religiöser und schließlich marxistischer Art) nach. "So geht das Leben. [...] Dieses Individuum muss dann eben damit klarkommen ..." (272f) Wir finden jedenfalls keine Spur einer Theoretisierung jenes Überganges, der aus dem "kleine[n] Kind Louis" (272) einen wissenschaftlichen Theoretiker der Ideologie werden lässt.

Diese Ahistorizität ist nicht zuletzt deshalb besonders problematisch, da Althusser ja die Wirkungen der ideologischen Anrufungen konstitutiv mit den Funktionen der ISA verbunden sieht. Ohne Staatsapparate keine Anrufung! Sofort drängt sich ein eng damit verbundenes Problem auf: Konsequenterweise müsste die Ewigkeit der Ideologie an eine Ewigkeit des Staates und seiner Apparate gekoppelt sein. Eine derartige Theorie müsste sich jedoch konkret an den ISA indigener Gesellschaften Amerikas, diverser polynesischer Formen der Gemeinschaft, der athenischen Demokratie, diverser germanischer Stämme usw. bewähren. Eine theoretische Darstellung jenes Ideologischen Staatsapparates, der zur materiellen Praxis des Suebenknotens[2] anruft, ja das wär was ...

Eine weitere Schwierigkeit hängt eng mit der eben beschriebenen zusammen: Warum "praktizieren" eigentlich unterschiedliche Menschen unterschiedliche Ideologien? Von wem oder was hängt es ab, ob jemand beispielsweise von der faschistischen oder der marxistisch-leninistischen Ideologie angerufen wird? Inwiefern sind Ideologien gekoppelt an die Struktur gesellschaftlicher Arbeitsteilung und wo beginnt ihre relative Autonomie von dieser? Nun, da im Gegensatz zu den ewigen Prinzipien der ideologischen Anrufung diese Fragen explizit und ausnahmslos nur aus historisch bestimmten Gesellschaftsformationen heraus überhaupt erst gestellt werden können, werden sie von Althusser gleich wieder kassiert: Über die Ideologie im Allgemeinen kann nämlich nur ausgesagt werden, was wie diese selbst keinen historischen Index trägt. Voilà: Die Melange aus psychoanalytischer Ahistorizität und Nominalismus produziert eine autoimmune Theorie. Womit wir auch schon beim nächsten problematischen Aspekt der Althusserschen Ideologietheorie wären:


Problem 2: Die (psychoanalytisch-)christliche Anrufung - Beispiel oder Königsweg?

Das Kapitel, in dem Althusser die konkrete Funktionsweise der ideologischen Anrufung verdeutlicht, lautet "Ein Beispiel: Die christliche religiöse Ideologie" (273f). Althusser stellt zu Beginn dieses Kapitels "klar, dass sich der gleiche Beweisgang mit größter Leichtigkeit (sic!) auch für die moralische, die juristische, die politische, die ästhetische Ideologie wiederholen ließe." (Ebd.)[3] Dass dem nicht so ist, soll im Folgenden gezeigt werden.

Auf theoretischer Ebene trägt Althusser entgegen seiner "Beispiel-Hypothese" der Besonderheit der christlich-religiösen Anrufung Rechnung, wenn er schreibt, dass "dieses Verfahren, durch das die christlichen religiösen Subjekte in Szene gesetzt werden, von einem ganz befremdlichen Phänomen beherrscht wird: Nämlich dass die Existenz einer solchen Vielzahl religiöser Subjekte nur unter der absoluten Voraussetzung möglich ist, dass es ein ANDERES SUBJEKT gibt: ein EINZIGES, ABSOLUTES, nämlich Gott." (275, alle Herv. i. O.) Konkret meint Althusser die Anrufung Moses' durch Gott am Berg Sinai, bekannt auch als "Brennender Dornbusch". "Gott ist also das SUBJEKT, während Moses und die unzähligen Subjekte des Volkes Gottes seine von ihm angerufenen Gesprächsteilnehmer sind: seine Spiegel, seine Abbilder." (276) Es folgen weitere Ausführungen zu Sündenfall und Erlösung, zu Gottes Sohn auf Erden (vulgo Jesus) und dessen Wiederauferstehung. Zentral ist dabei die Verdoppelung des Subjekts - analog zur Lacanschen Variante der Psychoanalyse: Althusser verweist dahingehend sowohl auf die Spiegelmetaphorik Lacans als auch auf dessen Unterscheidung des "kleinen" vom "großen Anderen", wobei letzterer verkürzt als die symbolische Ordnung des Sprachlichen, ersterer auch als "Objekt klein a", als - unerreichbares - imaginäres Objekt des Begehrens bekannt ist. Mit Althusser gegen Althusser könnte also - im Gegensatz zur Geschichte, die er als "Prozess ohne Subjekt" bezeichnet - von der Ideologie umgekehrt als einem "Subjekt ohne Prozess" gesprochen werden.

Inwiefern die Verknüpfung von christlichem und Lacanschen Motiven tatsächlich in der Lage ist, bestimmte Figuren ideologischer Anrufung zu erklären, kann an dieser Stelle nicht behandelt werden (vgl. dazu z.B. Slavoj Zizeks Studie "The Sublime Object of Ideology, 2009), das Problem liegt allerdings anderswo, nämlich bei der Verallgemeinerungsfähigkeit des genannten Beispiels. Die von Althusser vorgestellte psychoanalytisch-katholische Praxis der Anrufung ist kaum anders als eine ebenso allgemeine Form - ein Königsweg der Ideologietheorie - zu lesen, und es ist wahrlich kein Zufall, dass Althusser sich nie der "größten Leichtigkeit" hingegeben und "Wiederholungen" in anderen Ideologien ausgearbeitet hat. Paradoxer Weise macht er dies selbst deutlich, wenn er just am Ende des Kapitels über die christlich-religiöse Anrufung in Bezug auf die politische Ideologie des Marxismus-Leninismus schreibt, dass diese die Besonderheit aufweist, "- für die es keinerlei historischen Präzedenzfall gibt -, eine Ideologie zu sein, die in hohem Grade von einer Wissenschaft 'bearbeitet' und daher auch transformiert worden ist, von der marxistischen Wissenschaft von der GESCHICHTE [...]" (280). Offensichtlich gibt es doch mehr oder weniger ideologische Ideologien, je nach Grad der "Bearbeitung" durch marxistische (sic!) Wissenschaft. Der sein seinerzeitiges Brennen offensichtlich gut überstanden habende Dornbusch aus der Gattung Rubus sectio Rubus (Brombeere) kann übrigens heute noch nächst dem Katharinenkloster am heiligen Berg Sinai besichtigt werden.


Problem 3: Ohne Staatsapparate keine Ideologie?

Zwar ist es die Ideologie, welche die Individuen als Subjekte anruft, immer schon angerufen hat, es bedarf aber der Institution "Ideologischer Staatsapparat", um die jeweils konkreten Ideologien zu vermitteln. Diese konkreten ISA werden von Althusser auch taxativ aufgezählt (schulischer, familiarer, religiöser, politischer sowie interessensverbandlicher Apparat, Apparat der Information, des Verlagswesens und der öffentlichen Verbreitung, kultureller Apparat; 120). Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob jenseits dieser staatlichen Apparate, mithin überhaupt jenseits des Staates nicht auch ideologische Formen existieren können? Wäre beispielsweise im Sinne der Theorie des erweiterten Staates von Gramsci ein ZIA, ein zivilgesellschaftlicher ideologischer Apparat, denkbar? Wie steht es um ideologische Formen unmittelbar im ökonomischen Bereich der (Re)Produktion? Gleichwohl der Staat, wie wir spätestens seit Poulantzas wissen, ja auch direkt in der Ökonomie präsent ist, gibt es dennoch auch nichtstaatliche Bereiche des Ökonomischen. Sind diese zwangsläufig ideologiefrei?

Althusser berührt diese Problematik, wenn er sich mit den politischen Parteien als ISA auseinandersetzt, insbesondere natürlich mit DER PARTEI, der offiziell kommunistischen, französischen. Sein Lavieren könnte meines Erachtens so gedeutet werden: Insofern die KP eine P im bürgerlichen Staat ist, ist sie ein ISA, insofern sie wirklich K, also kommunistisch, ist, weist sie darüber hinaus. Obwohl es gerade im Falle der KPF nicht allzu schwer sein dürfte, sich diese als Staatsapparat vorzustellen, stellt sich die Frage, ob das Beispiel - konsequent weitergedacht - bedeutet, dass nicht parteiförmige politische Institutionen jenseits des Staates und somit der Ideologie stehen. Dagegen könnte natürlich eingewandt werden, dass sie dann eben keine politischen Institutionen wären, aber das würde wiederum bedeuten, dass es überhaupt kein gesellschaftliches Außerhalb des Staates geben kann - welchen Status hätte dann allerdings die Wissenschaft? Sie ist ja laut Althusser, ausgeführt vor allem in "Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler" (1985), tatsächlich außerhalb der Ideologie, wenngleich auch durch zahllose Repräsentationsketten mit ihr verbunden - deren zentrale, die Philosophie, namensgebend für den Text war. Diese Problematik verweist wiederum auf das letzte hier diskutierte Problem der Ideologietheorie, nämlich die nicht vorhandene Theorie des Ausgangs aus der Ideologie. Dieses Problem ist meines Erachtens untrennbar mit den bisher genannten verwoben, sind es doch genau die Dimensionen Ahistorizität, Modellcharakter des Beispiels der christlichen Anrufung in psychoanalytischer Manier sowie Staatszentriertheit, die eine Theorie der Überwindung von Ideologie erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen. Im zweiten Teil des nächsten Problemfeldes werde ich darauf zurückkommen.


Problem 4: Keine Theorie des Übergangs = Ideologie forever?

Dieses Problemfeld wiederum gliedert sich in 2 Teile: Zuerst wird der spezifische marxistische Blickwinkel Althussers hinsichtlich der Dominanz der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte in den Blick genommen, anschließend der Wissenschaftsbegriff als subjektloser. Die kritische Analyse dieser Formen verweist schließlich auf die Unhaltbarkeit der Althusserschen Ideologietheorie - zumal aus einer Perspektive der Befreiung.


1. Primat der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte - oder: Hat da wer den Klassenkampf vergessen?

Im Anschluss an den eigentlichen ISA-Aufsatz findet sich ein Text mit dem Titel "Über den Primat der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte". Darin beschreibt Althusser einen substanziellen Unterschied zwischen den Strömungen der ArbeiterInnenbewegungen, die von einem Primat der Produktionsverhältnisse, und jenen, die von einem Primat der Produktivkräfte über die jeweils anderen ausgehen. Letztere werden mit den Namen Bernstein, Kautsky und Stalin identifiziert, erstere selbstredend mit der revolutionären Form des Marxismus (ergo mit Lenin, Mao - und wohl auch Althusser selbst). Im Rahmens des Popanz, den Althusser aufbaut, ist ihm auch zuzustimmen: Letztlich verkleidet ein methodisches Ausgehen vom Primat der Produktivkräfte nämlich die Doublette von Ökonomismus und Voluntarismus. Nur ein Ausgehen vom Primat der Produktionsverhältnisse stellt eine Strategie des richtigen politischen Handelns sicher, mithin jenen Primat der Politik, der dem Abwarten auf die "richtige Reife" der Produktionsverhältnisse durch die Sozialdemokratie bzw. auf der anderen Seite der Reduktion von Menschen auf "wertvolles Kapital", wie z.B. im Stachanowismus, entgegen gesetzt ist (vgl. 300).

Eine derartige Entgegensetzung lässt sich jedoch nur aufrechterhalten, wenn die Produktivkräfte streng im technizistischen Sinne, ganz wie in den "realsozialistischen" Staaten, ausgelegt werden. Wer mit Marx hingegen auf die "Produktivkraft der Arbeit" fokussiert, kann der Althusserschen Dichotomie nicht folgen. Vielmehr eröffnet sich durch diesen Zugang eine ganz andere Sicht auf die Möglichkeiten einer politischen Theorie und Praxis gesellschaftlicher Befreiung. Mit dem Marx der "heiligen Familie", aber auch der "Grundrisse" (Stichwort: General Intellect) lässt sich eine Strategie kommunistischer Politik entwickeln, die sehr wohl auf einem Primat der Produktivkraft der Arbeit aufbaut. Nur wäre dies keine technisch determinierte Sichtweise von Produktivkräften mehr, sondern eine, die auf das Vermögen der assoziierten ProduzentInnen aufbaut, auf die Fortschritte der Entwicklung kollektiven Wissens und erst nachrangig auf die damit verbundenen technischen Entwicklungen. Die Herangehensweise Althussers jedoch verbleibt streng im leninistischen Rahmen - etwas anderes hat er allerdings auch niemals behauptet. Wie jedoch die Wirkungen sozialer Auseinandersetzungen in diesem Setting gedacht werden können - und zwar jenseits einer unproblematischen Vorstellung ihrer "richtigen" Repräsentation durch die "richtige" Parteilinie -, bleibt schleierhaft. Dies wiederum lässt zumindest einen ideologietheoretischen Rückschluss zu: There's no way out! Eine Theorie aber, die im kollektiven Agieren von Subjekten keine grundsätzliche Möglichkeit der Veränderung von Erkenntnisweisen und Handlungsmöglichkeiten zugesteht, kann nicht dabei hilfreich sein, die imaginären Verhältnisse zu den eigenen Existenzbedingungen zu durchbrechen.

Für Althusser ist jenseits der Ideologie also nicht ein situierter und als solcher artikulierter konkreter Standpunkt, sondern ausschließlich "die Wissenschaft". Nur aus ihrer Perspektive kann überhaupt eine Theorie der Ideologie formuliert werden, die selbst nicht ideologisch ist. Wie aber wird so ein Schritt aus der Ideologie heraus überhaupt möglich? Mensch lese und staune: Althusser verliert darüber nicht ein einziges Wort, weder im ISA-Aufsatz noch im Urtext. Wir erfahren lediglich, dass die Wissenschaft einen "Prozess ohne Subjekt" darstellt. Dies erscheint zunächst nachvollziehbar, da ja ein Subjekt ohne Ideologie nicht zu haben ist. Was jedoch das Subjekt im Rahmen des wissenschaftlichen Prozesses ersetzt, erfahren wir nicht. Die hehre Wissenschaft, eine Theorie der Ideologie beispielsweise, wird sich doch nicht von selbst artikulieren, ein derartiges Maß an Gespensterhaftigkeit wäre wohl selbst einem Jacques Derrida zu viel des spektralen Guten.


2. Wissenschaft: Die "große Andere" der Ideologie?

Nicht, dass die Unterscheidung zwischen ideologischen und un-ideologischen Formen von Wissen nicht von entscheidender Bedeutung ist. Im Rahmen etwa einer Theorie "situierten Wissens" (Singer 2005) wäre es möglich, Parameter für die Wissenschaftlichkeit bei gleichzeitiger Bestimmung und Begründung eines spezifischen (ideologischen) Standpunktes anzugeben. Zentral dafür wäre jedoch eine Theorie des Überganges; eine solche hatten Althusser und seine Schüler - allen voran Étienne Balibar - im Rahmen des Projekts "Das Kapital lesen" (1972) für die Transformationen von Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen auch durchaus im Blick. In den ideologietheoretischen Arbeiten Althussers jedoch finden sich keinerlei Ansatzpunkte für eine derartige Theorie des Überganges, des Scheiterns des Anrufens, der unterschiedlichen Wertigkeit differenter Ideologien etc. Eine Ideologie im Allgemeinen ist eine Ideologie im Allgemeinen und war schon immer eine Ideologie im Allgemeinen - und sie wird auch immer und in aller Zukunft eine sein. Dabei liegt das Problem nicht darin, dass auch Menschen in post-kapitalistischen Gesellschaften Formen imaginärer Verhältnisse zu ihren realen Existenzbedingungen herausbilden könnten, sondern dass per definitionem eine Veränderung im Modus der Produktion von Ideologie durch Staats(!)apparate und der Produktion von Subjekten durch die Ideologie ausgeschlossen wird. Epistemologisch ist es nach Althusser ebenso folgerichtig wie politisch falsch, sich erst gar nicht mit der historischen Entwicklung von Arbeitsteilungen und Klassenzusammensetzungen, von Revolten und Revolutionen aufzuhalten. Eine derartige Herangehensweise müsste nämlich eben von den Widerständen, historischen Verwerfungen, ja vom Nicht-Funktionieren und vom Scheitern ideologischer Anrufungen ihren Ausgang nehmen.

Theoretische Aussagen über eine politische Strategie des Scheitern-Lassens von Anrufungen oder - mit Foucault und Butler gesprochen - einer kritischen Entsubjektivierung rücken damit aus dem Blickfeld, ebenso theoretisch gehaltvolle Aussagen über mögliche Strategien alternativer Anrufungen oder Einschätzungen unterschiedlicher ideologischer Effekte. Diese wären allerdings der Einsatz einer kritischen Wissenschaft, die sich ihrer historisch-politischen Situiertheit bewusst ist, diese selbst wiederum reflektiert und offen legt. Kritisch oder herrschaftsaffin: Es gibt jedenfalls keine Wissenschaft von der Gesellschaft ohne die diese betreibenden Subjekte und ihre politischen Haltungen, ohne ihr unhintergehbares gesellschaftliches Verhaftet-Sein. Wissenschaft ist eben nicht das Andere der Ideologie schlechthin, kritische Differenzierungen sind jedoch auch innerhalb des "wissenschaftlichen Universums" möglich, ja unumgänglich, und müssen neben formaler Widerspruchslosigkeit die zugrunde liegenden Strukturen gesellschaftlicher Arbeitsteilung in ihrer historischen Genese und Umkämpftheit ebenso analytisch mit einbeziehen wie politische Konjunkturen und Ereignisse.


Fazit: Niemals den Klassenkampf vergessen! oder: Es gibt keine Ideologie im Allgemeinen

Die oben kritisch ausgeführten Aspekte der Althusserschen Ideologietheorie lassen meines Erachtens nur einen Schluss zu: Die Ideologie im Allgemeinen gibt es schlicht und ergreifend nicht. Dies bedeutet nicht, dass die Arbeit an einer kritischen Ideologietheorie unnötig ist, ganz im Gegenteil: Angesichts der notwendigen Theoretisierung der historischen Kontextualisierung von Ideologien einerseits und andererseits der Tatsache, dass Ideologien immer konkret sind, muss sich auch deren kritische Theorie dem adäquat erweisen. Lenin paraphrasierend kann gesagt werden, dass eine kritische Theorie der Ideologie immer eine konkrete Analyse einer konkreten Ideologie bedeutet - hinsichtlich der formalen Konkretisierung der jeweiligen Ideologie als auch des Nachweises ihrer historischen Kontextgebundenheit und ÜBERWINDBARKEIT! Dies bedeutet nicht, alle Lektionen Althussers über Bord zu werfen; Ideologie manifestiert sich in und durch materielle Praxen, Ideologie konstituiert konkrete Subjekte und Ideologie ist - nicht zwangsläufig, aber oft - durch Staatsapparate vermittelt, mithin gar durch sie produziert. Und ja, auch emanzipatorische Kräfte und Kollektivsubjekte sind nicht davor gefeit, (antiemanzipatorische) Ideologien zu (re)produzieren.

Nichtsdestotrotz muss eine kritische Theorie der Ideologie zuallererst auf ihre Transformierbarkeit, wenn nicht auf ihre Überwindbarkeit abzielen. Es braucht also primär einen epistemologischen Zugriff auf jene historischen Prozesse und Ereignisse, in denen Ideologie nicht wirksam ist bzw. unwirksam wird! Und diese Prozesse und Ereignisse sind meist politischer Natur bzw. durch soziale Bewegungen ins Werk gesetzt. Nur in kollektiven Handlungen emanzipatorischer Kräfte zerbrechen ideologische Konstruktionen und identitäre Verfestigungen. Dabei ist die Begleitung und Artikulation durch WissenschaftlerInnen von großer Wichtigkeit, aber auch und gerade eine kritische Theorie der Ideologie kann sich nur dann produktiv entwickeln, wenn sie ihre Inspiration aus den Kämpfen um Entunterwerfung, um Verweigerungen ideologischer Anrufungen und/oder aus kollektiven Produktionen von alternativen Gegenanrufungen bezieht. In jedem Fall aber bedeutet dies eine endgültige und vollständige Abkehr von der - nicht zuletzt von Althusser gepflegten - marxistischleninistischen Vorstellung (oder besser doch Ideologie?) "sozialer (sic!) Revolution" als "Ergreifung der Staatsgewalt", um dann "neue Produktionsverhältnisse zu errichten." (214) Wenn letztlich die Differenz zwischen dem ISA der Religion oder der Familie und jenem der Kommunistischen Partei keine qualitative ist, da sich ja beide im Rahmen der allgemeinen Funktionsweise der ideologischen Anrufung befinden, stellt sich die Frage, ob es nicht doch vielleicht an der äußerst konkreten und falschen Ideologie der französischen KP lag, dass als deren Mitglied eine bestimmte Schwelle auch in der Theoriebildung nicht überschritten werden konnte. Dies lässt der weit ausführlichere Urtext meines Erachtens deutlicher erkennen als der komprimierte ISA-Aufsatz.

Zusammengefasst: Die Produktion von Subjektivität ist ein wichtiger, vielleicht sogar der zentrale ideologische Vorgang, die Form der Subjektkonstitution selbst ist jedoch gebunden an spezifisch modern-kapitalistische Rahmenbedingungen. Es macht schlicht und ergreifend keinen Sinn, von mittelalterlichen Subjekten zu sprechen. Es gilt also, den ideologischen Mechanismen in ihren unterschiedlichen Varianten auf die Schliche zu kommen, und diese wiederum sind in unterschiedlichen historischen Epochen ebenso different wie in weit voneinander entfernten Weltgegenden. Die Ideologie der fordistischen Kleinfamilie in westeuropäischen Ländern der 1950er Jahre funktionierte eben total anders als jene des Fußballs im Rahmen des costaricanischen Nationalismus in den letzten zwanzig Jahren! Eine adäquate Ideologietheorie müsste sich also sowohl mit den konkreten sozialhistorischen Herausbildungen ideologischer Formen als auch mit den Erfahrungen sozialer Bewegungen auseinandersetzen - und nicht zuletzt mit dem Eingebettetsein dieser Formen in geostrategische Konjunkturen und vor allem solche der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Klassenzusammensetzung. Für ein Weiterarbeiten in diese Richtung gibt es auch mehrere Beispiele, von Sohn-Rethel über Stuart Hall und Poulantzas bis hin zu den ideologietheoretischen Schriften des (frühen) Zizek. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Wahrheit der Ideologie jedenfalls ist immer historisch und konkret, ihre Theorie müsste den Ausgang nicht von den Produktionsverhältnissen, sondern von der umkämpften Reproduktion der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit nehmen, denn darin (mehr oder weniger) verborgen finden wir das Vermögen, das Kapitalverhältnis und auch andere Formen von Unterdrückung und Herrschaft aufzusprengen. Althussers Ansatz hilft uns dahingehend nur bedingt weiter.

Das Hauptproblem seiner Ideologietheorie, ja des strukturalen Marxismus generell, ist sein "Niemals-Aufhören-Können", die Funktionsmechanismen der Herrschaft zu studieren. Aus diesem Erkenntnisinteresse heraus kann sie bzw. er niemals den Durchbruch zu einer Theorie der Befreiung erreichen, sondern bleibt epistemologisch notwendig an den Rahmen herrschaftlicher Vergesellschaftung gebunden. Eine Theorie der Befreiung aber muss von den Elementen des Nicht-Funktionierens der Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital ausgehen. Niemals das Erkenntnisinteresse des Klassenkampfes vergessen!

E-Mail: pyrx@gmx.li


Anmerkungen:

[1] Die Rolle der Reproduktionsarbeit, ideologietheoretisch hochbrisant, meist von Frauen geleistet und im Rahmen der zweiten Frauenbewegung zum zentralen Angriffspunkt einer Ideologiekritik in Theorie und Praxis, wird von Althusser übrigens mit keinem Wort erwähnt.

[2] Der Suebenknoten ist eine, dem Stamm der Sueben zugeschriebene, typisch germanische Männerfrisur, die durch Abbildungen, archäologische Funde und schriftliche Überlieferungen nachgewiesen ist.

[3] Nahe liegend wäre vielmehr die Exemplifizierung des Anrufungsprozesses anhand jenes Staatsapparates gewesen, dem Althusser völlig zu Recht die zentrale Rolle im zeitgenössischen Kapitalismus zuschreibt: der Schule. Es sei an dieser Stelle allerdings da rauf hingewiesen, dass mit "L'école capitaliste en France" der Althusser-Schüler Christian Baudelot und Roger Establet 1971 eine (nicht ins Deutsche übersetzte) Studie erschienen ist, die sich genau dieser Thematik widmet (vgl. auch die Hinweise Frieder Otto Wolfs in seinem Nachwort, 315f).


Literatur:

Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, 1. Halbband, Hamburg 2010
- ders.: Über die Reproduktion. Ideologie und ideologische Staatsapparate, 2. Halbband, Hamburg 2012
- ders.: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler, Hamburg 1985
- ders. und Balibar, Étienne: Das Kapital lesen, 2 Bände, Hamburg 1972
La Boétie, Étienne de: Von der freiwilligen Knechtschaft, Frankfurt 2009
Charim, Isolde: Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologietheorie, Wien 2002
Singer, Mona: Geteilte Wahrheit. Feministische Epistemologie, Wissenssoziologie und Cultural Studies, Wien 2005
Zizek, Slavoj: The Sublime Object of Ideology, New York/London 2009

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Stefan Junker:

Karl Marx über die verbrecherische Regierung vom 4. September 1870

In Nizza verläuft eine Avenue Thiers parallel zum 1865 erbauten Bahnhof - eine Augenweide. Die Straße ist benannt nach einem französischen Historiker und Staatsmann des 19. Jahrhunderts, für den Marx nur abfällige Begriffe übrig hatte: "Schwätzer", "Staatsparasit", "gräßlicher Zwerg", "historischer Schuhputzer Napoleons". Aber nicht nur ihn trafen diese Schmähungen. Was bewegte Marx im Jahre 1871 während und nach der sogenannten Kommune, die politischen Vertreter der bürgerlichen Klasse nicht nur zu entlarven, sondern sie öffentlich zu beschimpfen? Lassen sich aus seinen Überlegungen womöglich Rückschlüsse auf unsere Gegenwart ziehen? Diesen beiden Fragen soll auf den folgenden Seiten nachgegangen werden. "Bürger Marx sagte, daß wir das Verhalten der Versailler Regierung verurteilen können, aber es wäre nicht angezeigt zu protestieren: das käme einem Betteln gleich an eine Regierung, von der wir sagen, die aus Räubern (robbers) besteht." (Doc., 202)

So liest es sich in den Protokollen des Generalrats der ersten Arbeiterinternationale. Marx hatte auf einen Vorschlag geantwortet, welcher angeregt hatte, angesichts der sich überhäufenden Berichte über die von der Versailler Regierung in Paris an der Arbeiter/innenbevölkerung begangenen Grausamkeiten im Namen des Generalrats zu protestieren. Er machte deutlich, daß es sich hier speziell um die Regierung in Frankreich handelte, denn "die englischen Mitglieder des Rats möchte etwas unternehmen: eine öffentliche Versammlung anberaumen, oder eine Deputation bestimmen, die sich in dieser Sache an das Ministerium wendet." (Doc., 202)

Eine Regierung aus "robbers" bestehend zu bezeichnen, erscheint als starker Toback. Wenige Wochen zuvor hatte Marx in seinem ersten Entwurf für den Generalrat ähnlich verächtliche Worte über diese Regierung gefunden. Es "ist äußerst charakteristisch für die Männer des Kaiserreichs, ebenso wie für die Männer, die sich nur auf seinem Boden und in seiner Atmosphäre zu Scheinvolkstribunen sich entwickeln konnten - die siegreiche Republik würde sie nicht nur als Verräter brandmarken, sie hätte sie als gemeine Verbrecher dem Kriminalgericht übergeben müssen." (MEW 17, 494f)

Viel ist geschrieben worden über Marxens "Bürgerkrieg in Frankreich", namentlich über sein drittes Kapitel, worin er fast prophetisch die Inhalte späterer Räterevolutionen vorwegnimmt. Dagegen ist es erstaunlich, daß die anderen Kapitel seiner Schrift viel weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Es scheint sich ähnlich wie mit dem "Kapital" zu verhalten, wo viele glauben, mit einem kurzen Blick auf den ersten Band diesen großen Denker und Sozialisten verstanden zu haben. Nur ein Mitglied des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) aus der Zeit der 68er Studentenbewegung findet den Gegenstand erwähnenswert, daß Marx seinen ersten Teil ganz "der abwertenden Schilderung der führenden Persönlichkeiten im Versailler Lager" widmet. Aber trifft er die ganze Wahrheit mit seiner Vermutung, daß Marx auf den Effekt abzielte, "vor dem Hintergrund persönlicher Erbärmlichkeit der Exponenten der französischen Bourgeoisie den Heroismus ihrer Gegenspieler um so leuchtender hervortreten zu lassen." (Meschkat, 23)

Auf den folgenden Zeilen möchte ich meinen Gedanken entwickeln, daß es Marx um mehr ging, als die Verteidiger/innen der Kommune in besserem Licht erscheinen zu lassen. "Der Bürgerkrieg in Frankreich" teilt sich in vier Kapitel. Während die beiden Entwürfe noch Kapitelüberschriften kannten, finden sich in der Endfassung nur noch römische Ziffern. Am 18.4.1871 schlug Marx dem Generalrat der I. Internationale vor, dieser möge eine Adresse bezüglich der Pariser Geschehnisse publizieren. Der Generalrat befand den Vorschlag für gut und beauftragte Marx selbst mit der Ausarbeitung. Zwei Tage nach dem Fall der Kommune billigte der Generalrat einstimmig den Marxschen Text. Zuerst am 13.6.1871 in London in einer Auflage von etwa 1000 Stück erschienen, wurde wenig später eine zweite Auflage erforderlich. Hier zogen zwei Mitglieder des Generalrats, Lucraft und Odger, ihre Unterschriften zurück. Sie hatten bereits zuvor öffentlich ihre Mißbilligung bekundet. Mit Odger, zu dieser Zeit Kopf des London Trades Douncil, war es bereits Anfang des Jahres zu Differenzen gekommen. Auf der Generalratssitzung vom 17. Januar 1871 hatte Marx das Wort ergriffen und erläutert, daß Odger auf einer Versammlung in der St. James Hall wider besseres Wissen über die Französische Regierung gesprochen habe. Während der Generalrat öffentlich bekundet hat, daß einige Mitglieder der französischen Regierung mit den gegen die Arbeiter 1848 begangenen Schändlichkeiten in Verbindung stehen, sprach Odger insbesondere Jules Favre davon frei, dieser sei nur als Repräsentant der Regierung zu betrachten. Dadurch sei Favre zum Schaden der Republik in den Vordergrund gebracht worden. Diesen Sachverhalt zu verstehen, bedarf es eines kleinen Rückblicks auf die historischen Umstände. Im Juli 1870 hatte Napoleon III Preußen den Krieg erklärt. Durch die Divergenzen des Bürgertums und vor allem deren abgrundtiefer Angst vor den Interessen der revolutionären Arbeiterschaft 1851 an die Macht gekommen, suchte er in diesem außenpolitischen Abenteuer eine Ablenkung, die seine wankende Position wieder sichern sollte. Heute wissen wir, daß er in eine von Bismarck, der die militärische Stärke besser einzuschätzen wußte, gestellte Falle getappt war. Dabei sollte nicht übersehen werden, daß Bismarck diesen "kleinen Napoleon", wie ihn Victor Hugo spöttisch nannte, immer bewunderte. Als sich die militärischen Hiobsbotschaften in Paris häuften und schließlich die Nachricht von der Gefangennahme des Kaisers ankam, brach sich die langaufgestaute Wut der Massen auf dieses autoritäre und korrupte System Napoleons III Bahn. Es wurde offenbar, daß das Land keine Regierung mehr besaß. Den leeren Thron besetzte die Opposition, darunter der Rechtsanwalt Jules Favre, der sich bereits unter dem Schlächter von 1848, General Cavaignac, einen Namen gemacht hatte. Er verlangt eine neue Regierung mit General Trochu an der Spitze. Sie wird sich "Regierung der nationalen Verteidigung" nennen. Man muß verstehen, daß diese Herrschaften, diese "liberale Opposition", von der gleichen Angst vor den Forderungen der Arbeiterschaft getrieben war, wie seinerzeit 1848-49, welche die Situation geschaffen hatte, die es dem "Emporkömmling" Napoleon III erlaubte, nach der Macht zu greifen, und sein autoritäres Regime zu errichten. Dabei war es ihm mehr als bereits seinem Onkel bewußt, daß er nicht gegen die bürgerlichen Interessen regieren konnte, wohl aber gegen die verschiedenen Fraktionen, in denen sich diese auszudrückten versuchten. Nur diese Karte war jetzt, 1870, verbraucht. Während das Volk in Erinnerung an 1789 an einen Kampf bis zum Äußersten glaubte, war die vornehmste Sorge dieser Herren aus der sogenannten Opposition, mit Preußen die Kapitulation, was damals Waffenstillstand hieß, abzumachen. Darum nannte Marx diese Regierung eine Regierung des nationalen Verrats. Daß Marx und Engels in dieser Einschätzung völlig richtig lagen, ist mit den akribischen Untersuchungen, die Henry Guillemin nach dem 2. Weltkrieg unternommen hatte, bestätigt worden. Aber die Problemlage war für die Zeitgenossen viel komplexer und ähnelt in mancher Hinsicht unserer heutigen Zeit. Nicht nur waren da die alltäglichen Lügen, Verdrehungen und Verleumdungen der Presse. Für Frankreich stellte sich die dringende Frage nach internationaler Anerkennung der Republik. Bismarck spielte selbstredend mit der Karte, Napoleon III wieder als Herrscher einzusetzen, obwohl dieser sich als Gefangener weigerte, im Namen Frankreichs zu sprechen. Jede fortschrittliche Entwicklung, oder sprechen wir von einer Entwicklung im Interesse der arbeitenden Klasse, war mit der Etablierung einer Republik verbunden, die nicht verwechselt werden sollte mit der Ausbildung irgendwelcher sozialistischer Verhältnisse. Darum hatte Marx mehrere Versuche unternommen, die britische Regierung zu bewegen, die Französische Republik anzuerkennen.(Collins, 185ff) Aber - und das ist nun für unseren Gegenstand wichtig - macht Marx in der oben erwähnten Erläuterung zu Odger eine Unterscheidung zwischen der "Republik" an sich und ihrer Regierung in Gestalt des stellvertretenden Regierungschefs und Außenministers Jules Favre. Marx erläutert dessen politische Rolle. Nach der 1848er Revolution wurde er Innenminister. Zuerst brachte er die Armee zurück nach Paris, welche es dem Bürgertum ermöglichte, das Arbeitsvolk niederzuschießen. Auf seine Veranlassung hin erging das Dekret, das Gefangene ohne Gerichtsverfahren zu deportieren seien, 15.000 Menschen waren davon betroffen. Für die infamsten Pressegesetze war er verantwortlich und anderes mehr. (Doc., 106-107) Und an H. Jung hatte Marx noch am 18.1. geschrieben: "Jules Favre war eins der berüchtigtsten Werkzeuge der Schreckens-Herrschaft, die der französischen Arbeiterklasse nach der Juni-Insurrektion von General Cavaignac auferlegt wurde. Er unterstützte alle die schändlichen Gesetze, die damals zur Unterdrückung des Rechts auf Versammlung, Koalition und Pressefreiheit erlassen wurden." (MEW 34, 171) Für Marx war die Republik zu scheiden von solcher Gestalt, dies war u.a. sein Motiv gegen Odger zu sprechen, der nach außen hin natürlich als Vertreter der Internationale wahrgenommen wurde. Wir finden hier die Marxsche Analyse im Zentrum seines Verständnisses von Arbeiterpolitik. Da waren einmal die divergierenden Interessen des Bürgertums, dann die persönlichen Interessen derjenigen, die sich der Regierungsgewalt bemächtigten, dann natürlich die Überreste dynastischer Ambitionen. Auf einer Sitzung, die nach Niederwerfung der Kommune stattgefunden hatte, gibt Marx nochmals eine Erläuterung. Das Komplott zur Niederwerfung der Kommune war zwischen Thiers, Favre und Bismarck beschlossen worden, Bismarck selbst hatte das genaugenommen ausgeplaudert. Eine alte Geschichte. Die oberen Klassen vereinigen sich, um die unteren Klassen nieder zu halten. Im 11. Jh. gab es einen Krieg zwischen Französischen und Normannischen Rittern, aber die Bauern probten einen Aufstand. Sofort vergaßen die Ritter ihre Differenzen und schlugen vereint die Bewegung der Bauern nieder. Man und frau fühlt sich unweigerlich an das Täuferreich zu Münster (1534-35) erinnert, als mitten in den Religionskriegen die katholischen und evangelischen Heerführer ihre Streitigkeiten fahren lassen, um das erste kommunistische Experiment auf deutschem Boden in Blut zu ersticken. Diese Analyse der politischen Rolle von Jules Favre - wir haben uns bisher auf ihn beschränkt - wäre hinreichend um den Gegensatz zwischen dieser Regierung und der Arbeiterklasse deutlich werden zu lassen. Für den Effekt, die Erhebung des Pariser Volkes in einem besonderen Licht erscheinen zu lassen, wäre dies genug. Was treibt Marx darüberhinaus die schändliche Biographie dieses und der anderen Herren zu studieren, um sie in seiner Adresse zum Gegenstand zu machen?

Sehen wir uns zunächst genauer an, was es mit dem "nationalen Verrat" auf sich hatte. Die Republik vom 4. September war nicht das Ergebnis eines opfervollen Kampfes, sondern sie besetzte einen vakanten Thron. Tags zuvor hatte Jules Favre die bonapartistischen Minister gefragt, ob sie vom Kaiser Befehle empfingen, was diese verneinten. Daraus schloß der Advokat, daß Frankreich faktisch keine Regierung mehr besitze. Die Stunde der liberalen Opposition schien gekommen, zumal sie auf das stillschweigende Wohlwollen der Konservativen zählen konnte, welche ebenso nichts mehr fürchteten als ein Wiederaufflammen revolutionärer Erhebungen. Auf die Nachricht von der Gefangennahme des Kaisers strömen die Massen in die Straßen, versammelten sich und es kam zu verschiedenen Kundgebungen. Eine Menge stürmte den Palais Bourbon, den Saal der gesetzgebenden Versammlung als gerade der Fabrikant Eugène Schneider, Guillemin nennt ihn den "besonderen Sekretär" Bismarcks, eine Rede hielt. Die Menge ruft nach einer demokratischen Republik. Doch sie läßt sich von Jules Favre täuschen. Er erklärt kurzerhand, die Pariser Abgeordneten übernehmen die Regierung. Da sich die Aufregung der Massen nicht mehr ändern läßt, setzt er sich selbst an die Spitze. Lieber einen schmachvollen Frieden abschließen, als mit dem revolutionären Volk im Bunde den Krieg à outrance, zum Äußersten zu führen und der sozialen Stellung verlustig zu gehen, der er seine Straffreiheit und sein Vermögen zu verdanken hatte. An der Spitze der Bewegung zu stehen, erleichterte natürlich die geheime Konspiration für den Abschluß der ersehnten Kapitulation.[1]

Aber das war nur die halbe Miete. "Parallel zur öffentlich erklärten Absicht, den Krieg weiterzuführen, suchte die Provisorische Regierung geheim einen Frieden mit den Deutschen, ... Am gleichen Tag [als die Regierung diese Absicht bekundete] kontaktierte Jules Favre ... Bismarck, um seine Friedensbedingungen zu sondieren." (Smith, 56) Marx betont dies, wenn der schreibt. "Am selben Abend, wo die Republik proklamiert wurde, was es Trochus [Oberbefehlshaber der Truppen von Paris und Chef der neuen Regierung] Kollegen bekannt, daß Trochus 'Plan' der Kapitulation von Paris bestand." (Marx 17, 320) Aber wir sollten Trochu nicht zuviel Ehre des Verrats erweisen, Guillemin kennt unzählige Beweise, daß, falls Trochu eine andere Einstellung gehabt hätte, die anderen Generäle ihn nicht gelassen hätten.

Der Schlüssel zu Marxens Gedankengang findet sich in seinem zweiten Entwurf, obwohl alle drei Dokumente mit der gleichen Abfolge beginnen. Den Anfang bildet der 4. September, die Proklamation der Republik, es folgt die Darstellung des "nationalen Verrats" der Septemberregierung, gefolgt von einer Beschreibung der Charakterlosigkeit ihrer führenden Repräsentanten.

Es sind die Arbeiter, so Marx, welche die Proklamation der Republik erzwingen. Tatsächlich sind sie es gewesen, die mit ihrem Eindringen in den Corps Legislativ die Proklamation der Republik erzwungen haben. In ihrer Gegenwart erklärt Jules Favre den Kaiser für abgesetzt und sich und andere in Paris 1869 gewählten Vertreter der Gesetzgebung zur provisorischen Regierung.[2] Die Daseinsberechtigung der Republik leitet Marx aus dem fünfmonatigen Kampf ab, der nun folgte. Woraus zu folgern ist, daß es ohne diesen Kampf zu einer Restauration der Monarchie gekommen wäre, entweder von Bismarcks Gnaden unter "seinem Bruder" Napoleon III oder einer konstitutionellen unter den Orleanisten in Anlehnung an die Zeit Louis Phillips (1831-1848). Dem aufopferungsvollen Kampf des Pariser Proletariats ist es zu danken, daß Frankreich von nun an die republikanische Staatsform behielt. Den Augenblick der Verwirrung, in dem sich die Arbeiterklasse befand, weil ihre Führer im Gefängnis saßen und die preußischen Truppen heranrückten, nutzen diese Advokaten aus für ihre Intrigen und Ränkespiele. Das Volk von Paris duldete sie allein, weil sie vorgaben, Paris zu verteidigen. Guillemin bezeugt in seinem akribischen Werk diese Lügen, Fälschungen und Täuschungen der "Regierung der nationalen Verteidigung". Als Favre mit Bismarck über die Bedingungen der Kapitulation sprach, ließ die Regierung in Paris Plakate aufhängen: "Nicht ein Zoll unseres Gebiets, nicht ein Stein unserer Festungen!" (Guillemin, 138) Auch Historiker explizit bürgerlicher Auffassung sind gezwungen, diese doppelzüngige Politik mehr oder weniger deutlich einzugestehen. (Smith, 56)

Nun aber verlangt die Sache der Verteidigung der Hauptstadt, die Bevölkerung zu bewaffnen, da ja die reguläre Armee in preußische Gefangenschaft geraten war. Und dies allein trug eine ungeheure Gefahr in sich: "Der Sieg von Paris über seine preußischen Belagerer, wäre ein Sieg der Republik über die Klassenherrschaft in Frankreich gewesen." (MEW 573) Interessant, daß Marx hier den Begriff der Republik anwendet für eine Gesellschaft ohne Klassenherrschaft, was auch die Revolutionen nach dem 1. Weltkrieg tun, indem sie von Sowjet- oder Räterepubliken sprechen. Angesichts dieser Logik zögerte die "Regierung der nationalen Verteidigung" keinen Augenblick, sich in eine Regierung des "nationalen Verrats zu verwandeln". An dieser Stelle bringt Marx einen ersten Beweis für seine Argumentation, nämlich die bekanntgewordene Rede General Trochus, der vom ersten Tag der Republik die Überzeugung vertrat, Paris nicht verteidigen zu wollen. Das offizielle Organ der Kommune vermerkte hierzu, daß diese Herrschaften für die Vernichtung dieser Beweise bereit seien, Paris in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Daß sich Marx hierbei auf Veröffentlichungen der Kommune bezog, kommt auch nicht von irgendwoher, bezeugt es doch, daß sich das Volk von Paris erst dieser verräterischen Politik bewußt werden mußte, was eine gewisse politische Selbstorganisation zu Voraussetzung hat. Wissen muß sich in ein Wissen der Arbeitenden verwandeln, um im sozialistischen Sinn praktisch zu werden. Aber, so Marx weiter, gab es eine Reihe von privaten Gründen für diesen "Verrat", womit Marx seine beleidigenden und abwertenden Schilderungen der Charaktere der Septemberregierung beginnt, Thiers, Jules Favre, Ernes Picard, Puyer-Quertier, Jules Simon, Dufaure und Jules Ferry. Es sind "gemeine Verbrecher" und "jede Republik hätte diese Männer als gewöhnliche Verbrechter dem Gericht überstellt". Die Regierung insgesamt nennt er "Staatsparasiten" der Regierung der Kapitalisten (MEW 17, 319).

Hören wir ihn über Jules Favre sprechen. Dieser lebe in wilder Ehe und habe sich über Fälschungen im Namen seiner unehelichen Kinder eine große Erbschaft erschlichen, was nur möglich war, weil ihn bonarpartische Gerichte gedeckt haben. Kaum an der Regierung setzte er wegen Fälschung verurteilte Verbrecher frei, die ihm halfen, seinen Reichtum zu vermehren. "Lebenslängliche Zwangsarbeit wäre unter jeder anständigen Regierung sein unvermeidliches Los." (MEW 17, 495) Eugène Picard, "ein Lump" und Bruder des wegen Betrugs von der Börse ausgeschlossen Ernest Picard, beschäftigt er als Vermittler zwischen ihm und der Börse zwecks der "Begründung eigenen Vermögens". Auch er sei der Galeere verfallen. Jules Ferry erschwindelte aus der Hungersnot für sich ein Vermögen. Kein Wunder, daß diese Männer hoffend auf eine durch preußische Bajonette gestützte Monarchie das sicherste Werkzeug der Konterrevolution waren. "Es ist die zynische Orgie entkommener Verbrecher." (17, 496) Und schließlich Thiers, der "boshafte Zwerg", "Meister kleiner Staatsschufterei", Virtuose des Meineids und Verrats", "ausgelernt in allen den niedrigen Kriegslisten" und ständig "gemeiner Treulosigkeiten" fähig. Über Pouyer-Queriter hatte Thiers eine Anleihe von zwei Milliarden beantragt, sofort zahlbar. Das Geschäft war so abgemacht, daß eine Provision von mehreren hundert Millionen in die Privattaschen von Thiers, Jules Favre, Ernest Picard Pouyer-Quertier und Jules Simon flossen. Nach der Niederschlagung der Kommune wurde das Finanzgesetz übernommen. Diese "gemeinen Verbrecher" sind gerade richtig für diese "Zwergmißgeburt" mit Namen Thiers, um seine Minister zu sein. Dieser selbst sei der "vollendetste geistige Ausdruck" der "Klassenverderbtheit". Thiers schmeichelte sich bei Louis Phillipe als Spion ein, beteiligte sich an der Niedermetzelung der aufständischen Republikaner 1830. Seine Stärke hat er bereits im "Lügen als Geschichtsschreiber dargetan". Nach der Revolution 1848 wurde er der leitende Kopf der Ordnungspartei, "mit ihrer parlamentarischen Republik, jenem anonymen Zwischenreich, in dem all die verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse miteinander konspirierten zur Unterdrückung des Volkes, und gegeneinander, jede zur Wiederherstellung ihrer eigenen Monarchie." (MEW 17, 324) Die öffentlichen Verlautbarungen dieser "Gauner" waren daher "bewußte Lügen". Sie übergaben die Verteidigung bonarpartistischen Generälen, desorganisierten die Nationalgarde und organisierten unter Ferry den Hunger. Warum beleidigt Marx den Regierungschef? Ist es, weil Marx beleidigt wurde oder die Internationale mit der sich Marx identifiziert? Das wäre zu banal. Oder geht es Marx darum, die Kommune durch diese Gegenüberstellung in besserem Licht erscheinen zu lassen?[3]

Werfen wir einen Blick auf die weiteren Umstände. Der Charakter der Schrift läßt keinen Zweifel daran, daß sie als Verteidigung und Rechtfertigung der Kommune dienen sollte. Die Arbeiterschaft aller Länder sollte sich mit der Pariser Kommune identifizieren, weswegen Kritik zurücktreten mußte, da sie zu leicht als Distanzierung mißverstanden werden konnte.

Im Sommer 1870 hatte Napoleon III, nach einer gezielten Provokation durch Bismarck, Preußen den Krieg erklärt. Den deutschen Truppen gelingt es rasch, der schlecht organisierten und geführten französischen Armee aufs Haupt zu schlagen und Paris zu umschließen. Napoleon selbst gerät in Gefangenschaft und Frankreich erklärt sich im September zur Republik, welche den Krieg fortführt. Hintergrund für die Proklamation der Republik bilden Massendemonstrationen, der einige Erhebungen folgen, welche allesamt blutig niedergeschlagen werden. In dieser Situation erinnert sich die Bourgeoisie an 1848, die Angst vor den "Roten" prägt ihr Verhalten gegenüber der Republik. Seine Eitelkeit drängt ihn, Präsident einer ungeliebten Republik zu werden, wo er als Garant der Niederhaltung des Plebses auftritt. Ihm ist jedes Mittel Recht, sich in der Geschichte zu verewigen, selbst die Zusammenarbeit mit den oben beschriebenen Gestalten. Diese Herren agieren für Marx natürlich nicht im luftleeren Raum, sie vertreten die Interessen des Bürgertums, aber nicht dergestalt, daß das Bürgertum sich diese Figuren unterhält, sondern mittels derer eigennützigen Strebungen.

Der weitere Schlüssel für Marxens Gedankengänge findet sich erneut im zweiten Entwurf. Hier nennt Marx, Thiers sei der "vollendetste geistige Ausdruck" der "Klassenverderbtheit der Bourgeoisie". (MEW 17, 576) Es ist die besondere politische Situation, in der sich die schäbigsten Gestalten in den Vordergrund drängen, nur sie bringen die erforderliche Charakterlosigkeit mit, die Interessen der Bourgeoisie erfolgreich zu vertreten. Nicht, daß diese Herrschaften Marionetten der bürgerlichen Welt wären, im Gegenteil, sie sind von einer Reihe eigennütziger Interessen getrieben. Gerade diese prädestinieren sie für solch politisches Geschäft. Geschichte wird von wirklichen Menschen gemacht - nicht von "Charaktermasken" - wenngleich sie ihre Rolle selbst nur selten begreifen. Was uns Marx hierbei noch vor Augen führen wollte, ist folgendes: In der Schäbigkeit der Interessen und dem niederträchtigen und verbrecherischen Charakter der herrschenden Klasse drückt sich die Schäbigkeit, Niedertracht, ja das Verbrecherische der bürgerlichen Verhältnisse aus. Die Regierung ist die politische Form bürgerlicher Herrschaft, aber es ist die relative Selbständigkeit, welche die Staaten mit ihren Regierungen genießen, worin sie sich als diese Interessenvertretung bewähren muß. Wie auf dem Markt der Händler die Waren taxiert, so die bürgerliche Klasse ihre Regierungen. Diese mögen sich im politischen Geschäft bewähren oder auch nicht, im Durchschnitt besorgen sie es. Aber von welchem moralischen Charakter sie im Zustand der Krise sind, davon gab uns Marx ein Bild. Sollen wir davon ausgehen, daß sich mit der Verschärfung des Klassenkampfes zunehmend verbrecherische Charaktere in den politischen Apparaten der Regierungen finden oder umgekehrt aus ihrem vermehrten Erscheinen auf das Herannahen der großen Krise schließen?

E-Mail: St.Junker@gmx.de


Anmerkungen:

[1] Für den historischen Vergleich interessant ist das Fakt, daß sich am Beginn immer Vertreter bürgerlicher Interessen selbst als die neue Führer der revolutionären Bewegung proklamieren, so entstand der Sowjet im Februar/März 1917 in Petrograd, 1918 hatte die Sozialdemokratie diese Aufgabe in Deutschland genommen. Es scheint immer eine gewisse Zeit zu bedürfen, bis die sich konstituierende Arbeiterklasse diese Verrätereien ihrer Führer der ersten Stunde durchschaut und sich ihrer entledigt und durch Vertreter aus ihren eigenen Reihen ersetzt.

[2] Bei genauem Hinsehen läßt sich auch Phillip Scheidemann sehen, als er am 9. November 1918 den Massen die deutsche Republik proklamiert, während Bade-Max dabei ist, die Rücktrittserklärung des Kaisers zu fälschen.

[3] Meschkat, 23. "Offensichtlich strebt er den Effekt an, vor dem Hintergrund persönlicher Erbärmlichkeit der Exponenten der französischen Bourgeoisie den Heroismus ihrer Gegenspieler um so leuchtender hervortreten zu lassen."


Kleine Chronik:

13. Juli 1870 Veröffentlichung der Emser Depesche

19. Juli Kriegserklärung Napoleons III an Preußen

1. September Niederlage der Hauptmacht der französischen Truppen bei Sedan, Gefangenenahme Kaiser Napoleons III.

2. September Kapitulation der französischen Armee

4. September Demonstrationen in ganz Frankreich; in Paris erobern die Massen das Palais Bourbon; Gambetta erklärt den Sturz des Kaiserreichs; die Absetzung Napoleons findet praktisch keinen Widerstand; die parlamentarische "Linke" bildet eine provisorische Regierung ("Regierung der nationalen Verteidigung") mit Favre und Trochu an der Spitze.
Im Anschluß an die Proklamation der Republik in Paris werden in Lyon, Marseille und Toulouse Kommunen ausgerufen, die sofort durch die Regierung brutal zusammengeschlagen werden.

19. September Erste Verhandlungen zwischen Bismarck und Favre

31. Oktober Arbeiterbataillone der Nationalgarde besetzen das Hôtel-de-Ville in Paris und errichten einen Wohlfahrtsausschuß mit Blanqui an der Spitze. ("Keinen Waffenstillstand! Nieder mit Trochu und Thiers! Es lebe die Kommune!") Die Regierung verspricht Straffreiheit, ihren Rücktritt und Wahlen zur Kommune, um Räumung zu erreichen; mit Hilfe bürgerlicher Teile der Nationalgarde schlägt sie dann den Aufstand nieder.

22. Januar 1871 Die Demonstration von Nationalgardisten vor dem Hôtel-de-Ville unter Führung von Duval, Rigault und Malon wird brutal zusammengeschossen (über 50 Tote). Daraufhin Verstärkung der Repression: Schließung der Klubs, Verbot von 17 republikanischen Zeitungen, zahlreiche Verhaftungen.

23. Januar Fauvre verhandelt mit Bismarck

28. Januar Unterzeichnung der "Konvention über einen Waffenstillstand"; die Armee von Paris muß ihr Kriegsmaterial ausliefern, die Nationalgarde darf ihre Waffen behalten.

8. Februar Wahl zur Nationalversammlung in Bordeaux; von den 630 Deputierten sind ca. 430 Monarchisten; Wahlt Thiers zum Chef der Exekutive.

26. Februar Thiers und Favre unterzeichnen den Präliminarfrieden von Versailles; er sieht u.a. 5 Milliarden Francs Kriegsentschädigung und die Abtretung Elsaß-Lothringens vor.

18. März Regierungstruppen überfallen im Auftrage A. Thiers Pariser Nationalgarde, um sich der Geschütze zu bemächtigen; der Anschlag mißlingt und löst die Volkserhebung in Paris aus; Flucht der Regierung nach Versailles. Das Zentralkomitee der Nationalgarde ergreift die Macht.

19. März Die Wahlen zur Kommune werden auf den 22. März festgelegt.

29. März Die ersten Dekrete der Kommune: Abschaffung des alten stehenden Heeres und Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung; Stundung der Mieten; Einstellung des Verkaufs der Pfänder in den Leihhäusern; Bildung von zehn Kommissionen (Ministerien) der Kommune.

7. Mai A. Thiers stellt Paris das Ultimatum, die Stadtmauern zu öffnen.

8. Mai Dekret der Kommune über feste Brotpreise. Bombardement von Paris.

28. Mai Fort Vincennes gefallen. Seine Garnison gefangengenommen und erschossen. Die letzten Barrikaden fallen.


Literatur:

Archiv Marxa I Engelsa, Band III (VIII), Partisdat 1934. Zeitungsexzerpte vom 18. März bis 1. Mai 1871.

Collins, Henry; Abramsky, Chimen: Karl Marx and the British Labourg Movement. Years of the First International. London, Macmillan 1965.

Documents of The First International Volume IV 1870-1871, London, Lawrence & Wishart o.J.

Guillemin, Henry: Lroïque défense de Paris. Paris, Gallimard 1951.

Marx, Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich. MEW 17.

Meschkat, Klaus: Die Pariser Kommune von 1871 im Spiegel der sowjetischen Geschichtsschreibung. Berlin, Otto Harrassowitz 1965.

Smith, W.H.C.: Second Empire and commune: France 1848-1871. London, Longman 1985.

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Leserbrief von Eo:

Anmerkungen zu den 16 Grundrisse-Thesen zur Weltrevolution

Kürzlich haben die Wiener "Grundrisse, Zeitschrift für linke Theorie und Debatte" in ihrer Nummer 40 festgestellt, "dass Revolutionen ... (wieder) auf der Tagesordnung stehen". Vor etwa einem Jahr hatten sie begonnen, "Thesen zur Weltrevolution" zu besprechen, aber "wohin sich die Grundrisse in den nächsten 10 Jahren bewegen werden, kann ... nicht vorausgesagt werden" (Editorial zu "Grundrisse" Nr. 40, S. 3). Jedenfalls haben sie jetzt "16 Thesen zur Weltrevolution" veröffentlicht.

Da ich mich auch schon länger mit dem Thema beschäftige, unter anderem im Rahmen der Zeitung "Proletarische Revolution", habe ich mir auch die Gruri-Thesen genauer angeschaut und möchte einige Bemerkungen dazu machen. Ich werde im Folgenden aber nicht systematisch meine Positionen denen der Grundrisse gegenüberstellen, sondern verweise auf die Programmatischen Dokumente (Thesen zu Grundfragen der Revolution) der IA*RKP aus den Jahren 1998 bis 2011, an denen ich mich und wir uns als Redaktionskollektiv der "Proletarischen Revolution" orientieren (siehe z. B. /iarkp.wordpress.com/).

Warum sich die "Grundrisse" nach zehn Jahren plötzlich - allerdings "nicht frei von Ironie" (S. 8) - mit dem Thema "Weltrevolution" beschäftigen, erklären sie so: "Im Jänner 2011 wurde ... die arabische Welt von einer revolutionären Welle erfasst ... Zumindest das Wort 'Revolution' ist wieder in aller Munde ... Außerdem verbinden viele Menschen mit dem Begriff 'Revolution' immer noch positive Dinge, sonst würde er in der Werbung ... nicht so oft gebraucht werden" (S. 8).

Im Lauf der einjährigen Beschäftigung mit Fragen der "Weltrevolution" haben sie auch beim frühen Marx nachgeschlagen, um zu erfahren, was das eigentlich ist, und sind in ihrer letzten These (Nr. 16) auch mit einem Marx-Zitat aus dem Band 1 der Marx-Engels-Werke, S. 409, darauf eingegangen: "Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch". Verstanden haben sie aber bei diesem Marx-Zitat nicht, dass es um Klassenverhältnisse und Klassenherrschaft geht, und so klagen sie: "Der Sturz der politischen Herrschaft in Tunesien und Ägypten hat keine soziale Revolution ausgelöst" (S. 15). Ich gebe zu bedenken: Vielleicht ist die Vertreibung eines Präsidenten halt doch keine "Revolution" im marxistischen Sinn, auch wenn die Medien den Begriff hinausposaunen. Jedenfalls wollen sich die Grundrisse nirgends in ihren 16 Thesen recht festlegen, was sie unter "Revolution" verstehen, schon gar nicht unter "Weltrevolution". Einige Hinweise geben sie allerdings in der schon genannten These 16: "Eine / friedliche / Revolution (kann) nur Erfolg haben", wenn sich die Armee "gegen die Regierung stellt". "Der Preis für das / Bündnis mit der Armee / ist allerdings, dass es schwierig wird, gegen die Interessen der Offiziere etwas durchzusetzen" (S. 15). Alles klar?! Meiner Meinung nach gibt es allerdings auch die Erfahrung, dass wirkliche (politische und soziale) Revolutionen bisher nicht friedlich gelaufen sind, dass nur Teile der Armee zu den Aufständischen übergelaufen sind oder dass Offiziere von den eigenen Soldaten verhaftet oder erschossen wurden. Für Österreich sind die bekanntesten Beispiele Wien 1848, der Matrosenaufstand von Cattaro/Kotor im Februar 1918 und kleinere Einzelfälle am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945.

Eine der Stellen, die mir in den Gruri-Thesen am besten gefallen hat, ist ein (weiteres) Marx-Zitat, und zwar aus den "Thesen über Feuerbach" über die "umwälzende Praxis" (S. 14). Marx kritisiert dort den mechanischen Materialismus und betont (dialektisch-materialistisch) die ständige Veränderung der Umwelt ("Umstände" bei Marx) durch den Menschen und zugleich die Rückwirkung der produktiven Tätigkeit des Menschen auf seine eigene Entwicklung selbst. Die Grundrisse hingegen "erweitern" in ihrer These 14 zur Weltrevolution den Rahmen "des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit" (Marx zitiert in Grundrisse, S. 14) und erläutern ihre Marx-Interpretation so: "Sex heißt nicht nur Penetration entlang der heterosexuellen Matrix, sondern ein Überschreiten von Identitäten und Normierungen" (S. 14).

Wenn einerseits bestimmte Aussagen von Karl Marx in den Gruri-Thesen ausdrücklich gutgeheißen werden, andererseits aber durchgängig und scharf geschossen wird gegen Versuche der praktischen Umsetzung der Marxschen Theorien in den letzten 160 Jahren, kann das verschiedene Gründe haben - z. B. akademische Abgehobenheit oder Spontitum. Auffällig ist jedenfalls, dass alle historischen Versuche, den Sozialismus zu erkämpfen und aufzubauen, von den Grundrissen abgelehnt werden. Und zwar auf drei Ebenen: 1. Alle bisherigen Sozialismus-Versuche sind fehlgeschlagen, deswegen brauchen ihre Erfolge und Misserfolge gar nicht analysiert werden. 2. Alle erfolgreichen Revolutionen sind ohne "allumfassende Konzepte" im "Trial and Error"-Verfahren passiert und außerdem funktionierte jede dieser Ad-hoc-Revolutions-Strategien nur einmal. 3. Kampfparteien behindern den gesellschaftlichen Fortschritt, darum muss der Leninismus angegriffen und verurteilt werden. In allen diesen Fragen vertrete ich eine völlig gegensätzliche Meinung.

Ich möchte natürlich nicht auf jeden Absatz eingehen, in dem die Grundrisse ihre pointierte Meinung ausführen, sondern nur ein paar Sachen zu bedenken geben:

Wenn die Grundrisse tatsächlich glauben, es habe "keine ernsthafte Forschung innerhalb der Linken" über "die Niederlage des Sozialismus im 20. Jahrhundert" gegeben (S. 9), kann ich ihnen mit einer Studienliste behilflich sein. Auf die Ökonomie bezogen empfehle ich z. B. als Einstieg immer wieder: Dickhut, "Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion" (1972) oder das "Shanghai Textbook" (1976) zu den noch ungelösten Klassenwidersprüchen in einer sozialistischen Übergangsgesellschaft am konkreten Beispiel Chinas. Auch zur politischen Ebene, der Herausbildung der Herrschaft einer neuen Ausbeuterklasse im Sozialismus, gibt es durchaus lesenswerte Schriften z. B. aus und über China während der Kulturrevolution. Wer da einmal ein bissl hineingeschnuppert hat, wird vielleicht bemerken, dass in der Kulturrevolution in China und im antibürokratischen Kampf in Albanien in den 1970er Jahren durchaus auch "institutionelle Lösungen" dafür gefunden wurden, die "alten Formen der Arbeitsteilung in Frage zu stellen und die Massen an der Ausübung der Macht" zu beteiligen, was in der Gruri-These 11 bestritten wird (S. 13). Dazu nur in Stichwörtern: Wahl der Betriebsleitungen durch die Arbeiter/innen, Revolutionskomitees mit (mindestens) einem Drittel Arbeiter/innen direkt aus der Produktion, Kaderrotation, mindestens ein Monat manuelle Arbeit für Funktionäre usw.

Die Grundrisse haben anscheinend Probleme mit dem Verhältnis von Erfahrung, Analyse und Theoriebildung. Willkürlich wird in ihrer These 4 eine für die Strategie wichtige / politische Analyse / dem Bereich "Erfahrungen" zugerechnet (Maos "Bericht zur Bauernbewegung in Hunan") im Gegensatz zu Maos "ökonomischen Analysen der Verhältnisse auf dem Land", die als "große Theorien" verunglimpft werden. Das Ganze soll dann als Beweis für die Gruri-These 4 dienen, dass strategische Planung und Konzepte sowieso nichts bringen. Pseudo-empiristisch wird behauptet, dass - ohne Klarheit über die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, ohne ökonomische und politische Klassenanalyse, ohne wissenschaftliche Verarbeitung der Erfahrungen der Klassenkämpfe zumindest der letzten 200 Jahre usw. - einfach das richtige "Gspür" des "revolutionären Subjekts, (das) ... immer wieder neu definiert werden muss" (S. 13), für "das Window of Opportunity" (S. 10) der sicherste Weg zur "Weltrevolution" sei.

Wenn den Grundrissen die Argumente fehlen, wird an ihre Stelle eine Beschreibung gesetzt, die so fürchterlich klingt, dass von der fehlenden Analyse abgelenkt wird. Die ganze These 7 lang beschreiben sie zum "leninistischen Parteimodell", welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, wie Jugendliche "zu Soldaten oder Bürokraten" (S. 12) werden usw. ... Und? Sollen wir deshalb gleich gar nicht wirklich versuchen, die Unterdrücker und Ausbeuter zu stürzen.

Wir sagen: Unser Feind, die herrschende Kapitalistenklasse, ist äußerst gut gerüstet und arbeitet notfalls mit krasser Demagogie und brutaler Gewalt. Also brauchen wir eine Kampforganisation unserer besten Kräfte, die auch unter solchen Bedingungen den Kampf organisieren und vorantreiben kann. Alle erfolgreichen revolutionären Bewegungen haben im Kern so eine Kampforganisation gehabt, und wir gehen davon aus, dass der Aufbau einer revolutionären kommunistischen Kampfpartei (samt Programm, Einfluss in proletarischen Massenorganisationen usw.) ein wichtiger Schritt in eine bessere Zukunft ist. Das kann schiefgehen, aber ohne Kampforganisation werden wir nie zur Weltrevolution kommen. Da der Niedergang des Sozialismus im 20. Jahrhundert offensichtlich auch mit einer Bürokratisierung und der Herausbildung einer neuen Bourgeoisie aus Partei- und Staatsfunktionären zusammenhängt, müssen wir die Versuche studieren und bewerten, die im antibürokratischen Kampf gemacht wurden. Die Lösung liegt jedenfalls in der Verbesserung des Werkzeugs Kampfpartei, nicht in der revolutionären Arbeit ohne Werkzeug!

Die Grundrisse behaupten in ihren Thesen 3 und 4: "Jede Revolutionsstrategie funktionierte nur ein Mal", "auch die Guerilla-Strategien von Mao Zedong und Che waren nur ein Mal erfolgreich" und "erfolgreiche Revolutionäre hatten keine umfassenden Konzepte" usw. (S. 10).

Untermauert werden dieses Behauptungen z. B. mit Aussagen wie: "Im Zweiten Weltkrieg konnte in keinem Land der Krieg in einen Bürgerkrieg umgewandelt werden" (S. 10). Was soll das heißen? Auch wenn die Partisanenkriege in Italien und Frankreich nicht zum Sozialismus geführt haben, so haben sie doch den Sturz von Mussolini und Petain erreicht. Und in Ost- und Südosteuropa, in Griechenland bis 1948 - war das kein Bürgerkrieg? Was war in China, Indochina, Korea, Philippinen usw.?

Mit solchen Tatsachenverdrehungen wollen die Grundrisse jede Möglichkeit leugnen, dass historische Entwicklungen und Tendenzen erkannt werden können und daraus Schlüsse fürs praktische Handeln gezogen werden können. Weit abgehoben vom dialektischen Materialismus und einer materialistischen Geschichtswissenschaft wird geschichtsphilosophischer Idealismus verbreitet. Aus der bisherigen Geschichte der Klassenkämpfe der letzten 2000 Jahre, insbesondere der Arbeiter/innenbewegung seit dem 19. Jahrhundert, können wir nach Ansicht der Grundrisse nichts lernen - außer dass alles zufällig passiert ist, "im 'Trial and Error'-Verfahren" (S. 10). Denn "Erfahrungen waren für die Siege der Revolutionen wichtiger als große Theorien" (S. 11). Als revolutionärer Kommunist behaupte ich aber: Ohne theoretische Verarbeitung der Erfahrungen, ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Praxis geben.

In gewisser Weise spiegelt sich in den "16 Thesen zur Weltrevolution" das eigentliche Grundproblem der "Grundrisse" wider: Wie kann auf theoretischer Ebene nachgewiesen werden, dass Theoriebildung unsinnig und nicht möglich ist?

Insgesamt fällt an den 16 Gruri-Thesen auf, dass sie vor allem beschreiben und kaum analysieren und dass sie meistens / Erscheinungen / beschreiben und daher wenig in die Tiefe gehen, also nicht zum Wesentlichen vorstoßen. Ein beliebiges Beispiel, hier aus These 7 zur Frage "Partei und emanzipatorische Gesellschaft": "Später wurde die Abschaffung des Staates auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt und eine fatale Dialektik propagiert, dass nur die Verstärkung des Staates und der Disziplin eines Tages das Reich der Freiheit bringen würde" (S. 12). Bekannte Grundlagen der revolutionären Staatstheorie finden sich z. B. bei Engels in "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" und "AntiDühring" oder bei Lenin in "Staat und Revolution". Engels weist z. B. nach, dass der Staat mit der Spaltung der Gesellschaft in Klassen entstanden ist und mit dem Ende der Klassen und der Klassenunterschiede (in der höheren Phase des Sozialismus, mit der klassenlosen Gesellschaft) wieder verschwinden wird. In diesem Zusammenhang stellt Engels im "Anti-Dühring" fest: "Der Staat wird nicht eschafftr stirbt ab" (MEW 20, S. 262). Allerdings nicht von selber und schon gar nicht, solange rundherum noch Klassenherrschaft und Imperialismus bestehen.

Die Oberflächlichkeit der Grundrisse ist oft verbunden mit einem sprunghaften Wechsel der Ebenen, z. B. von (behaupteten) objektiven Tatsachen zu subjektiven Konzepten. Dazu ein beliebiges Beispiel aus These 12 zur "Strategie": Zuerst heißt es: "Heute / gibt es kein / einheitliches anzurufendes (?) revolutionäres Subjekt mehr." Kurz darauf: "/ Wenig Sinn hat es heute /, einheitliche revolutionäre Subjekte wie DIE Arbeiterklasse ... zurufen" (S. 13). Bestreiten also die Grundrisse, dass es im Kapitalismus (bei uns!) eine Gesellschaftsklasse gibt, die keine Produktionsmittel besitzt und ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten verkaufen muss? Bestreiten sie, dass die Arbeiter/innen aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft ein Interesse entwickeln können, die Kapitalistenherrschaft zu stürzen? Oder wollen sie nur betonen, dass / sie selbst / heute nicht unter den Arbeiter/innen agitieren wollen, weil es ihrer Meinung "wenig Sinn" hat? Worauf stützen sie diese Einschätzung? Auf die erstaunliche Verwendung des Begriffs "anzurufen" im Zusammenhang mit dem revolutionären Subjekt wollen wir hier erst einmal gar nicht eingehen.

Eine dritte Eigenheit, die sich durch die ganzen Gruri-Thesen durchzieht, ist die konsequente Weigerung, über den eigenen Tellerrand (bzw. die eigenen Favorite Links) hinaus zu schauen. Was nicht in Mitteleuropa passiert und auch nicht auf den von Grundrissen-Leuten bevorzugten Websites diskutiert wird, ist nicht von Belang für die "Weltrevolution", existiert (für sie) nicht. Beliebige Beispiele aus den Thesen: "In linken Debatten wird heute nur noch selten von Revolution gesprochen" (S. 8). "In Westeuropa werden in der Linken keine Debatten mehr zur Rolle der bewaffneten Formationen des Staats geführt" (S. 15). Anscheinend meinen sie, dass relevante linke Debatten nur in Westeuropa und USA geführt werden, haben aber auch dazu nur einen recht kleinen Blickwinkel. Deshalb möchte ich einerseits auf Netzseiten wie www.bannedthought.net, www.philippinerevolution.net oder www.aworldtowin.org hinweisen, andererseits z. B. auf die deutschsprachige Broschürenreihe "Internationale Debatte", die sich schwerpunktmäßig gerade mit Fragen der "Rolle der bewaffneten Formationen des Staats" und diesbezüglichen Aufgaben von Revolutionär/innen beschäftigt.

Eo (Februar 2012)

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Pop Pop:

Antwort auf den Leserbrief von Eo

Liebe(r) Eo!

Danke für deinen langen Leserbrief zu meinen Thesen. Es handelt sich dabei nicht um die Meinung der "Grundrisse", sondern um meine eigene. Wir sind kein Linienblatt, sondern ein pluralistisches Projekt. Thesen sind immer zugespitzt und man könnte zu jeder These ein Buch schreiben. Ich selbst habe in meiner Jugend diverse Parteiaufbauprojekte mitgemacht, habe alle 15 Bände Stalins und Mao auf Chinesisch gelesen und kenne natürlich auch den "Anti-Dühring". Also unterstelle mir bitte kein Unwissen. Ich weiß, für die meisten ML-Gruppen gibt es ja nur Kategorien von Menschen: a) Naive und Unwissende, die man noch von der "Wahrheit" überzeugen kann und b) Feinde, die man bekämpfen muss. Ich habe nicht vor, den Leninismus zu bekämpfen. Man soll schließlich die Toten ehren. Mal ernsthaft: Zu vielen strategischen Entscheidungen Lenins, Stalins und auch Maos gab es vielleicht unter den damaligen tagespolitischen Umständen keine Alternativen. Aus heutiger Sicht muss man aber feststellen, dass die leninistischen Parteien zwar die Macht erobern und einige Erfolge bei der Modernisierung/Industrialisierung erzielen konnten, aber beim Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft kläglich gescheitert sind. Interessant ist auch die Frage, warum die Partei so reibungsvoll für eine "revisionistische"/kapitalistische Politik genutzt werden konnte. Heute wird das gegenwärtige erfolgreichste Modell des Kapitalismus (China) von einer der Struktur nach leninistischen Kaderpartei geführt (Kaderprinzip, Kommissare in der Armee, demokratischer Zentralismus, Massenorganisationen unter Führung der Partei, Parteizellen in jeder Staatseinrichtung usw.).

Ich habe nicht gesagt, dass wir keine Organisation brauchen, vielleicht eines Tages sogar eine Partei. Jetzt aber im kleinen Grüppchen die großen Konflikte der KPdSU nachzuspielen, halte ich für überflüssig: die "Linie" nach außen festlegen, Leute ausschließen und kritisieren, "Säuberungen" durchführen und sich ständig zu spalten. Zum Glück ist dieses Theater in der Regel unblutig. Für die Bildung von revolutionären Theorien ist es viel wichtiger, keine Tabus und Denkverbote zu kennen, sowie eine Lesart, die auf neue Erkenntnisse zielt und nicht auf die Entlarvung der ideologischen Abweichung. Die Artikel zur arabischen Revolution in der "Proletarischen Revolution" (Nr. 49) habe ich mit großem Interesse gelesen und teile die Einschätzungen teilweise. Besonders Sätze wie "Zu Y können mir nichts sagen" halte ich für eine ML-Gruppe für einen Riesenfortschritt. Vor 20 Jahren hätte es das nicht gegeben! Von den allgemeinen ideologischen Erklärungen auf der Website habe ich einige Thesen gelesen und mein Eindruck ist, dass man das Ganze auch 1977 hätte schreiben können und noch ein paar Sätze einfügt hat. Wie Schröder und Karuscheit schon zum Programm der KPD/ML 1977 anmerkten, ist die "Methode" dieser Sorte von Erklärungen das Plagiat.

Revolution

Unter sozialistischer Revolution verstehe ich die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln und Grund und Boden sowie die Einführung der Selbstverwaltung in allen Bereichen der Gesellschaft. Mag sein, dass es in einer Übergangsphase noch eine zentrale Regierung geben muss.

Linke Beschäftigung zum "Realsozialismus"

Eo: "Wenn die Grundrisse tatsächlich glauben, es habe 'keine ernsthafte Forschung innerhalb der Linken' über 'die Niederlage des Sozialismus im 20. Jahrhundert' gegeben (S. 9), kann ich ihnen mit einer Studienliste behilflich sein."

Natürlich hat es in den 70er Jahren und nach 1989 einige Debatten gegeben. Was ich meine, ist, dass die unglaubliche Vielfalt an neuen Dokumenten aus den Archiven der KPdSU und SED sowie wie wichtige Forschung auf Grundlage neuen Wissens in der deutschsprachigen Linken weitgehend ignoriert wurden. Wenn ich auch mit einer "Studienliste" behilflich sein darf: "Yale University Press" hat Tausende Seiten aus den geheimen Archiven der KPdSU auf Englisch herausgebracht. Darunter auch die Briefe von Stalin an Molotow und Kaganowitsch sowie die Tagebücher von Dimitrow (/www.yale.edu/annals/books_available/books_available.htm/). Wir wissen heute eben mehr. Bücher wie Martins "Affirmative Action Empire", Davies und Wheatcrofts "Years of Hunger" oder Kotkins "Magnetic Maintain" (/www.ucpress.edu/book.php?isbn=9780520208230/) haben wichtige neue sozialgeschichtliche Erkenntnisse zur Stalin-Zeit gebracht. Für China sieht es ähnlich aus. In die neuen Mao-Biografie von Rowohlt ist einiges eingeflossen: siehe die Rezension unter
www.perspektiven-online.at/2011/07/19/die-vielen-gesichter-mao-zedongs

Hier sei nur das Buch von Joel Andreas erwähnt, der sich mit den Auseinandersetzungen während der Kulturrevolution an den Universitäten beschäftigt hat. Das ist meiner Meinung nach das beste marxistische Buch zu China seit 20 Jahren: siehe den Review-Essay unter
/www.grundrisse.net/grundrisse35/Elitenbildung_und_Hochschulen.htm/. Aber vielleicht wäre es besser, sich nicht mit neuen Dokumenten zu beschäftigen, da sonst Zweifel an den Ansichten von Willi Dickhut von 1972 entstehen könnten.

Kritik am "Revisionismus"

Eo: "Wer da einmal ein bissl hineingeschnuppert hat, wird vielleicht bemerken, dass in der Kulturrevolution in China und im antibürokratischen Kampf in Albanien in den 1970er Jahren durchaus auch 'institutionelle Lösungen' dafür gefunden wurden, die 'alten Formen der Arbeitsteilung in Frage zu stellen und die Massen an der Ausübung der Macht' zu beteiligen, was in der Gruri-These 11 bestritten wird (S. 13)."

Einiges von der Kritik am "Revisionismus" ist heute noch lesenswert (wie z. B. auch im Maoismus-Reader von Promedia dokumentiert, siehe
www.mediashop.at/typolight/index.php/buecher/items/wemheuer-felix-40hg41--maoismus).

Alle Versuche, in China basisdemokratische Wahlen in Fabriken durchzuführen, waren lokal und zeitlich sehr begrenzt. Die Ankündigung von 1966, das Wahlmodell der Pariser Kommune einzuführen, wurde nicht umgesetzt. Definiert man die Kulturrevolution als Rebellion den Massen gegen die Bürokratie, so ist sie spätestens 1967/67 zu Ende. Mao wandte sich gegen die Kommune von Shanghai, und die Roten Garden wurden durch die Landverschickung faktisch zerschlagen. Mit den "Dreier-Verbindungen" übernimmt die Armee faktisch die Macht in Betrieben und Universitäten. Die Rebellenorganisationen werden aufgelöst. Ab 1969 ist das Ganze vorbei und die Kulturrevolution wird nur noch von oben weitergeführt. Die Bevölkerung ist an den meisten Auseinandersetzungen in der Partei nicht mehr beteiligt.

Zu Missverständnissen:

"Im Zweiten Weltkrieg konnte in keinem Land der Krieg in einen Bürgerkrieg umgewandelt werden (S. 10)". Diese These bezieht sich auf Europa und die Strategie der Oktoberrevolution (Armee bricht zusammen und Soldaten beteiligen sich an der sozialistischen Revolution). Die Fälle Jugoslawien und auch Griechenland passen eher zur zweiten Welle der Weltrevolution, wo ein nationaler Befreiungskampf gegen Besatzer unter Führung der KP dann in einen Bürgerkrieg verhandelt wird. Insofern gibt es einige Gemeinsamkeiten beim Weg zur Macht bei Tito und Mao. Beide haben die Anweisungen Stalins, sich den Monarchisten bzw. der GMD unterzuordnen, ignoriert.

- Natürlich kann man aus der Geschichte Lehren ziehen und der Entwurf großer Strategien ist nicht überflüssig. Ich sage nur, dass diese Konzepte bei den Revolutionen eine viel geringere Rolle gespielt haben, als später von der Parteigeschichtsschreibung behauptet wurde.

- Ich meinte, dass in der deutschsprachigen Linken über das Thema "bewaffneter Kampf" kaum noch diskutiert wird. Mit den neo-maoistischen Bewegungen in Nepal, Indien oder den Philippinen habe ich mich kaum beschäftigt. Ich forsche aber jeden Tag zu China. Eurozentrismus muss man mir nicht vorwerfen.

- Natürlich gibt es in Österreich eine Arbeiterklasse. Eo: "Bestreiten sie, dass die Arbeiter/innen aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft ein Interesse entwickeln können, die Kapitalistenherrschaft zu stürzen?" Können, ja. Darauf warten wir nun schon seit 50 Jahren, manche vor den Betriebstoren, andere im Lesesaal. Die meisten Streiks und Arbeitskämpfe gibt es im Moment in China. Mal schauen, ob mehr daraus werden kann.

Tut mir leid, wenn ich selbst in den polemischen ML-Stil zurückgefallen bin. Wie dem auch sei, falls Interesse besteht, bin ich gerne zur Diskussion bereit und du kannst die Mail in deiner Gruppe zirkulieren lassen.

Alles Gute,
Pop Pop

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Der schwierige Weg der Transformation

Ein Gespräch zwischen Andreas Exner und Stefan Meretz

Andreas Exner und Stefan Meretz bloggen regelmäßig zu Fragen der gesellschaftlichen Transformation (auf social-innovation.org und keimform.de) und unterstützen die Initiative demonetize.it. Doch über das "Wie" der Transformation und Demonetarisierung gibt es unterschiedliche Auffassungen. Das ist das Thema des folgenden Gesprächs.

Stefan: Ich denke, dass die Aufhebung des Kapitalismus kein schlagartiges Ereignis sein kann, keine Revolution im Sinne eines Aufstands, nach dem alles anders wird, sondern ein widerspruchsvolles Herauswühlen aus den sozialen Formen ist, die der Kapitalismus ein paar hundert Jahre lang als scheinbar "natürliche" etabliert hat. Doch wie sind die Widersprüche in der Übergangsphase beschaffen? Wie kann verhindert werden, dass sich neue Ansätze doch nur als Modernisierungsimpulse für die "alte Scheiße" (Marx/Engels) entpuppen? Welche Triebkräfte sorgen dafür, dass Widersprüche "nach vorne" in Richtung Emanzipation gelöst werden? Um welche Widersprüche geht es aus deiner Sicht?

Andreas: Da stellst du gleich eine Reihe großer Fragen. Lass mich mal damit beginnen, wie man überhaupt diese "Natürlichkeit" der herrschenden Verhältnisse angehen kann. Da reicht ein Aufstand bei weitem nicht, weil, wie du sagst, die sozialen Formen des Kapitalismus über einen langen Zeitraum hinweg mit Gewalt etabliert worden sind - Geld und Markt, Lohnarbeit und Kapital, der Staat. Der Staat und seine Vorläufer hielten die auch immer dann, wenn sie praktisch infrage gestellt worden sind, mit Gewalt aufrecht. Wenn wir von sozialen Formen sprechen, dann haben die auch einen Inhalt, und der ist im Kapitalismus letztlich die Herrschaft von Menschen über Menschen. Auch dieser Inhalt wird als "natürlich" angesehen, nicht nur seine spezifischen Formen. Auch wenn der eine Aufstand nicht ausreicht - aufständisches Denken und Handeln halte ich dennoch für sehr wichtig, um überhaupt mal diese "Natürlichkeit" aufzulösen.

Stefan: Aus meiner Sicht liegt das Problem noch tiefer. Wir leben ja nicht mehr im Feudalismus, wo tatsächlich und unmittelbar Menschen über Menschen herrschten. Re-Feudalisierungen lasse ich mal außen vor. Heute läuft das vermittelter, wobei der Inhalt in der verselbstständigten Verwertungslogik des Kapitals besteht: Aus Geld muss mehr Geld werden. Diese Logik des "ich muss mich rechnen" ist das, was als "natürlich" empfunden wird, oder zumindest als alternativlos. Allerdings ist es richtig, dass sich innerhalb dieser Logik, wo sich strukturell die Einen immer auf Kosten von Anderen durchsetzen müssen, gerade jene Menschen austoben können, die die Exklusions-Logik verinnerlicht haben und gleichzeitig über Machtmittel verfügen. Diese Erscheinungen würde ich allerdings nicht zur eigentlichen Ursache erklären.

Vielleicht ist das der Grund, warum ich mit dem bloßen Aufstand so meine Probleme habe. Was ist denn der Inhalt des aufständigen Denkens und Handelns? Ein Aufstand hat eine sehr kurze Reichweite, wenn er der Verwertungslogik keinen eigenen Inhalt entgegensetzen kann, wenn er also keine Vorstellung davon hat, wie die Lebensbedingungen jenseits des Sich-rechnen-müssens so geschaffen werden, dass alle gut leben können. Da reicht es nicht aus, einfach nur eine Umverteilung zu fordern, weil diese die Verwertungslogik nicht antastet. Grundsätzlich spricht nichts gegen Aufstände und Umverteilungen, aber für eine Lösung reichen sie nicht hin. Meine Kernfrage ist demzufolge: Was ist unser eigener Inhalt?

Andreas: Nun, wenn man sich ansieht, wie der Kapitalismus funktioniert, dann sieht man in der Tat, dass hier ganz konkrete Menschen über Menschen herrschen: im Betrieb, im Staat, in der Familie etc. Das ist aus meiner Sicht genau die Exklusions-Logik, von der du sprichst. Das Kapital ist der systematische Ausschluss der meisten Menschen von der Verfügung über Produktionsmittel, Maschinen, Gebäude, Rohstoffe, Land etc. Dieser Ausschluss nimmt die Form von Geld an und wird mit Gewalt gesichert, das Kapital ist eine bestimmte Form von Herrschaft. Herrschaft ist so gesehen kein Austoben, sondern steckt schon in der Geldform und im Kapital drinnen.

Richtig ist, dass diese Herrschaft den Beherrschten nicht immer einsichtig ist und auch den Herrschern nicht in allen Aspekten. Darüberhinaus kontrollieren die Herrschenden nicht das Gesamtsystem, in dessen Formen sie ihre Herrschaft ausüben. Das war aber auch im Feudalismus so. Die Ausübung von Herrschaft ist, so denke ich, generell nicht das Ergebnis eines sich selbst einsichtigen und souveränen Bemühens, sondern eine Form der Ohnmacht, des Unterworfenseins: Der Herrschende glaubt Stärke, Autonomie aus der Dominanz über andere zu gewinnen, diese vermeintliche Autonomie unterliegt aber dem Zwang, andere zu kontrollieren. Den eigentlichen Unterschied zwischen dem Feudalismus und dem Kapitalismus sehe ich nicht in der Unpersönlichkeit von Herrschaft. Um ein Beispiel zu nehmen: Die Kirche agierte ihrer Ideologie gemäß nicht als eigenständige Institution, sondern als eine Einrichtung Gottes. Der Adlige war von Bluts wegen von der Bäuerin unterschieden, er agierte als Verkörperung einer Abstammungslinie. Die feudale Herrschaft war so gesehen ebenso fetischisiert, wenn man so will unpersönlich, wie die kapitalistische, aber auf eine andere Art. Die für beide Gesellschaftsordnungen notwendige Gewaltausübung ist jedoch letztlich immer persönlich. Ein wichtiger Unterschied scheint mir vielmehr darin zu liegen, dass im Kapitalismus die relative Freiheit der Herrschenden durch die Geldform (den Markt) geprägt und limitiert ist. Die Marktkonkurrenz und der Klassenkampf zwingen sie dazu, einen großen Teil des Mehrprodukts, das sie sich aneignen, zu investieren. Zugleich erlaubt es die von den Produktionsmitteln getrennte Arbeitskraft, die Investitionen dazu zu nutzen, Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen und das Mehrprodukt zu vergrößern. Allerdings sollten wir die Freiheit der Feudalherrscher auch nicht zu hoch veranschlagen.

Die gesellschaftliche Substanz des abstrakten ökonomischen Werts, der sich im Geld ausdrückt, ist die abstrakte Arbeit, jene Tätigkeit also, die dem Kommando der Kapitalisten unterworfen ist, sich gegen Kapital austauscht. Gerade der uneingeschränkte Geltungscharakter dieses Kommandos über den Menschen, das Faktum, dass im Kapitalismus die Herrschaft eine von konkreten Bestimmungen abgelöste Form erhalten hat, ist das Wesen des Geld-Werts.

Wenn der Inhalt der sozialen Formen des Kapitalismus - und soziale Formen sind immer unpersönlich - die Herrschaft von Menschen über Menschen ist, dann muss unser eigener Inhalt der einer egalitären, kommunitären Beziehung von Menschen mit Menschen sein. So gesehen stellt sich das Problem nicht allein in der Weise, dass wir bloß eine neue Form der Vermittlung unseres gesellschaftlichen Stoffwechsels finden müssen. Der Kapitalismus ist etwas anderes als nur eine missglückte Art, den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur zu regulieren.

Allerdings muss dieser Stoffwechsel in der Tat reguliert werden - und zwar ohne Herrschaft. Das "Nein!" eines fortgesetzten aufständischen Denkens und Handelns lässt sich nicht beirren, es verweigert sich der Logik des Sich-Rechnens und erschöpft sich nicht in Umverteilung. Aus dem "Nein!" muss freilich ein "Ja" erwachsen. Da bin ich ganz bei dir. Wo dieses "Ja" anknüpfen kann, und was es eigentlich will, wird nach und zugleich mit dem "Nein!" entscheidend.

Stefan: Für mich ist die Unterscheidung von Struktur und Person sehr wichtig. Wenn ich von Exklusions-Logik spreche, dann meine ich damit die Struktur, in der ich mich gezwungen sehe, einer bestimmten Logik zu folgen, auch wenn ich als Person Exklusionen eigentlich ablehne. Wenn ich einen Job bekomme, bekommt ihn ein anderer nicht. Wenn ich ein Ware verkaufe, kann mein Konkurrent diesen Verkauf nicht realisieren etc. Das ist nicht vom persönlichen Wollen abhängig, sondern strukturelle Funktionslogik der Warengesellschaft. Wenn du jetzt von ganz konkreten Menschen sprichst, die herrschen, dann ist das augenscheinlich gesehen richtig, analytisch jedoch nicht, wenn du diese Ausübung der Herrschaft schon für das Ganze nimmst. Die ausgeübte Herrschaft ist der ausgeführte strukturelle Zwang, dem wir alle unterliegen. Dabei dürfen wir "Zwang" nicht als "Determination" missdeuten, es gibt selbstredend Spielräume, wir können uns im Einzelfall auch verweigern. Doch im Durchschnitt müssen wir die Exklusions-Logik bedienen, weil wir mittels dieser unsere Existenz sichern. Die allermeisten strukturellen Ausschlüsse sind ohnehin wenig sichtbar. In der Regel weiß ich nicht, was ich mit dem Kauf einer Ware am anderen Ende der Welt anrichte. Was es allerdings auch gibt, sind die Fälle von Herrschaft, wo Menschen sich mit ihrer Rolle identifizieren und darin gleichsam aufgehen. Indem sie die strukturellen Anforderungen als innere Zwänge wenden, versuchen sie aktiv unter Ausnutzung der Ausschluss-Logik ihre eigene Position zu behaupten. Wenn ich der Stärkere bin, dann funktioniert ja die Durchsetzung des Stärkeren tatsächlich - für mich auf Kosten der anderen. Dass darin aber auch ein Moment von Selbstfeindschaft liegt, kann man nur erkennen, wenn man die strukturellen Zwänge nicht personalisiert. Dies hat die Kritische Psychologie in ausgezeichneter Weise analysiert. Ich kann also nicht zustimmen, wenn du davon sprichst, dass der "uneingeschränkte Geltungscharakter (des) Kommandos über den Menschen ... das Wesen des Geld-Werts" sei. Ich wähne mich mit Marx in Übereinstimmung, den Wert als gesellschaftliches Verhältnis zu begreifen und nicht als Ausdruck persönlicher Herrschaft. Um unsere Diskussion "nach vorne" zu wenden, möchte ich gerne das folgende Zitat von Marx aus den "Grundrissen" (S. 91) einbringen: "Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten Gesellschaftsformen, in denen sich die menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten Punkten entwickelt. Persönliche Unabhängigkeit, auf sachlicher Abhängigkeit gegründet, ist die zweite große Form, worin sich erst ein System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse und universeller Vermögen bildet. Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe."

Neben der Bestätigung meiner Position, die ich darin zu erkennen vermag, ist mir vor allem die Perspektive der Aufhebung des Kapitalismus, die Marx hier formuliert, wichtig: Freie Individuen handhaben ihre gemeinschaftliche Produktivität als gesellschaftliches Vermögen. Ist das nicht genial von Marx? Er konnte es formulieren ohne ein praktisches Beispiel als Keimform vor Augen zu haben wie wir etwa mit der commons-basierten Peer-Produktion heute.

Wenn du nun die Art und Weise der Produktion, die Marx hier diskutiert, als Frage verstehst, der es "bloß (um) eine neue Form der Vermittlung unseres gesellschaftlichen Stoffwechsels" ginge, dann unterschätzt du ihre Bedeutung. Es geht gewiss nicht "bloß" - im Sinne von "nur" - darum, aber wie wir unsere gesellschaftlichen Lebensbedingungen herstellen, wie wir produzieren, halte ich für die zentrale Frage. Diese wiederum ist identisch mit der Frage der gesellschaftlichen Vermittlung, denn gesellschaftliches Produzieren ist immer gleichzeitig ein Vermittlungsprozess.

Im Kapitalismus dreht sich die gesellschaftliche Vermittlung um den Wert, für die freie Gesellschaft, den Kommunismus, nimmt Marx nun an, dass sie sich um die "freie Individualität" dreht. Diese Marxsche Herausforderung gilt es zu begreifen: Was bedeutet eine gesellschaftliche Vermittlung freier Individuen, die sich ihre gemeinschaftliche Produktivität als gesellschaftliches Vermögen unterordnen? Und was heißt das für die Aufhebung jeglicher Herrschaft?

Andreas: Lass mich den O-Ton von Marx aufgreifen. Er schreibt von "Verhältnissen", die, wie er meint, sich "zuerst ganz naturwüchsig" herstellen. Wir dürfen annehmen, dass er da den Feudalismus, vielleicht auch andere vor-kapitalistische Verhältnisse im Auge hat. Nun entstanden der Feudalismus und seine Vorläufer jedoch, das ist einmal der erste Punkt, nicht naturwüchsig, sondern ihrerseits aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse. Was Europa betrifft gibt es dazu auch eine breite archäologische Evidenz.

Der zweite Punkt, den Marx in der Passage über die "erste Stufe" betont, ist der "persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse". Gibt es so etwas überhaupt in dem Sinn, wie es mir anzuklingen scheint, als ein ungesellschaftliches rationales Machtverhältnis, das man im Extremfall genauso gut auf zwei Menschen reduzieren könnte, die auf einer Insel leben? Meinem Eindruck nach unterliegt Marx hier der von ihm selbst kritisierten Fiktion einer Robinson Crusoe-Welt. Abhängigkeitsverhältnisse im hier verhandelten Sinn sind niemals persönlich - wir sprechen ja nicht von vormodernen, noch nicht institutionalisierten Lehrer-Schüler-Beziehungen oder dem Verhältnis von Mutter und Kind.

Abhängigkeitsverhältnisse erscheinen vielmehr in einer historisch spezifischen sozialen Form, die als solche genauso unpersönlich ist wie der Wert. Und sicherlich sind diese Abhängigkeitsverhältnisse, wie auch der Wert, gesellschaftliche Verhältnisse. In den von dir zitierten "Grundrissen", die ja der Marxschen Selbstverständigung dienten, kommt Marx selbst übrigens an späterer Stelle zu einer Problematisierung einer allzu strikten Trennung zwischen "persönlicher" und "sachlicher" Herrschaft. Er schreibt, dass die "Herrschaft der Verhältnisse (jene sachliche Abhängigkeit, die übrigens wieder in bestimmte, nur aller Illusion entkleidete, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse umschlägt) in dem Bewußtsein der Individuen selbst als Herrschen von Ideen erscheint und der Glaube an die Ewigkeit dieser Ideen, d.h. jener sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse, von den herrschenden Klassen, of course, in jeder Weise befestigt, genährt, eingetrichtert wird" (S. 24). Zuvor noch stellt Marx fest: "Diese äußren Verhältnisse" - womit er die sachlich, in Gestalt unter anderem des Geldes erscheinenden Herrschaftsverhältnisse meint, "sind so wenig eine Beseitigung der 'Abhängigkeitsverhältnisse', daß sie nur die Auflösung derselben in eine allgemeine Form sind; vielmehr das Herausarbeiten des allgemeinen Grundes der persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse sind."

Der Markt funktioniert so ähnlich wie das Bentham'sche Panoptikum: eine Struktur, die scheinbar aus sich heraus Zwang ausübt - dieses Moment sprichst du sehr stark an, und es existiert für sich genommen tatsächlich. Nur möchte ich darüber nicht vergessen, dass, um im Bild zu bleiben, das Panoptikum Menschen braucht, die andere Menschen inhaftieren, ihnen Essensrationen bringen etc. Auch der Wächter muss persönlich und konkret präsent sein - das Panoptikum funktioniert sehr effizient, aber nicht ohne direkte Herrschaft. Es vervielfacht die Wirkung direkter Herrschaft. Schließlich muss so ein Gebäude auch gebaut und erhalten werden. Die Gegenüberstellung von "abstrakter" oder gar "subjektloser" Herrschaft und "konkreter" oder "persönlicher" Herrschaft erfasst, glaube ich, nicht die reale Funktionsweise von Markt, Kapital, Staat und Patriarchat.

Wie ich schon sagte, ist an Herrschaft und am Herrschenden nichts souverän. Was die psychologische Ebene angeht, so zeigt das für dich die Kritische Psychologie. Ich begreife es mit Hilfe der Psychoanalyse. Ich denke, wir kommen hier zum selben Ergebnis.

Lass mich noch auf den Punkt eingehen, den du ins Zentrum rückst: das Verhältnis zwischen Struktur und Person. Können wir diese beiden Kategorien strikt trennen? Die Individuen sind, denke ich, der Knotenpunkt sozialer Verhältnisse, die sie zugleich bilden. Das Individuum geht darin allerdings nicht auf. Dieser Umstand begründet die Emanzipation als Ziel und Möglichkeit. Was am Individuum in den Verhältnissen einer herrschaftlichen Gesellschaft aufgeht, ist die so genannte Charaktermaske, da passt der Begriff der Person, der ja ursprünglich Maskenträger bezeichnet, recht gut. Man könnte auch vom Gesellschafts-Charakter sprechen, wie Erich Fromm.

Ich würde daher Struktur und Individuum nicht einander entgegen setzen. Der Kapitalismus entstand nicht naturwüchsig, nicht ohne die bewussten Strategien der Herrschenden, und er besteht auch nicht naturwüchsig, aus sich selbst heraus fort. Der Gesellschafts-Charakter ist die Vermittlung zwischen Struktur und Individuum. Das Konzept des Charakters ermöglicht uns, Herrschaft als eine gesellschaftliche Struktur zu analysieren, die zugleich in den und durch die Individuen wirkt. Ohne dieses Vermittlungsglied, so glaube ich, bleibt man entweder bei einem Strukturalismus, der die Verhältnisse des Kapitalismus ähnlich wie die Sachzwang-Ideologie der Neoliberalen mystifiziert und viele Momente seiner Funktionsweise unerklärt lässt, oder aber bei einer Personalisierung von Herrschaft, die du zurecht kritisierst.

Wenn ich sagte, es sei der "uneingeschränkte Geltungscharakter (des) Kommandos über den Menschen ... das Wesen des Geld-Werts", so meinte ich nicht, dies sei ein "persönliches" Herrschaftsverhältnis, es ist allerdings letztlich ein direktes. Das kann man, denke ich, in jedem kapitalistischen Betrieb erfahren. Im Unterschied zum Feudalsystem sind die direkten Herrschaftsverhältnisse des Kapitalismus freilich flüssig, austauschbar, sie sind nicht mehr fest, so wie etwa die Bauern an einen bestimmten Feudalherren gebunden blieben. Die Substanz des Werts ist abstrakte Arbeit. Der Wert setzt daher das Kommando über die Arbeitskraft voraus, das heißt das Kommando der Kapitalistenklasse über die Arbeiterklasse - ein gesellschaftliches Verhältnis, wie du ja auch feststellst. Auch entsteht das Kapital als Verhältnis historisch nicht als vermeintlicher Sachzwang des Werts, sondern als direkte Vertreibung der unmittelbar Produzierenden und ihre Unterjochung durch blutige Gewalt.

In den verschiedenen empirischen Formen des Werts, beim Geld angefangen, zeigt sich dieses Verhältnis zwischen Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse nicht nur in einer objektivierten, sondern zugleich in einer flüssigen, von konkreten Qualitäten und Dingen unabhängigen Form. Der Wert ist nur scheinbar ein Verhältnis von Dingen. Wäre er das tatsächlich, dann hätten wir wirklich einen Sachzwang vor uns. In der Tat sind die Wertformen jedoch Ausdrücke eines Verhältnisses zwischen zwei Klassen, das den Menschen als scheinbare Eigenschaft von Dingen zurückgespiegelt wird. Der Unterschied zwischen der kapitalistischen Herrschaft und anderen, auch früheren Herrschaftsformen ist also meines Erachtens nicht, dass sie keine gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Wie könnte man Herrschaft anders als ein gesellschaftliches Verhältnis denken?

Stefan: In dem von mir angebrachten Zitat nimmt Marx tatsächlich einen überhistorischen Standpunkt ein, in dem er die genuine Freiheit des Menschen als Kriterium für den geschichtlichen Prozess nimmt. Allerdings muss er da nichts konstruieren, sondern bewertet die ersten beiden Etappen als Verhältnisse, die auf persönlicher bzw. sachlicher Abhängigkeit basieren. Dass Marx die ersten Abhängigkeitsverhältnisse "naturwüchsig" nennt, finde ich dabei nicht wichtig, den Feudalismus meint er damit ohnehin nicht. Das Wort "persönlich" darfst du nicht zu eng sehen, heute würden wir vielleicht treffender von "personalen Abhängigkeitsverhältnissen" sprechen - eine zutreffende Kennzeichnung für die vorkapitalistischen Gesellschaften wie ich finde, ebenso wie die relative individuelle Freiheit bei sachlicher Abhängigkeit im Kapitalismus.

Ich sehe nicht, dass die von dir auswählten Zitate das Gegenteil belegen. Marx zeigt dort nur, dass sachliche Abhängigkeitsverhältnisse personal exekutiert werden müssen. Marx ist da ansonsten ganz klar: "Diese sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Gegensatz zu den persönlichen erscheinen auch so (das sachliche Abhängigkeitsverhältnis ist nichts als die den scheinbar unabhängigen Individuen selbständig gegenübertretenden gesellschaftlichen Beziehungen, d.h. Ihre ihnen selbst gegenüber verselbständigten wechselseitigen Produktionsbeziehungen), daß die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen." (S. 24).

Mit sachlicher Abhängigkeit meint Marx die fetischistische Verkehrung von sozialen und sachlichen Verhältnissen, in denen die Sachzwanglogiken der Verwertung den Menschen als Fremdes in Form von Abstraktionen, wie er sagt, entgegentreten. Aus meiner Sicht ist der Wert tatsächlich und nicht nur scheinbar ein Verhältnis von Dingen, nämlich das Verhältnis der zur Herstellung der Dinge, der Waren, erforderlichen gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit. Das begründet jedoch noch keinen Sachzwang wie du annimmst. Der Zwang kommt erst ins Spiel, wenn die Arbeitenden ihre Arbeitskraft verkaufen und die Kapitalbesitzer_innen diese kaufen und verwerten müssen, um ihre Existenz innerhalb und unter Nutzung der gegebenen Produktionsweise zu sichern. Dass es sich dabei um ein Herrschaftsverhältnis handelt, liegt auf der Hand, erklärt aber nicht die funktionale Logik. Im Sinne des Kapitalismus spricht nichts dagegen, dass die Arbeitsklasse auch die Verwertungs- und damit Kommandofunktion übernimmt und gewissermaßen über sich selbst herrscht. Das zunehmende Selbstunternehmertum besteht im Kern genau darin. Sachliche Abhängigkeit bedeutet also im umfassenden Sinne, dass wir von sachlichen Verhältnissen abhängig sind und dabei - sofern wir entscheiden, uns in ihnen bewegen - nicht abseits der Imperative handeln können. Wert und Verwertung beruhen wesentlich nicht darauf, dass die Kapitalklasse personal über die Arbeitsklasse herrscht, sondern Kapital und Arbeit sind gesellschaftliche Funktionen, die in einem sachlichen Abhängigkeitsverhältnis zueinander existieren und irgendwie personal realisiert werden müssen, ggf. eben von ein und derselben Person oder Gruppe. Kapitalismus ohne Klassenherrschaft geht nicht, aber die Klassenherrschaft ist nicht als personales, sondern als sachliches Abhängigkeitsverhältnis zu begreifen.

Nun führst du das Adjektiv "direkt" ein, um den Vorrang der Personalität von Herrschaft zu begründen. Schließlich seien es am Ende immer Menschen, die direkt über andere Menschen herrschen. Das trifft auch zu, nur erfasst es das Wesen der von sachlichen Abhängigkeitsverhältnissen bestimmten Herrschaft nicht, sondern ist im Gegenteil Quelle von personalisierenden Umdeutungen dieser Verhältnisse, von Ausgrenzungen, Rassismen, Sexismen etc. Es liegt dann eben nahe, sich direkt gegen Personen zu wenden, die zu Verantwortlichen gemacht werden - "die Bank(st)er" -, anstatt zu erkennen, dass sich auch diese in einer strukturell begründeten Herrschaftsmatrix bewegen. Das bedeutet überhaupt nicht, dass man sich nicht auch personal wehren soll, das ist absolut notwendig, doch wird damit eben nur "direkt" die eigene Existenz innerhalb des Herrschaftsverhältnisses verteidigt, das Herrschaftsverhältnis aber selbst nicht berührt. Die personale Funktionalität sachlich begründeter Herrschaft besteht gerade darin, dass es immer welche gibt, die sich "oben" auf Kosten derer behaupten, die weiter "unten" sind. Diese Logik gilt von "ganz oben" bis "ganz unten", niemand kann sich hier ausnehmen. Es handelt sich um einen strukturell verankerten Herrschaftszusammenhang, der nicht ursächlich personal auflösbar ist. Aus meiner Sicht ist stattdessen die basale Logik selbst, die "wechselseitigen Produktionsbeziehungen" wie Marx das nennt, qualitativ zu ändern. Dabei ist die Perspektive - auch ohne Geschichtsdeterminismus - von Marx und Engels benannt worden: Statt Verhältnisse, wo sich die Einen stets nur auf Kosten der Anderen durchsetzen können, sind dies solche, in denen "freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (Kommunistisches Manifest).

In meinen Worten reformuliert geht es darum, die Produktionsweise, die auf einer Exklusionslogik basiert und diese erzeugt und dessen Bestandteil die Klassenherrschaft ist, durch eine Produktionsweise aufzuheben, die in einer Inklusionslogik gründet. Die Aufhebung der Klassenherrschaft kann nur gelingen, wenn mit ihr die zugrunde liegende sachlich strukturierte Exklusionslogik mit aufgehoben werden kann. Ein Blick alleine auf die gesellschaftliche Kapital- und Arbeitsfunktion und ihre entsprechenden Klassenrepräsentationen finde ich zu eng. Die Logik der Exklusion speist sich aus wesentlich mehr Quellen, die personale Unterschiede zur Herrschaftssicherung von "ganz oben" bis "ganz unten" nutzt: Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie usw.

Wie soll die gigantische Aufgabe aber gehen? Hier bringt Marx die "freie Individualität" ins Spiel. Damit kennzeichnet Marx Verhältnisse, die weder personale, noch sachliche Abhängigkeiten kennen. Die einzige Abhängigkeit, die es dann noch gibt, ist bestimmt durch das Verhältnis von menschlichen Bedürfnissen zu den Möglichkeiten ihrer Befriedigung. Doch freie Menschen können sich zu den Begrenzungen auch frei verhalten, das heißt, mit ihnen so umgehen, dass niemand mehr unter die Räder kommt oder sich auf Kosten anderer durchsetzt. Herrschaftsverhältnisse, gleich ob personal oder sachlich strukturiert, lassen das nicht zu. Eine freie Gesellschaft, in der Menschen ihre Individualität frei entfalten, schließt strukturell aus, dass sich die einen auf Kosten anderer durchsetzen. Eine solche inklusive Struktur legt auch individuell einen völlig anderen Fokus nahe, als wir ihn heute kennen: Nicht mehr, wie ich mich gegen andere behaupte, ist mein Bestreben, sondern wie ich Entfaltung der anderen Menschen als meine Entfaltungsvoraussetzung begreife und umsetze, ist die Frage. Von heute aus gesehen mutet das als bloße moralische Anforderung an, ist es aber nicht. Entwickelt sich eine Gesellschaft strukturell auf Grundlage einer Inklusionslogik, so tun es auch die Menschen - und umgekehrt. Es ist dann das Alltägliche wie heute die Ausgrenzung.

Wie das prinzipiell gehen kann, sehen wir bei bei der commons-basierten Peer-Produktion. Dabei handelt es sich um eine Keimform einer neuen Produktionsweise. Obwohl erst im Embryonalstadium, kann man zahlreiche Entwicklungen studieren, die für eine freie Gesellschaft verallgemeinerbar sind. Ich nenne nur schlaglichtartig einige Punkte: Entkopplung von Geben und Nehmen, Beitragen statt Tauschen, Vermittlung der Bedürfnisse ex-ante statt ex-post wie beim Markt, neue Formen der Inklusion und Offenheit. Nachteile und Probleme seien nicht verschwiegen: Inselcharakter, keine Stoffkreisläufe, Dominanz von Immaterialgütern, Abhängigkeit von der alten Verwertungslogik, Import von traditionellen Exklusionsformen u.a.m.

Während sich ein Bild einer freien Gesellschaft in dem Maße entwickelt wie praktisch neue Erfahrungen mit neuen commons-basierten Logiken gemacht werden, ist die Frage der gesamtgesellschaftlichen Transformation nach wie vor unklar. Hier gibt es mehr Fragen als Antworten: Wie können vorhandene Produktionsmittel genutzt werden ohne die vergegenständlichte Logik zu importieren? Diese Frage stellt sich für Universalmaschinen wie einen Computer sicherlich anders als etwa für Spezialmaschinen wie ein Stahlwerk. Wie kann die Bedürfnisvermittlung ex-ante, also vor einer Produktion erfolgen? Wie wird gesamtgesellschaftlich entschieden, was wann und unter Einsatz welcher Ressourcen hergestellt wird? Wir wissen nur, dass es Markt und Staat nicht sind, die das erledigen. Welche neue Institutionen brauchen wir? Wie wird sichergestellt, dass sich institutionelle Eigenlogiken nicht gegen die Bedürfnisse der Menschen wenden?

Diese Fragen stellen sich nicht nur akademisch, sondern für die einzelnen "Inseln" höchst praktisch. Sie sind den sachlichen Zwängen unmittelbar ausgesetzt und müssen etwa für eine Finanzierung sorgen, obwohl ihnen klar ist, dass langfristig das Geld abgeschafft gehört.

Eine bloß "gradualistische Transformation", also ein schrittweises Hinüberwachsen von der einen in die andere Logik wird es nicht geben. Wie aber wird sich der notwendige Bruch zwischen der alten und neuen Produktionsweise vollziehen können? Auch hier sind alte Modelle außer Kurs gesetzt, etwa die Vorstellung, mittels Politik über den Staat revolutionär oder reformatorisch die Transformation hinzubekommen. Andererseits wird auch einiges übernommen werden müssen, etwa große stoffliche Infrastrukturen, allein schon aus Ressourcengründen. Wie ist das jedoch mit einem Bruch vereinbar? Kontinuität und Bruch sind also als dialektisches Verhältnis zu begreifen, doch was heißt das? Viele Fragen, von denen wir die meisten nicht am grünen Tisch beantworten können.

Andreas: Was an den Aspekten von Transformation, die ich schon heute zu erkennen glaube, so spannend ist, etwa in den Solidarischen Ökonomien Boliviens oder in den städtischen Gemeinschaftsgärten der industrialisierten Länder, um nur zwei Beispiele zu nennen, ist, dass die Veränderung von alltäglichen Praktiken ausgeht. Solche Veränderungen haben lange Geschichten.

In diesen alltäglichen Praktiken verändert sich auch das Denken und der Charakter der Menschen. Das ist sogar empirisch gezeigt worden, etwa am Beispiel strategischer Nischen der sozialen Basisinnovation, wie ich sie nennen würde, nämlich an Kooperativen. Das wurde unter anderem an Beispielen in Österreich untersucht. Menschen in solchen Kooperativen sind prosozialer und gleichheitlicher orientiert als Menschen in kapitalistischen Betrieben. Und zwar nicht, weil diejenigen, die von einer Kooperative aufgenommen werden, ohnehin schon eher prosozial und gleichheitlich orientiert sind, sondern weil die kooperativen, gleichheitlichen Produktionsverhältnisse jene Menschen prägen, die sie eingehen. Man darf solche Ergebnisse freilich nicht verabsolutieren, die Produktionsverhältnisse einer Kooperative oder sonst eines Zusammenhangs haben immer eine spezifische Geschichte und eine Feinstruktur, die wesentlichen Einfluss auf das emanzipatorische Potenzial ausübt. Mondragón-Kooperativen etwa zeigen sich weniger solidarisch mit der Belegschaft kapitalistischer Firmen als diese untereinander. Dennoch würde ich die Bedeutung der Aneignung von Produktionsmitteln recht hoch veranschlagen. Nicht nur, weil man sie stofflich braucht und weil sie eine materielle Basis des Widerstands bieten gegen das Kapital, das, vermittelt über den Staat, ab einem gewissen Punkt einschreitet, werden seine Expansionsmöglichkeiten bedroht, besonders in der Krise. Sondern auch, weil vergleichsweise kleine Schritte der Transformation wichtige Veränderungen des Gesellschafts-Charakters erzeugen können, die weitere Schritte vorbereiten. Und diese Schritte der Transformation vollziehen sich gerade in Prozessen der Aneignung. Der Weg zu einer Kooperative ist daher meiner Meinung nach ebenso wichtig wie ihre interne Struktur, denn die Dynamik und die Perspektive entscheiden über ihren emanzipatorischen Charakter.

Du meinst, die Klassenherrschaft sei nicht aufzuheben ohne dass die ihr "zugrundeliegende" sachliche Exklusionslogik mit aufgehoben wird. Da stimme ich dir zu, wenngleich ich nicht sehen kann, dass der Klassenherrschaft eine sachliche Exklusionslogik "zugrundeliegt", wenn man damit ein historisches Prius oder eine logische Voraussetzung ansprechen wollte. Diese sachliche Exklusionslogik setzt der Staat fortlaufend ganz unsachlich in der sachlichen Form des Privateigentums durch. Er ist die Instanz der direkten Gewalt, die das Kapital benötigt. Die indirekte, sachlich erscheinende Gewalt des Geldes besteht nicht ohne die direkte Gewalt.

Die "sachliche Exklusionslogik" ist in der Tat eine strukturell begründete Herrschaftsmatrix. Allerdings würde ich, das habe ich schon erwähnt, auch den Feudalismus als eine strukturell begründete Herrschaftsmatrix begreifen. "Direkte Herrschaft" ist somit nicht eine Umschreibung für den Begriff der "persönlichen" Herrschaft. Wie gesagt halte ich die Entgegensetzung von "persönlicher" und "abstrakter" Herrschaft nicht für überzeugend, denke jedoch, dass eine Unterscheidung von direkter und indirekter Herrschaft sinnvoll sein könnte. Herrschaft ist nicht souverän im Sinne von selbstbestimmt, das ist wichtig festzuhalten. Ich glaube, das siehst du, wenngleich aus anderen Gründen, ähnlich. Herrschaft ist erstens Ergebnis psychischer Formierungen, die mit den Produktionsverhältnissen in Wechselwirkung stehen, und zweitens der Zuspitzung von Abhängigkeit. Herrschaft ist der wesentliche Grund für die Aufrechterhaltung eines Systems, das ihre Reproduktion ermöglicht, sei es kapitalistisch oder feudal. Das klingt tautologisch, und so ist es auch gemeint. Herrschaft hat keinen anderen Sinn als ihre eigene Reproduktion. Sie ist nicht ein Mittel für etwas anderes, Genuss zum Beispiel. Herrschaft ist lebens- und genussfeindlich. Sie ist in die Produktionsverhältnisse eingeschrieben, reproduziert sich in ihnen und erwächst aus ihnen immer neu.

Viel ist über den anscheinenden Selbstzweck der Kapitalverwertung geschrieben worden. Und in der Tat, an der Oberfläche des Marktes betrachtet macht G-W-G' keinen Sinn, sie erscheint wie ein automatisches Subjekt, eine metaphyische Wesenheit, etwas ganz Unbegreifliches. Ich denke allerdings, dass die soziale Form des Kapitals eben genau das ist: die strukturell begründete Matrix der Herrschaft. Die Herrschaft selbst hat einen ganz einfachen und klaren Zweck: sich zu reproduzieren. Kapitalisten trachten danach Kapitalisten zu bleiben - ich unterstelle hier, wie gesagt, keinen freien, souveränen Willen. Und sie trachten nach dem Triumph über die Konkurrenz, um ihre Position in der Statushierarchie zu wahren und zu verbessern. Sie unterliegen damit, wohlgemerkt, einem gesellschaftlichen Zwang. Dem zu gehorchen fördert keineswegs Freude und Genuss. "Arbeit" ist das allerdings auch nicht, sonst würden Kapitalisten Mehrwert produzieren, was sie nicht tun. Zurück zum Selbstzweck der Reproduktion der Herrschaftsposition. Zur Verwirklichung dieses Zwecks müssen sich die Mitglieder der herrschenden Klasse dem Akkumulationsimperativ fügen, der unabhängig von ihrem kollektiven Willen wirkt. Es stimmt, dass diese Herrschaftsstruktur sich unglaublich fein verästelt, etwa in den Einkommensdifferenzen. Allerdings halte ich die Klassenspaltung für ihre Grundlage.

Ohne Klassenspaltung gibt es auch keine Marktwirtschaft, Markt und Kapital gehören zusammen. Der Wert ist in der Tat kein Trick der Kapitalisten, da gehen wir konform. Er ist allerdings auch kein einfaches Verhältnis von Dingen, Dinge können kein Verhältnis eingehen. Der Wert erscheint wie ein Verhältnis von Dingen, und dieses Verhältnis scheint paradoxerweise materielle Macht auszuüben. Tatsächlich ist der Wert aber ein gesellschaftliches Verhältnis, eine Beziehung zwischen Menschen, wenngleich in dinglicher Gestalt. Er ist weder ein physikalisches noch ein psychisches Phänomen. Daher der Begriff des Fetischismus, der Wert ist eine eigene Gegenstandskategorie, wenn man so will. Ich spreche hier von der Wertform - du sprachst oben den Wert als Verhältnis der gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit, also seine Substanz und Größe an.

Jedenfalls: Weil ich die Herrschaftsverhältnisse für letztlich bestimmend halte und das Kapital als Herrschaftsverhältnis begreife, erwarte ich mir vom Zusammenbruch kapitalistischer Produktionsverhältnisse alleine noch nichts Gutes. Herrschaft wird sich weiterhin zu reproduzieren trachten - ob nun in der Form des Kapitals, in einer Art postmodernem Feudalismus oder in welcher anderen Form auch immer. Das ist eine große Gefahr, und die sollte man sehen.

Gemeingüterbasierte Produktionsweisen wie die Peer-Produktion im Bereich Freier Software sind nicht allein nicht-kapitalistisch, sie sind auch in gewissem Ausmaß herrschaftsfrei - wenn man ihren Kontext mal vergisst, der da hineinwirkt und auch die Peer-Produktion in bestimmter Weise formt. Das ist meines Erachtens wesentlich. Das gilt aber auch für Kooperativen, mitsamt ihrer zumeist sehr widersprüchlichen Einbindung in den Markt. Ich sehe keine wesentlichen Unterschied zwischen freier Software-Produktion und einer Kooperative, die sagen wir Waschmaschinen herstellt - mit Ausnahme des Umstands, dass die Kooperative die für ihr Produkt unmittelbar notwendigen Produktionsmittel kollektiv angeeignet hat.

Dass Freie Software nicht verkauft wird, die Waschmaschinen jedoch schon, scheint mir dagegen keine wesentliche Differenz zu sein. Denn diese Software wird ja nur deshalb nicht verkauft, weil die Kosten ihrer Produktion, die notwendige freie Zeit, die Computer etc., über die Lohnjobs der Programmierenden gedeckt sind. Das heißt nicht, dass ich den Software-Produzentinnen unterstelle, ihr Motiv wäre der Verkauf. Die machen das vielmehr aus Freude und Verantwortung. Ich möchte damit allerdings sagen: Man kann auf den Verkauf dann verzichten, wenn eine Quersubventionierung möglich ist. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Kooperationen einzugehen, die den Markt auflösen. Das freilich ist genau der notwendige qualitative Sprung. Auch Kooperativen, die materielle Güter herstellen, schaffen das nur in sehr wenigen Fällen und in begrenztem Ausmaß. Es scheinen mir insbesondere solche Kooperativen, die aus sozialen Kämpfen heraus entstehen, solche Beziehungen zu entwickeln. Etwa besetzte oder "wiedergewonnene" Betriebe. Das zeigt meines Erachtens das transformative Potenzial sozialer Kämpfe.

Warum ist der Aspekt einer Bewegung von Kooperativen so wichtig, meiner Meinung nach? Erstens wachsen in dieser Bewegung die Fähigkeiten und auch die Möglichkeiten der Kooperation. Zweitens entspringt das Wachstum einer Bewegung von Kooperativen, die transformatorische Perspektiven aufmacht, schon dem Bruch mit Marktprinzipien und staatlicher Intervention. Denn diese Bewegung braucht Produktionsmittel, die sie weder als Geschenk erhält, noch in größerem Umfang kaufen kann. Der Markt macht sich drittens ab einem gewissen Punkt ihrer Entwicklung als innerer Widerspruch und äußere Barriere bemerkbar, was die Ausweitung der Kooperation fördern kann, sodass Marktverhältnisse zwischen den Kooperativen, sofern sie noch bestehen, aufgelöst werden. Diese Barriere wird aber nicht zwangsläufig überwunden, einzelne Kooperativen oder eine kooperative Bewegung können sich wieder in die bürgerlich-kapitalistischen Formen integrieren. Sicherlich zeigt das Selbstunternehmertum nicht das Verschwinden der Klassenspaltung an, nur um das klar zu sagen. Die Klasse ist, so denke ich, keine "personale" Kategorie. Nur um kein Missverständnis meiner Position aufkommen zu lassen. Es ist ganz gleichgültig, ob die Eltern eines Kapitalisten Kapitalisten waren oder er selbst als Tellerwäscher begonnen hat.

Für die Transformation ist, wie ich denke, der Klassenkampf wichtig. Da haben wir allerdings mit Sicherheit unterschiedliche Begrifflichkeiten. Das beginnt schon damit, dass ich den Klassenkampf nicht ökonomistisch verstehe - ebenso wenig wie das Kapital. Silvia Federici etwa hat, so glaube ich, gezeigt, dass das Kapital zugleich patriarchal und sexistisch strukturiert ist.

Meines Erachtens gründet der Klassenkampf auf dem Widerstand dessen, was im Kapitalverhältnis eben nicht aufgeht und nicht aufgehen kann und ist damit der Ankerpunkt von Emanzipation überhaupt. Dieser Widerstand ist immer spontan, nicht das Produkt von Manifesten oder Parteien. Klassenkampf ist dieser Widerstand nicht, weil sich zwei soziologisch homogene Blöcke irgendwo gegenüberstehen, schon gar nicht physisch, sondern weil dieser Widerstand systematisch, also strukturell notwendig entlang der Klassenspaltung entsteht, die das Kapital konstituiert.

Der Klassenkampf lässt sich meiner Meinung nach nicht auf einen immanenten Interessenkampf reduzieren. Ein Kampf, besser: ein Antagonismus immanenter Interessen, der also die Identität des Individuums mit der gesellschaftlichen Form voraussetzt, besteht zwischen Käufer und Verkäufer, und zwar, meines Erachtens, lediglich am Markt für Produktionsmittel. Am Markt für kapitalistisch hergestellte Konsumgüter kaufen die Lohnabhängigen lediglich einen Teil ihres Produkts zurück, sie erneuern die Abhängigkeit vom Kapital.

Betrachten wir den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit: Der Punkt ist hier, dass im Grunde der "Arbeitsmarkt" kein Markt ist, die "Arbeitskraft" keine Ware und die Arbeit kein Tausch. In Termini der bürgerlichen Ökonomie ausgedrückt sehr wohl. Aber das ist Ideologie, die man dechiffrieren muss. Karl Polanyi nannte die Arbeitskraft daher eine "fiktive Ware".

Erstens ist das Ziel der arbeitenden Klasse primär nicht, Lohn zu erhalten. Wenn man um den Lohn nichts kaufen kann, ist er kein Ziel des Klassenkampfes. Der Lohn dient einem anderen Zweck, der Aneignung eines Teils des Produkts der arbeitenden Klasse, der zum Leben notwendig ist. Dieser Zweck, die Aneignung von Lebensmitteln, bleibt auch im Kommunismus bestehen, wird dann aber freilich kollektiv und ohne Marktvermittlung realisiert. Sekundär kommt der Lohn zum Zweck eines differenzierten Statuskonsums zum Einsatz und stabilisiert damit die Klassenspaltung. Der Profit des Kapitalisten ist dagegen vorrangig ein Mittel um seine Statusposition zu reproduzieren und erst in zweiter Linie das Einkommen, das sein Leben ermöglicht. Dafür würden ja auch der Lohn oder die Subsistenzproduktion genügen oder der Kommunismus.

Weil der Klassenkampf-von-unten nicht im Kapital aufgeht, kann er sich unter bestimmten Bedingungen auf die Aneignung der Produktionsmittel richten, von Fabriken, Land, etc.

Zweitens hat der Klassenkampf ein "Interesse" im ökonomischen oder politischen Sinn gar nicht zur Voraussetzung. Ich spreche hier, nota bene, einmal ausschließlich vom Kampf zwischen arbeitender und kapitalistischer Klasse. Das ist allerdings weniger als die halbe Story. Meines Erachtens ist der Kampf zwischen den bäuerlich Produzierenden und dem Kapital sowie dem Kleinbürgertum, der so genannten Mittelschicht, wozu man wohl die unternehmerischen Farmer rechnen muss, wichtiger. Analytisch ist der Klassenkampf meines Erachtens also nach wie vor eine wichtige Kategorie. Man muss dazu allerdings den Blick von oben, den Blick der herrschenden Klasse, der Partei, der intellektuellen Avantgarde oder des Kapitals mitsamt dem Co-Management der Gewerkschaft, aufgeben. Wie auch immer man dieses Moment nennen will, Demonetarisierung als eine emanzipatorische Perspektive hat es nicht nur mit Nischen sozialer Basisinnovationen zu tun, sondern ebenso mit der Frage der Aneignung von Produktionsmitteln verschiedener Art.

Deine Ausgangsfrage war, wie die Widersprüche in der Übergangsphase beschaffen seien, und wie gewährleistet werden kann, dass sich die "nach vorne" hin auflösen. Entscheidend ist für mich, dass die Bewegungen der Demonetarisierung-durch-Aneignung sich gegen die Institutionalisierung in Parteien, im Staat, und gegen das Kapital richten. Der Aufbau des Neuen und die Ablehnung dieser Elemente des Alten sind ein- und dasselbe, von zwei Seiten aus betrachtet. Wie siehst du das Verhältnis demonetarisierter, herrschaftsfreier Produktionsverhältnisse und der Aneignung dafür nötiger Produktionsmittel? Woher kommen deiner Meinung nach die sozialen Kräfte, die eine solche Aneignung vollziehen und stabilisieren - wenn du eine Aneignung überhaupt für notwendig hältst.

Stefan: Du hast viele interessante Fragen aufgeworfen, auf die ich nur ausschnitthaft eingehen kann. Ich habe verstanden, dass du vom Primat der Herrschaft ausgehst und die Produktionsweise wesentlich dadurch bestimmt siehst. Folglich siehst du den Ansatzpunkt der Transformation bei der Herrschaftsfrage. Bei mir ist es umgekehrt. Nun könnten wir uns auf ein Mittelding einigen, aber das wäre ein fauler Kompromiss und keine theoretische Debatte. Also will ich darauf noch etwas eingehen. Du sagst, "Kapitalisten trachten danach Kapitalisten zu bleiben", nicht als souveräne Subjekte, sondern um ihren Status zu bewahren oder auszubauen. Das gleiche gilt aber auch für die Arbeitskraftverkäufer. Der alte Radio-Eriwan-Witz mit der Frage "Was ist schlimmer als ausgebeutet zu werden?" hat eine tiefe Wahrheit: "Nicht ausgebeutet zu werden". "Kapitalist" und "Arbeiter" sind notwendige, gesellschaftliche Funktionen, die asymmetrisch aufeinander bezogen sind. Die Notwendigkeit ergibt sich allein aus der kapitalistischen Betriebsweise, zu der die Asymmetrie, der Gegensatz, der Interessenkampf, der Klassenkampf gehören. Der Klassenkampf ist aus meiner Sicht eine immanente Bewegungsform des kapitalistischen Betriebssystems. Er ist auf die kapital-immanent notwendigen gesellschaftlichen Funktionen bezogen und enthält in seiner eigenen Interessenlogik keine emanzipatorischen Ansatzpunkte. Solche emanzipatorischen Ansatzpunkte müssten stets zusätzlich in den Klassenkampf von außen hineingetragen werden, sie kommen nicht aus ihm selbst. Das ist keine besonders originelle Position, im Grunde hat das schon Lenin so gesehen. Nur war sein Schluss, dass die Kader-Partei das revolutionäre Bewusstsein in die Arbeiterklasse tragen müsse. Apropos "arbeitende Klasse": Kapitalist will ich nicht sein müssen, das wäre mir viel zu viel "Arbeit". Ist alles gescheitert und Vergangenheit.

Ist der Klassenkampf trotzdem ein wichtige Kategorie? Ja, aber nur in dem klaren Bewusstsein, dass es sich um eine systemimmanente Kategorie handelt, die sich dazu eignet, die funktional notwendigen Interessenunterschiede analysierbar zu machen. Denn, da stimme ich dir zu, tatsächlich ist zwischen den Interessen der bäuerlich Produzierenden und dem Industriekapital, dem Arztunternehmer und dem Krankenhauskonzern usw. zu unterscheiden. Mein entscheidender Punkt: Es bewegt sich alles im systemimmanenten Kampf der einen Interessen gegen die anderen. Damit illustrierst du also meine allgemeine Kennzeichnung der basalen Funktionsweise als Exklusionslogik. Innerhalb der Exklusionslogik gibt es keine allgemeine Emanzipation, sondern jede partielle Durchsetzung der eigenen, auch kollektiven Interessen geht stets zu Lasten von anderen. Für eine allgemeine Emanzipation ist der Interessenmodus selbst aufzuheben, und zwar denkend theoretisch wie praktisch handelnd. Was das heißen kann, diskutiere ich unten.

Wenn ich nun auf dem Primat der Produktion vor der Frage der Herrschaft bestehe, dann hat das mehrere Gründe. Erstens ist ganz allgemein die gesellschaftliche Produktion der Lebensbedingungen Wesensmerkmal des Menschen, Herrschaft hingegen keineswegs. Das finde ich wichtig, um naturalisierende Seinszuschreibungen zurückweisen zu können. Zweitens sind im Kapitalismus die Produktionsverhältnisse herrschaftsförmig. Es handelt sich also nicht um ein Außenverhältnis zweier wechselwirkender Faktoren, etwa von Produktion und Herrschaft, sondern um einen inneren Zusammenhang. Von einem Binnenverhältnis auszugehen hat zur Folge, dass ich über den Hebel der Herrschaft zwar einiges bewegen, aber allgemeine Emanzipation nicht erreichen kann. Aus meiner Sicht sind im Interessenmodus der Exklusionslogik nur immanente, beschränkte Schritte möglich. Diese immanenten Zuwächse an Handlungsmöglichkeiten will ich nicht gering schätzen, ich kann sie aber nicht als Schritte auf dem Weg zu einer allgemeinen Emanzipation unter Aufhebung des Kapitalismus stilisieren. Das sind sie nämlich nicht.

Demonetarisierung als emanzipatorische Perspektive, die wir teilen, ist für mich daher zuvörderst mit einem Prozess der Entwarenformung der Produktion und dem Aufbau genuin nicht-warenförmiger Produktionsverhältnisse verbunden. Die Waschmaschinen produzierende Genossenschaft mag intern gleichberechtigter und partizipatorischer organisiert sein als ein normales Unternehmen, doch die gleichberechtigte Partizipation bezieht sich primär auf den Erfolg am Markt zu Lasten der anderen Waschmaschinenproduzenten. Die Gewerkschaft und der Betriebsrat als Co-Management sind nur eine andere Form der Partizipation zu gleichen Zwecken. Es geht jedoch darum, den Zweck der Vermarktung, also die Warenform, aufzuheben. Ich habe als Alternative die commons-basierte Peer-Produktion angeführt. Hier wendest du nun wie auch andere zurecht ein, dass es um die Produktionsmittel ginge und da sähe es schlecht aus. Bei den digitalen Commons stehen diese zwar bei den meisten als Privatbesitz auf dem Schreibtisch, im globalen Norden zumindest, aber wenn es um die stoffliche Produktion und die dafür nötigen Produktionsmittel geht, sieht das anders aus. Soll das nun alles neu gebaut werden? Ist das nicht ökologischer Wahnsinn? Warum also nicht Aneignung der Produktionsmittel und Einsatz für die allgemeine Emanzipation?

Dagegen spricht, dass viele Produktionsmittel nicht neutral sind, sondern die soziale Form und damit der Zweck der Verwertung in ihre stoffliche Gestalt eingeschrieben ist. Das fängt damit an, dass die meisten Güter - Produktionsmittel wie Konsumgüter - closed-source und überkomplex sind, um einerseits Nutzer abhängig zu machen und zum anderen den Nachbau zu verhindern. Auch das ist sachliche Herrschaft!

Opensourcing und Peer-Produktion ist nun eine Bewegung, diese in die nicht-stofflichen wie stofflichen Güter eingeschriebene Herrschaftsmatrix, die Exklusionslogik, aufzubrechen. Es ist eine allgemeine Bewegung zur Wiederaneignung der eigenen produktiven Potenzen, von Kreativität, Wissen und Fertigkeiten. Das ist die Voraussetzung dafür, um überhaupt so etwas wie eine Produktion jenseits der Warenform aufbauen zu können. Aus der Warenproduktion heraus ist so ein Prozess kaum denkbar - es sei denn, eine Firma gibt ein Geschäftsfeld auf oder geht Pleite, oft nehmen sie jedoch ihr Wissen mit in die Insolvenz.

Opensourcing und Peer-Produktion sind Voraussetzungen, andere Zwecke in die Produkte selbst einzuschreiben. Das möchte ich an einem Beispiel illustrieren. Traktoren werden für die landwirtschaftliche Produktion benötigt, sei es vom Ökolandbau, der konventionellen Produktion oder der nicht-kommerziellen Landwirtschaft, die ihre Produkte nicht vermarktet, sondern verteilt. Solche Traktoren sind teuer, closed-source und überkomplex. Es ist ihr Zweck, abhängig zu machen und irgendwann ersetzt zu werden - Stichwort: geplanter Verfall. Solche Traktoren kann man kurzfristig nutzen, wenn man sie hat, sie sind für eine allgemeine Emanzipation jedoch nicht zu gebrauchen. Sie müssen neu entwickelt werden. Dabei müssen wir unsere Kriterien in den Traktor einschreiben: Modularität, Einfachheit, Langlebigkeit, niedriger Betriebsaufwand, geschlossene Stoffkreisläufe, Eigenbau, flexible Fertigung, hohe Leistung. Open Source ist dafür die unabdingbare Voraussetzung. Wir müssen den Traktor neu bauen in dem Maße wie wir die Gesellschaft neu bauen.

Das Projekt "Open Source Ecology" (OSE) hat sich genau dieses Ziel gesetzt: Neuentwicklung bekannter Maschinen. Nicht nur den Traktor, sondern im ersten Schritt die 50 wichtigsten Produktionsmittel, um eine lokale Produktion aufzubauen. "Global Village Construction Set" (GVCS) nennen sie es. Dabei handelt es sich nicht um ein warenkritisches Projekt. Sie unterliegen sogar der Illusion, das Projekt irgendwann durch den Verkauf der Produkte finanzieren zu können. Ich hoffe, dass sie erfahren werden, dass es ihre Ziele beschädigt, wenn sie sich auf den Markt ausrichten. Bislang ist es nicht nötig, da sie aufgrund großer Aufmerksamkeit ganz gut von Spenden leben können. Denn das ist klar: Die Werkzeuge zum Bau der neuen Produktionsmittel kaufen sie ganz herkömmlich ein. Bislang sind sie noch nicht zu "Investionsmitteln" mutiert, die sich in der Verwertungslogik irgendwann wieder bezahlt machen müssen. Mal sehn, ob es so bleibt. Auch das ist ein Lernprozess.

OSE mit dem GVCS ist nur ein Beispiel aus einer Liste von 300 offenen Hardware-Projekten, die im Wiki der P2P-Foundation geführt werden (p2pfoundation.net/Product_Hacking). Nach Freier Software, Freiem Wissen und Freiem Design ist Opensourcing jetzt in der physischen Welt angekommen. Sehr wichtig finde ich auch zu beachten, dass es nicht nur darum geht, die Produktion im engeren Sinne auf eine neue Grundlage zu stellen, sondern dass sich gleichzeitig die sozialen Beziehungen verändern. Die Effekte, die du auch schon für Kooperativen berichtet hast, kommen unter Commons-Bedingungen erst recht zum Tragen. Ferne zu Markt bedeutet Entscheidungsfreiheit, aber auch Verantwortung. Wenn es den Scharfrichter des Marktes nicht gibt, müssen alle Konflikte - etwa, welche Bedürfnisse Vorrang haben sollen - direkt sozial ausgetragen werden. Dafür brauchen wir neue Formen der Kommunikation und Entscheidung. Erfahrungen wie sie im Occupy-Kontext mit den Asambleas gesammelt werden sind dabei wichtig. Allerdings könnte die Vernetzung zwischen den opponierenden und konstruktiven Bewegungen noch besser werden. Wir brauchen beides. Bedeutet Neubau aller Mittel nicht eine ungeheuren Ressourcenaufwand, den wir uns nicht leisten können? Ist also der Open-Source-Weg keiner für die ganze Welt? Das sehe ich nicht so. Das Argument übersieht, dass der laufende Kapitalismus in ungeheurer Geschwindigkeit permanent seine komplette produktive Basis erneuert. Aus diesem Wachstums- und Erneuerungswahnsinn gilt es auszusteigen, indem nicht mehr die alten, proprietären, monolithischen Wegwerfgüter, sondern langlebige, modulare, reparierbare Open-SourceGüter produziert werden. Nur so kann die kapitalistische Produktionsweise auf der stofflichen Seite beendet werden: durch Ersetzung mit einer stofflich und sozial qualitativ neuen Produktionsweise jenseits von Ware, Markt, Arbeit, Kapital und Staat. Also: Aneignung der "alten" Produktionsmittel ja, aber nur zum Zweck des stofflichen Ausstiegs aus der alten Produktionsweise.

Schließen möchte ich mit dem Theorie-Praxis-Verhältnis. Hier stimme ich dir weitgehend zu, dass Theorie alleine nichts bewegen kann, aber Praxis alleine möglicherweise das Falsche. Ob dem so ist, kann man wiederum zwar gedanklich bewegen, aber nicht entscheiden, auch das ist wiederum eine praktische Frage. Jedoch halte ich den KampfGegen für überbetont. Diese Überbetonung kommt aus der Hoffnung, dass irgendwann aus dem Kampf-Gegen zauberhafter Weise ein Kampf-Für wird. Das sehe ich jedoch nicht. Der letzte große Kampf-Für, nämlich der für den Sozialismus, ist scheppernd verloren gegangen, weil er - das können wir heute theoretisch erkennen - doch nur ein Kampf für eine Variante der Warenproduktion war. Auf dem Gebiet der Warenproduktion ist der Kapitalismus jedoch unschlagbar. Der Kampf-Gegen kann nur ein Kampf gegen neue Zumutungen, Einschränkungen, Bedrängnisse sein - ein Dämmebauen, ein Verteidigen der Lebensansprüche. Die neuen Schiffe zum Übersetzen ans andere Ufer entsteht in den Werkstätten der commons-basierten Peer-Produktion, der neuen Produktionsweise, die wir schrittweise aufbauen. Eins geht ohne das andere nicht.

Nachdem ich die Differenz betont habe, möchte ich zum Schluss das Gemeinsame in der Differenz herausheben: Es ist das gemeinsame Lernen. Alle Formen, die wir ausprobieren, sind Orte des Lernens und der Reflexion. So wie du um die Grenzen der Kooperativen weißt, sind mir viele Widersprüche in der commons-basierten Peer-Produktion bewusst. Grenzen und Widersprüche gehen jedoch nicht auf unsere Dummheit zurück, sondern auf die Dummheit des kapitalistischen System, das dabei ist, sich selbst aus der Welt zu verabschieden, aber leider nicht friedlich gehen will. Wir werden noch eine Weile damit zu tun haben. Vielen Dank, Andreas, für das Gespräch.

Andreas: Ja, es geht um das soziale Lernen. Meiner Meinung nach hast du auch den allgemeinen Stellenwert sozialer Kämpfe gut ausgedrückt. Du sprichst deren Betonung an, die wechseln kann. Die Notwendigkeit, den Kampf zu betonen, bestimmt sich, so glaube ich, über die historische Situation. Es ist in der Tat sehr wichtig, den Inhalt der Produktion zu verändern. Gelingt das ohne Fabriken, Büros und Land zu besetzen oder sonstwie anzueignen: umso besser. Das ist aber, wie ich denke, nur zu einem Teil, meiner Meinung nach nur zum geringeren Teil möglich. Außerdem glaube ich nicht, dass Kleinheit, Einfachheit oder Dezentralität einer Technologie an sich schon Autonomie garantiert. Auch geht es ja nicht nur um den Umbau, sondern ebenso um die Stilllegung. Profitable Betriebe sperren nicht aus freien Stücken zu. Aber vielleicht widerlegt mich eine Zukunft, die angesichts der drängenden Probleme freilich auch nicht allzu fern sein sollte.

Sofern Menschen, wie etwa in Venezuela heute, einmal an dem Punkt sind, dass sie Brückenköpfe im Staat errungen haben und substanzielle Mittel in der Hand haben, die gesellschaftliche Transformation weiterzutreiben, dann sollte das Moment des Kampfes meiner Meinung nach in den Hintergrund treten.

Die Betonungen zwischen Konstruktion und Destruktion, zwischen Attraktion und Aggression ändern sich also immer wieder, und wir beide setzen sie unterschiedlich. Ich danke dir auch, Stefan, für die Debatte.

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Buchbesprechung von Konrad Lotter

Slavoj Zizek: Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen

Hamburg: Laika 2011, 192 Seiten, Euro 19,90

Es ist eine Art "Symphonie des Grauens", die Slavoj Zizek, das enfant terrible der Gegenwarts-Philosophie, in seinem Buch über Gewalt darbietet. Den thematisch bezogenen Überschriften zu den sechs "abseitigen Reflexionen" über subjektive und objektive Gewalt, die Politik der Angst, Formen gewalttätiger Kommunikation, die Antinomien der toleranten Vernunft oder göttliche Gewalt sind Angaben wie Adagio ma non troppo, Allegro moderato, Presto etc. vorangestellt, die gewissermaßen das Tempo der Darbietung bestimmen. Zizek selbst nennt seine Abhandlung eine (musikalische) "Reise" durch das Gebiet der Gewalt "von der Zurückweisung einer falschen Anti-Gewalt-Haltung bis zur Befürwortung emanzipatorischer Gewalt" (S. 179). Sie beginnt mit der Kritik an der Scheinheiligkeit derjenigen, die die "subjektive Gewalt" einzelner Individuen bekämpfen und sich dabei jener "systemischen Gewalt" bedienen, die doch oftmals die Phänomene der subjektiven Gewalt erst verursacht hat. Am Ende fragt sie nach den geeigneten Mitteln der emanzipatorischen oder "göttlichen" Gewalt, die vom Volk ausgeht und auf die Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet ist.

Im Verlauf des Buches werden vor allem jene neuen Formen der Gewalt diskutiert, die - von den Terroranschlägen des 11. September über die (angeblichen) Gewalt-Exzesse in New Orleans nach der Sturmflut Katrina, die gewalttätigen Proteste einiger Islamisten gegen die Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung, die amerikanischen Folterungen in Abu Ghraib oder die sexuellen Übergriffe katholischen Priester auf ihre Schutzbefohlenen - während der letzten Jahre die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erregt haben. Nicht für alle trifft wohl Zizeks an Lacan geschulte psychoanalytische Interpretation zu, die die Gewalt als "Angst vor dem Nächsten" erklärt. Und auch die These, dass diese Formen der Gewalt letztlich "in der Gewalt verankert [sind], die der Sprache selbst innewohnt" (S.179), scheint zu kurz gegriffen und eigentlich auch nicht recht nachvollziehbar zu sein. Mit beißendem Spott behandelt Zizek die "liberalen Kommunisten" vom Schlage Bill Gates' oder George Soros', die sich, nachdem sie ihr Milliarden-Vermögen doch, wie jeder andere Kapitalist auch, durch Ausbeutung von Lohnabhängigen und als "knallharte Geschäftsmänner" gemacht haben, als großzügige Stifter und Wohltäter der Menschheit in Szene setzen. Mit ihrer Ideologie eines "reibungsfreien Kapitalismus" und einer "postindustriellen Gesellschaft" ohne Klassen und Gewalt sind sie, so Zizek, in Wirklichkeit der "schlimmste Feind" eines jeden Kampfes um wirkliche Emanzipation. (S.23) Ebenso überraschend wie überzeugend ist seine Analyse der Gewalt-Explosionen in den Pariser Banlieus im Jahre 2005. Als deren Hauptmerkmal hebt Zizek hervor, dass sie "ohne Programm" und ohne eigentliches Ziel vonstattengingen. Der Zorn der Aufständischen konzentrierte sich noch nicht einmal auf die Autos des (Klassen-)Feindes, sondern richtete sich wahllos gegen alles, was ihm in die Quere kam. Es handelte sich um einen Vandalismus als Demonstration für eine gescheiterte Integration, der doch dem Wunsch der (zumeist) zugewanderten Jugendlichen entsprang, "als vollwertige französische Bürger anerkannt" (S.74) zu werden.

Wie in anderen Büchern würzt Zizek seine Darstellung durch Witze, die Nacherzählung von Filmen oder literarische Anspielungen. In Abwandlung von Brechts bekannter Sentenz "Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank" formuliert er in Bezug auf die Ereignisse des 11. September ebenso wie auf die Kämpfe im Nahen Osten: "Was ist schon ein terroristischer Anschlag gegen die Staatsmacht, die einen Krieg gegen den Terror führt." (S.107) Eine Provokation, die wohl zum Denken anregen soll, ist nicht nur die Austauschbarkeit des Terror-Vorwurfs, sondern auch die Deutung der amerikanischen Folterungen im Irak. Hatten die traditionellen Diktaturen ihre Opfer im Verborgenen zu Tode gequält, so ging es den Folterknechten in Abu Ghraib in erster Linie darum, ihre Opfer moralisch zu erniedrigen und diese Erniedrigung durch Fotos oder Videos festzuhalten. Auf diese Weise würden die irakischen Gefangenen, wie Zizek schreibt, "in die amerikanische Kultur initiiert" (S.154). Folter als Initiationsritus: Da schlägt die Provokation allerdings in Zynismus um.

Am Ende seiner Abhandlung stellt Zizek die Frage, was aus seinen "abseitigen Reflexionen" gelernt werden könne und beantwortet sie auf dreifache Weise. Erste Lektion: Die bloße Ablehnung der Gewalt (als "böse" Gewalt) ist eine "ideologische Operation" und eine "Mystifizierung", die nur dazu dienst, die fundamentalen Formen der systemischen Gewalt, d.h. der Gewalt, auf der die kapitalistische Gesellschaft selbst beruht, zu verschleiern. Zweite Lektion: Es ist schwierig, "richtig" (im Sinne der emanzipatorischen Gewalt) gewalttätig zu sein; nicht nur weil es "anstrengend" ist, "böse" zu sein, sondern auch weil damit die weitergehende Frage verbunden ist, gegen wen oder was sich die emanzipatorische Gewalt eigentlich richten soll. Eine dritte Lektion kündigt Zizek zwar an, macht dann aber keine genaueren Angaben dazu. Vielleicht ist ja der Schlusssatz des Buches als eine Antwort gedacht: "Manchmal ist nichts zu tun die äußerste Gewalt." (S.187) Dieser Satz kann auch als Kritik an denjenigen gelesen werden, die die bestehende "systemische Gewalt" einfach hinnehmen und sich nicht gegen sie zur Wehr setzen.

In seinen Überlegungen, wogegen sich die emanzipatorische Gewalt richten könnte, macht Zizek sogleich zwei Einschränkungen. Zum einen soll sich diese Gewalt nicht gegen einzelne Individuen richten, die doch immer nur Funktionsträger oder Repräsentanten von korrupten Konzernen oder Institutionen und nicht diese selbst sind. Zum anderen soll sie sich auch nicht (wie dies z.B. in der chinesischen Kulturrevolution geschehen ist) gegen Baudenkmäler richten, die doch nur als "Zeugen" einer verabscheuten Vergangenheit "bestraft" würden. In diesem Kontext findet sich der zwielichtige Satz, den Zizek auch in dem Buch über Die bösen Geister des himmlischen Bereichs (ebenfalls im Jahr 2011 erschienen) wiederholt: Hitler sei "nicht radikal genug" gewesen. (S.182) Falls damit gemeint ist, dem Nationalsozialismus sei es, obwohl er Millionen Menschen ermordet hat, nicht gelungen, den Kapitalismus zu besiegen, so ist dieser Satz gleich in mehrfacher Hinsicht unsinnig. Erstens lag es gar nicht in Hitlers Absicht, den Kapitalismus zu besiegen; er lehnte (in Anlehnung an Gottfried Feder) nur das "raffende" Handels- und Finanzkapital zugunsten des "schaffenden" Gewerbe- und Agrarkapitals ab. Zweitens würden die Juden damit (in Übereinstimmung mit Hitler) als Repräsentanten des Handels- und Finanzkapitals und ihre Ermordung als antikapitalistische Maßnahme hingestellt. Und drittens würde die Ausrottungspolitik Hitlers in die Nähe dessen gerückt, was Zizek als göttliche oder emanzipative Gewalt befürwortet. Da wäre doch einiger Klärungsbedarf anzumelden!

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Buchbesprechung von Philippe Kellermann

Jan Ole Arps: Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren

Berlin, Hamburg: Assoziation A 2011, 238 Seiten, Euro 16

"Freunde, verlasset also in Bälde diese der Vernichtung anheim fallende Welt! Verlasset diese Universitäten, diese Akademien, diese Schulen, von denen man Euch jetzt wegjagt und in denen man Euch nur vom Volke zu trennen gesucht hat. Geht unter das Volk! Da muß Eure Laufbahn, Euer Leben und Eure Wissenschaft sein! Lernt inmitten dieser Massen, deren Hände rau durch Arbeit, wie Ihr der Volkssache dienen müßt. Und denket daran, Brüder, daß die studierende Jugend weder Herr noch Beschützer, noch Wohltäter, noch Diktator des Volkes sein darf, sondern einzig der Beistand seiner freiwilligen Emanzipation, der einigende und ordnende Mittelpunkt der Volkskräfte."
Michael Bakunin: Einige Worte an meine jungen Brüder in Russland (1869)

"Trete nur heraus aus der Umgebung, in welche du gestellt bist, und wo es Sitte ist zu sagen, daß das Volk nur eine tierische Masse ist; komme zu diesem". Und kommt "nicht als Führer, sondern als Kampfesgenossen (...), nicht um zu dirigieren, sondern um aus neuen Lebensverhältnissen neue Begeisterung zu schöpfen; weniger um zu lehren, sondern eher um die Bestrebungen der Massen kennen zu lernen, dieselben zu erraten und ihnen Form zu geben, und um dann ohne nachzulassen, mit dem ganzen Feuer der Jugend fortwährend daran zu arbeiten, um diesen Bestrebungen im Leben Geltung zu verschaffen"
Peter Kropotkin: An die jungen Leute (1881)

Viele - im besten Sinne des Wortes - idealistische Jugendliche haben sich in den letzten hundertfünfzig Jahren solcherart Parolen zu Herzen genommen und sind "unters Volk" gegangen. Und wie viel ärmer wäre die Geschichte des Sozialismus ohne diese: Man erinnere sich an jene jungen ItalienerInnen, "die aus der Bourgeoisie kommen und zu eifrigen, aufrichtigen, unerschrockenen und unermüdlichen Propagandisten der Internationale geworden sind" und ohne die es, so Bakunin, "äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich" gewesen wäre, "Sektionen der Internationale in Italien zu gründen" (Bakunin 1872: 733). Oder man denke an all die jungen RussInnen, wie sie sich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auf den Weg in die Dörfer machten und dabei einen Elan an den Tag legten, der viele europäische SozialistInnen beeindruckte und wiederum in ihrem Tun anspornte. Es ist also erst einmal nicht unbedingt verwunderlich, wenn auch in den bewegten Jahren nach 1968 Teile der (radikalen) Linken den Drang verspürten, sich unters Volk zu mischen: von der Universität in die Fabrik, den "Seminarstuhl gegen die Werkbank" eintauschend (S.7). Von diesen Leuten - in erster Linie den "maoistische[n]" und "spontaneistische[n]" Strömungen im bundesrepublikanischen Deutschland der 1970er Jahre (S.9), ihren Wegen und Problemen, erzählt das Buch von Jan Ole Arps, und zwar in ganz ausgezeichnet lebendiger und nachvollziehbarer Weise. Ausgangspunkt: "Die Studentenbewegung war an ihre Grenzen gestoßen, allein kam sie nicht weiter. Einfach wieder zurück ins Seminar - für viele war das nicht vorstellbar. Sie wollten 'an die Basis der kapitalistischen Gesellschaft': in die Betriebe, sich mit der Arbeiterklasse verbünden." (S.16f.) Nachdem 1969 für viele "ein Jahr in der Schwebe" gewesen war - die alte Bewegung war "zerfallen" und man war auf der "nervöse[n] Suche nach einer neuen Perspektive" -, gaben die wilden Septemberstreiks Ende des Jahres den "Startschuss für die 'proletarische Wende'" (S.40).

Für die MaoistInnen - die ML-Strömung habe, so Arps, seit dem Sommer 1968 "Massencharakter" angenommen (S.59) - ging es um die Überwindung der antiautoritären Phase, wobei sie dem Fehlen einer revolutionären Partei während des Jahres 1968 eine Hauptschuld an dem Scheitern der Bewegung gaben (S.59). Nun hatte man die Hoffnung, durch den "Bruch mit der antiautoritären Tradition eine Verbindung zu 'den Massen' herzustellen". Die damit einhergehende Anforderung "die eigene (oft bürgerliche) Klassenherkunft" auch durch vermeintlich kulturelle Proletarisierung "zu 'überwinden'" (S.74) - "neues Äußeres: kurze Haare, ordentliche Kleidung", "Übergang" vom "bunten Planeten des antiautoritären Protests in die Welt der Arbeit, in der Disziplin und strenge Ordnung herrschten" (S.75) -, deutet Arps interessanterweise allerdings selbst wiederum als ein Relikt der kulturrevolutionären 68er Zeit, als Ausdruck des "gewachsenen Bedürfnis[ses] nach Selbstverwirklichung jenseits der Funktionen der kapitalistischen Gesellschaft". Die "maoistischen Kader als disziplinierte Bohème der Revolution" (S.74). Nichtsdestotrotz ist klar zu erkennen, wie z.B. die KPD/ML versuchte, "die Nachwirkungen der kulturellen Rebellion der 1960er Jahre aus den Gewohnheiten ihrer Mitglieder zu tilgen" (S.82): "Jedes Verständnis von kultureller Emanzipation, das sich zahlreiche Aktive der Partei(en) im Laufe der 68er Bewegung angeeignet hatten, war wie weggewischt." (S.83f.) Beängstigend dabei nicht nur dass, sondern wie dies funktioniert zu haben scheint. So erklärt Annette Schnorr, rückblickend und mit Erstaunen: "In dem Moment" - es ging um die Verhandlung von Beziehungsfragen innerhalb der KPD/ML Anfang der 1980er Jahre -"habe ich erst gemerkt, wie sehr ich meine Kritik an der kleinbürgerlichen Familie, die ich 1968 ja hatte, aufgegeben hatte in der Partei. Weil ich auch akzeptiert habe, dass man als Student seine kleinbürgerlichen Ideen der proletarischen Linie unterzuordnen hat." (Annette Schnoor zit. S.206) Vielleicht sollte man gerade dieses Beispiel beherzigen: die Gefahr des autoritären backlash ist nie einfach behoben und der Versuchung, die eigene Unterordnung gegen das Aufgehen im Kollektiv der "Wissenden" und/oder "Richtig-Revolutionären" stets zu widerstehen... was nicht leicht ist.

Die mehr vom Operaismus inspirierten Spontis - bei Arps steht die Gruppe "Revolutionärer Kampf" im Mittelpunkt - wendeten sich dagegen von Anfang an gegen den "pseudomaoistischen Populismus" (S.50) und die Verherrlichung der ArbeiterInnenschaft als eigentlich schon revolutionäre Klasse. Es wundert daher auch nicht, wenn die unterschiedlichen Gruppen in verschiedener Weise an ihren Arbeitsalltag herangingen: Während "die maoistischen Gruppen gleich mit der Agitation loslegten, begannen die Sponti-Gruppen ihren Fabrikeinsatz zunächst mit einer Untersuchung." (S.85) Das Konzept der Spontis war auch im weiteren Sinn ein grundsätzlich anderes: "Das Konzept sah nicht vor, dass Innenkader sich in Arbeiter verwandeln sollten - im Gegenteil: Jedes Gruppenmitglied sollte nur ein Jahr bei Opel bleiben. Das Ziel war nicht, zur politischen Avantgarde des Proletariats zu werden, sondern einen gemeinsamen Erfahrungsprozess einzuleiten, der die Arbeiter befähigen sollte, zu ihrer eigenen Avantgarde zu werden." (S.86) Kurz: man "verstand sich gewissermaßen als Starthilfekabel für die revolutionäre Selbstorganisation der Arbeiter" (S.51). Die stärkere Rückbindung der Spontis an den kulturrevolutionären Ansatz der 1968er Bewegung schlägt sich auch im Verhältnis Gruppenkollektiv/ArbeiterIn nieder: "Auch der RK griff in die Lebensführung seiner Mitglieder ein - allerdings mit genau entgegengesetzter Absicht wie die meisten K-Gruppen. Es ging nicht um Anpassung ans Arbeiterdasein, sondern um Bewahrung einer rebellischen Subjektivität der Innenkader trotz der Arbeit bei Opel. Die beste Gewähr hierfür schien die Kollektivität der Gruppe zu bieten. Auch wer im Betrieb war, sollte ins gemeinsam organisierte Zusammenleben eingebunden bleiben. In einer Wohngemeinschaft des RK zu wohnen war deshalb Voraussetzung für die Mitgliedschaft und ganz besonders für die Arbeit in der Fabrik. Diese Maßnahme war als soziales Gegengewicht gegen die isolierende Struktur der Fabrikarbeit gedacht." (S.87) Wie man solche Vorstellungen im Einzelnen auch beurteilen mag, sie zeigen jedenfalls - und das deutlich herauszustellen ist überhaupt ein Verdienst von Arps' Buch -, dass auch in den 1970er Jahren nicht alle blöd und unreflektiert waren. Mit dem Übergang zur "Alternativbewegung" kommt es zum "sukzessiven Abschied vom Konzept des Klassenkampfs" (S.142). Arps erläutert dies wie folgt: "Das Projekt gesellschaftlicher Emanzipation mit dem Projekt Selbstveränderung zu verknüpfen war ein Anspruch, der direkt auf die Intervention der Frauenbewegung zurückging. Er fiel bei den von jahrelanger intensiver - und gemessen am Ziel der revolutionären Gesellschaftsveränderung letztlich erfolgloser - politischer Arbeit erschöpften Aktivisten beiderlei Geschlechts auf fruchtbaren Boden. In dieser 'subjektiven Wende' (oder Rückbesinnung) der antiautoritären Bewegung entstand nun bei manchen eine gehörige Skepsis gegen alles, was mit 'Arbeiterbewegung' zu tun hatte." (S.139) Wenngleich aber das "Versprechen der Alternativbewegung, persönliche Emanzipation und politische Revolte zu verbinden, große Begeisterung entfachen und erstaunliche Kräfte freisetzen" konnte, sei, so heißt es kritisch, der "politische Anspruch der Alternativprojekte (...) leicht in Widerspruch zu den praktischen Notwendigkeiten der täglichen Arbeit" geraten (S.143).

Es folgt ein ernüchterndes Fazit: "Auf die wachsende Krise der Linken in der Bundesrepublik (und nicht nur dort) reagierten sowohl die Spontis als auch die MLer mit dem Reflex sich einzuigeln - die einen in den Nischen der Szene und Alternativkultur, die anderen in der trügerischen Stärke ihrer Organisationen. Das Jahr 1977 markierte zugleich den Zenit der maoistischen Gruppen als auch den Wendepunkt ihrer Entwicklung." (S.160)

Das Wertvolle an Arps' Buch ist allem voran - wie schon erwähnt -, dass er, trotz des Verweises auf manche "Skurrilitäten" (S.71), deren es ja auch durchaus nicht wenige gab - z.B. die albern geschichtslose 1920er Jahre KPD-Maskerade - seinen Gegenstand ernst nimmt. Erst so kann ja überhaupt erst eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Geschichte stattfinden. Überrascht hat mich lediglich, dass Arps, der immer wieder auf Einflüsse aus Italien hinweist, das Geschehen in Frankreich nicht berücksichtigt, obwohl doch dort z.B. mit der "Gauche Prolétarienne" Anfang der 1970er Jahre eine nicht unbedeutende maoistische Gruppe existierte, mit Daniel Cohn-Bendit ein zentraler Akteur des Pariser Mai '68 nach Deutschland übergesiedelt war und mit Foucault und Deleuze Autoren ins öffentliche Leben intervenierten, die sowohl für die französische als auch die italienische Debatte der Linken recht wichtig waren. Ob schließlich die Fragen und Probleme, auf die Arps im Lauf des Buches immer wieder hinweist, letztlich - wie er es nahe legt - an eine bestimmte Phase der kapitalistischen Produktionsweise gebunden waren, und heute alles neu zu überdenken ist, erscheint mir fraglich. Denn wenn sicherlich immer wieder gedacht und überdacht werden muss, so scheinen meines Erachtens gewisse "ewige Fragen" der emanzipatorischen Bewegung innerhalb kapitalistischer Gesellschaften zu existieren: z.B. zur Art und Weise der Gewerkschaftsarbeit, zur Parteiform oder zur Avantgardeproblematik. Sämtliche dieser Fragen begleiten die sozialistischen Strömungen seit ihren Anfängend werden uns wohl auch nicht so schnell verlassen.

Zu Recht betont Arps selbst noch einen wichtigen Punkt, an dem festzuhalten sei: der "Frage nach einer Verbindung von radikaler Kritik und Arbeitsalltag" (S.9). Die Art und Weise, wie sie die hier verhandelten Strömungen Anfang der 1970er Jahre beantworteten, nämlich mit dem Ins-Volk-Gehen, das für uns "heute kaum vorstellbar" ist (S.7), sollte jedenfalls, statt gelehrter Arroganz, vielleicht eher Anlass dazu sein, über unsere Unterlassungen zu reflektieren.


Literatur:

Bakunin, Michael (1869): Einige Worte an meine jungen Brüder in Russland, in: ders./Serge Netschajew. Worte an die Jugend/Prinzipien der Revolution. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1984. S.29-39.

Bakunin, Wolfgang (1872): An die Genossen der Föderation internationaler Sektionen des Jura (Auszug), in: Wolfgang Eckhardt. Michael Bakunin. Konflikt mit Marx. Teil 2: Texte und Briefe ab 1871. Berlin: Karin Kramer Verlag, 2011. S.728-738.

Brupbacher, Fritz (1935): 60 Jahre Ketzer. Selbstbiographie. Zürich: Verlagsgenossenschaft, 1973.

Harich, Wolfgang (1970): Nachtrag 1970, in: ders. Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechnung mit dem alten und dem neuen Anarchismus. Berlin: Verlag 8.Mai, 1998. S.137-149.

Kropotkin, Peter (1881): An die jungen Leute, in: ders. Worte eines Rebellen. Reinbek: Rowohlt Verlag, 1972. S.33-52.

Negt, Oskar (2010): Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Göttingen: Steidl Verlag.

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Buchbesprechung von Torsten Bewernitz

Hoffrogge, Ralf: Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914

Stuttgart: Schmetterling-Verlag 2011, 216 Seiten, Euro 10,-


The Future is unwritten... aber die Geschichte ist noch nicht vorbei.

Wer Einführungsbände schreiben möchte, hat grundsätzlich ein erstes Problem: Er/sie muss das Thema einschränken. Als Rezensent steht man vor ganz ähnlichen Problemen. Anders als bei wissenschaftlichen Untersuchungen, deren Plausibilität man einer kritischen Überprüfung unterwerfen kann oder theoretischen Entwürfen, die man der selbst bevorzugten Theorie entsprechend beurteilen kann, muss man in so einem Fall selber über ein gewisses Faktenwissen verfügen, um die Vollständigkeit der Einführung zu prüfen und sich zweitens davor hüten, nicht lediglich die in der Einführung genannten Fakten erneut aufzuzählen, denn das würde eine Rezension doch recht dröge erscheinen lassen.

Im Falle von Ralf Hoffrogges Einführung in die Geschichte des "Sozialismus und der Arbeiterbewegung in Deutschland" bis 1914, erschienen in der verdienstvollen Reihe theorie.org des Schmetterling-Verlags, ergibt sich die Einschränkung durch eben die zeitliche Begrenzung wie auch durch die Ineinssetzung von "Sozialismus" und "Arbeiterbewegung".

Letztlich konnte Hoffrogge sein Projekt auf eine ganz einfache und ebenso sinnvolle Art einschränken: Die Auswahl der Themen, die ausführlich behandelt werden, liegt nämlich schlicht darin begründet, was für eine im weitesten Sinne sozialistische Bewegung heute noch Thema ist bzw. sogar das Interesse in den sozialen Bewegungen dominiert. Das erklärt sowohl die besondere Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen (S. 90-98) und in diesem Sinne auch der Homosexualität (S. 117-120) oder die Behandlung der sozialdemokratischen Positionierung zum Kolonialismus und Antisemitismus (S. 162-189),die mit dem Thema Antirassismus harmoniert, aber auch die Aufmerksamkeit, die dem Thema Alkohol gewidmet wird (S. 106-113) und nicht zuletzt die Hervorhebung der Aspekte einer "anderen Arbeiterbewegung" (S. 102-106) und des Anarchismus (S. 127-141), die sicherlich auch einem neu erwachenden Interesse an operaistischen und syndikalistischen Konzepten zu verdanken sind.

Hoffrogges Einführung erscheint genau richtig zu dem 150jährigen Jubiläum des von Ferdinand Lassalle 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), das allgemein, wenn auch vielleicht zu Unrecht, als Gründungstermin der Arbeiterbewegung (in Deutschland) gilt. Auch der Autor stimmt nicht mit der These überein, dass die Gründung des ADAV die Gründung der Arbeiterbewegung war. Zuerst fällt einem diesbezüglich schon das Datum 1848 ein, die bürgerliche deutsche Revolution, die eben zwar bürgerlich war, aber dennoch auch ein Signal für die Arbeiterbewegung, wie u.a. an der Publikation des Manifests der kommunistischen Partei Deutschlands durch Karl Marx und Friedrich Engels deutlich wird. Hoffrogge geht sogar soweit, dass er in den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts einen Vorläufer der Arbeiterbewegung sieht (S. 17-19). Die These ist, zumindest für den philosophischen bis ideologischen Background der sozialistischen Bewegung, gar nicht so weit hergeholt. Moses Hess beruft sich noch in seiner "heiligen Geschichte der Menschheit" von 1837 auf ein zu schaffendes "neues Jerusalem", wie es schon die Täufer 300 Jahre zuvor erbauen wollten. In dieser Tradition ist Hess zu dieser Zeit dem Utopismus der Frühsozialisten zuzuordnen, als erste deutschsprachige programmatische Schrift des Sozialismus war die "heilige Geschichte" jedoch auch Inspiration für das kommunistische Manifest.

Die Veröffentlichung des kommunistischen Manifests ist allerdings zuerst von geringer Bedeutung für die entstehende Arbeiterbewegung, wie nahezu alles, was aus Marxscher Feder stammt. Die Fakten dazu sind sattsam bekannt, es lohnt sich dennoch, sie noch einmal zu wiederholen, da sie in ideologischen Debatten vielfach schlicht ausgeklammert werden: Der Haupteinfluss auf die junge Arbeiterbewegung war eben jener Ferdinand Lassalle, der Gründer des ADAV, um den es einen Personenkult gab, der mit einem heutigen Ché Guevara-Kult durchaus vergleichbar ist. Lassalles Programm aber war im meisten purer Reformismus, der sich einerseits auf das Wahlrecht konzentrierte und andererseits auf die Gründung von Produktivgenossenschaften mit Hilfe des Staates (S. 65). Lassalles Programm hatte nicht nur kaum etwas Revolutionäres, er war darüber hinaus auch kein Freund von Gewerkschaften. Lassalle hatte das "eherne Lohngesetz" formuliert, nachdem gewerkschaftliche Aktionen für höhere Löhne schlicht irrelevant seien (S. 64). Vor allem aber wurde der Staat in keiner Weise in Frage gestellt.

Das "Manifest" begann erst ein gutes Vierteljahrhundert später seine Karriere, als es 1872 als Beweismittel im Hochverratsprozess gegen August Bebel und Wilhelm Liebknecht fungierte und dadurch erstmals größere Verbreitung erlangte (S. 77). Aber erst nach Marx Tod 1883 wurde aus seinen Schriften das System gemacht, das als "Marxismus" bekannt wurde, eine Hegemonie in der Arbeiterbewegung erlangte und hauptsächlich von den Interpretationen und Publikationen Friedrich Engels und Karl Kautskys geprägt war. Eine besondere Rolle schreibt Hoffrogge dabei Engels"Anti-Dühring" zu, da dieses Werk nicht nur die Marxschen Gedanken popularisierte, sondern auch den antisemitischen Theorien Eugen Dührings einen Riegel vorschob (S. 89). Der "Anti-Dühring" hatte allerdings auch entscheidende Nachteile, die die Arbeiterbewegung in Zukunft prägen sollten: Engels präsentierte hier den Materialismus als "Wissenschaft" und dem Zeitgeist entsprechend konstruierte diese "Wissenschaft" einen notwendigen Fortschritt in Parallele zur popularisierten Evolutionstheorie Darwins. Daraus ergaben sich im weiteren Verlaufe der Geschichte eine martialische Siegesgewissheit, die bis in die jüngste Vergangenheit anhält ("Die letzte Schlacht gewinnen wir") wie auch der sozialdemokratische Attentismus, die rein abwartende Haltung, die sich der vermeintlichen Tatsache bewusst war, dass der Kommunismus zwangsläufig kommen musste - gerade aus der vermeintlichen Verwissenschaftlichung ergab sich also eine neue quasireligiöse Heilserwartung, die es im Übrigen insbesondere war, die von Anarchist_innen als "Marxismus" kritisiert wurde. "Wendet man die marxistischen Methoden auf die Geschichte des Marxismus selbst an, so ergibt sich die [erspektive: Die evolutionäre Lesart des sozialdemokratischen Marxismus war ein Produkt der historischen Lage der wilhelminischen SPD" schließt Hoffrogge (S. 195). Der "wissenschaftliche Sozialismus" - und, so muss man anschließen, der "Marxismus-Leninismus" in Russland und der späteren Sowjetunion sind in dieser Sichtweise also die den Verhältnissen entsprechenden Ideologien. Insofern tritt Ralf Hoffrogge zu einer Ehrenrettung Marx, indem er dessen Positionen vom späteren Szientismus der sozialistischen Bewegung trennt. In gewissem Sinne ist Hoffrogges Einführung aber auch eine Ehrenrettung des "Marxismus" - oder sagen wir, der Sozialdemokratie - vor heutiger linker und linksradikaler Kritik. Exemplarisch wird im Erfurter Programm der SPD von 1891 deutlich, dass die Sozialdemokratie der Jahrhundertwende den Linken des ausgehenden 20. Jahrhunderts teilweise weit voraus war: "Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, eine Geschlecht oder eine Rasse"(S. 117). So endet dieses Programm und jede Debatte um Haupt- oder Nebenwidersprüche erübrigte sich.

Es ist auch als antiauoritäre, anarchistische oder libertäre Linke keineswegs eine Schande, sich auf die gemeinsame Geschichte mit der Sozialdemokratie zu berufen, dies impliziert ja weder Ähnlichkeiten mit der heutigen Sozialdemokratie noch, dass es nicht auch seinerzeit schon Differenzen in der Arbeiterbewegung gegeben hätte. In seiner Rezension des Buches in der Graswurzelrevolution Nr 365 (Jan. 2012) hat Ismail Küpeli kritisiert, dass bei Ralf Hoffrogge der Anarchismus nur als "Ableitung" aus der organisierten Arbeiterbewegung auftauche und damit die Eigenständigkeit des Anarchismus relativiert werde. Hier würde ich den gegenteiligen Schluss ziehen: Es ist gerade ein Verdienst Hoffrogges Arbeit, dass er den Anarchismus nicht als eigene Strömung darstellt, sondern als integralen Bestandteil der Arbeiterbewegung. Wäre Hoffrogge so vorgegangen, wie Küpeli vorschlägt, hätte dies wahrscheinlich (zu Recht) die Kritik ausgelöst, dass die anarchistische Tradition in der Arbeiterbewegung mal wieder verschwiegen worden wäre. So aber bekommt er seinen Platz gleichberechtigt neben Sozialdemokratie und Marxismus.

Ob man von einem eigenständigen Anarchismus oder von einer anarchistischen Strömung in der Arbeiterbewegung ausgeht, liegt sicher auch an der Auffassung, was unter dieser Bewegung zu verstehen ist. Eine weitere Auffassung gemeindet hier z.B. Pierre-Joseph Proudhon und Max Stirner als freiheitliche und sozialistische Denker ein, während etwa Lucien van der Walt und Michael Schmidt ganz klar - und dies nicht nur eurozentrisch, sondern basierend auf einer Erforschung des globalen Anarchismus - konstatieren: "The anarchist movement only emerged in the 1860s, and then as a wing of the modern labour and socialist movement". Es mag vorher einige Denker gegeben haben, die libertäre Aspekte betonten, aber als Bewegung war der Anarchismus Teil der Arbeiterbewegung. Und insbesondere in Deutschland war er selbstverständlich auch lange Teil der Sozialdemokratie: Koryphäen des Anarchismus (wenn es denn so etwas überhaupt geben kann) wie etwa Johann Most, Rudolf Rocker oder auch Fritz Kater entstammten dieser sozialdemokratischen Tradition. Die Entwicklung einer - später - syndikalistischen Gewerkschaft, der FVdG (Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften), aus der dann 1919 die anarchosyndikalistische FAUD (Freie Arbeiter-Union Deutschlands) werden sollte, basierte auf einem innergewerkschaftlichen Streit zwischen Zentralisten und Föderalisten. Besonders interessant ist dabei ein Aspekt, den Ralf Hoffrogge eher so nebenbei erwähnt: Die Sozialdemokratie präsentierte sich immer in trauter Einigkeit - eingedenk des sicherlich nicht ganz falschen Diktums, das eine schlagkräftige Arbeiterklasse eine Einheitsorganisation brauche (ein Argumentationsmuster übrigens, das man heute in Diskussionen um die Tarifautonomie häufig immer noch findet) - der Preis dafür war jedoch einerseits eine reine "Resolutionseinheit" und andererseits Parteiausschlüsse, die nicht als Spaltungen benannt wurden, sondern schlicht totgeschwiegen wurden - im Falle Johann Mosts ebenso wie bei den Jungen und den Lokalisten, den Kernen des späteren Anarchosyndikalismus. Der Anarchismus als selbstständiger Teil der Arbeiterbewegung musste damit nahezu totgeschwiegen oder aber massiv diskreditiert werden, um diese Einheitsrhetorik aufrechtzuerhalten. Diese Form der "Parteidisziplin" wurde dann innerhalb der Partei erstmals von Rosa Luxemburg aufgebrochen (S. 191). Es mag dogmatischeren Anarchist_innen (ein Widerspruch in sich) nicht gefallen, aber hier offenbaren sich Parallelen zwischen Rosa Luxemburg und den früheren Parteiabspaltungen. Die Differenzen zwischen Luxemburgs Denken und dem Anarchismus sind zu einem großen Teil (wenn auch nicht nur) dem sozialdemokratischen Zerrbild des Anarchismus zu verdanken.

Die Integration des Anarchismus sowohl in eine sozialistische wie auch in eine Arbeiterbewegungs-Geschichtsschreibung erscheint insofern sinnvoll und ist sogar dankenswert. In Frage zu stellen ist vielmehr, ob es überhaupt statthaft ist, die Geschichte der Arbeiterbewegung und die des Sozialismus dermaßen in Eins zu setzen. Durch die Engführung auf den Begriff "Sozialismus" - die deswegen statthaft ist, weil das Buch entsprechend benannt ist - fällt ein großer und relevanter Zweig der Arbeiterbewegung komplett durch das Raster, nämlich die religiöse. Diese sowohl damals reale wie auch heutige theoretische Ausgrenzung war und ist ein wesentliches Problem der Arbeiterbewegung. Das betrifft die Gründung zahlreicher Gewerkschaften seit den 1880er Jahren, die Beteiligung dieser christlich orientierten Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen an dem Bergarbeiterstreik 1889 (wo der katholische Einfluss allerdings Erwähnung findet, S. 101) und in den offiziellen Verlautbarungen - von Kettleres Hirtenbrief "Arbeiterfrage und Christentum" 1864 bis zur päpstlichen Rerum Novarum von 1891. "Arbeiterfrage und Christentum" war eine direkte Reaktion auf die Programmatik Ferdinand Lassalles, die einige inhaltliche Ähnlichkeiten aufweist, vor allem bezüglich eines Aspekts, der die zweite große Auslassung in der Einführung, die sich nicht durch den Titel entschuldigen lässt, markiert: Das Genossenschaftswesen. Dieses, von der Sozialdemokratie 1910 auf dem Magdeburger Parteitag offiziell als "dritte Säule" anerkannt, spielte durchgehend eine wesentliche Rolle in der gesamten Arbeiterbewegung.

Die Auslassung geht damit einher, dass sich Hoffrogges Einführung mehrheitlich auf die politischen Prozesse konzentriert. Auch die Kultur- und Sportbewegung der Arbeiterschaft findet kaum Erwähnung. Das ist aufgrund der Vielfältigkeit derselben auch kaum zu leisten, wäre aber nichtsdestotrotz von Relevanz gewesen und wird in der Beschreibung der Weimarer Republik noch an Relevanz gewinnen.

Ralf Hoffrogge ist sich dieser Relevanz der Kultur allerdings durchaus bewusst: Es ist heute kaum noch nachvollziehbar, aber in Zeiten, in denen einem Politiker_innen und Medien beständig mit Parallelgesellschaften im Ohr liegen, muss betont werden, dass die Arbeiterbewegung mit ihren eigenen Produktions- und Konsumorganisationen wie mit ihren Kultur- und Sportvereinen eine hoch ausgeprägte Parallelgesellschaft war, "ein fast abgeschottetes Gegenmilieu", wie Hoffrogge es ausdrückt (S. 194). Im sozialhistorischen Sinne spielt die Kultur der Arbeiter_innen auch insofern eine Rolle, als dass Hoffrogge sich in einem Exkurs mit der These Karl Heinz Roths von der "anderen Arbeiterbewegung" auseinandersetzt (S. 102-106).

Eingedenk der obigen Anmerkung, dass sich Hoffrogges Themenwahl an heutigen thematischen Schwerpunkten der sozialen Bewegungen orientiert, wären die Themen Kultur und Genossenschaften ebenfalls eine genauere Betrachtung wert gewesen. Das Thema der Genossenschaften, das sich dann in der deutschen Revolution 1919 als Sozialisierungsdebatte fortsetzen wird und somit auch ziemlich direkt mit der Rätediskussion verquickt ist, taucht momentan in den Diskussionen um eine solidarische Ökonomie, um Commons und Allmende mit Nachdruck - auch als Reflex auf die Krise - wieder auf. Die Geschichte der Arbeiterbewegungskultur (die tunlichst nicht mit einer "Arbeiterkultur" verwechselt werden sollte!) als Gegenkultur (zu der die Genossenschaften freilich auch gehören) lässt sich sehr plausibel mit den Fragen nach einer Gegenoder Subkultur seit Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen verbinden.

Ein Kritikpunkt, der eigentlich nichts mit dem im Buch Geschriebenen zu tun hat, muss abschließend noch erwähnt werden: Ralf Hoffrogges durchweg lesenswerte Einführung endet 1914 mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dass es jetzt erst richtig spannend wird, weiß auch er, ein zweiter Band ist in Vorbereitung. Allerdings soll dieser 1933 enden. Das ist schon deswegen problematisch, weil es die Mythen nährt, dass erstens die Arbeiterbewegung vom Nationalsozialismus endgültig zerschlagen worden sei und zweitens die Arbeiterbewegung an einem dubiosen historischen Auftrag, den Faschismus zu verhindern, gescheitert sei. Ausgeblendet wird so nicht nur der spezifische Arbeiterwiderstand im Nationalsozialismus - neben dem organisierten anarchistischen, kommunistischen, sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen auch der Alltagswiderstand in Streiks! - sondern vor allem die verschüttete Nachkriegsgeschichte der Arbeiterbewegung. Dass es diese gab, weiß Ralf Hoffrogge sehr wohl, denn im Laufe seiner Ausführungen verweist er immer wieder auf diese. Lässt man die Geschichte der Arbeiterbewegung - wie auch des Sozialismus - 1933 enden, dann interpetiert man trotz inhaltlicher Spaltungen die Arbeiterbewegung als politisch und kulturell einigermaßen homogen. Zum 150. Gründungstag des ADAV wird 2013 in Mannheim die badenwürttembergische Landesausstellung zur Geschichte der Arbeiterbewegung zu sehen sein - den vorläufigen Schlusspunkt setzt sie 2013. Es ist insofern dringend angeraten, einen dritten Band folgen zu lassen.

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Buchbesprechung von Werner Hörtner

Gerhard Klas: Die Mikrofinanz-Industrie Die große Illusion oder das Geschäft mit der Arbeit

Hamburg: Verlag Assoziation A 2011, 320 Seiten, Euro 19,80

Die Kreditprogramme der Grameen-Bank von Nobelpreisträger Muhammad Yunus aus Bangladesch dienen weltweit hunderten von Organisationen der Mikrofinanz-Branche als Modell. "Mikrofinanz ist eine Erfolgsgeschichte", geben die Verteidiger dieser Idee der Armutsbekämpfung, allen voran natürlich Yunus selbst, unaufhörlich von sich. Mikrokreditprogramme haben sich in den letzten Jahren in der ganzen Welt, selbst in Europa und den USA, zu einer viel gepriesenen Methode entwickelt, um Arme in prosperierende Kleinstunternehmer zu verwandeln. Auch die staatliche Entwicklungspolitik ist auf dieses Pferd aufgesprungen. Mehr als die Hälfte aller Mikrokredite werden in Südasien vergeben. Die Bilder von glücklich lächelnden Kreditunternehmerinnen in bunten Saris gingen und gehen um die ganze Welt - Hillary Clinton und Nicolas Sarkozy und viele andere Politiker der wohlhabenden Welt verteidigen das System der Kleinstkredite als erfolgreiche Empowerment-Maßnahme. 2005 wurde von der UNO als Jahr der Mikrokredite ausgerufen, und im Jahr darauf erhielt der Mikrofinanz-Guru Yunus den Friedensnobelpreis.

"Wir sind mittlerweile seit mehr als zehn Jahren in der Mikrofinanzierung aktiv. Durch unsere Mikrokredite leisten wir langfristige Hilfe zur Selbsthilfe. Wir haben mehr als zwei Millionen Menschen dabei unterstützt, den Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Armut zu durchbrechen und sich eine eigene Existenz aufzubauen. Wir meinen es also ernst mit unserem nachhaltigen Handeln und gesellschaftlicher Verantwortung."

Diese aufbauenden, hoffnungsvoll stimmenden Sätze stammen von einem der wichtigsten Männer der Geschäftswelt, von Josef Ackermann, dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank. Er ist einer der mächtigsten Vorkämpfer der Idee der Mikrokredite, die sich in der Finanzwelt unter dem Motto "Geld verdienen und Gutes tun" großer Beliebtheit erfreut.

Mittlerweile gibt es viele Tausend Institutionen, die die "Bekämpfung der Armut" als Geschäft entdeckt haben. Sie sind als Banken, als Nichtregierungsorganisationen oder als Fonds konstitutiert, einige sind sogar an die Börse gegangen. Dann gibt es noch, in viel geringerem Ausmaß, nicht-kommerzielle Akteure wie Oikocredit und Opportunity International.

Die Mikrofinanzindustrie ist eine ausgesprochen boomende Branche. Gegenwärtig sind etwa 60 Milliarden US$ als Mikrokredite im Umlauf, verteilt an zirka 100 Millionen Kunden. Nach Schätzungen der Deutschen Bank gehören eine Milliarde Menschen zum potenziellen Kundenstamm. Das Geld für die kommerziellen Mikrofinanz-Institutionen kommt von den Kapitalmärkten oder auch von der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit. Bangladesch, die Heimat von Muhammad Yunus und der Grameen-Bank, ist die Herzkammer der Mikrofinanz-Industrie. Beinahe ein Fünftel der 160 Millionen Einwohner sind Kunden bzw. Kundinnen bei einem Institut für Kleinstkredite. Der Autor Gerhard Klas geht ausführlich auf die Auswirkungen dieser Vormachtstellung auf das selbst postulierte Ziel der Armutsbekämpfung ein. Und er demontiert das vor allem in Europa und den USA gepflegte Bild von Muhammad Yunus als einem Visionär, der mit den Kleinstkrediten das weltweit erfolgreichste Instrument zur Bekämpfung der Armut entwickelt habe.

Mikrokredite sind Frauenpower, bedeuten Empowerment, die Frauen sind die verlässlichsten Rückzahler usw. - die Verteidiger dieser Form der "Armutsbekämpfung" - so gut wie ausschließlich Männer - werden nicht müde, diese Art des Frauenlobs lauthals zu verkünden. Und die Symbolfigur Yunus bezeichnet die Mikrokredite immer als Glücksbringer für die Frauen. Soziologische Untersuchungen in Bangladesch haben hingegen ergeben, dass Mikrokredite den Frauen die Hauptlast der Armutsbekämpfung aufbürden und dass sie ihre soziale und wirtschaftliche Entwicklung sogar behindern. Einen kritischeren Blick hat hier die deutsche feministische Politologin Christa Wichterich: "Die meisten Regierungen in den Zielländern sind gute Geschäftspartner. Sie haben die Mikrokreditprogramme freudig als Entlastungsprogramm übernommen, um sich aus der Verantwortung für soziale Aufgaben, Umverteilung und direkte Armutsbekämpfung zurückzuziehen und ein Gros der Verantwortung an die hochgradig motivierten Frauen und ihre sogenannte Eigeninitiative übergeben zu können."

Gerhard Klas geht auch ausführlich auf Yunus' Lieblingsidee vom 'Social Business', vom Sozialen Unternehmertum, ein. Soziales Unternehmertum meint, dass die Gewinne eines Produkts nicht als Dividenden ausgeschüttet, sondern in dessen Weiterentwicklung investiert werden. "Soziales Unternehmertum kann jeder. Es funktioniert sogar mit einem sehr kleinen Unternehmen. Mit Social Business können wir praktisch das ganze Problem der Arbeitslosigkeit lösen. Wir können den Menschen helfen, aus der Fürsorge herauszukommen. Niemand braucht mehr Sozialhilfe. Die Menschen können für sich selbst sorgen." Diese Vision verkündete Yunus auf einem weiteren Mikrokredit-Gipfel in Berlin Ende 2009. Im Unterschied zum Friedensnobelpreisträger meint allerdings der deutsche Journalist Klas nicht, dass die Mikrofinanz eine Revolution in der Entwicklungspolitik und der Armutsbekämpfung darstelle. Yunus' Zusammenarbeit mit Danone, mit BASF und mit dem Otto-Konzern habe keineswegs die propagierte Armutsreduktion gebracht. Für Gerhard Klas stehen Mikrokredite vielmehr im Widerspruch zu den Zielen, die sie erreichen wollen. Eine Befreiung aus der Armut wird es nur dann geben, wenn die Armen selbst die handelnden Subjekte sind, ist der Autor überzeugt.

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IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 31.5.2012,
Redaktionsschluss der Nr. 43: 30.8.2012,

Infos unter: www.grundrisse.net und unter redaktion@grundrisse.net

Ein Jahresabo kostet für 4 Nummern Euro 20,-, das 2-Jahres-Abo nur 35,- Euro!
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Medieninhaberin: Partei "grundrisse" Antonigasse 100/8, 1180 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Robert Foltin,
Stefan Junker, Minimol, Franz Naetar, Karl Reitter, Georg Wallner

Layout: Karl Reitter

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)

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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
winter 2011, nr. 42
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2012