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GRUNDRISSE/043: zeitschrift für linke theorie & debatte, herbst 2014


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte nr. 51, herbst 2014


INHALT

Redaktion:
Editorial
Call for Papers

Wolfgang Hien:
Leiblichkeit - eine ebenso elementare wie schwierige Kategorie einer kritischen Theorie des Subjekts

Gerhard Hanloser:
Rosa Luxemburg und wir

Karl Reitter:
Tabuthema 9/11 [21]

Robert Foltin:
Autonomer Antiimperialismus

Jürgen Arz:
Zur Entwicklung von Wissenschaft und Geschichtsphilosophie bei Marx

Sebastian Klauke:
Buchbesprechung: Lothar Peter: Marx an die Uni. Die Marburger Schule. Geschichte, Probleme, Akteure

Karl Reitter:
Buchbesprechung: Susann Witt-Stahl, Michael Sommer (Hg.): "Antifa heißt Luftangriff". Regression einer revolutionären Bewegung

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

wie manche bereits von der Ankündigung auf unsere Webseite (www.grundrisse.net) wissen, ist dies die vorletzte Ausgabe der grundrisse. Im Dezember dieses Jahres wird die letzte Nummer erscheinen, danach wird die Publikation eingestellt. Über die Gründe und Ursachen für diesen Schritt wird die letzte Ausgabe informierten; wir verweisen in diesem Zusammenhang auf den Call for Papers für die Nr. 52. Alle sind darin herzlich eingeladen, ihre Sichtweise der Entwicklung unserer Zeitschrift darzulegen. Ohne die ausführlichen Stellungnahmen aus dem Kreis der Redaktion und darüber hinaus vorwegzunehmen, wollen wir schon jetzt einige Gründe anführen. Nach dreizehn Jahren Redaktionstätigkeit, nach der Diskussion von geschätzten sechshundert Artikeln von über zweihundert AutorInnen ist eine gewisse Erschöpfung eingetreten - irgendwie ist die Luft draußen. Zudem ist es uns nicht gelungen, die Redaktion zu verjüngen und weibliche Redakteurinnen (erneut) einzubeziehen. Über weitere Gründe und Hintergründe wollen wir euch, wie gesagt, in der letzten Ausgabe aus den verschiedensten Perspektiven und Positionen, informieren. Der grundrisse Kreis wird sich jedoch keineswegs auflösen. Wir planen erstmals monatliche Jour fixe. Jeden zweiten Montag im Monat erfolgt ein derartiges Treffen ab 19 Uhr im Amerlinghaus. Wir werden einen Blog einrichten, auf dem wir Thema und eventuelle ReferentInnen bekannt geben. Die bisherige Webseite www.grundrisse.net bleibt selbstverständlich bestehen. Ebenso planen wir die Wiederaufnahme unserer Sommerseminare, die wir nun schon seit längerer Zeit nicht mehr organisieren. Auch dazu wird es Informationen auf dem Blog geben.

Diese Aussage hat keinen Schwerpunkt sondern ihr findet Texte zu den unterschiedlichsten Themen. Wolfgang Hien beschäftigt sich in Leiblichkeit - eine ebenso elementare wie schwierige Kategorie einer kritischen Theorie des Subjekts mit den Wirkungen und Auswirkungen des kapitalistischen Verwertungsprozesses auf den Körper, die er mit philosophischen Theorien des Leibes verbindet und mit der Frage nach der Möglichkeit einer "Gemeinschaft freier Menschen" abschließt. Gerhard Hanloser diskutiert in Rosa Luxemburg und wir aktuelle Rezeptionen ihres Werkes, die oftmals hinter einer angemessenen und differenzierten Wiederaufnahme ihres Denkens zurückfallen. In Tabuthema 9/11 plädiert Karl Reitter für einen kritischen Umgang mit der offiziellen Version der Ereignisse, die angesichts vieler Fakten und Tatsachen als höchst unplausibel zu bezeichnen sei. Der Artikel Autonomer Antiimperialismus von Robert Foltin stellt einen Vorabdruck seines Kapitels eines Buchs zu autonomen Theorien dar, das in Kürze erscheinen wird. Es geht darin um die Theorie des Antiimperialismus, wie sie in der autonomen Szene vertreten wurde und wird. In Zur Entwicklung von Wissenschaft und Geschichtsphilosophie bei Marx legt Jürgen Arz eine akribisch dokumentierte Gesamtschau der Marxschen Philosophie anhand dessen intellektueller Entwicklung vor. Abgerundet wird diese Ausgabe durch zwei Buchbesprechungen: Sebastian Klauke bespricht das Buch Marx an die Uni. Die Marburger Schule von Lothar Peter; Karl Reitter den von Susann Witt-Stahl und Michael Sommer herausgegebene Sammelband "Antifa heißt Luftangriff". Regression einer revolutionären Bewegung.

Viel Freude bei der Lektüre wünscht euch die grundrisse Redaktion, die - versprochen - euch über neue Aktivitäten im kommenden Jahr rechtzeitig informieren wird.

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Call for Papers

Die Zeitschrift grundrisse wird Ende 2014 eingestellt. Wir wollen in der letzten Ausgabe nicht nur aus der Innenperspektive der Redaktion über Beweggründe und Überlegungen berichten, sondern freuen uns über Beiträge aus der Außenperspektive. Wie schätzt ihr die Entwicklung der grundrisse ein? Welche Beziehungen zwischen der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Dynamik und der Publikationstätigkeit einer Zeitschrift wie den grundrissen sind zu erkennen? Ist eine theoretisch so breit aufgestellte Zeitschrift wie die grundrisse der aktuellen Situation (noch) angemessen? Haben Tendenzen im akademischen Feld, also Publikationsdruck für jüngere KollegInnen, Peer-Review Wahn mit dem zwanglosen Zwang zur Anpassung an den Mainstream, negative Auswirkungen für linke theoretische Publizistik? Diese und ähnliche Fragen richten wir an alle, die unsere Publikationstätigkeit mit Interesse verfolgt haben. Texte, wohlwollende wie kritische, sind bis zum 3. November 2014 willkommen. Einfach als word-Datei (bitte ohne layout Schickschnack) bis 40.000 Zeichen an redaktion@grundrisse.net zu senden.

Die Redaktion der grundrisse

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Wolfgang Hien

Leiblichkeit - eine ebenso elementare wie schwierige Kategorie einer kritischen Theorie des Subjekts

Wer sich in kritisch-wissenschaftlicher Perspektive mit den Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen befasst, sieht sich in der Wissenschaftslandschaft schnell mit zahllosen Mauern und Fallgruben konfrontiert, vielen altbekannten, aber auch vielen neu platzierten, die immer wieder und teilweise völlig unverhofft umplatziert werden. Das macht unsicher und nicht selten sprachlos. Altbekannt ist die oftmals konfrontative Konstellation zwischen quantitativen und qualitativen Forschungsansätzen. Häufig bestätigt sich die These: Wer Angst hat, sich auf die Lebenswelten der Menschen einzulassen, misst und zählt alles, was mess- und zählbar ist. Solche Wissenschaft braucht keine Gesellschaftstheorie. Sie ist beliebt bei staatlichen Institutionen und staatsnahen Geldgebern, die dann nach freiem Belieben die Zahlen interpretieren und für ihre Zwecke nutzen können, zumal sie in der Regel die Maßeinheiten und Fragestellungen selbst vorgeben. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass auch quantitative Forschung nötig und nützlich ist. Doch es kommt auf die Kontextualisierung an. Gemeint ist damit eine Wissenschaft, die sich auf die Lebenswelten der Menschen einlässt. Was ist dabei so anders? Hier kommt mensch den Menschen nahe, hört den Menschen zu, beobachtet, versucht zu verstehen, kommuniziert und meldet zurück, entwickelt - möglichst gemeinsam mit ihnen - Handlungsansätze, aus Abhängigkeiten und zerstörerischen wie selbstzerstörerischen Verhältnissen herauszukommen. Eingebettet, kann Statistik und Epidemiologie sehr hilfreich sein. Entscheidend ist: Diese Art von Wissenschaft braucht einen gesellschaftstheoretisch und sozialphilosophisch inspirierten Hintergrund. Diese Art von Wissenschaft ist bei staatlichen und staatsnahen Institutionen wenig beliebt. Denn diese sind weder an kritischer Theorie, noch an Einblick in die wirklichen Lebenswelten interessiert. Das alles kennt man und frau im sogenannten Wissenschaftsbetrieb schon lange, und genau das macht den Unterschied zwischen affirmativer und kritischer Wissenschaft aus. Was in den letzten Jahren überrascht, ist der Umstand, dass auch innerhalb der sich kritisch verstehenden Wissenschaft Mauern und Fallgruben errichtet wurden, auf die mensch zunächst gar nicht gefasst war. Das hat nicht nur mit der sich etablierenden Frauen- und Genderforschung zu tun, sondern auch mit den darin sich festsetzenden Theoriesystemen, die sich zuweilen als neue Dogmatismen gebärden. So scheint sich der Dekonstruktivismus als gute Möglichkeit zu erweisen, insbesondere marxismusverdächtige Theorien aus der Wissenschaftslandschaft zu vertreiben.

Doch nicht nur Marxismus und Kritische Theorie, sondern auch Phänomenologie und Aufklärungsphilosophie insgesamt gelten als überholt. Sie werden als fundamentalistisch eingeschätzt, als große Erzählungen, d.h. als Theoriegebilde, welche die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mitverursacht oder gar legitimiert hätten. Selbst wenn darin ein Körnchen Wahrheit steckt, so ist dies nur ein Körnchen. Auf die Kritische Theorie jedenfalls können sich die Aufklärungsgegner nicht berufen. Max Horkheimer war, wie allen seinen Mitstreiter/innen, immer wichtig, am Postulat der Aufklärung festzuhalten, dem Menschen zu verhelfen, sich aus seiner Unmündigkeit zu befreien, ihnen zu verhelfen, autonome Menschen zu werden. Sicher: Über den Begriff der Autonomie muss diskutiert werden. Festzuhalten aber gilt: Dass Aufklärung in Form von vermessender, zurichtender und zerstörerischer Wissenschaft ins Gegenteil umgeschlagen, Aufklärung in Form von Wissenschaftsgläubigkeit zur Mythologie geworden ist, ist nicht der Aufklärung geschuldet, sondern dem herrschenden gesellschaftlichen Kontext, der die Aufklärung ins Menschenfeindliche verdreht. Wie also steht es um die Aufklärung? Seyla Benhabib fragt in ihrer Auseinandersetzung mit feministischen Theoretikerinnen erschrocken, ob es denn angezeigt sei, sich völlig von der Idee des autonomen Subjekts zu verabschieden, sie fragt, ob wir uns nur noch als ewig fragmentiert und dezentriert begreifen müssen, und wenn ja: wie unter diesen Bedingungen überhaupt noch politisches Handeln möglich sein soll.[1] Und die Wiener Sozialforscherin Esther Marian beklagt bitter ihre universitären Erfahrungen, nach denen alleine schon Fragen nach dem autonomen Subjekt, auch kritisch-nachdenkliche Rückfragen, als "völlig veraltet", als "theoretisch zurückgeblieben", denunziert werden.[2] Es geht nicht darum, die Kantsche Idee des autonomen, souveränen, kohärenten Subjekts in ihrer gleichsam ursprünglichen Form zu retten. Es ist dem Autor eher um die Frage Benhabibs zu tun, also darum, wie ein Ich im Kontext mit dem Anderen, trotz innerer Gespaltenheit, trotz innerer Widersprüchlichkeit, trotz eines Unbegreifens seines Selbst, dennoch ein handelndes und verantwortliches Ich werden kann. Diese Frage verweist entschieden auf die Frage der Leiblichkeit. Anhand dieser zu Unrecht vernachlässigten, oftmals missverstandenen und trivialisierten Kategorie soll im Folgenden versucht werde, die gestellten Fragen aufzugreifen und ein kritisches Konzept von Leiblichkeit und Subjektivität zu skizzieren.


Der Leib bei Marx, Nietzsche, Husserl, Merleau-Ponty

Der Begriff des Leibes im Unterschied zu dem des Körpers ist ein Spezifikum der deutschen Sprache. "Corpus" ermöglichte diese Unterscheidung im Wort selbst noch nicht, wobei aber, beispielsweise bei Baruch de Spinoza - in Abgrenzung und im Gegensatz zu René Descartes - der Leib nicht getrennt vom Bewusstsein, sondern als Einheit von Geist und Körper gesehen wird. Leib und Leiblichkeit haben sich im deutschen Idealismus als Vorstellung von einem beseelten, bewussten, wahrnehmenden und handelnden Körper einer menschlichen Persönlichkeit herausgebildet. Karl Marx benutzt den Begriff des Leibes völlig selbstverständlich, um ihn sowohl zur Natur zugehörig wie zugleich bewusst die Natur verändernd herauszustellen. Wenn der Mensch leben und überleben will, muss er in den Stoffwechselprozess mit der Natur eintreten. Er tut dies vermögens seiner "physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert"[3] Das Vermögen des Menschen zum Stoffwechselprozess mit der Natur bezeichnet Marx als Arbeitsvermögen oder Arbeitskraft, die, sobald sie im Rahmen des Verwertungsprozesses verkauft werden muss, den Menschen von sich selbst, seiner Leiblichkeit, seiner Sozialität und von der Natur entfremdet. Schon bei Marx spielt die Sozialität, d.h. die Tatsache, dass der Lebensprozess nur in Gemeinschaft mit anderen möglich ist, eine entscheidende Rolle. Indem der Kapitalismus und insbesondere der neoliberale Kapitalismus die Gemeinschaftlichkeit zu zerstören sucht, indem er uns Menschen gleichsam gegeneinander aufhetzt, werden die elementaren Grundlagen menschlichen Lebens wie der Natur insgesamt angegriffen und unterhöhlt. Die Arbeiterbewegung bzw. ihre führenden Theoretiker haben diese Zusammenhänge wenig beachtet und die Problematik des Kapitalismus ökonomistisch verkürzt. Die bürgerliche Sichtweise, Arbeiter und Arbeiterinnen nur als Arbeitsmaschinen wahrzunehmen, wurde unversehens reproduziert. Der Leib verkam zum Arbeitskörper. Freie Denker wie beispielsweise Paul Lafargue, aber auch Friedrich Nietzsche, haben der Leiblichkeit einen hohen Stellenwert beigemessen. "Am Leitfaden des Leibes" (Nietzsche) werden aus versklavten Menschen souveräne, handelnde und weltverändernde Persönlichkeiten, sofern ihr leibliches Leiden der Erkenntnis anmeldet, dass - wie es später einmal Theodor W. Adorno ausdrücken sollte - "Leiden nicht sein, dass es anders werden solle".[4] Auch wenn Nietzsche ein kranker bürgerlicher Philosoph gewesen ist, auch wenn seine Philosophie von reaktionären Eliten und von Nazis missbraucht wurde, auch wenn sie Ansatzpunkte für Missbrauch bot - sie überschreitet die bürgerlichen Gesellschafts- und Lebensvorstellungen meilenweit, ja: sie steht in vielen Punkten in völligem Gegensatz zu ihnen. Adorno, Foucault und viele andere haben das erkannt. Eine kritische Theorie des Subjekts ist ohne Nietzsche nicht zu denken.

Die Leiblichkeitsphilosophie hat - nach Nietzsche - entscheidende Impulse durch Edmund Husserl erhalten, dessen Wirken Ende des 19. Jahrhunderts begann.[5] Dem Mathematiker Husserl kamen Zweifel, ob die quantitative Vermessung, Beschreibung und Verplanung der Welt der Menschheit wirklich helfen würde. Zwar erkannte er den Zusammenhang zur quantitativen Wertbestimmung der kapitalistischen Warenproduktion und damit auch des Menschen nicht, doch er kam immer mehr zur Auffassung, dass Mathematisierung, Kategorisierung, und Schematisierung den Blick auf die Lebenswelt verstellen. Er wollte "zurück zu den Sachen", "zurück zu den Phänomen", und damit begründete er die Phänomenologie. Die Kritische Theorie, so beispielsweise Max Horkheimers "Kritik der instrumentellen Vernunft"[6] oder Herbert Marcuses Werk "Der eindimensionale Mensch"[7] sind stark von Husserl beeinflusst, ebenso wie - über viele Vermittlungsschritte - die Alternativbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Gegen die Zumutungen und Zurichtungen, gegen die Einzwängung des Menschen in vorgegebene Rollenmuster, war die Betonung der "Lebenswelt in ihren unendlichen Füllen" (Husserl)[8] geradezu befreiend. Ganz entscheidend für die Weiterentwicklung der Phänomenologie war der Existenzialismus, insbesondere derjenige Maurice Merleau-Pontys.[9] Hier verschmelzen Hegelsche Dialektik und materialistische, von Feuerbach und Marx beeinflusste Sichtweisen nicht nur mit Husserl und Heidegger, sondern auch mit dem damaligen Erkenntnisstand in Neurologie, Psychologie und Soziologie. Merlau-Ponty versuchte zu verstehen, wie Passivität und Aktivität, letztlich: ein "Zu-sich-kommen" der Menschen möglich ist. "Nicht die Wirtschaft oder die Gesellschaft, betrachtet als unpersönliche Mächte, qualifizieren mich als Proletarier, sondern die Gesellschaft und die Wirtschaft, so wie ich sie in mir selber trage und sie erlebe."[10] Das Subjekt erlebt die Gegebenheiten als "Fatum", das es zumeist erduldet, manchmal gestaltet, in bestimmten Situationen aber auch überwinden kann. Doch gilt auch hier: "Weder das Fatum, noch die es zerbrechende freie Tat sind eigens vorgestellt, sie sind in Zweideutigkeit erlebt".[11] Der Phänomenologie ist es darum zu tun, die Betrachtung der menschlichen Geschichte in den Kontext der stofflichen Welt zurückzuverlegen oder zurückzuholen, das heißt jene dahin zurückzubringen, worin diese sich real entwickelt und real verwickelt ist. Dieser Kontext wird negativ sichtbar in den Auswüchsen des kapitalgetriebenen physikalischen, chemischen und biotechnischen "Fortschritts", welcher das Leben von Millionen von Menschen zerstört hat - und hier wiederum in erster Linie das Leben von Arbeitern und Arbeiterinnen - und weiter zerstören wird, wenn dem nicht Widerstand entgegengesetzt wird. Der stoffliche Kontext aber ist im positiven Sinne, welcher der Widerständigkeit zugrunde liegt, ein sich im Mensch-Natur-Stoffwechselprozess herstellender Gebrauchswert-Kontext. Hier eröffnen sich Dimensionen, die Karl Heinz Roth als "Subjekt-Reste" und als "Nicht-Wert" bezeichnet.[12] Roth macht bewusst, dass es der Idee der Arbeiteremanzipation nie alleine um die Verteilung von Macht und Reichtum ging, sondern immer auch darum, der Gebrauchswertebene zu ihrem Recht zu verhelfen. In der emanzipatorischen Perspektive geht es um eine gebrauchswertorientierte Sozialität im Sinne einer weltweiten Befreiung aus körperlicher und geistiger Not und einer Transzendenz zu allseitiger Entfaltung des Menschen in seiner Vielgestaltigkeit. Der Vulgärmarxismus betrachtete den Menschen nur als Teil des kollektiven Arbeitskörpers, nicht oder nur selten als Wesen aus Fleisch und Blut mit Schmerz und Lust, als Individuum mit Ängsten, Träumen, Hoffnungen und Sehnsüchten. Der Vulgärmarxismus hypostasierte Kollektivität zum Generalmaßstab. Individualität galt nichts, ganz im Gegensatz zur Vision des Kommunistischen Manifestes, das "die freie Entwicklung eines jeden (zur) Bedingungen für die freie Entwicklung aller" machte. Gemeinschaft im emanzipatorischen, besser: im befreiten Sinne ist nur denkbar als Gemeinschaft freier Menschen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass nach den Gräueln des Stalinismus - beispielsweise in Paris, in Prag, in Budapest - sich marxistische Erneuerungsbewegungen bildeten, die sich deutliche Anleihen aus der bürgerlichen Philosophie, insbesondere der Phänomenologie, und der Psychoanalyse holten. Es ging und geht um eine kritische Theorie des Subjekts, und diese ist ohne eine kritische Theorie der Leiblichkeit nicht denkbar.

Der Leib ist Medium unserer Verankerung in der Welt und zugleich Medium unserer Welthabe und Weltveränderung. Der Leib ist wahrnehmbar, formbar, empfangend und zugleich wahrnehmend, gebend, formend und verändernd. Existenz begreift Merleau-Ponty als ein "Zur-Welt sein" (être-au-mond). Menschliche Existenz bedarf zugleich eines natürlichen, dem Körper nahekommenden, und kulturellen, schöpferischen Leibes. Leibhaftige Vernunft geht über den Gegensatz von Naturalismus und Rationalismus hinaus: Sie impliziert Initiative, Intentionalität und Transzendenz, d.h. eine Offenheit für die Welt. Sie verleiht dem sinnlich Wahrgenommenen kulturelle Bedeutungsgehalte, einen Überschuss an Sinn - immer mit der Begrenzung durch die materielle Gebundenheit ringend. Diese ambivalente Spannung macht die Uneindeutigkeit (ambiguité) aus, welcher der Mensch unweigerlich ausgesetzt ist und zugleich mit ihr in einer aktiven Weise umgehen muss. Nicht mehr die Trennung zwischen Körper und Geist, sondern die - den Dualismus überwindende aber höchst spannungsreiche - Ambiguität des Leibes ist für die Phänomenologie der Bezugspunkt praktischen alltagsweltlichen wie politischen, präventiven und therapeutischen Handelns. Der Leib-Körper-Gegensatz drückt - hier immer noch in der Sichtweise Merleau-Pontys - die Spannung aus zwischen dem, was mich trägt und dem, was mich belastet. Normalerweise fühlen und empfinden, sprechen und handeln wir mit Hilfe unseres Leibes, ohne diesen dabei zu bemerken. Situationen der Begrenzung - Müdigkeit, Krankheit, Alter, Sterben - machen uns schmerzlich klar, dass wir einen Leib haben. Solche Situationen "schieben das Medium in den Vordergrund und lassen die Welt in den Hintergrund treten".[13] Aber auch Situationen der Entrechtung, Entwürdigung und Beleidigung gehen durch unseren Leib hindurch und erzeugen Aufbegehren und Wut. Den Rationalisten sei ins Buch geschrieben: Die Verschlungenheit unseres Denkens mit unserer Materialität und Animalität stößt unablässig die Vernunft an ihre Grenzen und über ihre Grenzen hinaus.[14]


Leiblichkeit und Biographie unter Lohnarbeitsbedingungen

Leiblichkeit als kritisch-philosophische Reflexion des Leibes besitzt eine biographietheoretische Dimension. Es gibt einen Zusammenhang von erlebten Belastungen und Ressourcen, von erlebter persönlicher Geschichte und dem leiblichen Befinden, Gesundheit und Krankheit. Biographie ist erfahrene, erlebte, gedeutete Lebensgeschichte, ist Ergebnis eines umfassenden Stoffwechsels des Menschen mit seinen materiellen, sozialen und kulturellen Umwelten. Die Bremer Biographieforscherin Annelie Keil schreibt: "Biographie entsteht, indem wir leben und uns leibhaftig entwickeln, uns anpassen und Widerstand leisten, Zugriffe auf Zukunft wagen und gleichzeitig die Not, auf das Vorhandene zu antworten, aushalten. Im Auferlegten beginnt die Freiheit wie die Erfindung des Lebens. Insoweit ist Biographie die schwierige Antwort auf die Provokation, die Leben heißt. Sie entsteht aus der Offenheit der Zukunft und versucht die leibhaftige Geschichte jedes einzelnen Menschen zu schreiben."[15] Symptome sagen etwas über den so gewordenen Zustand, über lange verleugnete Belastungen, über lange verdrängte Lebensimpulse; und auch der Zeitpunkt sagt etwas über die Konflikt-Konstellation, in der die jeweilige Lebensgeschichte steckt. Ähnlich wie Husserl versucht Merleau-Ponty ein Programm zu postulieren, wissenschaftliches Denken zurückzubeziehen auf den Boden lebendiger Erfahrung, auf die Lebenswelt, der es ursprünglich entspringt. Doch im Unterschied zu Husserl nimmt Merleau-Ponty die Leiblichkeit selbst nicht wieder zurück in ein wie auch immer geartetes transzendentales Ego, weil die Genesis des Ich nie "vollendet" ist, sondern immer im Medium naturhafter und sozialer Kontexte verbleibt. Zugleich ist der Leib selbst "gleichsam eine vorläufige Skizze meines ganzen Seins",[16] eines Seins in Sozialität. Bei Merleau-Ponty ist Transzendenz immer auf Gesellschaft gerichtet.

Doch Gesellschaft ist ein In-sich-Widersprüchliches, Leid-Erzeugendes.[17] Und so schließt sich die Frage an: Warum gehen Menschen nicht in den Widerstand, sondern passen sich - das ist ja historisch leider die Regel - den lebensfeindlichen Verhältnissen an? Warum erleiden sie statt zu kämpfen? Warum bleiben sie in der Isolation, statt sich ihrer Gemeinschaftlichkeit, ihrem Mitsein, zu erinnern? Warum ertragen sie so oft Erniedrigung, Schmerz, arbeits- und berufsbedingte Krankheit und frühen Tod? Entscheidend ist hier der Zwang, sich in Lohnarbeit verdingen oder sich in (Schein-)Selbständigkeit dem gnadenlosen Markt aussetzen zu müssen. Um im realen Arbeitsprozess standhalten zu können, muss ich mir einen Körperpanzer zulegen. Wilhelm Reich kommt das Verdienst zu, diesen Zusammenhang erkannt zu haben. Und es ist nicht nur der faschistische Kontext, es ist der kapitalistische Kontext schlechthin, der den arbeitenden Menschen zwingt, sich zu verpanzern, um sein Ich vor dem Fragmentieren und Zusammenbrechen zu bewahren.[18] Dem "maschinisierten Leib", so Klaus Theweleit, entspringt die Notwendigkeit, "das eigene Menschliche, das Es, die Produktivkraft des Unbewussten, in sich zu beherrschen". Und weiter: "Das eingeschlossene Innere transformiert der Panzer zum Treibstoff seiner Geschwindigkeit, oder aber: Er schleudert es aus sich heraus. Als ihn dann Äußeres kann er es bekämpfen ...."[19] Wir beobachten aber auch eine andere Art und Weise der Panzerung: Das Sich-nach-außen-Abdichten, die somatische und emotionale Einigelung, die Abkühlung, ja: das Einfrieren - ein Prozess, der mit dem Begriff der Depersonalisation bezeichnet werden kann. Die Betroffenen spüren weniger Schmerz, sie ertragen - zumindest eine gewisse Zeit - belastende Verhältnisse besser. In der Konsequenz werden die Betroffenen gefühllos gegen sich und andere, sie empfinden weder Freude noch Trauer, sie treten gleichsam aus ihrem Leib heraus. Die Art von Panzerung kann als ein Kaltwerden verstanden werden, eine Kälte, die der Person die Härte verleiht, rücksichtslos gegen sich und andere einen als notwendig erachteten Weg zu gehen. Je entfremdeter, je menschenfeindlicher die Verhältnisse sind, desto kälter, härter und rücksichtsloser muss man werden. In unseren Forschungen zum Lebensschicksal ehemaliger Werftarbeiter in Bremen[20] - 10 Jahre nach der Schließung der letzten Großwerft, des Bremer Vulkan - haben wir auch diesen Typus der "Durchhalters", des "Sich-Durchbeißenden" gefunden. Die Betroffenen haben die Fähigkeit entwickelt, ihre Schmerzen, ihre Erschöpfung und ihre Krankheiten jahrelang zu verleugnen und Symptome zu unterdrücken. Ihr Körper arbeitet weiter, maschinenhaft, bis zum völligen Zusammenbruch. Gleich welche Art von Panzerung sich der Mensch antut: Der Leibkörper wird hinsichtlich Wahrnehmung und Empfindung "kaltgestellt", wird unempfindlich gemacht, wird anästhesiert. Doch der gepanzerte Körper wird krank, somatisch oder psychisch oder beides, und irgendwann, früher oder später, bricht diese Krankheit durch den Panzer hindurch.

Krankheit ist eine Form der Selbstkritik, die ans Licht bringt, was einem gesunden Leben noch fehlte oder die Gesundheit zu ihrem Lebensentwurf bräuchte. Insofern ist Krankheit - biographisch gesehen - auf die Kritik der Verhältnisse gerichtet, die dieses Leiden erzeugen - die Verhältnisse in uns und in der Welt, die uns umgibt. In Krankheit drückt sich nicht nur die leibhafte Rebellion gegen gesellschaftliche Inhumanität aus, sondern auch das Blochsche Noch-Nicht, das zur Wirklichkeit drängt und an ihr verzweifelt. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen, sagt Adorno, doch erst die Ahnung des Utopischen verleiht dem beschädigten Leben Sinn, nämlich den, das Falsche, das Ungelebte, zu erkennen und es - wie kindhaft auch immer - gegenüber der Gesellschaft einzuklagen. In seinem Kampf um Anerkennung durchlebt der so Zu-sich-kommende noch einmal, anders, korrigierend, seine Geschichte. Spürt der Betroffene, dass er gescheitert ist, tut er - und dies ist in der Tat ein sehr "männliches" Problem - sich schwer, über den Kern seines Scheitern oder seiner Schwierigkeiten zu sprechen. Die Rede darüber bleibt ihm "im Halse" stecken, eher überkommt ihn diffuse Verzweiflung, Wut, Hass. In seinem Leib aber ist der biographische Verlauf "eingeschrieben". In der Leibhaftigkeit kristallisiert sich die Widersprüchlichkeit des Lebens: Der Überschuss an vermeintlichem Sinn wird gebrochen durch einen Überschuss an Realität, der nicht nur jede Intention hinter dem Gegebenen zurückbleiben lässt, sondern auch den "ursprünglichen" Sinn überformt, gravierend verändert, vielleicht sogar - aus dem Leiden heraus - völlig neu erschafft, als Figur der Klage und Anklage, nicht selten als Figur von Schuld und Sühne. In der Grenzsituation des Ausgeliefertseins "fällt uns die Wirklichkeit ins Wort". Wir erfahren den eigenen Leib in seiner körperlichen Verletzlichkeit. In biographischer Perspektive erlebt der Betroffene einen elementaren Bruch, der einer Erschütterung gleichkommt. War ihm doch sein Leib, d.h. sein Vehikel des Zur-Welt-Seins, das "Instrument", auf das er sich verlassen, mit Hilfe dessen er sich auf ein bestimmtes Milieu einlassen, sich mit einem bestimmten Vorhaben identifizieren und sich darin beständig engagieren konnte. Nun ist das Milieu zum Feind, das einstige Vorhaben zum Gegenstand des Verzichts, der Entsagung und der schmerzhaften Erinnerung geworden. Und doch spürt der nun kranke Mensch, dass nicht nur blinder Zufall, nicht nur dunkles Schicksal, sondern auch eigenes Tun und Lassen zu diesem bitteren Ergebnis geführt haben - auch auf vertrackte Weise erklärlich, hat er sich doch in jüngeren Jahren stark und unverletzbar gefühlt. "Psychologische Motivation und körperliche Anlässe können sich miteinander verflechten, da es keine einzige leibliche Bewegung gibt, die einen absoluten Zufall darstellt gegenüber den psychischen Intentionen, und keinen einzigen psychischen Akt, der nicht wenigstens seinen Keim und seine allgemeinen Vorzeichnung gefunden hätte in den psychischen Dispositionen."[21] Dieser Gedankengang - biographietheoretisch interpretiert - erscheint vielschichtig und schillernd: Die doppelte "Vorzeichnung" in gesunden Jahren führt zu einer Überschätzung der leiblichen Ressourcen - doch sind da nicht immer auch Vorzeichen der Begrenzung, eigene, leiblich-körperlich wahrnehmbare, andere, kognitiv wahrnehmbare, aus der eigenen Familie, aus dem Kollegen- und Freundeskreis, Warnungen, die durchaus unter die Haut gehen aber doch nicht "wahr" genommen werden? "Ein Kranker", sagt Merleau-Ponty (ebenda), "fühlt in seinem Körper die Anwesenheit einer zweiten Person". Ist dies nicht auch schon beim Gesunden der Fall? Fühlt er - und wieder ist hier ein "Männlichkeitsmuster" gemeint - in seinem Leib nicht auch die Stimme der Achtsamkeit, der Vorsicht, der "inneren Frau", die er andauernd zu übergehen sucht? Unser Leib besitzt eine eigentümliche Zeitstruktur: Solange ich lebe, kann er nicht einfach "vergangen" sein, noch kann ich ihn ganz "vergessen", weil er manifestierte Geschichte ist, insofern Vergangenes gegenwärtig ist, wohl aber kann ich Unbeschwertes, vielleicht auch Unangenehmes vergessen, ins Unbewusste verdrängt haben. Doch es gibt bekanntlich eine Wiederkehr des Verdrängten. Dies ist das Gebiet der Psychoanalyse, die sich mit Konversions-Symptomen befasst, d.h. mit der Frage, wie Seelisches als Verdrängtes sich in Körperliches wandelt. Für die Phänomenologie ist darüber hinaus aber auch die umgekehrte Frage von Bedeutung, nämlich die, wie Körperliches sich in psychischen und geistigen Prozessen niederschlägt. Erfahrung ist vor diesem Hintergrund niemals eine des Ich im Sinne einer autonomen Subjektivität, sondern immer auch eine des Ich "als eines in eins und unteilbar vom Strome der Zeit fortgerissenen und wiederhergestellten".[22] Existenz fasst Merleau-Ponty als fragile Einheit von Leib und Bewusstsein, weil sie sich nur verwirklicht "als wirklich Leib Seiendes und durch diesen Leib in die Welt Eingehendes (...). Wir sind zur Welt, das heißt: Dinge zeichnen sich ab, ein unermessliches Individuum behauptet sich, jede Existenz umfasst sich selbst und umfasst eine jede andere. Es bleibt uns nichts, als diese alle unsere Gewissheit begründende Phänomene anzuerkennen. Der Glaube an einen absoluten Geist oder an eine von uns losgelöste Welt an sich ist selbst nur Rationalisierung jenes Urglaubens."[23] Nicht nur, dass Merleau-Ponty auf einem Weltbegriff besteht, der zugleich stofflich, sozial und geistig ist - er kritisiert unmissverständlich den philosophischen Idealismus und den Spiritualismus genauso, wie er den die Subjekt-Objekt-Dialektik ignorierenden Positivismus ablehnt, der eine Welt "an sich" annimmt. Eine solche Sichtweise kann Gesundheit, Krankheit und Altern nur "messen", doch nicht als Phänomene der erlebten Biographie begreifen.


Leiblichkeit als Verletzlichkeit, Fragilität und Zerbrochenheit

Leib und Biographie sind Ausdruck unserer - wie es der konservative Neurologe und Psychosomatiker Viktor von Weizsäcker ausdrückt - "pathischen Existenz", einer Existenz, die sich wesentlich durch die Tatsache beschreiben lässt, "dass der Mensch ... von allem Anfang an als unzulänglich, unfertig, ergänzungsbedürftig, veränderungssüchtig, indeterminiert, defekt oder ohnmächtig, in jedem Falle also nicht als das Sein selbst, nicht ewig, sondern zeitlich auftritt; nicht als einer oder etwas, den oder das es 'gibt', sondern als einer oder etwas, das wird oder 'werden' will, kann, soll oder muss".[24] Im Verhältnis von Leib und Biographie erfahren wir etwas über die Tatsache, wie mit einem Menschen umgegangen wird und wie er selbst mit sich umgeht. Um dies zu erkunden, müssen wir eine Art Reise in die "pathische Landschaft" (Weizsäcker) antreten, eine Reise in die leidenschaftlich wahrgenommene Welt, die in ständiger Veränderung ist und in der wir nur wahrnehmen können, wenn wir uns bewegen, aber gleichzeitig jede Wahrnehmung von der Bereitschaft getragen ist, sich weiter zu bewegen. So schichten sich Erfahrungen gelebten, aber auch Erfahrungen nicht gelebten, gewünschten, versagten Lebens in uns auf. Die biographisch sedimentierte Leiblichkeit erzählt also von einer Lebens- und Arbeitswelt, die der Mensch durchlebt, erleidet, aktiv gestaltet und anhand ihrer Phantasien und Wünsche entwickelt hat, welche er wiederum leben oder nicht leben konnte, bzw. im aktuellen Sein: kann. Wir versuchen, uns in oder nach jeder Krise neu zu orientieren. Doch die häufig kognitivistisch verkürzte Biographieforschung hat keinen zureichenden Begriff des im Leiblichen verborgenen Wissens, des hinter der Identität liegenden Nicht-Identischen, des "wilden" Empfindens, Denkens und Handelns, der sich körperlich in uns eingrabenden Verletzungen und Versagungen und "dem Schrei" nach Veränderung. Es sind dies die - wie Alheit in Anlehnung an Bourdieu formuliert[25] - "versteckte(n) Referenzen an die strukturellen Bedingungen, die uns aufgegeben sind", und zugleich an die darüber hinausweisenden "Überschüsse". Die Beschäftigung mit dieser "Biographizität", d.h. mit der fortdauernden Selbstauslegung der Individuen, dient keinem Selbstzweck. Sie verhilft dem Subjekt über Krisen hinweg zu Übergängen in neue Qualitäten des Selbst- und Weltbezuges, zu Übergängen ins Politische. Entscheidend hierbei ist: Möglichkeitsräume und Grenzen gibt uns unserer Leiblichkeit vor. So lässt sich auch sagen: Ein Konzept biographischen Lernens braucht einen Zugang zur leiblichen Ambiguität, d.h. einen Zugang zu den uns zerreißenden und zugleich einenden Uneindeutigen in uns und der Welt, die uns umklammert und die uns zugleich freigibt.

Etwa zeitgleich mit Merleau-Ponty entwickelte der Psychoanalytiker Jacques Lacan seine Theorie des fragmentierten und dezentrierten Subjekts, dessen materielle Grundlage der "zerstückelte Körper" sei. Lacan denkt Sigmund Freuds Annahme, dass das Ich erst durch das Aufeinandertreffen von biologischen Trieben und gesellschaftlichem Überich entsteht, einen entscheidenden Schritt weiter: "Das Ich ist ein Mangel", sagt Lacan, ein Mangel, aus dem heraus ein unersättliches Begehren entsteht, das nur von anderen Menschen, vom Anderen, befriedigt zu werden scheint und doch nie befriedigt werden kann.[26] "Im Bild des Anderen, das sein eigenes antizipiertes Bild ist", findet der zerstückelte Körper zu einer wie auch immer gearteten, fragilen, illusionäre Einheit zusammen.[27] Lacan steht in der Tradition des Strukturalismus, nach dem ein Begreifen der Welt und des selbst erst durch kulturell geformte und mit Sinn beladene sprachliche Zeichen - Signifikanten - und Zeichenmuster hindurch möglich ist. Erst die Imagination des Eigenen durch das Andere erzeugt das leibliche Selbst, das eingedenk seines imaginären Ursprungs brüchig, gespalten und im Grunde immer "ein Mangel" bleibt. So befremdlich zunächst diese Gedanken sein mögen: Sie schließen in einer gewissen Weise an Hegel, Feuerbach, auch an Husserl und Merleau-Ponty an. Der Gedanke, nur durch den Anderen und das "große Andere" zum Ich zu werden, ist für eine radikal an Sozialität orientierte Sozialphilosophie elementar. Auch dass Wahrnehmung und Begreifen über Signifikantenketten erfolgen, ist einleuchtend. Anthropologisch freilich scheint die Lacansche Theorie wie auch durch den nach ihm kommenden Poststrukturalismus durch die Annahme getrübt, dass der Mensch zunächst prinzipiell "ein Nichts" sei, dass er als vollkommen unbeschriebenes Blatt auf die Welt komme. Auch Michel Foucault sieht - aus der Psychiatrie kommend - den Menschen, d.h. seinen Leibkörper, als Medium, das zunächst alleine durch die ihn umgebenden Machtstrukturen bestimmt, definiert, gleichsam erschaffen wird. In diesem Strukturen bilden sich nach Foucaults Meinung neue, widerständige Machtstrebungen heraus, mit Hilfe derer sich der Mensch leibhaftig in der Welt behauptet.[28] Foucault entwickelt anhand der Disziplinargesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts den Begriff der Biomacht bzw. Biopolitik, d.h. einer Politik des direkten Zugriffs auf unsere Körper. Weiterentwickelt und angewandt auf die heutige Kontrollgesellschaft und diejenige der Schaffung "neoliberaler Selbste" ist Biopolitik eine Politik der Inszenierung von Körpern im Konkurrenzkampf auf dem Arbeits- und Lebensmarkt.[29] Leibvergessenheit und Körperkult gehen Hand in Hand. Die Macht des Visuellen ersetzt die Berührung. Subjekte - darin steckt das lateinische "subiectum": das Daruntergeworfene - sind zugleich Unterworfene und Gestaltende. Was zählt sind Rollen und Masken, was zählt, sind Identitäten, die in Wirklichkeit zugeschrieben, durch die Verhältnisse erzwungene Identitäten sind. Es ist Jacques Derrida[30], der noch einmal - hier der älteren Kritischen Theorie folgend - mit der Identitätsphilosophie ins Gericht geht. Er dekonstruiert die herrschaftlich zugerichtete Identität und setzt gegen die Einheit die Vielfalt des Lebendigen.

Judith Butler bezieht sich unter vielen anderen auf die "Vordenker" Adorno, Lacan, Foucault und Derrida und entwickelt die Idee des leiblichen Subjekts als von Strukturen bestimmtes und zugleich handelndes entschieden weiter.[31] Dabei kommen eigenartige und - für an Kant, Hegel und Marx geschulte Köpfe - ungewohnte Gedanken zum Tragen. Das Subjekt ist von Anfang an Bedingungen ausgesetzt, zu denen es nie einen Zugang finden, deren wesentliche Bestimmungen ihm unbewusst bleiben und daher immer wieder Macht über es gewinnen werden, der es sich gleichzeitig zu entwinden sucht. Das Subjekt ist in sprachlich verankerten Machtstrukturen, Normen und Regeln gefangen - die Assoziation an Paul Celans "Sprachgitter" ist keinesfalls abwegig - und kämpft zugleich dagegen an, sucht Wege der Befreiung. Doch in unserer Leiblichkeit gibt es "Sagbares und Unsagbares" (Merleau-Ponty), Sprachliches und Nichtsprachliches. Butler geht insofern über Lacan hinaus, als sie die leibliche Berührung, die taktilen Zeichen, als vorsprachliche Signifikanten in die Individuation einführt. "Es sind Zeichen eines Anderen (sic!), aber es sind Spuren, aus denen schließlich ein Ich hervorgeht ...", und sie fügt zugleich hinzu: dies sei ein Ich, "für das diese Zeichen zum Teil überwältigend und unlesbar, rätselhaft und prägend bleiben".[32] Dies verweise den Menschen auf seine unhintergehbare Sozialität, auf sein Angewiesensein auf andere, auf seine Verantwortung für andere. Autonomie ist, so Butler, eine Illusion insofern und insoweit, als eine von anderen autonome Existenz nicht möglich ist, und wenn scheinbar doch, dann nur in vernichtungsorientierter Absicht. Diese Gedanken erinnern nicht zufällig an Theodor W. Adorno und Emmanuel Levinas. Leibliche Existenz sperrt sich gegen die rollentechnische Einordnung und "Einnordung" des Subjekts, sperrt sich gegen Zwangsidentitäten. Adorno: Leibliche Existenz verspürt Schmerz und Verletztheit, sie verspürt zugleich Widerstand, das Begehren nach dem Anderssein, nach dem ganz Anderen eines freien Lebens, in dem die vielen anderen Seiten, die Vielheiten, die Schwachheiten, die Gespaltenheiten der Person, die Andersartigkeit, das Fremde, das Nicht-Identische, ohne Angst gezeigt und gelebt werden können. Levinas: Leibliche Existenz lebt durch die Berührung, die Umarmung, die Erregung, die Erschütterung durch den Anderen, d.h. erst durch die Berührung des Anderen - im Außer-sich-Sein, in der Ek-stase - werde ich meiner Existenz, meines selbst, meiner Verantwortung gewahr. Butler nutzt und überwindet zugleich das Foucaultsche Subjektverständnis, und zwar insofern, als der Mensch in den Spuren der menschlichen Geschichte lebt, in diese Spuren hineingeboren wird, womit ihm damit auch so etwas wie eine vorontologische Substanz zukommt. Das Du hat seinen Sitz in mir, sagt Butler. Und weiter: "Das Ich, das ich bin, (ist) ohne dieses Du gar nichts."[33] Ich bin in die Verantwortung geworfen, weil ich mit dem Anderen untrennbar verwoben und verflochten bin. Der Unterscheid zu Kant: Nicht das autonome, souveräne, selbstbewusst-starke Subjekt in dem Sinne "über allen und allem zu stehen", sondern das verletzliche, demütige, sich ständig in Frage stellende und schwache Subjekt ist zum Handeln gerufen. Zugleich tut sich ein signifikanter Unterschied zu Lacan und Foucault auf: Der Mensch kommt nicht als ein "Nichts" auf die Welt. Er wird in die Spur des Anderes hineingeboren, die in trägt und belastet, und in der er sich neu orientieren kann und muss.

Die dekonstruktivistische Sicht des Subjekts hat weitreichende forschungspraktische Implikationen, insbesondere hinsichtlich qualitativ-biographischer Interviews. Eine Narration, d.h. eine erzählte Lebensgeschichte, ist zwar immer noch ein empirisches Datum, doch eines, das in ein besonderes Licht gerückt und mit besonderer Sorgfalt entziffert werden muss. Das Ich, das eine Geschichte von sich erzählt, kann im Grunde nicht angeben, wie es zu einem Ich geworden ist, und immer wenn es versucht, einen roten Faden zu finden, stößt es auf Unterbrechungen, Brüche, Risse und Undurchsichtigkeiten. Dieser Urgrund, der dem Bewusstsein nicht zugänglich ist, besteht aus einer unendlichen Kette von Übertragungen und Projektionen mit Vorgeschichten, die weit - zuweilen in eine unvordenkliche Vergangenheit - zurückreichen. Dieser Urgrund ist leiblich eingeschrieben. Die lange Geschichte von Herr und Knecht schwingt im Fühlen, Sprechen und Inszenieren aktuell Befragter mit. Das Ich inszeniert ein Selbst, es konstruiert ein narratives Ich, "in jedem Moment, in dem man sich in der Erzählung auf es bezieht".[34] Erzählt wird immer für jemanden, d.h. erzählt wird immer in einem Kontext der Aufforderung durch einen anderen Menschen. In der Hermeneutik, der Kunst Texte zu verstehen und "auszulegen", waren Widersprüche und Inkonsistenzen im Erzählstrom immer schon von heuristischem Interesse. Dem Erzählenden wurde unterstellt, er verleugne, verdränge, verdrehe, verschweige oder erfinde da etwas, das die Wahrheit verschleiern solle. Vom Stukturalismus und Dekonstruktivismus kann die Sozialwissenschaft lernen, dass in der Regel solche Ungereimtheiten dem unbewussten Urgrund unseres Seins entspringen. Erzählbrüche, Widersprüche und Uneindeutigkeiten sollen eben gerade nicht per besserwisserischer Deutungsmacht auf einen logischen Nenner gebracht werden. Sie sollen so stehen bleiben und einen Raum öffnen für ein weites Spektrum von Deutungsalternativen. Zu fordern ist eine Hermeneutik, "deren Kunst nicht darin besteht, jemanden auf das, was er faktisch gesagt hat, festzunageln, sondern vielmehr für das, was er eigentlich sagen wollte, offen zu sein".[35] Butler kritisiert, hier Derrida folgend, die im Wissenschaftsbetrieb gängige Praxis, Aussagen unter bestimmte Konstrukte zu subsumieren, ihnen damit einen falschen Sinn zu oktroyieren und einem vereinheitlichenden Zwang zu unterwerfen. Leicht gemacht wird dies durch die Praxis standarisierter Internetbefragungen. Umso wichtiger wäre es, Befragte in ihrer Leiblichkeit zu erleben, ihre Aussagen im Kontext ihres Angesichts und ihres gesamten Leibseins wahrzunehmen.


Ausgesetztsein und Solidarität: Butler, Levinas, Nancy

In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am Main sprach Judith Butler die Frage der Leiblichkeit explizit an (auch wenn für den Begriff des Körpers eher derjenige des Leibes stehen sollte): "Wir sind als Körper angreifbar .... Das ist Politik, in der die performative Aktion körperlich und pluralistisch wird und sich kritisch den Bedingungen körperlichen Überlebens und Gedeihens unter den Vorgaben radikaler Demokratie zuwendet. (...) Wer immer ich bin, verwandelt sich im Bezug zu den anderen, da ich, um zu leben und gut zu leben, notwendig von anderen abhängig und auf andere angewiesen bin. Unsere gemeinsame Gefährdung (verpflichtet uns) ... zur gemeinsamen Schaffung der Bedingungen für ein lebbares Leben."[36] So anders hat das auch der politisch engagierte Leiblichkeitsphilosoph Merleau-Ponty nicht gesehen. Er betont, dass es so etwas wie eine "absolute Subjektivität" nicht geben kann.[37] Immer sei das Subjekt von einem "Hof von Allgemeinheit", einem Hof von Sozialität umgeben und bestimmt. "Alles Für-sich-sein - ich für mich selbst wie der Andere für sich selbst - muss sich abheben von einem Untergrund des Seins-für-Andere, meiner für den Anderen und des Anderen für mich selbst. Mein Leben muss einen Sinn haben, den ich nicht konstituiere, es muss in strengem Sinne Intersubjektivität sein."[38] Hier bekommt der Begriff der Zwischenleiblichkeit einen Sinn. Der Einzelne kann nur existieren, indem er weit über sich hinausgeht. Der Unterschied zu Levinas ist, dass dieser die Existenz des Einzelnen erst vom Anderen her konstituiert sieht. So auch bei Jean-Luc Nancy, der in den letzten Jahren eine berückende Philosophie des Leibes vorlelegt hat[39], die unmittelbar ineins geht mit einer politischen Philosophie.

Nancy denkt den Leib differenztheoretisch als Erfahrung vom Anderen her, als Erfahrung der Bezogenheit auf andere, d.h. als Erfahrung, der das Getrenntsein von ihnen zugrunde liegt. "Insofern der Mensch leiblich existiert und körperlich den anderen ausgesetzt ist, gibt es Gemeinschaft."[40] Und umgekehrt: Insofern der Mensch ein gemeinschaftliches Wesen ist, ohne Gemeinschaft gar nicht leben kann, bedarf er der leiblichen Berührung, um zu wissen, dass es ihn gibt, dass er existiert. Der eigene Leib ist bei Nancy etwas Fremdes. Erst durch die Gemeinschaft werde ich meines Leibes, meiner Subjektivität, gewahr, erst durch die Gemeinschaft gibt es so etwas wie Individuierung. Dieses Gemeinsam-sein bildet keine Einheit, sondern bleibt in der Differenz zueinander. Zugegeben: Nancy im Original zu lesen, ist schwierig. Er entwickelt ein ganz eigenartiges System von Begriffen und Bezügen, um - wie es schon Adorno, Levinas und Derrida unternahmen - aus der Identitätsphilosophie herauszutreten und eine Philosophie jenseits des Seins Kantscher Provenienz zu betreiben. Das Ausgesetztsein, die Exposition, ist auch hier ein ganz wesentliches Element des Denkens. "Ergo sum expositus", heißt es bei Nancy. Die Exposition: Das ist die Gemeinschaft. Differenz ist elementar, sie verwehrt sich bei Nancy jedweder Vereinheitlichung, jedweder Einebnung, jedweder "Ganzheitlichkeit", jedwedes Versuchs, "ein organisches Ganzes" zu bilden. Die Andersheit, seine eigene wie die des Anderen, zu achten, zu respektieren, und als Grundlage einer leiblichen Solidarität aufzufassen, die sich im politischen Widerstand manifestiert - das ist der Kern von Nancys Credo. "Singulär Plural sein" heißt eines seiner Bücher. Anders als Merleau-Ponty sieht Nancy als entscheidendes Kriterium in der Zwischenleiblichkeit nicht die Verschmelzung, sondern das dauernde Ausgesetztsein, die andauernde Ausgrenzung. Das leibliche Außen macht das Ich, nicht ein irgendwie geartetes Inneres. Doch die Haut ist durchlässig: "Die Berührbarkeit durchdringt den Körper (hier ließe sich eher Leib sagen, WH) anstatt durch seine Hülle begrenzt zu werden."[41] Das Außen wird zum Inneren. Nancy begründet mit diesem Gedanken ein neues Konzept von Seele: "Die Seele ist durch den ganzen Körper hindurch ausgedehnt."[42] Zugleich erstreckt sich das Denken entlang der leibkörperlichen Ausgedehntheit, im Grunde also schlägt Nancy hier ein neues Konzept von Körper-Leib-Seele-Geist-Einheit vor, deren wesentlichen Eigenschaften oder Kennzeichen freilich Differenz, Fremdheit, Vielheit, Gespaltenheit, Fragmentierung, d.h. eben gerade nicht die "Ganzheitlichkeit" darstellen. "Das Ganze ist das Unwahre" (Adorno), vollkommene "Stimmigkeit" eine Illusion. Es gilt zu akzeptieren, dass wir gespaltene, zerrissene und genau deshalb sehnsuchtsvolle Subjekte sind, die elementar auf andere angewiesen sind. Unbestritten: Jeder Mensch sehnt sich nach Authentizität, Identität und unverwechselbarer Subjektivität, die ihm oder ihr auch zukommen, doch - hier sei Nancy in seiner eigentümlichen Diktion einmal wörtlich zitiert - "unter der Bedingung, dass die Subjektivität dieses Subjekts immer als ein Außer-sich-Sein verstanden wird, als ein Sich-Spüren, jedoch insofern, als Sich-Spüren nicht wirklich ein Sich-durch-sich-selbst-Setzen und ein Sich-an-sich-selbst-Aneignen im reinen Inneren, sondern ein Im-Äußeren-in-Bezug-auf-sich selbst-Sein ist. Man spürt sich als ein Außen."[43] Nancy setzt hier Merlau-Pontys Ontologie der Zwischenleiblichkeit und Levinas' Ontologie des Sein-durch den-Anderen fort, eine Ontologie der Ex-Position, wodurch allein Subjektivität, Identität und Selbstheit entsteht. Die Sehnsucht, "ohne Angst anders sein zu dürfen" (Adorno), verweist auf eine andere Welt - eine Welt, um die es sich zu kämpfen lohnt, immer in der Gewissheit, dass wir nur Annäherungen an das finden werden, was wir ersehnen. Sofern Leiblichkeit uns als Zwischenleiblichkeit bewusst wird, wird sie zur Macht, die verändern kann. Sich des fundamentalen leiblichen "Dazwischen", des "Mitteilens" und des "Mitseins" bewusst zu werden, lässt - so Nancy - Potentiale entstehen, die wir brauchen, um "gegen die Barbarei des Kapitals, der Technik und des Krieges" aufzustehen.

In diesem Zusammenhang sei eine kurze Anmerkung zu der in den letzten Jahren anschwellenden Diskussion um das Thema "Embodiment" - in deutschen Texten wird von "Verkörperung" gesprochen - erlaubt.[44] Gemeint ist damit ein Verständnis des Körpers als "ausgedehnter Geist"[45], ein von Neurowissenschaft und Analytischer Philosophie ausgehender Versuch, sich der Phänomenologie anzunähern, genauer: sich ihrer zu bedienen. Es fällt auf, dass die Sprache des Embodiment-Diskurses merkwürdig hölzern, ja fast technisch anmutet. Dies verweist auf einen entscheidenden Punkt: In den Embodiment-Konzepten bleibt der Aspekt der Transzendenz, d.h. der Aspekt des Über-sich-Hinausgehens, des Seins-für-den-Anderen unterbelichtet, wenn nicht gar völlig un-thematisiert. Ob dieser Diskurs an den der Zwischenleiblichkeit, Verantwortung und Gemeinschaft anschlussfähig gemacht werden kann, muss bezweifelt werden. Die Leiblichkeitsphilosophie sollte sich nicht von naturwissenschaftlichen oder sich naturwissenschaftlich gebenden Kontrahenten ins Bockhorn jagen lassen. Die Dinge verhalten sich eher andersherum: Es ist erstaunlich, wie sich leibphilosophische Denkbewegungen und naturwissenschaftliche Grundlagenforschung - zumindest in bestimmten Aspekten, ohne ein zugrundeliegendes Programm und sicherlich für manche überraschend und vielleicht sogar anstößig - annähern. Die Epigenetik, ein molekularbiologisch orientiertes Konzept, das die Einflüsse der sozialen Umwelt auf die Erbinformation in den Zellen untersucht, bestätigt die Bedeutung der Gemeinschaft, die Bedeutung des Anderen, die Bedeutung der Exposition. Berührung, leibliche Zuwendung, Anerkennung der leiblich-persönlichen Eigenarten, Liebe und Geborgenheit - all das verankert sich im Genom, schreibt sich gleichsam leiblich ein, und übt einen positiven - und beim Fehlen der genannten Faktoren - negativen Effekt auf das weitere Leben aus.[46] Insbesondere Berührung ist überlebensnotwendig. Auch die Neurowissenschaft weiß um die Bedeutung der Zwischenleiblichkeit. Als hätte das Lacan geahnt, als er seine These des Spiegelstadiums aufstellte, nach der sich das leibliche, gleichwohl gespaltene Selbst, erst durch die Wahrnehmung des Anderen entwickelt, wird diese These durch die neurowissenschaftliche Erkenntnisse zum Phänomen der Spiegelneuronen bestätigt.[47] Insgesamt muss die genetische, neurowissenschaftliche und psychologische Forschung jenseits aller deterministischen Behauptungen einräumen, dass die menschliche Entwicklung und die biographisch geprägten Eigenschaften der Person sich während eines Lebens ändern und manchmal auch unverhoffte Wendungen nehmen können. Das, was die tradierte Sozialwissenschaft als Identität bezeichnet, entwickelt sich im Laufe des Lebens in der komplexen Interaktion zwischen dem Leib selbst und der sozialen Umwelt. Dabei zeigt sich, dass es nicht die ein für allemal festgelegte, stabile Identität gibt, sondern eine Vielzahl von nicht oder nur selten kohärenten, oftmals widersprüchlich-paradoxen Eigenheiten, aber auch Möglichkeiten oder Möglichkeitsräumen, ein Nebeneinander von Identität und Nicht-Identität.[48] Affirmative Wissenschaft, deren Ansinnen schlichtweg die Anpassung ist, spricht in diesem Zusammenhang von der "Lebenskunst", die darin bestünde, die inneren Verschiedenheiten in ein "kohärentes Selbst" zu integrieren. Kritische Wissenschaft - und hier sei ausdrücklich auf Judith Butler verwiesen - ermutigt die Menschen, ihre inneren Verschiedenheiten und Vielheiten offen zu leben, sich öffentliche Räume zu verschaffen, in denen das Nicht-Identische artikuliert und leibkörperlich ausgedrückt werden kann, Räume, in denen sich Widerstand gegen Identitätszuschreibungen, Zumutungen und Zurichtungen, und denen sich Solidarität und Gemeinschaftlichkeit manifestieren kann. Diese Gemeinschaftlichkeit ist allerdings eine ganz andere als diejenige, die sich etwa bei Ferdinand Tönnies, Alfred Weber und anderen bürgerlichen Soziologen findet. Sie ist auch ein ganz Anderes als die der Zwangskollektive im Arbeitsprozess. Es ist nicht die Gemeinschaft, die sich auf eine einheitliche und eindeutige kollektive Identität gründet - auf eine "Werkgemeinschaft", wie Nancy es formuliert - sondern ganz im Gegenteil: anvisiert ist eine Gemeinschaft freier Menschen in all ihren Unterschiedlichkeiten, ihrer Andersartigkeiten und Fremdheiten, ihren wechselnden Expositionen und Selbstdefinitionen, ihren Stärken und Schwächen, ihrer Freude und Melancholie, ihrem individuellem Eigensinn, der sich heute so und morgen anders äußern kann. Dieses "Werden in Gemeinschaft" (Butler) ersetzt die Idee des souveränen, solistisch oder avantgardistisch oder handelnden autonomen Subjekts. Die eingangs zitierte Frage Seyla Benhabibs, ob es denn angezeigt sei, sich völlig von der Idee des autonomen Subjekts zu verabschieden, lässt sich so in die Aufforderung transformieren, den Schmerz in ein Rufen, in ein Schreien, zu verwandeln und damit das leibliche Werden in Gemeinschaft - in den Raum des Politischen hinein - zu konstituieren.


Anmerkungen

[1] Seyla Benhabib: Selbst im Kontext. Gender Studies. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1995, S. 217 ff.

[2] Esther Mirian: Zum Zusammenhang von Biographie, Subjektivität und Geschlecht. In: Bernhard Fetz (Hg.): Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie. Walter de Gruyter, Berlin 2009, S. 169-197.

[3] Karl Marx: Das Kapital, Band 1 (Erstveröffentlichung: Hamburg 1867). MEW 23, Dietz, Berlin 1970, S. 181.

[4] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1966, S. 203.

[5] Gerhard Danzer: Psychosomatische Medizin. Fischer, Frankfurt 1995. S. 100 ff.

[6] Max Horkheimer: Eclipse of Reason. Oxfort University Press, New York 1947. Dt: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. S. Fischer. Frankfurt a.M. 1967.

[7] Herbert Marcuse: The One-Dimensional Man. Beacon Press, Boston 1964. Dt: Luchterhand, Neuwied 1967.

[8] Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Vortragmanuskript, Wien 1935). Felix Meiner, Hamburg 1982, S. 55.

[9] Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la Perception. Gallimard, Paris 1945. Dt: Pänomenologie der Wahrnehmung. Walter de Gruyter, Berlin 1965.

[10] Ebenda, S. 504.

[11] Ebenda.

[12] Karl Heinz Roth, Empirie und Theorie: Die Marxsche Arbeitswertlehre im Licht der Arbeitsgeschichte, Teil 1, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts, 22 (2007), 2, S. 45-67.

[13] Gerhard Danzer, a.a.O., S. 169.

[14] Käthe Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. Kirchheim, München 1990,

[15] Annelie Keil: Zur Leibhaftigkeit menschlicher Existenz. In: Peter Alheit et al. (Hg.): Biographie und Leib. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 78.

[16] Maurice Merleau-Ponty, a.a.O., S. 234.

[17] Hans-Peter Dreitzel: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Enke, Stuttgart 1968.

[18] Klaus Theweleit: Männerphantasien, Band 2, Roter Stern, Frankfurt a.M. 1978.

[19] Ebenda, S. 188.

[20] Wolfgang Hien et al.: Ein neuer Anfang war's am Ende nicht. VSA, Hamburg 2007, S. 72 ff.

[21] Maurice Merleau-Ponty, a.a.O., S. 113.

[22] Ebenda, S. 257.

[23] Ebenda, S. 464.

[24] Viktor von Weizsäcker: Pathosophie. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1956, S. 62.

[25] Peter Alheit: Biographisches Lernen als gesellschaftlicher Veränderungsprozess. In: Klaus Ahlheim / Walter Bender (Hg.): Lernziel Konkurrenz? Erwachsenenbildung im "Standort Deutschland". Leske und Budrich, Opladen 1996, S. 179-196.

[26] Jacques Lacan: Das Seminar. Buch II (1954/55). Das Ich in der Theorie Freunds und in der Technik der Psychoanalyse. Quadriga, Berlin 1991, S. 72 ff.

[27] Käthe Meyer-Drawe, a.a.O., S. 112 ff.

[28] Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988). Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005, S. 269-294.

[29] Eva Kreisky: Neoliberale Körpergefühle: Vom neuen Staatskörper zu profitablen Körpermärkten. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung "Brüche - Geschlecht - Gesellschaft: Leibes/Übungen" des Gender Kollegs der Universität Wien, 15. Mai 2003 (Online).

[30] Thomas Rentsch: Philosophie des 20. Jahrhunderts. Von Husserl bis Derrida. Beck, München 2014.

[31] Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Erweiterte Ausgabe. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2007.

[32] Ebenda, S. 95 f.

[33] Ebenda, S. 112.

[34] Ebenda, S. 91.

[35] Emil Angehrn: Interpretation und Dekonstruktion. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2003, S. 248.

[36] Judith Butler: Kann man ein gutes Leben im schlechten führen? (FR-Online, 15. September 2012).

[37] Maurice Merleau-Ponty, a.a.O., S. 509.

[38] Ebenda.

[39] Jean-Luc Nancy: Corpus. Diaphanes, Berlin 2003.

[40] Kathrin Busch: Jean-Luc Nancy - Exposition und Berührung. In: Emmanuel Alloa et al. (Hg): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzeptes. Mohr Siebeck, Tübingen 2012, S. 305-319.

[41] Ebenda, S. 314.

[42] Ebenda (wörtliches Zitat von Jean-Luc Nancy).

[43] Jean-Luc Nancy, a.a.O., S. 120.

[44] Joerg Fingerhut et al. (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2013.

[45] Andy Clark / David Chalmers: Der ausgedehnte Geist. In: Joerg Fingerhut et al., a.a.O., S. 205 ff.

[46] Michael J. Shanahan / Jason Freeman: Wie Gene das Sozialverhalten prägen - und umgekehrt. In: Spektrum der Wissenschaft, Dezember 2013, S. 36-45.

[47] Thomas Fuchs: Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Kohlhammer, Stuttgart 2012.

[48] Thomas Bedorf: Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Suhrkamp, Franfurt a.M. 2010, hier insbesondere S. 109 ff und 203 ff.

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Gerhard Hanloser:

Rosa Luxemburg und wir

Wo beginnen? Es gibt Dutzende von Rosa Luxemburg-Biographien, Einführungsbüchern und auch schöne Bildbände zu der Marxistin aus Polen, die zu einer der wichtigsten Stimmen eines linken, revolutionären Kurses innerhalb und bald am Rand der Arbeiterbewegung wurde. In der Vergangenheit gab es immer wieder Versuche verschiedener Strömungen der Linken, Rosa Luxemburg vor den eigenen Karren zu spannen. So entdeckten einige antinationale und antideutsche Linke in den 90er Jahren die "Antinationalistin" Rosa Luxemburg, wie beispielsweise Jürgen Elsässer in seinem Aufsatz mit dem Titel "Eine Jüdin aus Polen. Das 'jüdisch-internationale' Denken der Rosa Luxemburg" in dem ästhetisch ansprechenden wie allgemein recht informativen BilderLeseBuch von Elefanten Press aus dem Jahre 1995. Schon damals wurde ersichtlich, dass einzelne Bestandteile des umfassenden Denkens Rosa Luxemburgs herausgebrochen wurden, um sie in der Tagespolitik verwenden zu können: "Spätestens heute, angesichts des nationalen Wahns in Sarajewo, Suchumi und Solingen, ist die 'verschüttete 'jüdisch-internationale' Tradition der Rosa Luxemburg von verzweifelter Aktualität", endet der Beitrag von Elsässer, dessen hastige und von tagespolitisch-publizistischen Erwägungen getriebene Aneignung einiger Theoriefragmente von Luxemburg wohl auch für den Publizisten selbst wenig nachhaltig waren, betrachtet man den Kontinuitäten wie Wandlungen umfassenden Gesamtverlauf seiner politischen Biographie, an deren vorläufig letzter Station er den publizitätssüchtigen Rechtsaußen gibt. Rosa Luxemburg verkörpert das, was der staatskonformen Linken mehrheitlich (und der exlinken Rechten sowieso) fehlt: Treue zum Anliegen von Marx, schöpferische Erweiterung Marxscher Theorie, Wille zur revolutionären Veränderung, eine globale und internationale Perspektive. Auch ihr Antimilitarismus war erheblich anders begründet als der heutige wachsweiche Pazifismus, den die parteiförmige Linke, aber auch die Friedensbewegung verkündet. Gibt es heute überhaupt noch authentische Erben des Denkens Luxemburgs?

Zugegeben: Einiges, was die Antirevisionistin und Revolutionärin hoch hielt, ist in den heutigen außerparlamentarischen Bewegungen präsent: Ablehnung von Militarismus und Krieg, ein dezidierter Internationalismus und eine Absage an selbstgefälliges, opportunistisches Aufgehen im Bestehenden. Wenn man sich jedoch Luxemburgs Werk und ihre politischen Interventionen vor Augen hält, so entdeckt man vieles, was einer außerparlamentarischen Opposition heute fehlt. Im Guten wie im Schlechten. Sie war, den Versuchen der feministischen Aneignung ab den 70er und 80er Jahren zum Trotz, eine Arbeiterbewegungstheoretikerin, Hauptwiderspruchsdenkerin, im Zentrum ihres Aktionismus stand immer die Forderung, sich nicht auf die Sozialreform zu verlassen, sondern mittels des Massenstreiks die Arbeiter zum eigenständigen Kämpfen zu animieren. Auch wenn Rosa Luxemburg keinesfalls einen generellen Antiparlamentarismus vertrat und die diesbezügliche Position der holländischen und deutschen Rätekommunisten nicht teilte, so ist sie doch eine wichtige Fürsprecherin eines eigenständigen, auf Rätemacht tendierenden und Massenkämpfe und -streiks führenden Aktionismus. Das ist aktuell wie scheinbar anachronistisch zugleich. Denn auf der einen Seite entdecken nicht wenige Aktivisten einer eher außerparlamentarischen Politiktradition für sich und ihre Betätigung den Bereich der Parteien, Parteistiftungen und Parlamente. Auf der anderen Seite ist in den nach wie vor außerparlamentarischen Bewegungen das Vertrauen Rosa Luxemburgs auf die selbständige, autonome und spontane Erhebung der Arbeiterklasse gegen die Zumutungen des Kapitalismus stark angeknackst. Und auch das weitgehende Verschwinden der US-amerikanischen Occupy-Bewegung und die Ambivalenzen der weltweiten Platzbesetzungsbewegungen provozieren zu der Frage, ob Spontaneität und "Autonomie" alleine bereits zu weit(er)gehenden Umwälzungen führen.

Genau diese Frage betreffend hätte man sich von Dietmar Dath einige Aufklärung in seinem schmalen Bändchen von 2010 erwartet. Zu der im Suhrkamp BasisBiographie erschienene kurze Schrift über Rosa Luxemburg greift man natürlich aus zwei Gründen - zum einen, um zu erfahren, was Rosa Luxemburg dachte, zum anderen um zu erfahren, was der Schriftsteller Ditmar Dath über sie denkt. Leben, Werk, Wirkung dieser großen und von allerhand Seiten vereinnahmten Person der revolutionären Vergangenheit werden kurz, knapp und in einer lakonisch-launischen, doch meist präzisen Sprache geschildert. Doch sein, einer Intellektuellenmarotte folgender Hyperleninismus, der schon bei Autoren wie Slavoj Zizek mehr zum Lächeln als zum Kopfschütteln herausfordert, schließt nicht nur Rosa Luxemburgs Antirevisionismus, also einer Ablehnung der Bernsteinianischen Haltung, wonach das Ziel der klassenlosen Gesellschaft vor den kleinen Schritten und Erfolgen verblasst, mit einem Nach-1991er-Stalinismus kurz, der meint, der Revisionismus habe in der kommunistischen Weltbewegung im Jahre 1956 um sich gegriffen und alles verdorben. Dem Spontanitätsparadigma der Luxemburg hält Dath mit etwas länglichen Stalin- und Lenin-Zitaten die Parteidisziplin (was sonst?) entgegen.

Abseits dieser Petitessen erscheint Rosa Luxemburg als eine der hellsichtigsten Theoretikerinnen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts - und sie weist eine erstaunliche Aktualität auf. Bekannt ist die Bedeutung Rosa Luxemburgs als frühe Lenin- und Bolschewismuskritikerin, eine Eigenschaft, die heutige Leninisten gerne verwischen möchten. Rosa Luxemburgs Warnungen in ihrer Schrift "Zur russischen Revolution" von 1918 (1922 veröffentlicht) vor "Ultrazentralismus" und Parteidiktatur zeigen, dass sie gegen die Politik der Bolschewiki an der Meinungsfreiheit aller revolutionären Gruppen und Strömungen festhielt und Lenins Politik scharf kritisierte, auch wenn sie die schwierigen Rahmenbedingungen der Russischen Revolution anerkannte: "... eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder". Und so zeigen die abwertenden Worte von Ernst Thälmann im Jahre 1932 eher den tiefen Widerspruch zwischen der ab den 20er Jahren stalinisierten KP und der eigenständigen Denkerin und Revolutionärin Rosa Luxemburg, als dass sie wirklich erhellen würden, was der Streitpunkt zwischen den beiden Revolutionären Lenin und Luxemburg gewesen ist: "Wir müssen also mit aller Klarheit aussprechen: in all den Fragen, in denen Rosa Luxemburg eine andere Auffassung als Lenin vertrat, war ihre Meinung irrig, so dass die ganze Gruppe der deutschen Linksradikalen in der Vorkriegs- und Kriegszeit sehr erheblich an Klarheit und revolutionärer Festigkeit hinter den Bolschewiki zurückblieb." - Dath präsentiert dieses Zitat und lässt es unkommentiert und unwidersprochen stehen. Doch Thälmanns Vorwurf kam zuerst von Luxemburg und war gegen Lenin gerichtet! Lenin zeichne sich durch mangelnde Klarheit und fehlende Festigkeit im revolutionären Kurs aus, so Luxemburg, für die Lenin schlicht ein Opportunist war. "Seine Mittel wählt er immer nach den Umständen, insofern sie seinen Zwecken entsprechen." Dieser Opportunismus ist dabei nur die Kehrseite des Ultrazentralismus und Despotismus von Lenin, den sie nicht psychologistisch erklären will, sondern materialistisch auf die russischen Verhältnisse zurückzuführen weiß: "Im allgemeinen kann unter Verhältnissen, wo die Arbeitermassen in ihrem revolutionären Teile noch locker, die Bewegung selbst schwankend, kurz, wo Verhältnisse ähnlich den gegenwärtigen in Russland sein, als adäquate organisatorische Tendenz des opportunistischen Akademikers gerade der straffe, despotische Zentralismus leicht nachgewiesen werden." (Luxemburg 1904)

Einen dieser Opportunismen von Lenin will Rosa Luxemburg in dem von diesem stammenden Begriff des "Selbstbestimmungsrechts der Völker" erkennen, das er im Oktober 1914 schriftlich begründete und das nach der Oktoberrevolution mit dem "Dekret über die Rechte der Völker Russlands" auch konsequent umgesetzt wurde. Rosa Luxemburg kritisierte nun Lenins Position zum Selbstbestimmungsrecht als eine "Art Opportunismus", um "die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der Revolution zu fesseln", und sieht hier eine Parallele zum angeblichen Opportunismus Lenins gegenüber den Bauern, "deren Landhunger durch die Parole der direkten Besitzergreifung des adligen Grund und Bodens befriedigt wurde und die dadurch an die Fahne der Revolution gefesselt werden sollten." In beiden Fällen ist ihrer Ansicht nach, "die Berechnung leider gänzlich fehlgeschlagen. Umgekehrt als die Bolschewiki es erwarteten, ... benutzte eine nach der anderen der (befreiten) 'Nationen' die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbinden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Russland selbst zu tragen." (Luxemburg 1922) Und nicht ganz ohne aktuellem Interesse findet man Luxemburgs Ausführungen über die Folgen des nationalen Selbstbestimmungsrechts in der Ukraine, ein Text der erst jüngst im Zuge der Ukraine-Krise ausgerechnet die ansonsten doch Lenin, nun aber offensichtlich mehr Putin zugetanen Tageszeitung junge Welt vom 8.3.2014 dokumentierte:

"Die russische Ukraine war zu Beginn des Jahrhunderts, als die Narreteien des 'ukrainischen Nationalismus' (...) und das Steckenpferd Lenins von einer 'selbständigen Ukraine' noch nicht erfunden waren, die Hochburg der russischen revolutionären Bewegung gewesen. Von dort aus, aus Rostow, aus Odessa, aus dem Donez-Gebiete flossen die ersten Lavaströme der Revolution (schon um das Jahr 1902 bis 1904) und entzündeten ganz Südrußland zu einem Flammenmeer, so den Ausbruch von 1905 vorbereitend; dasselbe wiederholte sich in der jetzigen Revolution, in der das südrussische Proletariat die Elitetruppen der proletarischen Phalanx stellte. Polen und die Baltenländer waren seit 1905 die mächtigsten und zuverlässigsten Herde der Revolution, in denen das sozialistische Proletariat eine hervorragende Rolle spielte. Wie kommt es, daß in allen diesen Ländern plötzlich die Konterrevolution triumphiert? Die nationalistische Bewegung hat eben das Proletariat dadurch, daß sie es von Rußland losgerissen hat, gelähmt und der nationalen Bourgeoisie in den Randländern ausgeliefert. (...) Die realen Klassengegensätze und die militärischen Machtverhältnisse haben die Intervention Deutschlands herbeigeführt. Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der Konterrevolution maskiert hatte, sie haben die Position der Bourgeoisie gestärkt und die der Proletarier geschwächt. Der beste Beweis ist die Ukraine, die eine so fatale Rolle in den Geschicken der russischen Revolution spielen sollte. Der ukrainische Nationalismus war in Rußland ganz anders als etwa der tschechische, polnische oder finnische, nichts als eine einfache Schrulle, eine Fatzkerei von ein paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen oder geistigen Verhältnissen des Landes, ohne jegliche historische Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte, ohne irgendeine nationale Kultur außer den reaktionär-romantischen Gedichten Schewtschenkos (1814-1861, Lyriker, G.H.). (...) Und diese lächerliche Posse von ein paar Universitätsprofessoren und Studenten bauschten Lenin und Genossen durch ihre doktrinäre Agitation mit dem 'Selbstbestimmungsrecht bis einschließlich usw.' künstlich zu einem politischen Faktor auf. Sie verliehen der anfänglichen Posse eine Wichtigkeit, bis die Posse zum blutigsten Ernst wurde: nämlich nicht zu einer ernsten nationalen Bewegung, für die es nach wie vor gar keine Wurzeln gibt, sondern zum Aushängeschild und zur Sammelfahne der Konterrevolution!" (Luxemburg 1922)

Die Frage nach dem "Selbstbestimmungsrecht" war dabei durchaus eine prinzipielle und bezog sich nicht bloß auf Russland. Auch wenn sowohl Lenin wie Luxemburg sozialdemokratische Revolutionäre waren, deren Gegner die reformistische Arbeiterbewegung war, aber auch der antistaatliche und föderalistische Anarchismus und bäuerlich-revolutionäre "Populismus", der während der Jahrhundertwende innerhalb der weltweiten Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle spielte, so unterschieden sich ihre Auffassungen im Grundsätzlichen doch erheblich. Rosa Luxemburg als prominente Sprecherin der "Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen" (SDKPiL) ging vom Kampf gegen den polnischen Nationalismus aus, der auch innerhalb der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) grassierte, die dem Kampf um nationale Unabhängigkeit den absoluten Vorrang gegenüber allem anderen einräumte. Luxemburg schätzte die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit Polens als historisch überholt und reaktionär ein. In ihrer Doktorarbeit über "Die industrielle Entwicklung Polens" aus dem Jahre 1897 hatte sie herausgearbeitet, dass die Entwicklung des industriellen Kapitalismus Polen und Russland zu einem einheitlichen wirtschaftlichen Organismus vereinigt habe. Interesse an nationaler Selbständigkeit habe so nur das Kleinbürgertum, nicht die aufstrebenden Klassen der Bourgeoisie und des Proletariats. Generell findet sich bei Rosa Luxemburg eine sympathische Verachtung des Nationalismus. In ihrer Schrift "Nationalitätenfrage und Autonomie" von 1908/1909 liest man tatsächlich starke Worte beispielsweise gegen den "schwülstigen romantischen Wind" des deutschen Nationalismus eines Friedrich List und der Burschenschaften im Vormärz.

Und Lenin? Der russische Stratege, der ausgerechnet in seiner bekannten Schrift "Der 'linke' Radikalismus als Kinderkrankheit im Kommunismus" von 1921 ja auch gegen das nationalistische Lamento gegen den Versailler Vertrag Stellung bezog und die marginalen Versuche des Hamburger Nationalkommunismus zu dieser Zeit dezidiert ablehnte, war im Gegensatz zu Luxemburg kein prinzipieller Antinationalist. Eine generelle Verdammung des Nationalen wie bei Luxemburg war seiner Meinung nach dem "Krakauer Horizont" Luxemburgs geschuldet, die ihre polnische Erfahrung absolut setze. Der Taktierer Lenin hielt daran fest, dass angesichts der verschiedenen Positionen unterdrückter und unterdrückender Nationen auch deren Haltung gegenüber der Frage nach nationaler Eigenstaatlichkeit verschieden ausfallen müsse. Während Rosa Luxemburg die Frage der nationalen Selbstbestimmung als unvereinbar mit dem Klassenkampf bezeichnete und nationaler Kleinstaaterei - im Falle Polens - mit einem territorialen Autonomieansatz begegnete, wollte Lenin die nationale Frage jeweils in Hinblick auf die darin enthaltene Mobilisierungskraft gegen Unterdrückung und Reaktion betrachten, und dadurch den Klassenkampf befeuern lassen, ohne dass die nationale Bewegung die Klassenbewegung überdeckt. Luxemburg war Antinationalistin, durchaus in einem doktrinären Sinne und sie kritisierte Lenin; doch das macht Lenin noch lange nicht zum Nationalisten. Vielmehr wollte er den russischen Vielvölkerstaat mit allen möglichen Kniffen, Tricks und Zugeständnissen als kompaktes Revolutionsgebiet vor einem Zerfall retten und den Eindruck einer russischen Dominanz angesichts des zaristischen Erbes vermeiden, um die Revolution zu retten. Diesen Kamalitäten revolutionärer Politik in einer peripheren und von inneren, quasi-kolonialen Gefällen geprägten Region war Rosa Luxemburg schlicht nicht ausgesetzt.

Mitte der 30er Jahre urteilt der Rätekommunist Paul Mattick, der sich rückblickend in der Auseinandersetzung zwischen Lenin und Luxemburg unverwunden auf Luxemburgs Seite schlug: "Lenins Taktik - die Ausnützung der nationalen Bewegungen zu weltrevolutionären Zwecken - hat sich geschichtlich als verfehlt erwiesen. Die Warnungen Rosa Luxemburgs waren berechtigter, als ihr dies jemals hätte recht sein können. Die 'befreiten' Nationen bilden einen faschistischen Gürtel um Rußland. Die "befreite" Türkei schlachtet, mit den ihr von Rußland gelieferten Waffen, die Kommunisten ab. Das in seinem nationalen Freiheitskampf von Rußland und der Dritten Internationale unterstützte China würgt seine Arbeiterbewegung nach dem Muster der Pariser Kommune ab. Abertausende von Arbeiterleichen bestätigen Rosa Luxemburgs Auffassung, daß die Phrase vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen nichts als 'kleinbürgerlicher Humbug' ist." (Mattick 1935) Führt eine grade Linie von Lenins Selbstbestimmungsrecht gar zur Saarabstimmung und dem Überfall der Nazis auf die Tschechoslowakei unter der Losung "Befreiung der Sudetendeutschen"? Kann man Lenin als schändlichen Wegbereiter eines barbarischen Nationalismus markieren und Rosa Luxemburg einfach zur hellsichtigen Vorgängerin des in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts unter deutschen Linken modisch gewordenen Antinationalismus oder gar Antideutschtums erklären? Ich denke Nein. Ganz im Gegensatz zu der zuweilen anzutreffenden Überhöhung Luxemburgs zur flexiblen Denkerin, ist ihre zuweilen recht starre Theorieproduktion und die von ihr verwendete Sprache auffallend. Luxemburgs vertrat noch in ihrer Schrift "Nationalitätenfrage und Autonomie" von 1908/1909 einen emphatischen Begriff von Fortschritt in Form staatlichen Zentralismus' und kapitalistischer Entwicklung, Fortschritt als Mechanik, auf der der Sozialismus schließlich aufbauen könnte, selbst der Absolutismus erscheint im Lichte notwendiger Gesellschaftsformung. Immer wieder zitiert sie zustimmend Engels, den sie beständig mit Marx verwechselt, wenn dieser - damals noch in direkter Konkurrenz zu Bakunin - den Föderalismus, den Anarchismus und die angeblich "geschichtslosen Völker" und deren angeblich sinnlose Aufstände mit dem objektiven Verlauf der Weltgeschichte konfrontiert. Engels und Marx gingen 1848/49 von einer historischen Notwenigkeit der deutschen Hegemonie aus; sie wollten lediglich den alten "Kulturnationen" der Deutschen, Italiener, Ungarn und Polen ein Selbstbestimmungsrecht einräumen, deren Gegenbild die slawischen Massen - unfähig zu Staatsbildung - darstellten. An dem antislawischen Ausfällen von Engels, der sich in Begriffen wie "Volkstrümmer" und "Völkerabfälle" beispielsweise in Bezug auf die Slowaken ausdrückte, nahm die Revolutionärin Luxemburg in dieser Schrift keinen Anstoß, stattdessen will sie ihre Ablehnung des polnischen Nationalismus im besonderen und des Nationalismus im allgemeinen in diese Tradition einschreiben. Wobei sie die Position von Marx und Engels aus dem Jahre 1848 Polen gegenüber genau verkehrte: Für Marx/Engels war die Eigenstaatlichkeit Polens der entscheidende, Entwicklung und Fortschritt versprechende Schritt im Kampf gegen den zaristischen Feudalismus, für Luxemburg sollte die polnische Arbeiterklasse gemeinsam an der Seite der russischen gegen den Zarismus kämpfen.

Luxemburg, Lenin, Marx und Engels betonen allesamt die Vorzüge eines mit harter Knute vereinheitlichten Staates, weil sie einschätzten, dass ein solcher das Zusammenwachsen der Arbeiterschaft und somit die Bedingungen für eine sozialistische Revolution fördern würde. Karl Korsch bezeichnete diesen Glauben ab den 1950er Jahren nur noch als mythische Identifizierung der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie mit der sozialen Revolution der Arbeiterklasse. Und kein anderer als der Marxist und Antistalinist Roman Rosdolsky sprach in diesem Zusammenhang von einer idealistischen, hegelianischen Seite der Position von Engels von 1849 mit seinem barbarischen Konzept der 'geschichtslosen' Völker, die staatlichen Großterritorien einfach zu weichen hätten. Auch durch Rosa Luxemburgs Text von 1908/09 weht dieser Geist - und bis zu ihrer Kommentierung der Russischen Revolution bleibt sie darin ungebrochen. Rosdolsky empört sich so über die "grotesk-doktrinäre Einstellung" Rosa Luxemburgs, die den russischen Revolutionären "die selbstmörderische Politik empfahl, die 'separatistischen Bestrebungen (innerhalb der Ukraine, G.H.) mit eiserner Hand ... im Keime zu ersticken'". (Rosdolsky 1979)

Dagegen präsentiert der Sammelband "Rosa Luxemburgs 'Akkumulation des Kapitals'. Die Aktualität von ökonomischer Theorie, Imperialismuserklärung und Klassenanalyse" von 2013 eine Marxistin, die sich weitgehend von der geschilderten Geschichtstheorie befreit habe. Vor allem Michael Löwys Aufsatz "Westlicher Imperialismus gegen Urkommunismus" macht auf ihren Kampf gegen die zerstörerischen Formen der kapitalistischen Durchdringung vormals nicht-kapitalistischer Milieus aufmerksam. Sie spricht vom Kampf des Kapitalismus mit "naturalwirtschaftlichen Gesellschaften" und "vom hartnäckigen Krieg des Kapitals gegen die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge der Eingeborenen", wobei sie detailreich die kolonialistische und imperialistische Politik in Asien, dem Osmanischen Reich oder Lateinamerika und Afrika darstellt. Die Auflösung subsistenzwirtschaftlicher Gemeinschaften ist hier nicht mehr notwendige und im Sinne einer höheren Geschichtsphilosophie wünschenswerte Auflösung alter, antiemanzipatorischer Verhältnisse, sondern stets ein Prozess der Destruktion gemeinschaftlicher Lebensformen, der neue Abhängigkeiten hervorbringt. Löwy konstatiert: "Indem sie die kapitalistische industrielle Zivilisation mit der kommunitären Vergangenheit der Menschheit konfrontiert, bricht Rosa Luxemburg mit dem linearen Evolutionismus, dem positivistischen Glauben an den 'Fortschritt' und all den banalen 'Modernisierungs'-Interpretationen des Marxismus, die bis zu ihrer Zeit vorherrschten." Sie beschreibt dabei ähnlich präzise und klar die Trennung von Produktionsmittel und unmittelbaren Produzenten als Grundbedingung einer modernen kapitalistischen Wirtschaft wie Marx dies in seinem bekannten Kapitel zur "ursprünglichen Akkumulation" tat. Sozialismus ist für Rosa Luxemburg am Ende ihrer Schrift "Die Akkumulation des Kapitals" von 1913 "zugleich von Hause aus Weltform und harmonisches System, weil sie nicht auf die Akkumulation, sondern auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte des Erdrundes gerichtet sein wird". Elemente der vorkapitalistischen Wirtschaftsformen, so zeigt Löwy, sind nicht mehr schlicht zur Strecke gebracht, sondern in veränderter Form Momente einer vollkommen neuen Gesellschaftlichkeit, die natürlich den Kapitalismus zu beerben weiß, aber die Produktion für die wirklichen Bedürfnisse zum Zweck hat. Ein neuer Anlauf mit Rosa Luxemburg?


Literaturverzeichnis:

Rosa Luxemburg, 1904: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in:
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1904/orgfrage/text.htm

Rosa Luxemburg, 1922: Zur russischen Revolution, in: Politische Schriften, Band 3, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 1968, Seite 106-141 Zuerst veröffentlicht 1922 von Paul Levi nach dem handschriftlichen Manuskript aus dem Nachlaß, oder auch:
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/index.htm

Rosa Luxemburg, "Nationalitätenfrage und Autonomie", Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Holger Politt, Berlin 2012

Rosa Luxemburgs, 'Akkumulation des Kapitals'. Die Aktualität von ökonomischer Theorie, Imperialismuserklärung und Klassentheorie, Herausgegeben von Ingo Schmidt, Hamburg 2013

Paul Mattick, Die Gegensätze zwischen Luxemburg und Lenin. In: Rätekorrespondenz Heft 12, August 1935, in: Karin Kramer Verlag (Hg.) Partei und Revolution, Berlin, o.J. , auch:
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/mattick/1935/10/luxemburglenin.htm

Dietmar Dath, Rosa Luxemburg. Leben Werk Wirkung, Suhrkamp BasisBiographie, Frankfurt am Main 2010

Roman Rosdolsky, Zur nationalen Frage. Friedrich Engels und das Problem der 'geschichtslosen' Völker, Berlin 1979

Kristine von Soden (Hrg.) ROSA LUXEMBURG, BilderLeseBuch, Berlin 1995

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Karl Reitter:

Tabuthema 9/11

"Willst du dir das wirklich antun" fragte mich ein guter Freund, als ich meine Absicht bekannt gab, das Schweigen eines großteils der Linken zu den Ereignissen im September 2011 in den USA zu kritisieren. Mit wenigen rühmlichen Ausnahmen wagt die Linke kaum, die offizielle Version des Pentagon zu den Flugzeuganschlägen zu bezweifeln. Wenn auf 9/11 Bezug genommen wird, dann wird die ideologische Nutzanwendung der US-Administration kritisiert. Die Ereignisse dienten als Vorwand, als ideologische Begründung, als probate Möglichkeit unter dem Banner des Krieges gegen den Terror weltweit militärisch einzugreifen, Bürgerrechte auszuhebeln, die USA in einem patriotischen Taumel zu versetzen und nicht zuletzt eine möglichst lückenlose, weltumspannende Überwachung zu installieren. Die offizielle Darstellung jedoch kritisch zu hinterfragen, das wagt kaum jemand.[1] Die Einschüchterung scheint funktioniert zu haben. Wer Zweifel anmeldet wird sofort zwangsweise in die Gesellschaft von Aluhutträgern, Antisemiten, Paranoikern und UFO Gläubigen eingemeindet.[2] Unter diesem Aspekt wird man im Internet leicht fündig. Eine Atombombe soll unterirdisch die Türme des Word Trade Centers zum Einsturz gebracht haben können wir lesen, andere Webseiten behaupten, es hätte gar keine Flugzeuge gegeben, sondern Hologramme hätten diese nur simuliert. Zum Glück werden wir vor diesen Irren gewarnt. Mit schöner Regelmäßigkeit melden sich um die Jahrestage dieses Ereignisses PsychologInnen und selbsternannte ExpertInnen zu Wort, die uns über die wirre Welt der Verschwörungstheoretiker aufklären.[3] Naiv wäre es auch zu meinen, die Diskussion um die Ereignisse würden sozusagen sich selbst überlassen bleiben. Systematisch läuft die Denunziation und Herabwürdigung all jener, die, wie einige kritische JournalistInnen, entsprechende Bücher schreiben und Blogs betreiben. Unseriöse Schaumschläger würden damit viel Geld verdienen, werden wir aufgeklärt. Think Thanks, deren Wirkung und Bedeutung von der Linken strukturell unterschätzt wird so meine Ansicht, gehen es grundsätzlicher an. Das britische Institut Demos etwa publizierte 2010 eine Studie,[4] die sich mit der systematischen Bekämpfung von sogenannten Verschwörungstheorien beschäftigt. Es steht für mich außer Zweifel, dass diese Denunziationen wirken. Wer also massive Zweifel an der offiziellen Darstellung äußert, dem kann passieren, dass ein Schenkelklopfer mit: "Ja klar, Elvis lebt und Bielefeld gibt es nicht" antwortet. Wer also ernsthafte Zweifel anmeldet riskiert, seinen oder ihren guten Ruf zu verlieren.

Aber vielleicht ist das Risiko gegenwärtig gar nicht mehr so groß. Angesicht der Enthüllungen von Edward Snowden dürfte so manchen das Lachen vergangen sein. Wer wusste davor, dass eine Behörde wie die NSA überhaupt existiert und dass sie ernsthaft versucht, das Internet und alle damit zusammenhängenden Aktivitäten und Profile lückenlos zu überwachen? Wer vor Jahren behautet hätte, die NSA lässt Router manipulieren[5] um auch interne Netzwerke ausspionieren zu können, hätte bestenfalls ein mildes Lächeln geerntet. Nicht nur diese Enthüllungen, auch die aktuell tobenden Informationskriege - Stichwort Ukraine - haben die Sensibilität für den Wahrheitsgehalt offizieller Erklärungen und Behauptungen erhöht. Informationen aller Art sind durchaus zu haben, genaue Recherche genügt oftmals. Möglicherweise ist heute die richtige Situation um auch die Linke aufzufordern, endlich damit aufzuhören, die offizielle Darstellung unkritisch und unkommentiert nachzusprechen.

Ich möchte vorweg meine Sichtweise darlegen. Ich bin nach längerer Beschäftigung mit der Thematik zum Schluss gekommen, dass einflussreiche Kreise der us-amerikanischen Geheimdienste und/oder der Regierung direkt oder indirekt involviert gewesen sein müssen. Irgendwo auf der Skala zwischen passiver Duldung und aktiver Planung muss es Interventionen gegeben haben. Wer, wie und in welchem Ausmaß bleibt offen. Für mich steht außer Zweifel, dass die offizielle Version so nicht stimmen kann, mehr als diese negative Aussage ist jedoch nicht möglich. Als leitender Begriff meiner Beschäftigung fungierte die Kategorie der Plausibilität. Was ich unter Plausibilität verstehe ist leicht zu erklären. Plausibel sind Informationen, die unserem Wissenstand und unserer Erfahrung entsprechen, unplausibel sind jene, die damit nicht zu vereinbaren sind. Das heißt aber nicht, dass sie in jedem Fall zu 100% zutreffen oder nicht zutreffen müssen. Ich gebe ein Beispiel: Wenn uns jemand erzählt er oder sie habe ein Geldbörse mit 50 Euro gefunden, so halten wir diese Nachricht für plausibel. Menschen verlieren Geldbörsen mit diesem Inhalt und andere finden sie. Wenn uns jedoch erzählt wird, jemand habe einen Plastiksack mit 300.000 Euro gefunden, so halten sie dies für unplausibel.[6] Wenn nun die Kategorie der Plausibilität an die Ereignisse um 9/11 angewandt wird, so müssen die Darstellungen, manche mehr, manche weniger, als unplausibel oder höchst unplausibel eingeschätzt werden. Klar gab es auch leicht zu widerlegende, dreiste Lügen. Unverfroren behauptete zum Beispiel die damalige Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice unmittelbar nach den Ereignissen, dass niemand es ahnen hätte können, dass Terroristen Flugzeuge entführen und als Waffe einsetzen. Selbstverständlich bezogen Militärs und Geheimdienste dieses Szenario in ihre Simulationen und Übungen mit ein. "Keine zwei Tage vor 9/11 simulierte die Luftverteidigungsbehörde NORAD die Entführung einer Passagiermaschine, die über New York zur Explosion gebracht werden sollte."[7] Aber darum geht es nicht. Es geht um jene Ereignisse, die gegen alle Erfahrungen und Einschätzungen behauptet werden.

Es existieren inzwischen jede Menge Berichte, sei es in Buchform, sei im Internet. Auch diese Recherchen beinhalten Fehler und Unstimmigkeiten. Zweifellos tummeln sich auch Obskuranten und Möchtegerns unter den KritikerInnen. Aber die Dokumentationen ergeben in Summe doch ein recht einheitliches Bild der Ereignisse. Ich kann und will hier nicht alle Fakten, die Anlass zum Kopfschütteln geben, anführen. Ich möchte mich auf eine knappe Skizze der zwei wesentlichen Aspekte konzentrieren, und weitere nur summarisch auflisten. Im Anhang findet ihr Hinweise auf weitere Quellen und Belege.

Wo blieben die Abfangjäger?

In einem beeindruckenden Interview[8] erklärt Oberstleutnant der NATO (A.D.) Jochen Scholz das übliche Prozedere, wenn Flugzeuge von ihrem Kurs abweichen oder sich nicht mehr melden. Es existiert ein genaues Protokoll, was und wann zu tun ist. Bei abweichendem Flugverhalten starten je nach den konkreten Bestimmungen die stets bereiten Jagdflugzeuge und nehmen Sichtkontakt auf, der Zeithorizont bewegt sich um die 20 Minuten. Dieser Einsatz ist nun keineswegs eine Seltenheit, sondern zählt zur Routine. Selbst im kleinen Luftraum Österreichs gibt es permanent Einsätze der Abfangjäger, wird auf Homepages des österreichischen Bundesheeres stolz berichtet.[9] Als im Februar 2014 eine Maschine entführt wurde und in Genf landete, geschah dies außerhalb der Dienstzeiten der Schweizer Luftraumüberwachung. Die Presse war voll des Spott und des Hohnes, ob denn Angriffe auf die Souveränität des Schweizer Luftraumes nur in den Bürozeiten erfolgen dürfen.[10] Aber keine Sorge, die entführte Maschine wurde von zwei französischen Kampfflugzeugen eskortiert. Diese Routinen wurden von den USA nach Pearl Harbor entwickelt und seither verfeinert. Und dass es sich um den Luftraum über New York und Washington nicht um irgendeine Zone handelt, dürfte sich von selbst verstehen. Wie lange waren die entführten Flugzeuge in der Luft? Flugzeug AA11 startete von Boston aus und erreichte nach 1 Stunde 44 Minuten in der Luft New York. Die Maschine mit der Flugnummer UA 93 flog 1 Stunde und 20 Minuten, bevor sie über Pennsylvania abgestürzt sein soll. Flug 175 benötigte 48 Minuten, bevor die Maschine in den Südturm des WTC einschlug. Flug 77 brachte es auf eine Flugzeit von 1 Stunde und 15 Minuten bis es das Pentagon erreichte. Wobei die Maschinen keineswegs den kürzesten Kurs einschlugen. Eine rationale Erklärung für diese Umwege waren die sogenannten "Funklöcher", das sind schmale Bereiche, in denen die US-Militärs und die zivile Flugbehörde FAA "lediglich Primärdaten", also bloße Punkte auf dem Radarschirm empfangen können.[11] Sekundärdaten liefern Informationen über Identität, Flughöhe, Fluggeschwindigkeit der Maschinen, Primärdaten sagen bloß, hier ist ein Objekt in der Luft. Exakt in diesen Korridoren wurden die Transponder[12] abgeschaltet, was zusätzliche Verwirrung hervorrufen musste. Die Frage, woher kannten die Entführer die exakte Lage solcher Korridore, blieb unbeantwortet. Fast auf Minuten genau verschleierten die Flugzeuge nach dem ersten Einschlag im WTC ihre Identität.[13] Kommunikation zwischen den Maschinen scheidet aus. Dass es Warnungen vor Flugzeugentführungen gab und das Szenario ihres Einsatzes als Selbstmordwaffe sogar geprobt wurde, kann wohl als Faktum verbucht werden. Und in einer solchen Situation soll die höchst entwickelte Flugabwehr der Welt in einer Gegend, die von militärischen Fliegerhorsten sozusagen gespickt ist (10 Meilen vom Pentagon entfernt befindet sich z.B. ein derartiger Stützpunkt), unfähig gewesen sein, auch nur ein Flugzeug zu erreichen? "NORAD (North American Aerospace Defense Command)", so erklärt Jochen Scholz im Interview, "hat jede Maus auf dem Radarschirm".[14]

Dass bei diesen Flügen nichts normal verläuft, musste jedem zivilen und noch mehr jedem militärischen Fluglotsen klar sein. Es stellt sich also die Frage, warum nicht unverzüglich Abfangjäger aufgestiegen sind, warum nicht ein einziger eines der vier Flugzeuge erreicht hat? Das kann nur unter zwei Voraussetzungen geschehen: Verwirrung und Verzögerung. Alle Untersuchungen, die sich mit den Ereignissen beschäftigen, berichten über diese Faktoren. Am 1. Juni 2001 wurde das Prozedere wesentlich verkompliziert, der Befehlsweg verlängert. Nach 9/11 wurde diese Verordnung wieder zurückgenommen. Ab diesem Zeitpunkt konnte nur Verteidigungsminister Donald Rumsfeld oder seine unmittelbare Vertretung den Einsatz von Abfangjägern erteilen.[15] Exakt an diesem Tage sind sechs bedeutende Militärübungen dokumentiert, wobei drei unmittelbar mit Flugzeugentführungen zu tun hatten (Vigilant Warrior, Vigilant Guardian, Global Guardian). "Zu diesen Manövern gehören neben einer fiktiven Flugzeugentführung sogenannte Inserts: virtuelle, doch eben von echten nicht zu unterscheidende Signale der Luftabwehr."[16] Ebenso wird von kaum erklärbaren Verzögerungen und Irreleitungen berichtet. Gestartete Abfangjäger wurden erstmals über den Atlantik beordert. Wir haben also die Wahl: Entweder halten wir es für plausibel, dass die angesagten Übungen ein derartiges Chaos angerichtet haben, sodass selbst die Profis bei NORAD nicht mehr in der Lage waren, echte von simulierten Radarsignalen zu unterscheiden. "Colonel Robert Marr soll sich später erinnern, es seien insgesamt 21 Flüge als entführt gemeldet, General Larry Arnold sprach gar von 29."[17] Oder wir halten das Chaos im Luftraum, die Verwirrung durch simulierte entführte Flugzeuge, die Tatsache, dass Entführer große Schleifen flogen um in Funklöchern die Transponder abzuschalten um ab diesem Zeitpunkt die Identität des Flugzeugs unkenntlich zu machen, sowie die vorher veränderte Prozederevorschriften für Fluglotsen für eine Folge von Pech, Pannen und Unzulänglichkeiten. Und dass sich all diese Geschehnissen exakt am 11. September kreuzten, war selbstredend Zufall.

Der Einsturz der drei WTC Gebäude

Auch der Einsturz der drei Gebäude des World Trade Centers ist keinesfalls so plausibel, wie suggeriert wird. Die Türme wurden so gebaut, dass sie Flugzeugeinschlägen standhalten. Dies wird offiziell offen zugegeben, allerdings wird darauf verwiesen, dass zum Zeitpunkt der Errichtung 1970 Verkehrsflugzeuge noch kleiner und leichter waren als 2001. Sicherheitsanforderungen müssen bei solchen gewaltigen Gebäuden klarerweise übererfüllt werden.[18] Dass 2001 Flugzeuge größer waren als zum Zeitpunkt der Errichtung, ist wohl ein schwaches Argument. Es wurde auch kaum benutzt. Als Ursache für den Einsturz wird keineswegs Erschütterung oder Beschädigung der tragenden Bauteile erwähnt, sondern Feuer. Nun haben Gebäude dieser Bauart stundenlang gebrannt ohne einzustürzen. Am 9. Februar 2009 brannte das vor der Fertigstellung 47-stöckige Hotel Mandarin Oriental in Peking stundenlang wie eine Fackel. Am 4. Mai 1988 brannte das 260 Meter hohe First Interstate Tower in Los Angeles auf mehreren Etagen. Am 12. November 2012 brannte in Dubai ein 34-stöckiges Hochhaus vollkommen aus. Am 4.4.2013 brannte ein 145 Meter hohes Wohnhaus in Grosny stundenlang lichterloh. Ein weiterer Großbrand ereignete sich in Philadelphia 1991, das Meridian Plaza 150 Meter hoch, brannte 18 Stunden lang in 8 Stockwerken. Keiner der Bauten ist zusammengestürzt.

Die Verbrennungstemperatur von Kerosin unter idealen Bedingungen (um die 800 Grad), die in einem Hochhaus unmöglich gegeben sein können liegt deutlich unter der Temperatur, bei der Stahl schmilzt (1200 Grad). Offiziell wurde argumentiert, dass die Stahlträger nicht geschmolzen sind, sondern bloß durch die Hitze ihre Festigkeit eingebüsst haben. Diese Theorie wurde später durch eine andere ersetzt: "In den ersten Tagen nach den Anschlägen war die einhellige Meinung, dass die Kersosinfeuer den Stahl in den betroffenen Bereichen geschmolzen hätten. Dann habe die Gewichtskraft der Gebäude den Rest erledigt. Wenn man die Bilder und die Art der Einstürze betrachtet muss man sagen völlig unmöglich. Also versuchte die FEMA[19] einen anderen Ansatz und zwar sahen sie den Grund für die Einstürze darin, dass die Verbindungen zwischen Kern und den Stockwerken nachgegeben hätten und daraufhin ein Stockwerk auf das tieferliegende geknallt war, dieses mitgerissen habe und eine Kettenreaktion ausgelöst hätte. Diese nunmehr zweite Version der Ereignisse bekam den bezeichnenden Namen Pancake Theorie."[20] Auch diese Theorie ist problematisch, da der Kern der Gebäude stehen bleiben hätte müssen. Zudem ist festzuhalten, dass fasst der gesamte Stahl in Windeseile nach Südostasien verkauft und eingeschmolzen wurde. Wissenschaftliche Untersuchungen waren in kürzester Zeit nicht mehr möglich. Es bleibt also eine offene Frage, warum die Türme praktisch mit Fallgeschwindigkeit (etwa 11 Sekunden, die Fallgeschwindigkeit liegt bei 9 Sekunden) zusammengebrochen sind, wie sie einer gezielten Sprengung entspricht.

Aber es war nicht bloß der Einsturz der Türme, sondern der Kollaps von WTC 7, der mich zum Skeptiker werden ließ. Dieses Gebäude wurde erst 1987 fertig gestellt, es war mit 174 Metern Höhe selbst ein imposantes Hochhaus und beherbergte eine Reihe von bedeuteten Institutionen wie die Steuerbehörde IRS, die Finanzaufsichtbehörde SEC und eine Außenstelle des CIA. Interessen, mit dem Einsturz auch heikle Unterlagen verschwinden zu lassen, existierten also zuhauf. Durch herabstürzende Trümmer soll es in Brand geraten sein um 17:20 mit Fallgeschwindigkeit in sich zusammenzustürzen. Diesmal konnte jedoch kein Kerosin brennen, sondern eben das Gebäude selbst, welches als erstes in der Geschichte des modernen Hochhausbaus durch diese Ursache kollabiert sein soll. Zudem trat der Brand lokal nur auf einer Ecke der den Türmen zugewandten Seite auf. Wie konnte es also symmetrisch zusammenstürzen?

Wie auch bei der offenen Frage der nicht erfolgten Flugabwehr mussten Erklärungen präsentiert werden. Das National Institute of Standards and Technology (NIST) erstellte im Auftrag der 9/11 Kommission eine Computersimulation, die die offizielle Sichtweise belegen sollte. NIST hat die Tatsache der Einsturzzeit, die praktisch dem freien Fall entsprach, offen zugegeben.[21] Die Input-Daten für das Computermodell, welches die Brandhypothese belegen sollte, wurden jedoch nie veröffentlicht - im Interesse der nationalen Sicherheit, wie es hieß.[22] Stattdessen, man verzeihe mir etwas Zynismus, wurde auf ein erstaunliches Phänomen verwiesen. Es nennt sich "Thermal expansion", also Ausdehnung der Stoffe unter Wärmeeinwirkung. Diese Erklärungen blieben nicht unwidersprochen: Auf der Webseite der Organisation Architects and Engineers for 9/11 Truth haben bis jetzt 2.216 Architekten und BautechnikerInnen folgende Petition unterschrieben:[23] "On Behalf of the People of the United States of America, the undersigned Architects & Engineers for 9/11 Truth and affiliates hereby petition for, and demand, a truly independent investigation with subpoena power in order to uncover the full truth surrounding the events of 9/11/01 - specifically the collapse of the World Trade Center Towers and Building 7. We believe there is sufficient doubt about the official story to justify reopening the 9/11 investigation. The new investigation must include a full inquiry into the possible use of explosives that might have been the actual cause of the destruction of the World Trade Center Twin Towers and Building 7"[24]. Wer sich die zahlreichen Videos des Zusammenbruches von WTC 7 ansieht, wer es mit Bildern kontrollierter Sprengung und mit jenen von Gebäudeeinstürzen vergleicht, muss schon einige Phantasie besitzen, um die offizielle Version plausibel zu finden.[25]

Weitere Merkwürdigkeiten

Alle bisher angeführten Aspekte sind keineswegs Beweise für eine Beteiligung offizieller Stellen an den Anschlägen. Ob die offiziellen Erklärungen als plausibel eingeschätzt werden, kann und muss jede und jeder für sich entscheiden. Ich jedenfalls halte sie für keineswegs überzeugend. Es existieren nun eine ganze Reihe weiterer Merkwürdigkeiten, die ich hier summarisch auflisten möchte. Weder für sich genommen, noch in Summe stellen sie eindeutige Belege dar. Erklärungsbedürftig sind sie trotzdem. Eingereist sind 15 der 19 Attentäter mit Visa, die im US-Konsulat in Dschiddah, Saudi-Arabien ausgestellt wurden. Ein Konsulat, das offenbar unter der Kontrolle des CIA steht "und immer noch als Einschleusungsbüro für befreundete 'Freiheitskämpfer' benutzt wird."[26] Die Flugschule Huffman Aviation in Venice Beach in Florida, in der sie ihre Ausbildung als Piloten absolvierten, ist eine Einrichtung, die einer genaueren Durchleuchtung angesichts dubioser Machenschaften bedürfte. Die Attentäter haben sich keineswegs so verhalten, wie es von gläubigen und fanatischen Muslimen erwartet wird. Anstatt Moscheen zu besuchen frequentierten sie Striptease Clubs und genossen reichlich Alkohol. Anstatt sich klandestin zu verhalten, bezahlten sie buchstäblich jede Pizza mit ihrer Kreditkarte, so, als wollten sie bewusst Spuren legen. Tarnung? Dass der Koffer von Mohammad Atta nicht in die Maschine verladen wurde, die er bestieg, ist plausibel. Ebenso deponierte er in seinem Mietauto jede Menge belastendes Material. Aber warum ein zu allem bereiter Selbstmordattentäter alle nur erdenklichen Beweisstücke für die Spur zu Bin Laden darin verstaute, ist doch merkwürdig. Apropos Attentäter. Alle Welt weiß, dass der CIA mit Hilfe Bin Ladens al-Qaida aufgebaut hatte, um mit ihrer Hilfe die russische Präsenz in Afghanistan zu stürzen, was bekanntlich gelang. Das Zerwürfnis folgte nach dem Sturz der Moskau orientierten Regierung in Kabul. Dass dem CIA die Attentäter gut bekannt waren, wird selbst offiziell nicht dementiert. Wie konnten sie in die USA einreisen? Warum wurde ihre Observierung eingeschränkt oder gestoppt, wie etwa Lieutenant Colonel Shaffer, er arbeitete für den Militärgeheimdienst DIA, in einem Buch zu belegen versucht?[27] Zudem behauptete er, dass ein Teil der Attentäter durch das Programm Able Danger[28] den Behörden durchaus bekannt war. Die Daten dieser Untersuchung wurden überdies später komplett vernichtet. Die Berichte, mit welcher Offenheit und Selbstsicherheit sie sich in den USA bewegten, lässt die Vermutung als plausibel erscheinen, zumindest ein Teil von ihnen habe als Doppelagent auch für den CIA gearbeitet. Das würde auch erklären, warum der FBI angeblich so wenig über sie wusste - im Gegensatz zum CIA. Diese Diskrepanzen wurden nach 9/11 sogar als offizielle Begründung für ihre rechtzeitige Nichtenttarnung genannt. Die Geheimdienste hätten so schlecht zusammengearbeitet.

Nachdenklich stimmt auch die Information, dass knapp vor 9/11 in unüblichem Ausmaß Put-Optionen auf Aktien von US-Fluggesellschaften getätigt wurden. Bei diesen Optionen wird auf fallende Aktien gesetzt, und tatsächlich verloren sie nach 9/11 rasant an Wert. Das berichten alle Quellen, die sich kritisch mit 9/11 beschäftigen, Dementis konnte ich keine finden. Dieses Thema wurde offiziell deswegen ad acta gelegt, weil keine Spur zu Bin Laden führte. Wenn er mit diesen Börsengeschäften nichts zu tun hat, dann haben diese Börsengeschäfte mit 9/11 ebenso nichts zu tun. Sieben Wochen vor 9/11 wurde das WTC von Larry Silverstein für 99 Jahre gepachtet und mit 3,55 Milliarden $ versichert. Nach 9/11 klagte Silverstein auf zwei unabhängige Schadfälle und erhielt nach mehrjährigen Gerichtsverhandlungen 4,6 Milliarden $.[29] WTC 7 war seit Mitte der 80er Jahre in seinem Besitz. "Dessen 2001 noch zu Buche standen Bankverbindlichkeiten von 383 Millionen Dollar stand eine Schadensversicherungssumme von 861 Millionen Dollar gegenüber, die Silverstein 2002 ausbezahlt wurde."[30]

"According to some estimates we cannot track $ 2.3 trillion [kein Tippfehler K.R.] in transactions.", das sagte Rumsfeld öffentlich am 10. September. "Track" meint hier nicht fehlt, sondern die Geldflüsse können nicht korrekt und eindeutig zugeordnet werden. Mit einem Wort, undurchsichtige Geldtransaktionen in gigantischem Ausmaß werden offenherzig zugestanden. Nach 9/11 war dieses Thema vom Tisch. Es war nicht zuletzt dank der Flugkünste von Hani Hanjour vom Tisch. Er soll die Maschine (Flug 77) hunderte Meter parallel zum Erdboden in das Pentagon gelenkt haben, zufällig in jenen Teil, der gerade renoviert wurde und jene Buchhaltungsunterlagen enthielt, die eventuell Licht in finanzielles Chaos hätte bringen können. Ein Manöver, das selbst erfahrene Piloten als höchst kompliziert erachten. Ihm jedenfalls wurde "von mehreren Fluglehrern bescheinigt, nicht einmal eine einmotorige Cessna handhaben zu können."[31] Eine ganz merkwürdige Geschichte ist auch der Fund des Passes von Satam Al-Suqami, einem der Entführer, die Flug 11 in einen der Türme gelenkt haben sollen. Dieser Pass habe das Flammeninferno heil überstanden und sei dann im Staub und den Trümmern gefunden worden. Diese Information ist keinesfalls eine Ente, das FBI hat diesen Pass 2006 bei einem Prozess, exakt mit dieser Geschichte verbunden, bei Gericht als Beweisstück vorgelegt. Bezüglich der Flugschreiber, die ja auch alle Gespräche im Cockpit aufzeichnen, existieren nur widersprüchliche Angaben. Offiziell wurde keine der vier Flugschreiber (jedes Flugzeug besitzt zwei Stück) in den Trümmern des WTC gefunden, Augenzeugen sagen hingegen anderes aus.[32] Die Flugschreiber jener Maschine, die das Pentagon als Ziel hatte, sollen unbrauchbar gewesen sein. Jener aus der offiziell über Pennsylvania abgestürzten Maschine blieb offenbar unversehrt. Aus der veröffentlichten Mitschrift der Worte aus dem Cockpit lässt sich jedoch nicht all zu viel ableiten.[33] Der offizielle 9/11 Report beziffert die Kosten für die Anschläge mit 400.000 bis 500.000 $. Woher das Geld stammte wurde aber nicht weiter untersucht. "Ultimately the question is of little practical significance."[34]

Befremdlich war auch das Verhalten des Verteidigungsministers Donald Rumsfeld. Anstatt sofort seine Aufgabe als Koordinator und Befehlshaber der Verteidigung der USA zu erfüllen, soll er zuerst nicht aufzufinden und dann minutenlang mit anderen Dingen beschäftigt gewesen sein um nach dem Einschlag der Maschine in das Pentagon medienwirksam auf dem Rasen davor den Sanitätshelfer zu mimen. Auch die Versteinerung des Präsidenten George W. Bush, als ihm bei einer Schulstunde in Sarasota (Florida) die Nachricht vom zweiten Flugzeugeinschlag mitgeteilt wurde, ist eigentümlich. Sie konnte in einem Film von Michael Moore bewundert werden. Warum er überhaupt die Schulklasse betrat, nachdem er die Nachricht vom ersten Einschlag erhalten hatte, ist ebenso merkwürdig. Und nicht zuletzt muss doch die Tatsache zu denken geben, dass bereits wenige Viertelstunden nach den Anschlägen Bin Laden und seine Truppe als Drahtzieher feststanden. Bin Laden wurde übrigens offiziell niemals beschuldigt, Mastermind von 9/11 gewesen zu sein, er selbst soll das stets entschieden bestritten haben. Ein Bekenntnisvideo, angeblich in einem verlassenen Gebäude in Afghanistan gefunden, war offensichtlich eine so plumpe Fälschung, dass rasch der Mantel des Schweigens über dieses Machwerk gelegt wurde. Während manche Prozesse am 11. September sich eigentümlich langsam und verzögert vollzogen, ging es bei anderen offenbar nicht schnell genug. Wer noch Bedürfnis an Eigentümlichkeiten besitzt, dem sei noch mitgeteilt, dass "Präsident Bushs Bruder Marwin und sein Cousin Wirt Walker III beide Direktoren in derjenigen Firma waren, die verantwortlich für die Sicherheit im WTC war."[35]

Bitte keine Spekulationen!

Ich wiederhole mich bewusst: Beweise sind all die seltsamen und höchst seltsamen Fakten nicht. Unter all jenen, die kritische Fragen stellen herrscht das Bedürfnis vor, eine lückenlose Indizienkette aufzubauen. Das kann nicht funktionieren. Nehmen wir noch mal die Passgeschichte her. Die Vermutung, ein Geheimdienst habe ihn einfach im Staub deponiert, ist kaum von der Hand zu weisen. Selbst wenn diese Annahme zutrifft, was beweist sie? Selbst wenn WTC 7 gesprengt wurde, wer hat den Auftrag dazu gegeben? Silverstein? Und wenn, dann wären wir bloß auf einen raffinierten Versicherungsbetrug gestoßen. Oft wird gegen all zuviel Skepsis eingewendet, irgendwer der Wissenden hätte sich doch an die Öffentlichkeit gewendet. Das führt zur Spekulation, was wurde von wem inszeniert, wie viele Personen waren daran beteiligt und in welcher Position? Das können nur diese Personen selbst wissen, zumal solche Operationen, und das wage ich zu sagen, in so viele Einzelschritte zerlegt werden können, sodass viele Involvierte nur über sehr eingeschränktes Wissen verfügen, welches für sich genommen, auch wenig besagt. Außerdem - wissen wir es, ob es nicht solche Versuche gab? Und was wäre wenn? Wenn z.B. ein Mitglied der Flugabwehr öffentlich behaupten würde, die Befehlskette sei bewusst verzögert worden? Abgesehen davon, dass diese Person um Leib und Leben fürchten muss und sie diese Enthüllungen nur aus dem Exil verlautbaren kann, über welche stichhaltigen Beweise würde diese Person verfügen? Oder betrachten wir den Flug UA 93. Offiziell hieß es, mutige AmerikanerInnen, die über ihre Mobiltelefone in Flughöhe von den Einschlägen in die Twin Towers informiert wurden, hätten die Entführer überwältigten, dabei aber das Flugzeug zum Absturz gebracht. Unmittelbar nach den Ereignissen wurde die Heldenstory tapferer Amerikaner jedenfalls medial ausgeschlachtet. Neil Young, dessen politisch republikanische Gesinnung kein Geheimnis ist, widmete dem zum amerikanischen Helden hochstilisierten Herrn Todd Beamer das Lied Let's Roll. Angeblich soll dieser wesentlich daran beteiligt gewesen sein, die Entführer zu überwältigen. Leider ist an dieser Geschichte kein Wort wahr. Dass die Passagiere ins Cockpit vordringen konnten, wird inzwischen sogar offiziös dementiert,[36] was freilich auf Webseiten, die sich über SkeptikerInnen lustig machen, immer noch behauptet wird.[37] Was war also die tatsächliche Ursache des Absturzes? Vor allem, ist es überhaupt abgestürzt? Nehmen wir einmal an, das Flugzeug sei, wie eigentlich zu erwarten, von Abfangjägern abgeschossen worden. Ich will auf die Details nicht eingehen, aber die Spuren auf der Absturzstelle lassen Zweifel aufkommen. Was wäre damit bewiesen? Doch nur das Faktum, dass das Weiße Haus einen unschönen Akt durch ein Heldenepos ersetzt hat. Wir können uns nur der Forderung nach lückenloser Aufklärung durch eine unabhängige Kommission anschließen, wie sie von einigen Organisationen in den USA erhoben wurden und erhoben werden.

Kein Interesse an Aufklärung

Eine derartige Kommission gab es bereits. Monate, ja jahrelang verweigerte die politische Führung der USA eine derartige Maßnahme. Erst auf Druck, insbesondere der Angehörigen der Getöteten, denen Respektabilität und ehrliches Interesse an Aufklärung nicht abgesprochen werden konnte, kam nach langen Zögern und politischen Manövern eine derartige Kommission zustande. Ein Novum bei Ereignissen dieser Tragweite. Sie folgte auf eine erste Untersuchung (FEMA Report), geleitet von den für die US-Nachrichtendienste zuständigen Ausschüsse des US-Kongresses. Im November 2002 wurde aufgrund des Drucks der Hinterbliebenen, die etwas abfällig als Jersey Girls[38] bezeichnet wurden, die eigentliche Kommission eingesetzt, die ihren Bericht im Juli 2004 vorlegte. Es wäre illusionär von einem Gremium, das ausschließlich von der politischen Elite der USA besetzt war, tatsächliche Aufklärung zu erwarten. Geleitet wurde sie von Philip Zelikow, einem engen Vertrauten der Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Beide zählten zu jeder ultrarechten, republikanische Clique, die um den 11. September die Machtpositionen der USA in Händen hielten. Als wesentliche Quellen wurden die unter Folter erzwungenen Aussagen von Khalid Scheich Mohammed benutzt. Allerdings hat ihn niemand aus der Kommission jemals zu Gesicht bekommen, noch konnten ihm Fragen gestellt oder die Verhörprotokolle eingesehen werden. "Der sogar für die offiziellen Untersucher des 11. September komplett unsichtbare und nach permanenter Folter vollgeständige Chefplaner der 9/11 Anschläge befindet sich seit 2002 (möglicherweise) in CIA-Gewahrsam und wurde nie öffentlich gehört."[39] Ein ziviles Verfahren, später kurzfristig von Obama angepeilt, wurde wieder verworfen. Immerhin gab es kritische Stimmen und einen prominenten Rücktritt: Max Cleland kritisierte die Arbeit der Kommission grundlegend.[40]

Die politisch gegängelte 9/11 Kommission brachte wenig überraschend keine wirkliche Klärung, aber manche Mitglieder konstatierten eindeutige Vertuschungen und vor allem den Willen von Behörden, schlichtweg die Unwahrheit zu sagen: "John Farmer, Jr., senior counsel to the Commission stated that the Commission 'discovered that...what government and military officials had told Congress, the Commission, the media, and the public about who knew what when - was almost entirely, and inexplicably, untrue.' Farmer continues: 'At some level of the government, at some point in time ... there was a decision not to tell the truth about what happened...The (NORAD) tapes told a radically different story from what had been told to us and the public.'"[41] Wie sehr der US-Regierung an der Aufklärung der Ereignisse im September 2011 gelegen war zeigt, wenn ich das so zynische formulieren darf, auch das Budget, das zur Verfügung stand: Die Zahlen variieren, aber alle Quellen sprechen davon, dass der 9/11 Kommission die Hälfte oder weniger jener Summe zur Verfügung stand, die für die Untersuchung der Clinton-Lewinski Affäre vier Jahre zuvor ausgegeben wurde.[42] Standen für die Aufklärung der amourösen Abenteuer des Präsidenten je nach Quelle 30 bis 40 Millionen $ zur Verfügung, so waren für die Untersuchung der Ereignisse um 9/11 ursprünglich drei, nach Protesten bloß fünfzehn Millionen $ vorgesehen.[43] Das Budget für die Untersuchung des Absturzes der Columbiafähre betrug 2004 152 Millionen, für die Challenger-Katastrophe 175 Millionen $.[44] Im Bericht wurde übrigens der Zusammenbruch von WTC 7 mit keinem einzigen Wort erwähnt.

Die Entlarver der KritikerInnen

Es gibt eine Reihe von Webseiten, unter anderem vom Nachrichtenmagazin SPIEGEL betrieben, in dem die Kritiker ihrerseits kritisiert werden. Wer, so wie ich, sich etwas genauer mit den Ereignissen beschäftigt hat, kann sich nur wundern. Schlampig, pappig im Stil, die KritikerInnen permanent denunzierend und beleidigend, werden dem Publikum einige Brocken hingeworfen, so man sich nicht überhaupt an zweifellos existierenden obskuren Aussagen hochzieht. Widersprüche, offene Fragen - niemals. Der Einsturz von WTC 7? NIST (National Institute of Standards and Technology) habe alle Verschwörungstheorien schlüssig widerlegt und die Kritiker zum Schweigen gebracht, werden wir angeschnauzt. Dass die Unterlagen für die Computersimulation im Interesse der nationalen Sicherheit unter Verschluss blieben, dazu kein Wort. Dass auf den Seiten der KritikerInnen genaue Auseinandersetzungen mit dem NIST Bericht gab, wird verschwiegen oder vielleicht auch gar nicht registriert. Und so weiter, und so fort. Für jedes Phänomen, für jede offene Frage, für jedes unplausible Geschehen gibt es eine punktgenaue, glasklare und unbezweifelbare Erklärung. Die schönste Entlarvung fand ich aber in einem Artikel von Henryk M. Broder. Wer ist überhaupt Schuld an den ganzen dümmlichen Fragen und an den lächerlichen Zweifeln? Das Internet! "Die Verschwörungstheorien, die nach dem 11. September 2001 in Umlauf kamen, wären ohne das Internet über ein paar alternative Kifferstuben und Erste-Hilfe-Stationen für Verwirrte nicht hinausgekommen." belehrt uns Broder. "Mit dem Recht, eine Meinung verbreiten zu können, verhält es sich so wie mit den meisten Rechten, die auf einer unausgesprochenen Vereinbarung beruhen: Wenn sie von allen wahrgenommen werden, schaffen sie sich selbst ab. Wenn alle Menschen zur gleichen Zeit in ihre Autos steigen würden, käme der Verkehr zum totalen Stillstand. (...) Und genau das ist die Verheißung des Internets. Die wichtigste Erfindung seit dem Buchdruck schafft nicht nur eine universale Zeit in einem universalen Raum, im dem sich jeder ausbreiten kann. Das WWW ist auch maßgeblich für die Infantilisierung und Idiotisierung der Öffentlichkeit verantwortlich." [45]

Schlussfolgerung

Erstens: Die Forderung nach einer tatsächlich unabhängigen, finanziell und personell ausreichend ausgestatteten Untersuchungskommission ist nach wie vor zu erheben. Zweitens: Wenn auf die Ereignisse um 9/11 Bezug genommen wird, so würde es allen zur Ehre gereichen, die offizielle Version nicht unkommentiert und blauäugig zu übernehmen. Die Courage, nicht vor den Anfeindungen und Denunziationen zurückzuweichen, können wir doch alle aufbringen. Auch wenn uns dann ein Herr Broder mit Verachtung straft.


Anmerkungen

[1] Dieses Verhalten steht z.B. klar im Gegensatz zur Reaktion auf die offizielle Darstellung der Todesnacht 1977 im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Dass sich die vier inhaftierten Mitglieder der RAF kollektiv zum Selbstmord entschlossen und diesen auch durchgeführt hätten, wurde (nicht nur) von der Linken durchwegs bezweifelt.

[2] Widerlegungen in diesem Stil existieren zuhauf. Webseiten, Medienberichte, ja Filme in Spiellänge. Das Muster ist immer dasselbe. Alles, was es an phantastischen Theorien gibt wird mit ernsthaften Einwänden vermengt und so verächtlich gemacht. Zumeist haken die AutorInnen an besonders abstrusen Darstellungen ein, je wahnwitziger, desto medienwirksamer.

[3] Ein Musterbeispiel ist die diesbezügliche Wikipedia Eintragung http://de.wikipedia.org/wiki/9/11_Truth_Movement Alle KritikerInnen werden in einen Topf geworfen um dann genüsslich zu konstatieren: "Die angebotenen Erklärungen sind vielfältig, teils widersprüchlich und inkonsistent. Demgemäß bekämpfen sich einige Teilgruppen der 9/11-Truth-Bewegung." Die Demagogie dieses Eintrags lässt sich anhand der Person William Rodriguez aufzeigen. Als einer der Hausmeister des Nordtums überlebte er den Zusammensturz. "Er gehörte 2004 zu den etwa 1200 Zeugen, die die 9/11 Commission befragte, und 27 ausgewählten Zeugen, die das National Institute of Standards and Technology befragte. In beiden Zeugenaussagen äußerte er sich nicht über Explosionsgeräusche.", lesen wir auf der Webseite, von denen er später berichtete. Auf die Idee, dass - da nicht sein darf, was nicht sein kann - seine Aussagen eventuell zensuriert wurden, sind die Urheber dieses Textes offensichtlich nicht gekommen. Stattdessen wird er als Wichtigtuer und Selbstdarsteller entlarvt. "Seit seinem verlorenen Prozess hält er als ein Sprecher des 9/11 Truth Movements in vielen Staaten Vorträge, in denen er sich als Retter hunderter Überlebender, der Letzte, der das Gebäude verlassen habe, und Helfer vieler 9/11-Opfer darstellt." Nun, zweifellos gibt es Personen, die die Aufmerksamkeit einer Szene genießen und ihr alles erzählen, was diese so hören will. Aber wäre es nicht fairerweise angebracht gewesen die Tatsache, dass "For his outstanding heroism during America's desperate hour, William Rodriguez received a special commendation for valor from President George W. Bush at a special White House ceremony." (Quelle: http://www.thetruthseeker.co.uk/?p=31991) zu erwähnen? (Abgerufen am 1.8.2014)

[4]Quelle: http://www.hintergrund.de/201008311108/globales/terrorismus/verschwoerungstheorien-britischer-think-tank-rueckt-skeptiker-in-die-naehe-des-terrorismus.html (Abgerufen am 30.7.2014)

[5]Quelle: http://derstandard.at/1399507570092/NSA-manipuliert-Router-beim-Export-aus-den-USA (Abgerufen am 28.7.2014)

[6] Es sein denn, eine Person aus der Familie Grasser habe versucht, im verwirrten Zustand nach Lichtenstein zu reisen. (Das ist ein innenpolitischer Scherz liebeR LeserInnen aus D.)

[7] Sebastian Range, "9/11: Perfektes Drehbuch - Schlechter Film", in: Hintergrund 3/2011, Seite 12. Matthias Bröckers und Christian Walther dokumentieren in ihrem Buch "11.9. Zehn Jahre danach" insgesamt 26 Übungen, bei denen Flugzeugentführungen simuliert wurden. Und das alles soll die Sicherheitsberaterin des Präsidenten nicht gewusst haben?

[8] http://www.youtube.com/watch?v=4iY6HBXAk1k (Abgerufen am 28.7.2014)

[9] http://www.doppeladler.com/oebh/lrue.htm : "2002 kam es zu 54 Alarmstarts der Draken! Etwa einmal pro Woche löste ein verdächtiger Kontakt Alarm aus." Und http://www.airpower.at/news02/1023_f-117a/ informiert: "Etwa 20 bis 30x im Jahr brennt der Hut und die Luftraumüberwachungsflugzeuge des Bundesheeres steigen scharf bewaffnet (30 mm Bordkanone & Sidwinder-Lenkwaffe) zu einem Abfangeinsatz auf." (Abgerufen am 28.7.2014)

[10] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/schweizer-luftwaffe-soll-ausserhalb-der-buerozeiten-fliegen-a-954529.html (Abgerufen am 28.7.2014)

[11] M. Bröckers, Ch. C. Walther, "11.9. - Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes", Frankfurt am Mein 2011, Seite 185

[12] Transponder melden von sich aus die Identität des Flugzeugs und wichtige Daten an die Bodenstationen.

[13] "Denn ein weiterer Aspekt, der sich mit der offiziellen Theorie schwer in Einklang bringen lässt, ist die präzise Gleichzeitigkeit der Ereignisse in den zehn Minuten kurz vor 9.00 Uhr. Um 8.46 Uhr schlug das erste Flugzeug ins World Trade Center ein. Sekunden später, um 8.47 Uhr, änderte das zweite Flugzeug seinen Transpondercode und verschleierte damit seine Identität. Um 8.51 Uhr wendete das zweite Flugzeug. Um 8.54 Uhr dann wendete das dritte Flugzeug, das seinerseits um 8.56 Uhr seinen Transponder abschaltete. So wurden in nur zehn Minuten die Fluglotsen quasi überrumpelt - und das von drei Maschinen aus, deren "Entführer" zu diesem Zeitpunkt gar nicht untereinander kommunizieren konnten. Da die genannten drei Flüge alle mit unterschiedlichen Verspätungen zwischen 10 und 15 Minuten starteten, scheidet vorherige Absprache von Atta und Co. als Grund für die signifikante Gleichzeitigkeit aus."
http://www.heise.de/tp/artikel/35/35438/1.html (Abgerufen am 29.7.2014)

[14] http://www.youtube.com/watch?v=4iY6HBXAk1k, Minute 1:50 (Abgerufen am 15.7.2014)

[15]Quelle: M. Bröckers, Ch. C. Walther, "11.9. - Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes", Frankfurt am Mein 2011, Seite 124

[16] Sebastian Range, "9/11: Perfektes Drehbuch - Schlechter Film", in: Hintergrund 3/2011, Seite 7

[17]Quelle: M. Bröckers, Ch. C. Walther, "11.9. - Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes", Frankfurt am Mein 2011, Seite 159.

[18] Auf der Webseite
http://911-research.info/html/Fakten/weitere-fakten-zur-statik.html findet ihr interessante Überlegungen bezüglich Statik und der Stabilität der Gebäude (Abgerufen am 18.7.2014)

[19] "Die Federal Emergency Management Agency (FEMA; deutsch Bundesagentur für Katastrophenschutz) ist die nationale Koordinationsstelle der Vereinigten Staaten für Katastrophenhilfe und ist dem Ministerium für Innere Sicherheit der Vereinigten Staaten unterstellt."
http://de.wikipedia.org/wiki/Federal_Emergency_Management_Agency (Abgerufen am 15.7.2014)

[20] http://911-research.info/html/Fakten/fema-report.html (Abgerufen am 15.7.2014)

[21] http://www.youtube.com/watch?v=rVCDpL4Ax7I (Abgerufen am 15.7.2014)

[22] http://cryptome.org/nist070709.pdf (Abgerufen am 15.7.2014)

[23] http://en.wikipedia.org/wiki/Architects_%26_Engineers_for_9/11_Truth (Abgerufen am 15.7.2014)

[24] http://www.ae911truth.org/signatures/Petition-2000-AEs-13-09.pdf (Abgerufen am 22.7.2014)

[25] Ich empfehle eine vorurteillose Betrachtung folgendes Videos:
http://www.youtube.com/watch?v=JnLcUxV1dPo Wie salopp und lakonisch trotz allem Zweifel weggewischt werden, zeigt ein Artikel von Florian Rötzer. Er beruft sich auf das Computermodell von NIST, bedauert, dass leider keine Stahlträger von WTC 7 zur Untersuchung zur Verfügung stand und schreibt: "WTC 7 habe, so NIST, einige Eigenheiten besessen, die den ungewöhnlichen und bislang einzigartigen Einsturz ermöglichten. Das Gebäude habe nicht nur eine ungewöhnliche Architektur gehabt, sondern sich auch über einer U-Bahn und einer Stromstation befunden." Das ist alles.
http://www.heise.de/tp/news/Einsturz-des-WTC-Turms-7-offiziell-geklaert-2011132.html Und mit dieser dürren Aussage ist das Problem vom Tisch? (Abgerufen am 22.7.2014)

[26] M. Bröckers, Ch. C. Walther, "11.9. - Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes", Frankfurt am Main 2011, Seite 113

[27] http://en.wikipedia.org/wiki/Anthony_Shaffer_%28intelligence_officer%29 (Abgerufen am 29.7.2014)

[28] http://de.wikipedia.org/wiki/Able_Danger (Abgerufen am 28.7.2014)

[29]Quelle: M. Bröckers, Ch. C. Walther, "11.9. - Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes", Frankfurt am Mein 2011, Seite 217

[30] M. Bröckers, Ch. C. Walther, "11.9. - Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes", Frankfurt am Mein 2011, Seite 218

[31] Sebastian Range, "9/11: Perfektes Drehbuch - Schlechter Film", in: Hintergrund 3/2011, Seite 12

[32] http://www.911myths.com/index.php/The_Black_Boxes , ebenso: http://www.rense.com/general64/fbi.htm

[33] http://en.wikisource.org/wiki/Flight_93_Cockpit_Transcript (Abgerufen am 30.7.2014)

[34] Zitiert nach: M. Bröckers, Ch. C. Walther, "11.9. - Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes", Frankfurt am Mein 2011, Seite 269. Diese Aussage finde sich im Kommissionsbericht auf Seite 172. www.9-11commission.gov/report/911Report.pdf (Abgerufen am 1.8.2014)

[35] http://www.911-archiv.net/Ermittlungsakten/der-911-kommissionsbericht-eine-571-seiten-luege.html (Abgerufen am 1.8.2014)

[36] Z.B.: http://www.faz.net/aktuell/politik/11-september-terroristen-brachten-flug-93-selbst-zum-absturz-1112960.html (Abgerufen 19.7.2014)

[37] Es existieren einige Webseiten, unter anderem auch vom SPIEGEL, die vorgeben, kritische Einwände schlüssig zu widerlegen. Viele sind um eine Stufe schlampiger und summarischer als die kritischen. Ein Beispiel sei genannt. Es geht um den Wunderpass von Satam Al-Suqami. "Wie konnte der Pass eines der Terroristen die Explosion überstehen?" frägt etwa Hubertus Volmer auf der Webseite
http://www.n-tv.de/politik/119/Die-vielen-9-11-Luegen-article4268816.html Die Antwort: "Die Webseite 911myths.com stellt zunächst die Gegenfrage: Warum hätten die US-Behörden den Pass in der Nähe des Tatorts platzieren sollen? Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Verschwörung ist einfach nicht plausibler als die Wahrscheinlichkeit, dass der Pass von Satam al-Suqami, der vermutlich im Flug AA 11 saß, die Explosion überstanden hat. Zumal der Pass keineswegs das einzige Objekt aus Pappe und Papier war, das die Katastrophe überstand. Auf der Straße vor dem World Trade Center fand ein Broker etwa einen Zettel mit Informationen über die Flugroute eines Verkehrsflugzeugs. Klingt unwahrscheinlich? Wie ist es damit: Ein paar Würmer, mit denen im All Experimente gemacht worden waren, überlebten den Absturz der Raumfähre Columbia am 1. Februar 2003, bei dem die gesamte Besatzung ums Leben kam." Was ein Wurm kann, kann ein Pass noch lange, oder wie war die Botschaft?

[38] https://en.wikipedia.org/wiki/Jersey_Girls (Abgerufen am 1.8.2014)

[39] M. Bröckers, Ch. C. Walther, "11.9. - Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes", Frankfurt am Mein 2011, Seite 58

[40] "Er legte jedoch kurz darauf sein Mandat zurück, beschuldigte das Weiße Haus öffentlich 'die Arbeit der Kommission zu unterminieren' und bezeichnete die Untersuchungskommission als 'nationalen Skandal'. Stattdessen nahm er einen Aufsichtsratsposten in der Export-Import Bank of the United States an, in der er von 2004 bis 2009 tätig war." http://de.wikipedia.org/wiki/Max_Cleland (Abgerufen 19.7.2014)

[41] http://en.wikipedia.org/wiki/9/11_Commission (Abgerufen 19.7.2014)

[42] http://www.smoking-guns.info/index.php/9/11_Commission (Abgerufen 29.7.2014)

[43] http://www.911komplott.de/index.php?option=com_content&task=view&id=302&Itemid=27

[44]Quelle: M. Bröckers, Ch. C. Walther, "11.9. - Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes", Frankfurt am Mein 2011, Seite 32

[45] http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/das-internet-macht-doof/796288.html (Abgerufen 1.8.2014)


Einige kritischeQuellen:

http://911-research.info/ Beschäftigt sich vor allem mit physikalischen Fragen der Gründe für den Einsturz der drei Gebäude und verweist auf politische Hintergründe

http://www.historycommons.org/project.jsp?project=911_project Auf dieser Seite werden akribisch die Zeitabläufe rekonstruiert

http://www.911truth.org/ Eine sehr umfangreiche Seite, die alle Aspekte abzudecken versucht

http://www.youtube.com/watch?v=2bURmYCFJNI Ein ausführliches Gespräch mit Oberstleutnant aD J. Scholz

http://www.youtube.com/watch?v=yxcGmqtNeUA Ein kommentiertes Video vom Zusammenbruch des WTC 7 Die Echtheit dieses Videos ist sozusagen offiziell, es lief auf vielen us-amerikanischen Fernsehstationen. Es ist einem Zusammenschnitt von 23 verschiedenen Videos enthalten: http://www.youtube.com/watch?v=JnLcUxV1dPo

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Robert Foltin:

Autonomer Antiimperialismus

In den 1960ern erreichte der Prozess der Entkolonialisierung sein Ende, bis auf Ausnahmen erreichte ein großer Teil der Staaten des globalen Südens die formale Unabhängigkeit. Durch die Existenz der Sowjetunion war es in einem Teil der Staaten möglich, eine vom Westen unabhängige Politik zu machen. Die anderen waren nicht mehr wie die Kolonien als Absatzmärkte interessant, sondern entwickelten sich zu Rohstoffproduzent_innen und verlängerte Werkbank mit billigen Arbeitskräften. Nicht umsonst war die dominierende Theorie der Gegner_innen dieser Weltordnung die sogenannte Dependenztheorie, die davon ausging, dass die Verwirklichung des aktuellen Kapitalismus in der ungleichen Aufteilung der Welt besteht und dass die richtige Strategie dagegen eine nachholende Industrialisierung notwendig mache. Wenn es Staatschefs wagten, den Besitz internationaler Konzerne zu nationalisieren, d.h. einen Teil der Gewinne im eigenen Land zu verwerten, war das bei den entsprechenden Kräfteverhältnissen ein Grund für militärische Interventionen der USA, wie in den 1950ern im Iran, in Guatemala und der Dominikanischen Republik.

Im Rahmen des Konzeptes der "Eindämmung" eines realen oder projizierten kommunistischen Vormarsches führten die USA seit 1964 einen offenen Krieg in Vietnam. Durch den Widerstand gegen diesen (aber auch durch die Siege in Kuba 1959 und Algerien 1962) wurde der Antiimperialismus zu einem wichtigen Thema der Bewegung der Studierenden. Wenn die Hauptaktivität auch gegen den US-Imperialismus gerichtet war, wurde auch die deutsche Bewaffnung der portugiesischen Kolonialmacht und die Unterstützung von Diktatoren des Südens wie den Schah von Persien, den Franco-Faschismus in Spanien oder die Obristendiktatur in Griechenland durch die BRD skandalisiert und in Demonstrationen angeprangert. Nur kleine Minderheiten unterstützten die Befreiungsbewegungen direkt, die meisten beschränkten sich auf die radikale Parole "Sieg dem Vietkong". In der Folge wurden Verbindungen zu den entsprechenden Befreiungsorganisationen gesucht, die ins ideologische Konzept passten, die kommunistische Linke orientierte sich an den von der Sowjetunion unterstützten Staaten und Bewegungen, die Maoist_innen (Marxisten-Leninisten) an solchen, die auch gegen den "Sozialimperialismus" auftraten. Die libertäre Szene kritisierte schon damals autoritäre Entwicklungen und richtete sich an bewaffnet kämpfende Bewegungen, die noch keinen Staat hatten. Die Unterstützung war nicht unkritisch, aber fast immer wurde angenommen, dass die sozialen Komponenten der Befreiungskämpfe die nationalen auf lange Sicht dominieren werden.[1] Indirekt floss eine aus der Komintern (Kommunistische Internationale) kommende Etappentheorie ein: die nationale Befreiung sei ein erster Schritt zur Emanzipation (vgl. die Kritik daran an der Erklärung der Revolutionären Zellen 1991: "Gerd Albartus ist tot", ID-Archiv 1993, S. 28). In der zweiten Hälfte der 1970er war schon zu erkennen, wie sich einige siegreiche Regime entwickelten. Am erschreckendsten waren die Massaker in Kambodscha. Verstärkt durch den Krieg zwischen Vietnam und China wurde der Antiimperialismus immer mehr in Frage gestellt. Es blieb der Kampf gegen den Imperialismus, weil dessen Unterstützung von Diktatur und Folter ja nicht aufgehört hatte. Im Gegenteil, diese wurden mehr wie in der Türkei 1980, Lateinamerika wurde inzwischen überhaupt von Diktaturen überzogen.

"Neuer" Antiimperialismus

Als für die Linke im globalen Süden gar nichts mehr zu gehen schien, erlitt der (US)-Imperialismus eine seiner größten Niederlagen nach dem Rückzug aus Vietnam: Im Februar 1979 wurde das iranische Schah-Regime, eine der stärksten Bastionen des "Westens" im Nahen Osten, gestürzt. Obwohl die Linke den Widerstand gegen das Schah-Regime trug, setzte sich der reaktionäre Antiimperialismus des Mullah-Regimes durch. Waren die siegreichen antikolonialen Kämpfe in den letzten Jahrzehnten Guerillakriege, die sich in "Volkskriege" verwandelten, so kehrten mit der iranischen Revolution wieder die städtischen Aufstände zurück. Die iranische Revolution war nur der zugespitzteste Ausdruck eines Typus von Revolte, die ihre Basis in den städtischen Slums hatte und noch hat. Diese entzündeten sich häufig an der Verteuerung von Grundnahrungsmitteln, weshalb sie als Brotrevolten, Hungerunruhen oder Anti-IWF-Unruhen (Internationaler Währungs Fond) bezeichnet wurden (der IWF verlangte die Abschaffung von Subventionen auf Grundnahrungsmittel): ihre Ausdrucksformen waren Massendemonstrationen, Krawalle und Plünderungen. Die Protangonist_innen aus den Slums der Städte wurden damit das Subjekt eines "neuen" Antiimperialismus[2].

Für den autonomen Antiimperialismus ging es nicht um die Beschreibung des Elends, des Hungers und der Schlächtereien, sondern darum "von wem das Blut stammt", nicht den Privilegierten, sondern der weltweiten Armut. Es sollten auch nicht bestimmte Befreiungsbewegungen bewertet werden und nicht beklagt, dass sich fast überall neue Eliten an die Spitze der Staaten gesetzt hatten, denn "uns geht es nur darum [...] nach ihrem Gebrauchswert für eine sozialrevolutionäre Bewegung zu fragen." (AUTONOMIE Neue Folge Nr. 10, S. 2) In den 1960ern herrschte in den postkolonialen Regionen des Südens die paradoxe Situation, dass die Multis zu wenig Arbeitskräfte fanden, obwohl es einen Überschuss an Menschen gab (das Folgende nach AUTONOMIE Neue Folge Nr. 10, S. 4ff). Die bäuerlichen Verhaltensweisen passten sich nicht an die Notwendigkeiten des Arbeitsmarktes an. Es wurde nur so viel gearbeitet, bis genug Geld als Ergänzung zur bäuerlichen Subsistenz vorhanden war. Die Bäuer_innen wehrten sich in Guerillakriegen, wie etwa die "maoistischen" Naxaliten in Indien. Die "Grüne Revolution", die Einführung von "Hochertragssorten", eingesetzt zur "Bekämpfung des Hungers" industrialisierte die Landwirtschaft mit den negativen Folgen wie massivem Einsatz von Düngemitteln, Umweltzerstörung und Monokulturen. Ein (Neben)effekt wird besonders betont: die Vertreibung der Bäuer_innen von ihren kleinen Landwirtschaften (die "Grüne Revolution" gegen die "Rote Revolution"). Diese Vertreibung der Bäuer_innen von ihrem Land ist mit ein Grund für die Hungerkatastrophen, die in den 1970ern die Medien füllten. Hatten bis dahin postkoloniale Regime noch versucht, reformerische Entwicklungen zu fördern und damit eine "konsumierende Klasse" der Arbeiter_innen und Bäuer_innen, so wird das jetzt durch Diktaturen mit Unterstützung der Multinationalen Konzerne beendet. Die "neue internationale Arbeitsteilung" bedeutete die Errichtung von Freien Produktionszonen und Weltmarktfabriken, in denen weder soziale noch demokratische Rechte gelten. Inseln der Billigarbeit, oft hauptsächlich Frauen und Kinder, schwimmen in einem Meer der Armut.

Viele der von ihrem Boden Vertriebenen finden sich in den Slums wieder und überleben dort durch die Zunahme des informellen Sektors: "Kleinstproduzenten, Besitzern von Kleinläden, fliegenden Händlern und Gelegenheitsarbeitern, kurz den ärmsten aller unterdrückten sozialen Schichten" (AUTONOMIE Nr. 10, S. 49). Diese Strukturen und die Arbeit der Frauen machen es möglich mit den geringen Löhnen zu überleben. "Die Klasse der Nicht-Arbeiter" (Autonomie Nr 10, S. 46ff) hat ihre Moral vom Land mitgebracht, eine "moralische Ökonomie" für gerechte Preise der (Über)Lebensmittel, sind in den Hungerrevolten häufiger Konsument_innen aktiv und nicht Produzent_innen. Die Kampfformen verändern sich. War die Kampfform für die bäuerliche Bevölkerung der Guerillakrieg, so sind es jetzt Aufstände in den Slums, die sich an Preiserhöhungen entzünden. Diese IWF-Revolten richten sich sowohl gegen den Imperialismus in Gestalt des IWF wie auch gegen die eigenen Eliten. Gegen diese Unruhen sowohl durch ländliche Guerilla wie Slumrevolten wird Bevölkerungspolitik eingesetzt: "Entwicklung" bedeutet die Verhinderung hoher Geburtenraten, nicht geborene Kinder sind billiger als militärische Gewalt gegen "überflüssige" Unterklassen. Bevölkerungspolitik wird so in Überschneidung mit feministischen Aktivitäten zu einem zentralen Angriffspunkt autonomer Politik.

Ausgehend von dieser Analyse und beflügelt durch die europäischen Revolten und militanten Auseinandersetzungen 1980/1981 ist das sozialrevolutionär antiimperialistische Konzept der AUTONOMIE (Nr. 10, S. 60ff) die Gleichzeitigkeit einer neuen Massenarmut von prekär Lebenden in den Metropolen und den Aufständen in den drei Kontinenten. Die Unterklassen des globalen Südens haben ohne Angriffe in den Metropolen keine Chance, die sich in den Unruhen in London, Zürich, Amsterdam und auch Berlin bereits abzeichnete. Der Kongress von IWF und Weltbank wurde im September 1988 in Berlin zu einer drei Jahre andauernden Kampagne der Autonomen genutzt. Nicht mehr der Sieg nationaler Befreiungsbewegungen steht auf der Agenda, sondern Unterdrückung und Ausbeutung durch transnationale Konzerne und internationale Organisationen.[3] Die Bekämpfung der Gen- und Reproduktionstechnologie wird als Teil des antiimperialistischen Kampfes gesehen. So wendet sich die Rote Zora gegen den Zwang im Süden, Kinder zu verhindern. Als der amerikanische Präsident Ronald Reagan in der Bundesrepublik Mittelstreckenraketen aufstellen lässt (die NATO-Nachrüstung), entsteht dagegen die (zahlenmäßig) stärkste Bewegung, die es je in Europa gegeben hat. Die (vielleicht noch nicht) Autonomen trugen die militanten Auseinandersetzungen gegen Rekrutenvereidigungen etwa im Mai 1980 in Bremen und sahen sich als Teil dieser Anti-Kriegs-Bewegung. Sie beteiligten sich, obwohl versucht wurde, sie als "gewalttätig" auszugrenzen. Ihre Kritik an der Friedensbewegung beschränkte sich nicht allein auf die kontrollierbare Zurücknahme von Aktionsformen, sondern setzt sich auch inhaltlich damit auseinander. Die Argumente werden in dem Papier der RZ "Krieg - Krise - Friedensbewegung" am deutlichsten ausgebreitet, wahrscheinlich das meist gelesene Papier der RZ: die Aufrüstung mit Raketen wird kritisiert, während die Friedensbewegung die realen "heißen" Kriege des Imperialismus ignoriert, wie von Großbritannien um die Falklandinseln/Malvinas. Die Bedrohung werde nur abstrakt gesehen, in Europa dominierten apokalyptische Vernichtungsfantasien (ID-Archiv 1993, S. 467f). Antiamerikanische und neutralistische Positionen wurden in Frage gestellt,[4] wie sie in Teilen der Friedensbewegung existieren (472ff). Im selben Aufsatz betonen sie auch den "Bankrott nationaler Entwicklungsmodelle" und ihre Einpassung in das ökonomisch-imperialistische Weltsystem: "Der forcierte Nationalismus, dieses zweischneidige Erbe der Entkolonialisierung, der so lange nationale Eliten und Unterklassen zusammengeschmiedet hat, wird als Klammer offensichtlich brüchig." (S. 476) Es wird bereits die Fruchtlosigkeit der "Etappentheorie" konstatiert, an der sich manche Antiimperialist_innen weiter orientierten. Nach der deutschen Einheit wurde der Internationalismus von einigen ganz verworfen, andere reden nicht mehr darüber. Es herrscht die Auffassung vor, dass der Antiimperialismus der 1980er unkritisch gewesen wäre. "Und damals wurde, wie so oft, wenn bei uns eine richtige Kritik geübt wird, das ganze über Bord geworfen. Um diese Fehler nicht mehr zu machen, um nichts falsch zu machen, hat man lieber überhaupt keine internationalistische Politik mehr gemacht. Irgendwie hat das dazu geführt, dass für viele Deutschland zum Nabel der Welt wurde," betont eine interviewte Internationalistin in AK Wantok (2010, S. 278). Als Antwort auf die rassistischen Mobilisierungen wird von Teilen der Szene Antirassismus zum Betätigungsfeld, ohne darauf einzugehen, dass dieser aus dem Antiimperialismus entstanden ist und und sich nicht von der internationalen Aufteilung der Welt abtrennen lässt.

Antirassismus

"Rassismus sei bis in die 1980er kein Thema gewesen, wie Ingrid Strobl 1992 schrieb, muss ebenso wie die Kritik, es habe keine Migrant/innen in den Reihen der Linken gegeben und der theoretische Austausch mit vom Rassismus Betroffenen habe gefehlt, wovon Klaus Viehmann im selben Jahr ausging, relativiert werden." (Seibert 2008, S. 14) Von den Migrant_innen in Zusammenhang mit den deutschen Operaist_innen war schon die Rede, sowohl in den Betriebsgruppen wie im Häuserkampf in Frankfurt der 1970er. Antirassistische Kämpfe spielten schon vor 1968 eine Rolle, wenn auch nicht so bezeichnet, wie z.B. die Kampagnen gegen den rassistischen Film "Africa Addio" (Seibert 2008, S. 35ff) In den 1960ern und 1970ern wurde gegen Auslieferungen von Genoss_innen an Griechenland, in den Iran, in arabische Staaten, nach Lateinamerika und nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 protestiert. Traurige Berühmtheit erlangte der Tod von Cemal Altun am 30. August 1983, der sich aus dem Fenster des Verwaltungsgerichtes in Berlin stürzte. Er hätte als Linker an die Türkei ausgeliefert werden sollen (Seibert 2008, S. 181ff) Der Unterschied zu späteren Kämpfen mit Flüchtlingen war, dass es damals Genoss_innen waren, für die sich die Bewegungen einsetzten. Nicht nur die Diktaturen, sondern auch die massiven ökonomischen Einbrüche im globalen Süden führten in den 1980ern zu einer Zunahme von Flüchtlingen. Die Regierungen in Europa begannen die Bedingungen für diese zu erschweren: Visumzwang, Arbeitsverbote, Sachleistungen statt Geld und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit. So begann eine autonome Flüchtlingspolitik, die die von Unterstützer_innenkreisen aus kirchlichen und sozialen Bereichen ergänzte. Die RZ schalteten sich bereits 1986 mit einem Papier ("Zorn Extra") ein, der ihre antiimperialistische Motivation begründete: Sie sehen die Flüchtlingsarbeit als "konkreten Antimperialismus". "Die Migrationsbewegungen [...] sind Ausdruck und Folge der Zerstörungen, mit denen der Imperialismus die Herkunftsländer überzieht; ihre Anzahl ist die Kehrseite des tatsächlich erreichten Grades an kapitalistischer Durchdringung." (ID-Archiv 1993, S. 539) Die Maßnahmen gegen die Flüchtlinge seien solche, die später arbeitslose Jugendliche und ausgesteuerte Proleten betreffen werde (S. 540). "Es ist das gleiche imperialistische System, das die Menschen dort vertreibt, sie hier in Lager sperrt und ihnen als Sozialpolitik gegenüber tritt." (S. 542)

Eine Revolutionäre Zelle kritisierte 1992 ihren damaligen Aktivismus als gescheitert ("Das Ende unserer Politik" Jänner 1992, ID-Archiv S. 35ff). Sie hätten sich damals in der Flüchtlingsarbeit engagiert, um die Politik der Autonomen um die antirassistische Komponente zu erweitern. Eine gesamtgesellschaftliche Perspektive sollte eingebracht werden. Es sei ihnen nicht gelungen, daraus eine breitere Kampagne zu entwickeln, weil sie "Flüchtlingspolitik ohne Flüchtlinge" gemacht hätten (S. 41). Aufgrund der Verschärfung der staatlichen Flüchtlings- und Ausländerpolitik und den pogromartigen Übergriffe (der Auftakt mit den Ausschreitungen in Hoyerswerda war im September 1991 schon gemacht) hätte die radikale Linke endlich die Brisanz des Themas erkannt. Die Gesetze gegen Migrant_innen und Flüchtlinge wurden scheibchenweise verschärft und nach der deutschen Einigung eskalierte diese Entwicklung durch rechtsradikale Anschläge und pogromartige Mobilisierungen. Die Ermordung von Ausländer_innen und Menschen, die nicht ins rechtsradikale Bild passten wurden zu einem weit verbreiteten Phänomen. Heime für Asylwerber_innen wurden angezündet und forderten Todesopfer: drei am 23. November 1992 in Mölln, fünf Tote am 29. Mai 1993 in Solingen, zehn Tote am 18. Jänner 1996 in Lübeck.

Noch schockierender waren nicht die rassistischen Taten rechtsradikaler Einzeltäter, sondern die Belagerung von Wohnheimen von "Ausländer_innen" durch tausende Menschen, meist Anrainer_innen. Von 17. bis 20. September 1991 griffen Bewohner_innen und Sympathisant_innen von Neonazis in Hoyerswerda zuerst ein Vertragsarbeiter_innenheim und schließlich ein Flüchtlingsheim an. Die Migrant_innen wurden abtransportiert und machten Hoyerswerda zur "ersten ausländerfreien Stadt" Deutschlands. Dieser Erfolg provozierte eine Reihe weiterer Ausschreitungen. In Mannheim-Schönau demonstrierten Ende Mai 1992 Anwohner_innen gegen Flüchtlinge. Vom 22. bis zum 26. August 1992 wurde das Regenbogenhaus in Rostock-Lichtenhagen von Tausenden belagert und angezündet. Nur durch Glück konnten sich hunderte Menschen über das Dach eines Nachbarhauses retten. Die Polizei griff erst mit großer Verzögerung ein und ging dabei konsequenter gegen Antifaschist_innen vor, die die vietnamesischen Vertragsarbeiter_innen schützen wollten. Dieses Pogrom bestätigte die Regierung darin, das Asylrecht in Deutschland endlich abzuschaffen (als wichtigste Maßnahme gilt die Drittstaatenregel, nur im Ankunftsland darf ein Asylantrag gestellt werden). Das konnte auch eine Demonstration von Zehntausenden in Bonn nicht verhindern. Weil der Regierung der rechtsradikale Terror aus dem Ruder lief und das internationale Image litt, wurden Rechtsradikale doch verfolgt. Antirassistische Lichterketten in ganz Deutschland traten 1992 ausdrücklich gemäßigt gegen die offene "Ausländerfeindlichkeit" auf. Das Asylrecht konnte weiter drastisch eingeschränkt werden, von manchen als Abschaffung bezeichnet. Besonders deutlich war das in Österreich, wo die Sozialdemokratie zum dortigen Lichtermeer "Gesetze statt Ausländerhetze" plakatierte. Ein staatlich angeordneter Rassismus wurde als Alternative gegen eine unkontrollierte Fremdenfeindlichkeit gesetzt (vgl. Foltin 2004, S. 228f). Antirassismus wurde ein wichtiges Betätigungsfeld der autonomen Bewegung. Neben öffentlichkeitswirksamen Aktionen wurden Grenzcamps organisiert, um die Überwachung der Grenzen zu beobachten und wenn möglich zu stören. Ergänzt wurde das durch Workshops und Diskussionen. Das erste Grenzcamp im September 1992 in Rechnitz, im Süden Österreichs, behinderte den Einsatz des österreichischen Bundesheeres an der Grenze (vgl. Foltin 2004, S. 227). Ein weiteres folgte im August 1998 in Forchtenstein, an der damaligen Schengengrenze zu Ungarn. In Deutschland wurde das erste Grenzcamp 1998 in Görlitz an der polnischen Grenze "aus der feministischen, autonomen Bewegung von und für FrauenLesben(Transgender) organisiert. Die weiteren sechs Grenzcamps wurden unabhängig davon aus der gemischtgeschlechtlichen autonomen Bewegung organisiert." (Wiesental 2011, S. 78f) Nach der EU-Erweiterung um eine Reihe osteuropäischer Staaten verlagerte sich die rassistische Überwachung immer öfter ins Innere und an die Grenzen Europas und des Mittelmeeres. Autonome FrauenLesben versuchten immer wieder die spezielle Situation von weiblichen Flüchtlingen einzubringen, in den meisten Camps wurden auch eigene Bereiche für FrauenLesben und später auch Transgender abgegrenzt (Groß 1997, S. 190f).

Immer wieder tauchen in den Camps Probleme zwischen (privilegierten) Mehrheitsdeutschen und Flüchtlingen oder Migrant_innen auf. "Paternalismus heißt für mich auch, Gleichheiten zwischen Menschen herzustellen, die dann doch keine sind." (cross the border 1999, S. 71) Das wird in einer Diskussion von Aktivist_innen von "Kein Mensch ist illegal" geäußert. Dazu wurden mögliche Änderungen angesprochen (Wiesental 2011, S. 84f): Die Sprache muss eine sein, in denen die Unterstützer_innen nicht privilegiert sind, die ungleiche Ressourcenverteilung muss angesprochen werden wie auch die Möglichkeiten, die weiß-deutsche Aktivist_innen im Vergleich zu Flüchtlingen und Migrant_innen haben, nämlich dass sie in ihren Alltag zurückkehren können. Festgeschriebene Bilder, was Status, Klasse, Bildung, Hautfarbe, Religion usw betrifft, müssen in Frage gestellt werden wie die Weiß-deutsche Dominanz und ein (oft unbewusster) Eurozentrismus. Wirkliche Lösungen außer, dass darüber geredet wird, wurde aber nicht gefunden. Die theoretischen Diskussionen, die in den USA durch die Bürger_innenrechtsbewegung und Black Power ausgelöst worden waren und die Solidarität und der Aktivismus mit Schwarzen GIs in Deutschland (vgl. Seibert 2008, S. 99ff) hatten vorerst keinen direkten Einfluss auf die analytische Betrachtungsweise des Rassismus. Erst in den 1980ern griffen Feministinnen die Diskussionen Schwarzer Frauen aus den USA auf und setzten sich mit der Situation von Migrantinnen auseinander. Die Kritik an einem Weißen "Mittelklassefeminismus" sollte die mehrheitsdeutsche, männliche (und heterosexuelle) Linke allerdings genauso treffen. In den 1990ern (mit dem Papier "Drei zu Eins) erreichte die Diskussion über die vielfache Unterdrückung durch "Klassismus, Sexismus und Rassismus" die autonome Szene.

Die postkoloniale Theorie bot eine Einordnung dieser Fragen, wenn auch keine Lösung (das folgende nach Grimm 1997). Die Postcolonial Studies entstanden aus den Cultural Studies, die sich hauptsächlich mit Kultur als Alltagspraxis beschäftigen. So analysiert Edward Said Dokumente, die zeigen, dass die tatsächliche Beschaffenheit des "Orients" nichts mit der Realität zu tun hat, sondern von den westlichen Forscher_innen und Beobachter_innen konstruiert wurde. Gayatri Spivak setzte den Schwerpunkt darauf, dass die "epistemische Gewalt" des Westens die "Subalternen" zum Schweigen bringe. Sie finden nicht nur keine Repräsentation, sondern sie werden auch nicht dargestellt. Selbst wenn sie handelten, werde das mit einem eurozentristischen Blick bewertet[5]. Homi Bhabha versucht Möglichkeiten des Widerstands außerhalb der kolonialen Autorität und der stummen Verdrängung indigener Traditionen zu finden, indem er das Konzept der "Hybridisierung" einführt. Diese Auflösung kultureller Identitäten mache die Migrant_innen zu revolutionären Subjekten, die sich schließlich nicht mehr in rassistische oder nationalistische Diskurse einschreiben müssen (S. 52f). Für die Bewegungen gehe es um die kulturellen Dimensionen des Kolonialismus/Imperialismus. In der Geschichte wird aufgezeigt, dass Dichotomien wie Demokratie-Despotie, zivilisiert-primitiv, fortschrittlich-rückschrittlich, rational-irrational immer wieder angewendet werden, um die Unterschiede zwischen Kolonisator_innen und Kolonisierten festzumachen.[6] Ähnliche Konstruktionen können im aktuellen Rassismus immer wieder festgestellt werden, etwa wenn es um die Rolle des Islams und des Westens geht, häufig wird die "primitive, rückschrittliche, irrationale Frau unter dem Diktat des muslimischen Mannes" an der Sichtbarkeit des Kopftuches festgemacht (vgl. Müller-Uri 2014).

Herrschaftsstrukturen drücken sich nicht nur in Kriegen und Unterdrückung von Menschen des globalen Südens aus, sondern im konkreten Rassismus auf der Straße und in den Institutionen, den immer schärfer werdenden staatlichen Maßnahmen und im Ausbau der Grenzbefestigungen der "Festung Europa". Migration verläuft in einem Spannungsfeld zwischen dem rassistischen Diskurs in der Bevölkerung, in den Medien und in der Politik, dem Versuch der staatlichen Kontrolle der Migration zwischen Abschottung und Regulierung, die bis hin zu tödlichen Maßnahmen sowohl an den Grenzen, in den Gefängnissen und auf der Straße reicht, sowie der Aktivität von Antirassist_innen aus der Mehrheitsbevölkerung, die sich zwischen Paternalismus ("moralischer Antirassismus") und Zusammenarbeit mit sich wehrenden Flüchtlingen und Migrant_innen bewegt. Letzteres ist Thema und Aktivität der Autonomen. "Die Entwicklung sozialer Gegenmacht können wir uns nur als international zusammengesetzte und orientierte Bewegung vorstellen, an deren Vernetzung wir mitknüpfen wollen." (AG Grauwacke 2003, S. 316). Entscheidend ist aber die Tätigkeit der Migrant_innen zur Überwindung von Grenzen und zum Leben und Überleben in Europa. Die Bewegung der Menschen findet unabhängig von den Kontrollfaktoren statt und sehr oft ist sie unauffällig und beiläufig und gerade aus diesem Grund erfolgreich (vgl. Bojadzijev 2008, S. 120). Das wird als "Autonomie der Migration" diskutiert, die Unabhängigkeit der Bewegung trotz Rassismus und Abgrenzungs- und Unterdrückungsmaßnahmen. Meisten sind die Aktivitäten unsichtbar, aber immer wieder gibt es spektakuläre Aktionen, die Bleiberecht fordern oder nur einfache Menschenrechte. Der Widerstand geht von der Überquerung der Grenzen über Besetzungsaktionen bis hin zu Hungerstreiks in den Gefängnissen.

Migrant_innen versuchen auf vielen Wegen dorthin zu kommen, wo sie bessere Lebenschancen vermuten und wo sie bereits Menschen kennen. Durch die immer stärkere Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheiten in und um die Festung Europa sind sie immer mehr von Fluchthelfer_innen ("Schlepper_innen") abhängig. Gesetze und Verordnungen werden erlassen, um die verwandtschaftlichen und sozialen Netze zu zerreißen und die Migrant_innen möglichst zu vereinzeln. Zeitweise nimmt das die gewaltsame Form eines Krieges gegen Flüchtlinge an (mit tausenden Toten nicht nur im Mittelmeer). Das Schengener Abkommen von 1995, das die Bewegungsfreiheit in der Europäischen Union regelt, bedeutet für Migrant_innen, dass sie selbst dann nicht mehr relativ sicher sein können, wenn sie die Grenze überquert haben, sondern dass immer mehr "inländische" Räume wie Bahnhöfe oder Bundesstraßen zu Grenzräumen umdefiniert werden und Kontrollen unterliegen. Im September und Oktober 2005 stürmten afrikanische Migrant_innen erstmals medial sichtbar die Grenzzäune zwischen Marokko und den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, einige Hundert waren erfolgreich, mindestens 14 starben an den Zäunen, hunderte wurden verletzt. Viele wurden von der marokkanischen Polizei in die Sahara deportiert und verdursteten dort (vgl. Milborn 2006. "Gestürmte Festung Europa"). So sichtbar war das Sterben an den Grenzen der "Festung Europa" bisher noch nie. Inzwischen gehören die Toten dort und im Mittelmeer schon zum Alltag, obwohl versucht wird, die Überwachung und das Auffangen der Migrant_innen auf den afrikanischen Kontinent zu verlagern. Auch wenn viele Auseinandersetzungen unsichtbar stattfinden, es gibt sie, ob an den südlichen Grenzen Europas, in Transitlagern wie Calais oder in den Städten.

2012 beginnt eine bisher beispiellose Welle von Flüchtlingsprotesten in Deutschland. Nach dem Selbstmord eines iranischen Asylwerbers wurde die besonders harte Politik Bayerns in die Öffentlichkeit getragen. Was mit einem Hungerstreik von Flüchtlingen in Würzburg im März anfing, breitete sich im Sommer und Herbst auf andere Städte aus. Ein Angriffspunkt war die Residenzpflicht, die es Flüchtlingen nicht erlaubt, innerhalb von Deutschland zu reisen. Im Herbst marschierten Flüchtlinge von Würzburg nach Berlin, dort wurde auf dem Oranienplatz ein Flüchtlingscamp errichtet und die Gerhardt-Hauptmann-Schule besetzt. Im Mai 2013 fordert eine Gruppe "Lampedusa[7] in Hamburg" ein Bleiberecht und führte Aktionen durch. Berlin und Hamburg sind aber nur die Spitze eines Eisberges von Protesten, ähnliches ereignet sich in vielen Städten Europas, so das Refugee Protest Camp vor der Votivkirche in Wien. Ende Juni/Anfang Juli will die Stadtteilregierung der Grünen 2014 in Berlin die Gerhardt-Hauptmann-Schule räumen lassen, muss dieses Vorhaben aufgrund der breiten Proteste durch Anrainer_innen, Schüler_innen und Antirassist_innen aufgeben. Bei allen Demonstrationen der um 2000 entstehenden "Antiglobalisierungsbewegung" (oder "globale Protestbewegung oder "Bewegung der Bewegungen") bildete die Kritik an den Migrationsregimen einen wichtigen Teil, überall beteiligten sich Vertreter_innen des globalen Südens, aber auch Flüchtlinge, Migrant_innen und ihre Unterstützer_innen.

Globale Protestbewegung

Bei einem Großteil der autonomen Szene in den 1990ern scheint der Internationalismus verschwunden zu sein. Auf Grund des Falls der Mauer 1989 und der deutschen Einheit 1990 stehen andere Themen im Zentrum: Antirassismus und noch mehr Antifaschismus. Es hatte aber auch damit zu tun, dass in den 1990ern die Feinde des Imperialismus, mit denen sich die Öffentlichkeit auseinandersetzen musste, nicht die "Guten" waren wie der Irak Saddam Husseins oder das Jugoslawien von Slobodan Milosevic. Bei einem Teil von ihnen führte das bis hin zur Unterstützung militärischer Aktionen des "Westens"[8]. International gesehen war das anders. Die globale Protestbewegung trat zwar erst mit den Krawallen von Seattle im November 1999 an die Öffentlichkeit, hat aber eine Vorgeschichte, wozu Aufstände in Venezuela, Bolivien und Ecuador gehören, die großen Streiks in Frankreich 1994 und 1995 gegen die Pensionsreformen, die Überwindung des italienischen Winters in den 1980ern durch eine Bewegung der Studierenden, dem Kampf von Migrant_innen und vieler "Sozialer Zentren" in ganz Italien. Und einiges mehr. Als direkte Vorgeschichte gelten die Zapatist_innen in Chiapas, dem südlichsten Bundesstaats Mexikos. Als am 1. Jänner 1994 das North American Free Trade Agreement (NAFTA, Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) zwischen Kanada, den USA und Mexiko in Kraft trat, begann in Chiapas die bewaffnete Erhebung durch das Ejercito Zapatista de Liberación National (EZLN, Zapatistische Armee der nationalen Befreiung). Einige Städte wurden besetzt, Land und Freiheit sowie mehr Rechte für die indigene Bevölkerung gefordert. Nach zehn Tagen Gegenoffensive der mexikanischen Armee und dem Rückzug der EZLN in die Wälder wurde auf Druck der Öffentlichkeit ein Waffenstillstand durchgesetzt. Seit dem existieren die selbstverwalteten Dörfer und die Zapatist_innen machen immer wieder mit politischen Interventionen auf sich aufmerksam.

Die Zapatist_innen lehnen im Gegensatz zu konventionellen Guerillas die zentrale Rolle des bewaffneten Kampfes ab, sie ordnen ihn der Organisation der Gemeinden unter. Die EZLN und der Subcomandante verstehen sich als abhängig von der Selbstorganisation in den Dörfern (den "Räten der guten Regierung"). In den Äußerungen nach außen beeinflussen libertäre Elemente wie das "gehorchende Befehlen" (Basisdemokratie und imperatives Mandat) und "Fragend gehen wir voran", das sich gegen vorgegebene Revolutionskonzepte richtet. Eine Machtübernahme im Staat wird abgelehnt. Der "Sieg" war nur möglich, weil internationale Kommunikationskanäle genutzt wurden, nicht nur das Internet, sondern auch die Art der Sprache des Subcomandante, poetisch statt agitatorisch und proklamierend. Internationale Treffen 1996 in Chiapas und 1997 in Spanien wurden zur Geburtsstunde von peoples global action (PGA). PGA ist ein Netzwerk von Gruppen wie den road protesters aus Großbritannien oder den Tute Bianche aus Italien, aber auch von Organisationen aus dem globalen Süden wie die Besetzer_innen der brasilianischen Bäuer_innenorganisation MST oder organisierten Kleinbäuer_innen aus Indien und Südkorea. Obwohl bei den Protesten gegen die Gipfel der Herrschenden viele aus dem globalen Süden stammten, wurde das meist von den Medien ignoriert (Habermann 2002, S. 145ff).

PGA zieht eine konfrontative Haltung der Lobbyarbeit vor, zielt auf (gewaltlosen) zivilen Ungehorsam und vertritt eine dezentrale und autonome Organisationsphilosophie. Zur zweiten WTO-Konferenz in Genf trat diese globale Allianz das erste Mal mit einem globalen Aktionstag an die Öffentlichkeit. In Genf demonstrierten an die 10.000 Menschen, parallel dazu fanden in sechzig Ländern Aktionen dazu statt, allein in Indien über hundert. Ab dem Weltwirtschaftsgipfel in Köln am 18. Juni 1999 (J18, die Kürzel drücken das Datum aus) bestimmten in den nächsten Jahren Aktionstage den Rhythmus der globalen Protestbewegung. Wobei PGA immer nur ein Teil verschiedener Bündnisse war (vgl. Habermann 2002).

Zur Vorgeschichte gehören aber auch die internationalen Demonstrationen gegen den IWF 1988 in Berlin und gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Köln. Der internationale Durchbruch gelang durch die Proteste gegen die WTO-Tagung in Seattle Ende November 1999. Die Konferenz konnte gestört werden, Delegierte erreichten die Tagungsorte nicht und saßen in ihren Hotels fest. Sowohl Gewerkschaftler_innen, die die regionale Wirtschaft vor den Einflüssen der Globalisierung schützen wollten wie auch ein breites Netzwerk ökologischer, kapitalismuskritischer oder antikapitalistischer, anarchistischer und autonomer Gruppen waren gemeinsam auf der Straße. Der verfrühte Abbruch der WTO-Veranstaltung erfolgte zwar wegen interner Streitigkeiten, aber es entwickelte sich der Mythos einer erfolgreichen Demonstration. Dass gerade dieses Ereignis so breit rezipiert wurde, hatte natürlich damit zu tun, dass es in der USA stattfand, im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Der Reigen der Demonstrationen wurde fortgesetzt, gegen eine Tagung von IMF und Weltbank in Washington im April 2000, gegen das WEF-Regional-Treffen in Melbourne in Australien im September 2000, gegen den EU-Gipfel in Nizza im Dezember 2000 und gegen die Tagung der OECD in Neapel im März 2001. Ende September 2000 fand die IWF/Weltbank-Tagung in Prag statt. Schließlich trafen sich jedes Jahr Unternehmer_innen und Politiker_innen in Davos, gegen die regelmäßig protestiert wurde. Spektakulär waren die Demonstrationen gegen den G-8-Gipfel in Genua im Juli 2001, ein Treffen der Staatschefs der acht "wichtigsten" Nationen der Welt. Mehrere Hunderttausende protestierten, ein Demonstrant wurde von der Polizei erschossen. Seattle und Genua sind die Eckpunkte und Höhepunkte der globalen Protestbewegung. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York schien die Bewegung schwer getroffen, konnte aber bald wieder weltweite Bedeutung erlangen. Gegen den Krieg der USA gegen den Irak 2003 demonstrierten weltweit so viele und so international wie noch nie. Viele Autonome in Deutschland und Österreich ignorierten diese Friedensbewegung, manche bekämpften sie sogar, weil sie nicht die "richtige Linie" vertrat.

Viele Beteiligte der globalen Protestbewegung waren Anhänger_innen einer staatsorientierten Linken von Gewerkschaften und Parteien bis hin zu Attac als Kritikerin des "neoliberalen" Kapitalismus. Trotzdem war das libertäre Spektrum immer sichtbar, anarchistisch in den USA, autonom in Europa. In letzterem antistaatlichen Spektrum dominierten drei Theorieströmungen (Holloway 2010, S. 186ff beschreibt diese als Zeichen nach der Krise der marxistischen Theorie): 1) der Anarchismus, 2) die Wertkritik, die von einem Widerspruch zwischen abstrakter und konkreter Arbeit ausgeht, trennt die Kämpfe (bei Holloway den Klassenkampf) vom Kapital ab 3) Und der (Post)Operaismus, der zu sehr die konkrete Arbeit und den Klassenkampf betont (als "Selbstverwertung" eine Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweist). Holloway will die Analyse des herrschenden Systems und den Aktivismus dagegen zusammen bringen (S. 190). Er geht zwar vom abstrakten Wert aus, sieht sich aber nicht als abgehobenen Intellektuellen, sondern als Teil der Bewegungen und versucht, die unterschiedlichen Kämpfe daraus zu entwickeln: das Tun gegen das Getane, von der ersten Empörung im "Schrei" bis zu den vielen Widerständigkeiten gegen den Kapitalismus.

Die Organisation der Macht hat eine bestimmte Form, weil das kapitalistische Weltsystem in den letzten Jahrzehnten ein anderes geworden ist: 1) Als Antwort auf die antiimperialistischen Kämpfe verlagerte das Kapital immer mehr Produktion in den globalen Süden, was sich in einer zunehmenden Stärke bestimmter Regionen, der (nicht nur) südlicher Staaten ausdrückt (BRICS - Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, aber auch Taiwan, Thailand oder manche Staaten Südamerikas). 2) Die Revolten von 1968 und danach forderten eine Umstrukturierung in den Metropolen in eine Richtung, die mit den Begriffen "Dienstleistungsgesellschaft", "Wissensgesellschaft" oder auch "Postfordismus" nur teilweise bezeichnet werden kann. Die zentralen Industrien wurden reduziert und verlagert, die Städte entwickelten sich wieder zu (Dienstleistungs)Metropolen, die Trennung der Industrie von Wohn- und Freizeitbereich wird zumindest teilweise aufgehoben. 3) Ein ähnliches Produkt, wenn auch mit Verzögerung - nachdem die Revolutionen im Anschluss von 1968 durch Diktaturen niedergeschlagen wurden - war die Demokratisierung (beinahe) aller Regionen der Welt. In den 1980ern Lateinamerika, in den 1990ern Afrika und schließlich mit dem arabischen Frühling der Nahe und Mittlere Osten. Dass diese nicht nur zu emanzipatorischen Entwicklungen führte, sondern zu Bürgerkriegen (in Ruanda, in Somalia, in Jugoslawien etc) und imperialistischen Interventionen, die die Staaten auf einen westlichen Kapitalismus verpflichten sollen und dadurch oft noch mehr Chaos stiften (Afghanistan, Irak, in der letzten Zeit Libyen, Syrien und die Ukraine). 4) Und schließlich der Zusammenbruch der Sowjetunion, der der letzte Stein in der Produktion "Einer Welt" war, von Hardt/Negri (2000) als Empire bezeichnet.

Die Ungleichheit zwischen dem globalen Süden und den Zentren ist geblieben, hat sich aber verändert. Es gibt immer mehr Inseln des Reichtums in den armen Regionen, auch eine "Mittelklasse", zugleich kehren die Slums in die Metropolen zurück. Eine Teilung zwischen biologisch oder kulturell begründeten "Rassen" gibt es nicht mehr, trotzdem ist die Mehrheit der Schwarzen arm und die meisten Reichen sind Weiß. Die Welt teilt sich immer weniger in unterdrückende und unterdrückte Nationen, sondern in ein Leopardenfell aus Reich und Arm. Die Macht wird nicht mehr aus einem oder mehreren imperialistischen Nationalstaaten gebildet, sondern aus einem Netzwerk der Zusammenarbeit von Unternehmen, Manager_innen und Politiker_innen und internationaler Organisationen. Internationale Treffen wie in Davos werden aufgewertet wie auch Organisationen wie die Weltbank und der IWF. Die größte militärische Macht bleiben zwar die USA, aber sie agieren nur innerhalb der Machtausübung des Empire. Aber es ist nicht zufällig, dass die meisten militärischen Interventionen die USA durchführen und in einem kleineren Ausmaß einige Staaten der EU wie Frankreich. Die Nationalstaaten sind nicht verschwunden, sind aber nur Teil des Systems, oft nur noch dazu da, den demokratischen Konsens innerhalb bestimmter Regionen zu schaffen.

Die Auseinandersetzungen um den G 8 Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 können als das Nachholen der internationalen Bewegungen in Deutschland gesehen werden. Die Demonstrationen gelten als großer Erfolg, auch wenn auf Grund der Krawalle in Rostock am Rande der Auftaktdemo eine Spaltung entlang der Gewaltfrage befürchtet wurde. Durch eine so genannte "Fünf-Finger-Taktik" konnte das Tagungsgelände blockiert werden. Das antistaatliche, autonome Spektrum wurde durch zwei Netzwerke repräsentiert, die "Interventionistische Linke" und das hauptsächlich aus antifaschistischen Gruppen bestehende "Ums Ganze". Der Kapitalismus ist wieder zum Thema geworden, wenn auch vom Imperialismus noch wenig gesprochen wird. Die globale Protestbewegung ist inzwischen aus den Schlagzeilen verschwunden, ein Teil der Organisationen besteht weiter, etwa die Landlosenbewegung in Brasilien oder Via Campesina, ein Verband von Kleinbäuer_innen. Inzwischen ist ein Internationalismus neuer Bewegungen aufgetaucht. Rebellierende Studierende von Großbritannien über Chile bis hin zu Kalifornien beziehen sich aufeinander (vgl. Foltin 2011, S. 178ff) und in ganz Europa wurden nach der Räumung des Ungdomshuset in Kopenhagen Häuser besetzt[9].

Mit dem arabischen Frühling und einer Reihe von Bewegungen in vielen Weltregionen werden die internationalen Entwicklungen wieder mehr beachtet. Gerade jetzt scheinen aber konterrevolutionäre Entwicklungen zu dominieren, Kriege, Bürgerkriege, Interventionen und die Vorbereitung eines größeren Konfliktes zwischen dem Westen und Russland. Oder ist das ein Anfang eines Konfliktes zwischen dem "Westen" und den sich wirtschaftlich entwickelnden Staaten im Süden (BRIC, Brasilien, Russland, Indien, China)?


Anmerkungen

[1] Die PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine) wurde als säkulare Organisation unterstützt, weil sie keinen Staat hatte. Für die Unterstützer_innen war der Kampf nicht nur gegen Israel gerichtet. Ein verbreiteter Spruch von damals war: "Der Kampf gegen Israel führt über den Sturz der reaktionären arabischen Regime."

[2] Die AUTONOMIE Neue Folge bewertete die iranische Revolution ausgesprochen positiv und unterstützte die schließlich unterdrückte sozial-revolutionär-islamischen Strömung der Volksmudschaheddin.

[3] Die Störung dieses Kongresses wurde aus zwei Gründen ein Erfolg: 1) die Autonomen hatten in Berlin mit seinen Hausbesetzungen eine echte soziale Basis, sowohl was Infrastruktur betraf als auch militante Erfahrung. In anderen Städten mit hauptsächlich angereisten Demonstrant_innen hätte das nicht so gut funktioniert. 2) was aber noch wichtiger ist, auch ein "reformistisches" Spektrum mobilisierte, es gab keine Bündnisse, aber zuverlässige Absprachen, sodass viele "gewaltfreie" Aktionen stattfanden, von Straßentheater und Trommeln bis zum "Beklatschen von Bankern" (vgl. Geronimo 192ff und Grauwacke 203ff).

[4] Schon im Jänner 1981 wird im Revolutionären Zorn Nr. 6 aufgegriffen, dass die BRD als "US-Kolonie" betrachtet werde, wo sie doch selbst aktiver Teil des Imperialismus ist (ID-Archiv 1993, S. 297f). Und im Papier "Beethoven gegen MacDonald" betonen die RZ den Unterschied zwischen Antiimperialismus und Antiamerikanismus, weil Anschläge von Rechtsradikalen gegen US-Soldaten der Linken zugeordnet und zugetraut wurden (S. 364ff).

[5] Dass die "Subalterne nicht sprechen kann", bezieht sich bei Spivak auf eine 17-jährige Frau, die 1926 Selbstmord beging, weil sie es nicht schaffte, im Rahmen der antikolonialen Bewegung ein Attentat durchzuführen. Ihr Motiv blieb im Dunkeln, weil sich nur die koloniale und die antikoloniale Version durchsetzte: Sie habe sich umgebracht als Zeichen gegen die Kolonialherrschaft um die traditionellen Gebote zu befolgen. Obwohl sie selbst Spuren in eine andere Richtung legte, da sie sich während der "unreinen Phase" der Menstruation tötete. "Sie hatte sich zu repräsentieren versucht, und zwar über die Selbstrepräsentation des Körpers, aber das war nicht durchgedrungen." (Spivak 2008, S. 145). Texte und Zeichen richten sich immer nach den vorherrschenden Interpretationen.

[6] Die Zapatist_innen nutzten das Gefälle in solchen Wahrnehmungen, um die Verhältnisse auch symbolisch in Frage zu stellen. Warum ist der Sprecher Subcomandante Marcos ein Mann, ein Weißer und ein Abkömmling der Mittelklasse? Es wird ihm zugehört! Zugleich wird dieses Instrument der Repräsentativität durch die Anonymität der Maske in Frage gestellt. Marcos ist auch als Sprecher nur ein Symbol. Er ist kein Kommandant, sondern der Subcomandante. (vgl. Habermann 2002, S. 150). Im Mai 2014 hat er übrigens seine "Führungsrolle" abgegeben.

[7] Lampedusa ist eine italienische Mittelmeerinsel, auf der viele Flüchtlinge aus Afrika stranden. Viele Tote bleiben bei ihren Versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, zurück.

[8] Am meisten betrifft das den deutschesten Teil der Linken, die "Antideutschen". Sie sind nicht viele, aber ihr Einfluss reicht weit über ihre Sekten und Zirkel hinaus, z.B. auf die große antifaschistische Szene.

[9] In Österreich waren die "Internationalen Aktionstage für Besetzungen und autonome Räume" für dortige Verhältnisse relativ erfolgreich, in Wien wurden Häuser besetzt und Aktionen gemacht, aber auch in Innsbruck, Linz, Graz und Salzburg (vgl. Foltin 2011, S. 136ff). Und die Bewegung der Studierenden vom Herbst 2009 baute auf internationaler Kommunikation auf und strahlte zumindest teilweise auf Europa aus (vgl. Foltin 2011, S. 186ff).


Literatur:

affront (Hg.) (2013): Darum Feminismus! Diskussionen und Praxen.Münster: Unrast verlag.

A.G. Grauwacke (2003): Autonome in Bewegung aus den ersten 23 Jahren. Berlin/Hamburg/Göttingen: Assoziation A.

ak wantok (Hg.) (2010): Perspektiven Autonomer Politik. Münster: Unrast-Verlag.

AUTONOMIE Neue Folge. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft Nr. 10 (1982): Antiimperialismus in den 80er Jahren. Hamburg.

AUTONOMIE Neue Folge. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft Nr. 11 (1982): Imperialismus in den metropolen. Zwang zur Arbeit. Neue Armut. Hamburg.

Cross the border (1999): kein mensch ist illegal. Ein Handbuch zu einer Kampagne. Berlin: ID-Verlag.

Foltin, Robert (2004): Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich. Wien, edition grundrisse.

Foltin, Robert (2011): Und wir bewegen uns noch. Zur jüngeren Geschichte sozialer Bewegungen in Österreich. Wien: Mandelbaum Verlag.

Geronimo (1995): Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen. 4. überarbeitete Auflage. Berlin/Amsterdam: Edition ID-Archiv.

Grimm, Sabine (1997): Postkoloniale Kritik. Edward Said, Gayatri C. Spivak, Homi K. Bhabha. In: Die Beute. Politik und Verbrechen, Sommer 1997, S. 48-61.

Groß, Almut (1997): Autonome Frauen und FrauenLesben. In: Schultze/Gross (1997): Die Autonomen, S. 172-210.

Habermann, Friederike (2002): Peoples Global Action: Für viele Welten! In pink, silber und bunt. In: Walk, Heike/Boehme, Nele: Globaler Widerstand, S. 143-156.

Hardt, Michael/Negri, Antonio (2000): Empire. Cambridge (Mass): Harvard University Press.

ID-Archiv im IISG Amsterdam (1993) (Zwei Bände): Die Früchte des Zorns. Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora. Berlin: Edition ID-Archiv.

Interface (Hg) (2005): Widerstandsbewegungen. Antirassismus zwischen Alltag & Aktion. Berlin/Hamburg: Assoziation A.

Müller-Uri, Fanny (2012): Antimuslimischer Rassismus. Wien: Mandelbaum Verlag.

Schultze, Thomas/Gross, Almut (1997): Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der autonomen Bewegung. Hamburg: Konkret Literatur Verlag.

Seibert, Niels (2008): Vergessene Proteste. Internationalismus und Antirassismus 1964-1983. Münster: Unrast.

Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia+Kant.

Walk, Heike/Boehme, Nele (2002a): Globaler Widerstand. Internationale Netzwerke auf der Suche nach Alternativen im globalen Kapitalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Wiesental, Ann (2011): Antirassistische Grenzcamps und feministische Perspektive. Aushandlungsprozesse entlang von verschränkten Machtverhältnissen. In: affront : Darum Feminismus!, S. 77-91.

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Jürgen Arz:

Zur Entwicklung von Wissenschaft und Geschichtsphilosophie bei Marx



Das Wesen der Dinge liebt es, sich zu verbergen
Heraklit


Vorbemerkung[1]

Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist zunächst die Kritik der politischen Ökonomie, wie wir sie in den verschiedenen Entwürfen zu Marxens Hauptwerk "Das Kapital" und in diesem selbst vorfinden und über deren Gegenstand er sich folgendermaßen äußert: "Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben."[2] Marx beansprucht darin, es sei "der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen",[3] d.h. den Kern des menschlichen Lebensprozesses, Produktion und Reproduktion des Lebens wissenschaftlich zu erklären. Mit dieser Kritik der politischen Ökonomie - wir würden heute Volkswirtschaftslehre[4] sagen - unternahm er nach eigenem Bekunden "wissenschaftliche Versuche zur Revolutionierung einer Wissenschaft".[5]

Diese Versuche verliefen in mehreren Etappen mit unterschiedlichen philosophischen Ansätzen und methodischen Instrumentarien von den "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" (entstanden Juni - August 1844, auch "Pariser Manuskripte" [PM] genannt) bis zu dem Manuskript "Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Rohentwurf" (entstanden Oktober 1857 - Mai 1858) als eines ersten Entwurfs zu seinem späteren Hauptwerk "Das Kapital". Da beide Manuskripte bis weit ins 20. Jahrhundert unveröffentlicht blieben, wurden deren Unterschiede zunächst kaum thematisiert, denn alles schien mehr oder weniger linear auf das endgültige Ergebnis "Kapital" hinauszulaufen. Selbst die Publikation der PM 1932 im Rahmen der ersten Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA),[6] die ein Kapitel mit kritischen Bemerkungen zur Hegelschen Dialektik und Philosophie enthielten,[7] anderer Frühschriften und die darauf folgende Herausgabe der "Grundrisse" in Moskau in den Jahren 1939-41, bei deren Ausarbeitung laut Marx "es mir großen Dienst geleistet, dass ich durch bloßen Zufall [im Original englisch: by mere accident - JA] (...) Hegels 'Logik' wieder durchgeblättert hatte", [8] blieben mit wenigen Ausnahmen unbeachtet. Erst nach dem 2. Weltkrieg entstand dann eine Diskussion darüber, ob der "junge" sich im "reifen Marx" wiederfindet oder nicht, und wenn ja, wie. Dabei bildeten sich drei durchaus in sich heterogene Lager heraus: Eine Richtung vertritt die Meinung, dass der "frühe", der "humanistische" Marx der PM, viel besser die philosophische Dimension seines Denkens dargestellt habe als der "späte ökonomistische" Marx der "Grundrisse" oder des "Kapital" und die entweder den "alten" dem "jungen Marx" entgegenstellen, oder das "Kapital" im Lichte der frühen Schriften wieder neu bewerten.[9]

- Diejenigen, die zwischen beiden wissenschaftlichen Konzeptionen keinen bedeutsamen Unterschied sehen und schon in den PM das Wesentliche - wenn auch noch philosophisch formuliert - der Kritik der politischen Ökonomie als vorweggenommen betrachten.[10]

- Und schließlich diejenigen, die einen Bruch unterschiedlichen Ausmaßes zwischen "jungem" und "altem" Marx feststellen, zwischen beiden Perioden Widersprüche ausmachen und deren extremste Vertreter die PM umstandslos als "vormarxistisch" qualifizieren.[11] In allen drei Richtungen spielt das Verhältnis Hegel-Marx naturgemäß eine zentrale Rolle.

Marx als Junghegelianer

Von Haus aus war Marx eigentlich ein philosophischer Kopf: obgleich zunächst in Bonn, ab Herbst 1836 dann in Berlin in der juristischen Fakultät eingeschrieben, galt sein Interesse doch immer mehr den philosophischen Studien. Der Philosoph G.F.W. Hegel war bis zu seinem Tode 1831 Rektor der Universität Berlin gewesen und hatte dort eine zahlreiche Anhängerschaft hinterlassen. Einem dieser hegelianischen Zirkel aus Dozenten und Literaten, dem "Doktorclub", schloss Marx sich an. Dessen Kopf Bruno Bauer bestritt die Evangelien als göttliche Offenbarung, charakterisierte die Religion als eine bestimmte, historisch jedoch überholte Stufe des menschlichen Selbstbewusstseins, deren Herrschaft als Ausdruck eines entfremdeten Zustandes und kritisierte vor allem Hegels Versöhnung von Philosophie und Religion. Marx stieg nun endgültig von der Jurisprudenz auf die Philosophie um und begann an seiner Doktorarbeit über "Die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie" zu arbeiten, die er 1841 nach seinem Abgang aus Berlin der philosophischen Fakultät der Universität Jena einreichte. Wie Marx, damals noch ganz in der junghegelianischen Tradition stehend, in seiner Dissertation ausführt, ist der entfremdete Zustand der Welt nur durch "philosophische Kritik" zu überwinden. Diese Kritik hat sich an einer "Idee" zu orientieren, die allerdings nicht moralisch begründet wird, sondern sich an einem durch Vernunft erkannten "Wesen" messen lassen muss: "Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee misst."[12] Und ganz charakteristisch ist für Marx dort noch die tätige Seite menschlicher Existenz eine vorwiegend theoretische.

Als frischgebackener Doktor der Philosophie kehrte er ins Rheinland zurück, begann mit neuen Studien zur Religions-, Kunst- und Rechtsgeschichte, arbeitete sich kritisch durch Hegels Rechtsphilosophie und schrieb zunächst als freier Mitarbeiter Artikel für die in Köln erscheinende liberal-bürgerliche "Rheinische Zeitung", deren Redakteur er dann im Oktober 1842 wurde. Während dieser Tätigkeit kam er nach eigenem Bekunden zum ersten Mal "in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen."[13] U.a. wurde er mit der prekären Situation der Moselwinzer und den Debatten über Holzdiebstahl, Freihandel und Schutzzölle konfrontiert und hatte dabei dauernd mit der preußischen Zensur zu kämpfen, da der preußische Absolutismus auch über die eher frankophilen Rheinlande herrschte. Auch während seiner journalistischen Tätigkeit war Marx ohne Zweifel noch Junghegelianer und so fasste er denn auch den preußischen Staat nicht wie Hegel selbst und dessen Gefolgsleute als Verkörperung des "Vernunftstaats" auf. Doch sieht er - an Hegel anknüpfend - im Staat noch eine Körperschaft über den Klassen, die nur dem Allgemeininteresse verpflichtet ist. Es gelte also nur innerhalb dieses Staates dessen Wesen zu verwirklichen, das identisch ist mit der "vernünftigen Freiheit (...), ein Werk, was die Philosophie vollbringt", indem sie sie "aus der Vernunft der menschlichen Verhältnisse" entwickelt.[14]

Gleichzeitig mit seiner Vorstellung von der "Verwirklichung der Philosophie" verortet Marx aber die Philosophie als "nicht außer der Welt" befindlich und fügt noch hinzu: "aber freilich die Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie mit den Füßen sich auf den Boden stellt".[15] Und bereits anlässlich einer Debatte um die Verarmung der Moselwinzer nimmt er zum ersten Mal Bezug auf die Objektivität gesellschaftlicher Zustände, ohne diese aber näher zu bestimmen und ohne deshalb sein hegelisch-idealistisches geschichtsphilosophisches Fundament in Frage zu stellen: "Bei der Untersuchung staatlicher Zustände ist man allzu leicht versucht, die sachliche Natur der Verhältnisse zu übersehen und alles aus dem Willen der handelnden Personen zu erklären. Es gibt aber Verhältnisse, welche sowohl die Handlungen der Privatleute als der einzelnen Behörden bestimmen und so unabhängig von ihnen sind als die Methode des Atemholens."[16]

Der Einfluss Feuerbachs

Im Verlauf seiner publizistischen Tätigkeit bis zum drohenden Verbot der "Rheinischen Zeitung" und seiner Übersiedelung nach Paris Ende Oktober 1843, wurde Marx immer klarer, dass seine theoretischen Grundlagen einer Erneuerung bedurften, da sie durch die Konfrontation mit der staatlichen und ökonomischen Realität zunehmend obsolet geworden waren: Weder war der Armut der Moselwinzer mit den von ihm propagierten "geistigen Mächten" beizukommen, noch ließ der preußische Obrigkeitsstaat sich durch den Vergleich mit dem "wahren Staat"[17] in eine wirkliche Volksvertretung umwandeln. Nach der Veröffentlichung von Feuerbachs "Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie" 1843 eröffnete sich für Marx mit dessen sensualistischem Materialismus die Möglichkeit einer Erneuerung seines wissenschaftlichen Instrumentariums und damit auch der Hegel-Kritik. Feuerbach löste den metaphysischen Hegelschen absoluten Geist in den wirklichen, sinnlichen Menschen auf und erklärte das Denken, den Geist - bei Hegel noch selbständiges Subjekt - zur Eigenschaft des wirklichen Menschen, der bei ihm allerdings nicht in einem gesellschaftlichen Praxiszusammenhang wurzelt, sondern immer gattungsbestimmtes Individuum in unterschiedlichen Entfremdungsstadien bleibt. Der Einfluss Feuerbachs schlug sich zum ersten Mal in dem Manuskript "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" vom Sommer 1843 nieder,[18] noch stärker und ausdrücklicher in den in Paris entstandenen "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" vom Frühjahr 1844 und in der Schrift "Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik", die er zusammen mit Engels im Herbst desselben Jahres verfasste.

Hegels Rechtsphilosophie zufolge soll die Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft im "Vernunftstaat" aufgehoben werden. Marx unterzieht diese Theorie einer radikalen Kritik, indem er Hegel vorwirft, überall die Idee statt den wirklichen Menschen zum Subjekt zu machen: "Wichtig ist, dass Hegel überall die Idee zum Subjekt macht und das eigentliche, wirkliche Subjekt (...) zum Prädikat."[19] Dem hält er im Anschluss an Feuerbach entgegen, dass der Staat als von der Gesellschaft getrennte Körperschaft "eine Trennung des politischen Bürgers, des Staatsbürgers, von seiner eigenen empirischen Wirklichkeit"[20] bedeutet, also Element einer Entfremdung vom sozialen Wesen der Gattung und Resultat statt Schlichter der existenziellen Widersprüche der wirklichen Menschen ist. Für Marx wurzelt daher der politische Staat in der "bürgerlichen Gesellschaft" (ein Begriff Hegels) und kann demzufolge auch nicht besser sein als diese. Feuerbachs Anthropologie steht auch Pate, wenn Marx dazu übergeht, statt von der "armen" Klasse (bei Hegel oft noch der "Pöbel") vor allem in den PM von dem entfremdetsten Teil der Gesellschaft, vom Proletariat als dem historischen Subjekt der Emanzipation des Menschen zu sprechen, das er als außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehende Klasse definiert. In der sozialen Wirklichkeit kann er dessen Existenz nur feststellen, jedoch noch nicht aus ihr herleiten, d.h. über die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft ist er sich noch keineswegs im Klaren. Diese Struktur erkennt er lediglich philosophisch als Widerspruch zwischen Wirklichkeit und anthropologisch vorgegebenem "Wesen" und erhofft sich dessen Überwindung durch die bewusste Verbindung von Proletariat und Philosophie: "Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen (...). Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt (...). Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat."[21]

Kontakt zur Arbeiterbewegung

Mit dem Kontakt zu dem französischen Publizisten und Ökonomen P.-J. Proudhon,[22] zu Arbeitergruppen in Paris (meist Anhänger Proudhons), ausgedehnten Studien zur Geschichte (u.a. der französischen Revolution), den ersten ökonomischen Studien (A. Smith, D. Ricardo, J.B. Say, James Mill u.a., alle in Französisch) und angeregt durch Engels' Aufsatz "Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie"[23] (mit dem ab September 1844 eine lebenslange Zusammenarbeit beginnt), versucht Marx zunächst, die jetzt von ihm so bezeichnete Nationalökonomie mit ihren immanenten Widersprüchen zu konfrontieren, ohne deren Kategorien grundsätzlich in Frage zu stellen. So weist er darauf hin, dass sie einerseits Eigentum mit eigener Arbeit begründet, andererseits aber gezwungen ist, die Eigentumslosigkeit der arbeitenden Klassen zu rechtfertigen: "Stellen wir uns nun ganz auf den Standpunkt des Nationalökonomen (...). Er sagt uns, dass ursprünglich und dem Begriff nach das ganze Produkt dem Arbeiter gehört. Aber er sagt uns zugleich, dass in der Wirklichkeit dem Arbeiter der kleinste und allerunumgänglichste Teil des Produkts zukömmt."[24] Für Marx ist diese Eigentumslosigkeit das Produkt einer Entfremdung der Arbeiter von den Produkten ihrer Arbeit, eine Entfremdung, die er mit dem Privateigentum identifiziert. Doch fasst er den Entfremdungsbegriff wiederum Feuerbach folgend und damit Hegel implizit kritisierend - für den Entfremdung letzten Endes in der Natur wurzelt - viel umfassender als eine Entfremdung vom menschlichen "Gattungswesen": "Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als Gattungswesen. (...) Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen. (...) Eine unmittelbare Konsequenz davon, dass der Mensch dem Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen entfremdet ist, ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen."[25]

Er bezieht sich dabei aber durchaus positiv auf Hegels "Phänomenologie" und deren "Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip" und auf "die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozess (...) als Resultat seiner eignen Arbeit",[26] wie er sich bei Hegel findet - wenngleich dort in abstrakter und spekulativer Form. In diesem Sinne geht er bereits einen Schritt über Feuerbach hinaus, bei dem diese tätige Seite unentwickelt bleibt, bzw. sich in Philosophie auflöst. Für Marx befinden sich dagegen sowohl die Hegelsche Philosophie wie die Nationalökonomie und erst recht die Religion innerhalb des Entfremdungszusammenhangs; für die Philosophie und die Nationalökonomie gilt, dass die logische Abstraktion der Philosophie Hegels ebenso wie das Geld in der Ökonomie dem konkreten Leben der Menschen fremd und äußerlich bleiben: "Die Logik - das Geld des Geistes."[27] Dieser Entfremdungszusammenhang kann nur durch die geschichtliche Bewegung des Kommunismus aufgelöst werden: "Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen;(...) er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung. Die ganze Bewegung der Geschichte ist daher, wie sein wirklicher Zeugungsakt (...) so auch für sein denkendes Bewusstsein die begriffne und gewusste Bewegung seines Werdens".[28]

Neben dieser immer noch Hegel verbundenen Geschichtsphilosophie hatte sich Marx mit den PM einem neuen Gegenstand seiner wissenschaftlichen Betrachtung zugewandt, der Ökonomie. Das entsprach seiner zwischenzeitlichen Erkenntnis, dass die Armut der Vielen Ergebnis der produktiven Tätigkeit der Menschen innerhalb vorgefundener Bedingungen im sozialen Verband ist. Deshalb wurde es für ihn nun wichtig, das "Werden" und das "Wie" dieser Produktion, deren Bedingungen und Resultate zu untersuchen. Das Prozesshafte einer solchen Auffassung musste allerdings an einem bestimmten Punkt mit der Vorstellung einer anthropologisch gegebenen Menschennatur in Konflikt geraten, der die wirklichen Menschen nur entfremdet sind und in der die Geschichte nur als teleologischer Prozess der Entfremdung und ihrer Aufhebung gesehen wird.[29] In diesem Sinne beginnt Marx bereits, über Feuerbach hinauszugehen: "Die 'Idee' blamiert sich immer, soweit sie von dem 'Interesse' unterschieden war." Und: "Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muss die Macht seiner Natur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen."[30] Im Frühjahr 1845, nach seiner Ausweisung aus Frankreich durch eine Verfügung des französischen Innenministeriums und seinem Umzug nach Brüssel, unterzieht er dann auch Feuerbach in den zur Selbstverständigung verfassten "Thesen über Feuerbach" und zusammen mit Engels in "Die deutsche Ideologie" von 1845/46 - die mangels Finanzen unveröffentlicht blieb - einer radikalen Kritik.

Übergang zum praktischen Materialismus

In den "Thesen" formuliert Marx ein neues Materialismusverständnis, das die tätige Seite, bisher von der idealistischen Philosophie entwickelt, als gesellschaftliche Praxis einbezieht. Das bedeutet, dass die menschliche Wirklichkeit ebenso wie die Natur durch menschliche Tätigkeit vermittelt ist, es also ein rein nur anzuschauendes Objekt nicht gibt: "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (...) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv."[31] Feuerbachs menschliches Wesen löst Marx im "Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse" auf und macht die menschliche Praxis, zu der auch die theoretische Anstrengung zum Begreifen dieser Praxis gehört, zum wesentlichen Verhältnis gesellschaftlichen Lebens: "Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. (...) Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis."[32]

Vor allem "Die deutsche Ideologie" enthält laut Marxens eigener Nachbetrachtung eine Abrechnung mit "unserem ehemaligen philosophischen Gewissen", eine "Selbstverständigung" in der "Form einer Kritik der nachhegelschen Philosophie"[33] und damit eine Kritik an Positionen, wie sie Marx selbst vertreten hatte. Die Menschen machen im vorgegebenen gesellschaftlichen Zusammenhang ihre Geschichte selbst und deshalb kann Marx sagen: "Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig."[34] Hegel wie allen spekulativen Philosophen wirft er vor, sich aus der Geschichte, in der "stets Gedanken herrschen (...), 'den Gedanken', die Idee etc. als das in der Geschichte Herrschende zu abstrahieren", während er Feuerbach vorhält, "die Menschen nicht (...) unter ihren vorliegenden Lebensbedingungen" zu begreifen und damit "bei dem Abstraktum 'der Mensch' stehen" zu bleiben. Soweit bei ihm Geschichte vorkomme, sei er kein Materialist und soweit er "Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor".[35]

In den Mittelpunkt rückt also nun die Geschichte, aber nicht mehr voraussetzungslos und von abstrakten Ideen bewegt, sondern als widersprüchlicher sozialer Prozess der Erzeugung, Erhaltung und Erweiterung menschlichen Lebens durch die gesellschaftliche Praxis in der Auseinandersetzung mit der Natur. Die dabei entstehenden Vorstellungen der Menschen "über ihr Verhältnis zur Natur oder über ihr Verhältnis untereinander, oder über ihre eigene Beschaffenheit" sind "der - wirkliche oder illusorische - bewusste Ausdruck ihrer wirklichen Verhältnisse und Betätigung, ihrer Produktion, ihres Verkehrs, ihrer gesellschaftlichen und politischen Organisation".[36]

Wir haben es hier mit einer veränderten Konzeption von Wissenschaft zu tun: Die soziale Realität wird jetzt nicht mehr wie zuvor dem philosophischen Denken oder einem vorgestellten Wesen gegenüber gestellt. Sie wird stattdessen als ein Ganzes, eine in sich strukturierte, prozesshafte Totalität aufgefasst, wobei Bewusstsein oder Denken als Ausdruck einer mehr oder minder adäquaten Erfassung dieser Realität selbst deren Bestandteil ist. Den Kern dieser dynamischen Totalität bildet die ökonomische Struktur, die Produktionsverhältnisse. Doch bleibt diese Struktur zunächst noch ein blinder Fleck, da Marx nach seinen ersten ökonomischen Studien zwar die Widersprüche der vorherrschenden ökonomischen Theorien benennen kann, jedoch selbst noch nicht in der Lage ist, ihnen eine eigene Konzeption entgegenzusetzen. Aus dieser Struktur heraus ergibt sich aber für ihn immer noch als geschichtliches Ziel der Kommunismus, als "die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt."[37]

Zusammen mit Engels reiste er im Sommer 1845 nach London und Manchester, wo er wiederum zahlreiche Werke zur politischen Ökonomie (diesmal in Englisch) exzerpierte,[38] wie es seit seiner Studentenzeit seine Gewohnheit war. So deutet sich zwar schon 1845/46 die Akzeptanz von Ricardos Arbeitswerttheorie an, denn in einer Kritik an Max Stirner heißt es: "Er hat nicht einmal das aus der Konkurrenz gelernt, dass (...) innerhalb der Konkurrenz der Brotpreis durch die Produktionskosten und nicht durch das Belieben des Bäckers bestimmt wird." Und: "...selbst was das Metallgeld betrifft, so wird es rein durch die Produktionskosten, d.h. die Arbeit bestimmt."[39] Doch deren Widersprüche vermag Marx noch nicht zu erkennen, geschweige denn aufzulösen. Ihre Kategorien wie Wert, Geld oder Kapital kritisiert er noch nicht in grundsätzlicher Weise, lediglich deren Hypostasierung zu Kategorien von überhistorischer Gültigkeit: "Die ökonomischen Kategorien sind nur die theoretischen Ausdrücke, die Abstraktionen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. (...) Aber dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktivität gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen. Somit sind diese Ideen, diese Kategorien, ebenso wenig ewig wie die Verhältnisse, die sie ausdrücken."[40]

Umwälzende Praxis statt Philosophie: die Revolution 1848

Die darauf folgende Periode von 1846/47 bis Ende des Jahres 1849 ist im Wesentlichen durch zwei zum Teil parallel verlaufende Stränge in der Entwicklung von Marx zu kennzeichnen. Da ist zunächst der Versuch, die neu gewonnenen Einsichten hinsichtlich des ökonomischen Prozesses in den bisher entwickelten geschichtlichen Rahmen einzupassen und damit den Gesamtprozess der "bürgerlichen Produktion"[41] (von kapitalistischer ist noch nicht die Rede!) ins Auge zu fassen. Gleichzeitig versucht Marx, der sich rasch entwickelnden Arbeiterbewegung unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Europa ein praktisch-politisches Fundament zu geben, das mit der Einsicht in den Gesamtprozess der produktiven Entwicklung in Einklang steht. Eine zentrale Rolle spielt dabei sein Verhältnis zu Proudhon, dessen scharfe Kritik des Privateigentums er zunächst teilt, dessen unkritisches Verhältnis gegenüber der klassischen Ökonomie und dessen utopisches Projekt von Arbeiter-Ateliers, die mittels Arbeitszetteln als Geld Produkte austauschen, er jedoch dann mit einer beißenden Polemik in "Das Elend der Philosophie" überzieht.[42] Dies ist Marx' erste veröffentlichte größere Arbeit mit ökonomischen Inhalten, die noch 1847 erschien. Darüber hinaus hielt er im Dezember 1847 im Deutschen Arbeiterverein in Brüssel mehrere Vorträge zum Thema Lohnarbeit und Kapital, deren Drucklegung allerdings durch die Februarrevolution 1848 und die Ausweisung Marxens aus Belgien verhindert wurde. Ende Februar 1848 erschien das zusammen mit Engels verfasste "Manifest der Kommunistischen Partei"[43] in London. Aus Belgien ausgewiesen kehrte Marx nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Paris nach Deutschland zurück, wo vom 5. bis 11. April 1849 in der von ihm mitbegründeten "Neuen Rheinischen Zeitung" in Köln eine Artikelfolge unter dem Titel "Lohnarbeit und Kapital"[44] erschien, die auf der Vortragsreihe in Brüssel 1847 beruhte. Nach dem Scheitern der Revolution, seiner Ausweisung aus Preußen und Aufenthalten in Süddeutschland emigrierte er wiederum nach Paris, doch die französische Regierung wies ihn auf Druck der preußischen ebenfalls aus. Ende August 1849 reiste er in sein letztes Exil - London. Philosophisch und vor allem erkenntnistheoretisch sind die drei großen Texte der Jahre 1846-49 trotz oder vielleicht auch wegen ihrer sehr unterschiedlichen Zielsetzungen ohne bemerkenswerte Entwicklungen: Die Polemik gegen Proudhon, als Kampfschrift innerhalb einer erstarkenden Arbeiterbewegung konzipiert, bewegt sich in ihrer Kritik an dessen Methode immer noch auf der Ebene der Hegel-Kritik aus "Die deutsche Ideologie", wo der Begriff der Philosophie ebenso wie in "Die heilige Familie" durchwegs einen abwertenden Beigeschmack hat, ja manchmal geradezu als Schimpfwort gebraucht wird: "...welche Rolle spielt Hegel in der politischen Ökonomie des Herrn Proudhon? (...) Ist es ein Wunder, dass (bei Hegel - JA) in letzter Abstraktion (...) jedes Ding sich als logische Kategorie darstellt? (...) Wenn wir (...) konsequent abstrahieren, von jedem Subjekt, von allen seinen belebten oder unbelebten Akzidenzien, Menschen oder Dingen, so haben wir ein Recht zu sagen, dass man in letzter Abstraktion nur noch die logischen Kategorien als Substanz übrig behält (...), dass alles, was auf der Erde und im Wasser lebt, durch Abstraktion auf eine logische Kategorie zurückgeführt werden kann, dass man auf diese Art die gesamte wirkliche Welt ersäufen kann in der Welt der Abstraktionen, der Welt der logischen Kategorien (...). Hat man erst in den logischen Kategorien das Wesen aller Dinge gefunden, so bildet man sich ein, in der logischen Formel der Bewegung die absolute Methode zu finden, die nicht nur alle Dinge erklärt, sondern die auch die Bewegung der Dinge umfasst. (...) Ist jedes Ding auf eine logische Kategorie und jede Bewegung, jeder Produktionsakt auf die Methode reduziert, so folgt daraus, dass jeder Zusammenhang von Produkten und Produktion, von Dingen und Bewegung sich auf eine angewandte Metaphysik reduziert. Was Hegel für die Religion, das Recht etc. getan hat, sucht Herr Proudhon für die politische Ökonomie zu tun."[45]

Die bewusste Tat als umwälzende Praxis war für Marx an die Stelle der Philosophie getreten. Daneben kritisiert er selbstverständlich den romantischen Antikapitalismus Proudhons, der vor allem auf der Unkenntnis ökonomischer Zusammenhänge beruht. Er weist darin Proudhon mehrfach nach, die "klassischen" Ökonomen Adam Smith und David Ricardo falsch verstanden zu haben, kann aber selbst noch nicht Ricardos Positionen kritisieren, sondern allenfalls deren Kritik durch J.B. Say als fehlerhaft nachweisen, z.B. was die Rolle des Geldes und seine Wertbestimmung angeht.[46] Von der Anlage her etwas ganz anderes ist das "Manifest": die aus dem "Bund der Gerechten" hervorgegangene kleine revolutionäre Gruppe "Bund der Kommunisten" hatte schon auf ihrem ersten Kongress im Juni 1847 beschlossen, ein Programm vorzubereiten und beauftragte im November desselben Jahres Marx und Engels mit dessen Ausarbeitung. Entsprechend dieses Auftrags werden dort einerseits emphatisch und mit kühnem Schwung die Entwicklungslinien der kapitalistischen Produktionsweise nach- und vorgezeichnet[47] - allerdings ohne die Basis der klassischen politischen Ökonomie zu verlassen - auf der anderen Seite wird der noch jungen Arbeiterklasse eine Befreierrolle zugewiesen, die Marx nicht aus einer Analyse der Struktur der Bewegungsgesetze der Gesellschaft gewonnen hatte, zu der er zu dieser Zeit noch gar nicht in der Lage war. Dabei macht sich allerdings immer noch eine stark an Hegel erinnernde Geschichtsphilosophie geltend, oft begleitet von einem reinen Empirismus: "Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen (...). Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich. (...) Die theoretischen Sätze der Kommunisten (...) sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfs ..."[48]

Wiederum etwas anderes ist die Vortragsreihe zu "Lohnarbeit und Kapital", die einen ersten Versuch zur Popularisierung bereits gewonnener ökonomischer Erkenntnisse darstellt; bemerkenswert daran ist lediglich, dass Marx nun das Kapital ausdrücklich als gesellschaftliches Produktionsverhältnis auffasst und dass er erstmals - wenn auch noch unausgegoren und unscharf in der Begrifflichkeit - so etwas wie eine Mehrwerttheorie entwickelt.[49]

Im Mittelpunkt: Kritik der politischen Ökonomie

Nach dem Scheitern der 48er Revolution und seiner Umsiedlung in sein letztes Exil London August 1849, arbeitete Marx andauernd unter unwahrscheinlich schwierigen Bedingungen. Er musste ständig gegen eine drückende materielle Not kämpfen und oft seine breit gestreuten Studien unterbrechen, um durch publizistische Tätigkeiten den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu verdienen, vor allem mit Artikeln zur politischen und ökonomischen Situation der europäischen Mächte für die große amerikanische Tageszeitung "New York Daily Tribune". Dazu kamen ständig länger andauernde Krankheitsperioden, Krankheiten und Todesfälle in der Familie und ermüdende Auseinandersetzungen unter den verschiedenen Emigrantengruppen. Ab Juni 1850 erhielt er Zugang zur Bibliothek des British Museum - laut Marx "der günstigste Standpunkt", um das "ungeheure Material für Geschichte der politischen Ökonomie (...) kritisch durchzuarbeiten"[50] - und konnte seine ökonomischen Studien dort wieder aufnehmen. Die Exzerpte aus dieser Zeit (1850-53) umfassen so ziemlich alle für Wirtschaft und Wirtschaftsgeschichte relevanten Werke vornehmlich englischer, aber auch französischer, italienischer und deutscher Autoren.[51] Dabei entstanden genauere Überlegungen zu jenem großen ökonomisch-philosophischen Werk, das ihm schon seit 1844 in verschiedenen Varianten vorschwebte.[52] Zunächst jedoch untersuchte er anhand der Zeitung "The Economist" die konkrete ökonomische Entwicklung der letzten zehn Jahre und stellte Überlegungen zum Zusammenhang zwischen ökonomischen Krisen und Revolutionen an. In den Jahren zwischen 1850 und 1856 verfasste er größere Arbeiten zum Staatsstreich des späteren Napoleon III. im Dezember 1851, zur Kommunistenverfolgung in Deutschland und zur Tätigkeit anderer deutscher Exilgruppen. Die sich 1857 anbahnende Wirtschaftskrise - die auch Marx und seine Familie vor große finanzielle Schwierigkeiten stellte[53] - veranlasste ihn schließlich, in einem Kraftakt zwischen Oktober 1857 und Mai 1858 ein nur wenig gegliedertes Manuskript von fast 800 Druckseiten niederzuschreiben, das unter dem redaktionellen Titel "Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf)"[54] in zwei Bänden erst 1939-41 in Moskau veröffentlicht wurde. Nach eigenem Bekunden arbeitete er daran wie "toll die Nächte durch",[55] wobei ihm zustattenkam, dass er das angesammelte Material mit Hilfe von "Hegels 'Logik'" strukturieren konnte, die er zufällig "wieder durchgeblättert hatte".[56] Es handelt sich sozusagen um den ersten Entwurf zu seinem Hauptwerk, der schon die spätere Dreigliederung in Produktions-, Zirkulations- und Gesamtprozess ahnen lässt, in dem jedoch, wie Marx selbst bemerkte, "alles wie Kraut und Rüben durcheinander"[57] geht.

Eine dazu gehörige Einleitung, in der er erstmals ausführlich seine Methode darstellt, entstand im August/September 1857,[58] deren Veröffentlichung er freilich wieder verwarf, "weil mir bei näherem Nachdenken jede Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend scheint".[59] Nachdem sich ein Verleger durch die Vermittlung Ferdinand Lasalles fand, arbeitete Marx den Text zur Veröffentlichung in zwei Etappen völlig um:[60] August bis Oktober 1858 entstand der sogenannte "Urtext"[61] und dann November bis Januar 1859 der eigentliche Drucktext von "Zur Kritik der Politischen Ökonomie".

Wir haben es in dieser Periode also mit einer zweiten Rezeption von Hegels "Logik" zu tun, deren Spuren im Text der "Grundrisse" - gemessen an den späteren Texten "Zur Kritik ..." und "Kapital" - viel offensichtlicher sind.[62] Es ist hier nicht der Ort, alle Veränderungen methodischer oder inhaltlicher Art nachzuzeichnen, die sich noch bis zur heute gebräuchlichen 4. Auflage des "Kapital" von 1890 ergaben.[63] Die aber alle Texte zur politischen Ökonomie ab 1857/58 leitende Erkenntnistheorie und die daraus sich ergebende Forschungsmethode, wie sie im letzten Abschnitt noch einmal entlang der "Einleitung" versucht wird zusammenzufassen, bleibt von diesem Zeitpunkt an grosso modo dieselbe. Hegel wird nun nicht mehr kritisiert, dass er Abstraktionen verwendet, sondern dafür, wie er sie verwendet. Im Aufbau der Kritik der politischen Ökonomie hat die logisch-genetische Folge der Kategorien Vorrang vor den historischen: "Es wäre untubar und falsch, die ökonomischen Kategorien in der Folge aufeinander folgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren."[64] Doch zugleich werden historische Beispiele vor allem aus dem am weitesten entwickelten England allenthalben zur Illustration eingestreut: "Mit dem eigentlichen theoretischen Teil konnte ich nicht vorangehen. Dazu war das Hirn zu schwach (infolge seines Leberleidens - JA). Ich habe daher den Abschnitt über den 'Arbeitstag' historisch ausgeweitet, was außer meinem ursprünglichen Plan lag."[65] Oder wenn es um die historischen Voraussetzungen der Kapitalbildung geht und damit die dialektische Entwicklung der Kategorien an ihre Grenzen stößt: "Es zeigt sich an diesem Punkt bestimmt, wie die dialektische Form der Darstellung nur richtig ist, wenn sie ihre Grenzen kennt."[66] Deshalb wird das Entstehen der kapitalistischen Produktionsweise erst dann abgehandelt,[67] wenn das diese Produktionsweise dominierende Produktionsverhältnis - eben das Kapital - logisch-theoretisch bereits entwickelt ist: "In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluss anweist."[68] "Die Bedingungen und Voraussetzungen des Werdens, des Entstehens des Kapitals unterstellen eben, dass es noch nicht ist, sondern erst wird; sie verschwinden also mit dem wirklichen Kapital, mit dem Kapital das selbst von seiner Wirklichkeit ausgehend, die Bedingungen seiner Verwirklichung setzt."[69]

Die Übernahme Hegelscher Denkfiguren durch Marx bedeutet jedoch keineswegs, dass man erst Hegels Logik verstanden haben müsse, bevor man Marx versteht, wie Lenin in einem Aphorismus bemerkte.[70] Bei beiden handelt es sich zwar um begriffliche Entwicklungen; während sich bei Hegel jedoch der Begriff unberührt von aller Empirie aus sich selbst heraus entwickelt, geht es bei Marx um den Zusammenhang der Begriffe oder Abstraktionen, die aus dem empirischen Material gewonnen wurden und so in eine logische Ordnung gebracht werden. Dabei wird der Schein der unmittelbaren Empirie aufgelöst in Vermittlungen, die das adäquate Begreifen des empirisch Erscheinenden, d.h. sein Wesen, erst ermöglichen und insofern ist Marx' Wissenschaftsverständnis wesentlich kritisch, die Identität von Sein und Bewusstsein ist nie absolut. Dieses Wesen hat nun aber überhaupt nichts mehr zu tun mit den normativen Wesensvorstellungen des Marx der frühen 40er Jahre. Aus seiner wissenschaftlichen Methode geht stattdessen hervor, dass Geschichte nur als offener Prozess zu begreifen ist, dessen Verlauf konkret je neu bestimmt werden muss. Und von einem wie auch immer einzunehmenden "Standpunkt des Proletariats"[71] als wissenschaftlicher Ansatz ist Marx meilenweit entfernt: "Einen Menschen aber, der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrtümlich sie immer sein mag), sondern von außen, ihr fremden, äußerlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu akkomodieren sucht, nenne ich 'gemein'."[72] Lässt man die Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft bei Marx seit den 1840er Jahren noch einmal Revue passieren, so fällt auf, dass in jeder Etappe schon ein wenig der Übergang zur nächsten angelegt ist. Diese Kontinuität der Übergänge entzieht sich zwar einer strikten Periodisierung, weist aber andererseits in ihrem Fluss auch alle Versuche zurück, den Marx des "Kapital" mit dem Marx der PM umstandslos zu identifizieren. Das einzig Beständige an Marx' wissenschaftlicher Entwicklung ist die Veränderung.

Die Geschichtsphilosophie im Widerstreit mit der Kritik der politischen Ökonomie

Im Widerspruch zu diesem methodischen Ansatz finden sich bei Marx leider auch noch nach 1857/58 Elemente einer Geschichtsphilosophie, wie sie sich in der Frühphase zuhauf nachweisen lassen und hier auch zitiert wurden. Allerdings sind sie in keiner Weise mit seiner Kritik der politischen Ökonomie vermittelt und beeinträchtigen diese auch nicht wesentlich. Dazu gehören beispielsweise alle Formulierungen, die soziale Prozesse als mit naturgeschichtlicher Zwangsläufigkeit sich vollziehende darstellen, denn die Entwicklung einer Gesellschaft ist immer durch menschliches mehr oder minder bewusstes Handeln vermittelt und insofern sehr verschieden von einem wirklich naturgeschichtlichen Prozess: "....mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformationen als einen naturgeschichtlichen Prozess auffasst ...".[73] Und: "In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen ...".[74] Marx' Rede ist dabei allerdings oft eher metaphorisch-ironisch. Metaphorisch insofern, als diese Entwicklung den Beteiligten als naturgeschichtlicher Prozess erscheint, da er sich hinter ihrem Rücken vollzieht und damit auf ihrer Bewusstlosigkeit beruht. Ironisch insofern, als die klassische politische Ökonomie bemüht war, die kapitalistische Form der Produktion als die natürliche darzustellen und damit zu verewigen. Auf der anderen Seite muss Marx aber klar gewesen sein, dass die dialektische Entwicklung ökonomischer Kategorien, wie sie sich in den "Grundrissen" und im "Kapital" findet, nicht mit einer naturwissenschaftlichen, ja mathematischen Logik beschrieben werden kann.

Vor allem im Vorwort von "Zur Kritik ...", wenn es um das Verhältnis von ökonomischer Basis und politischem Überbau, um die Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften als Motor der Geschichte und um das angeblich feststehende Ziel des geschichtlichen Prozesses geht, benutzt Marx Formulierungen, die häufig Anlass zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen vor allem durch die aufstrebende Arbeiterbewegung boten: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein politischer und juristischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen."[75] "Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen, (...) innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein."[76] "In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form (sic!) des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (...). Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab."[77]

Solche Bemerkungen - oft genug platt deterministisch verstanden - sind häufig Anlass zu einer szientistischen, ja positivistischen Interpretation der Marxschen Wissenschaft, die dann je nach Einstellung des Autors verteidigt oder kritisiert wird. Als Beispiel für letzteres mag hier J. Habermas dienen, der den Marxschen Praxisbegriff auf instrumentales Handeln verkürzt, bedenkenlos Marxsche Zitate aus den 40er Jahren mit denen des "späten" Marx zusammenwirft, so als hätte es da keine Entwicklung gegeben, um ihm dann - auch mit Bezug auf die oben kritisierten Äußerungen zur Naturwissenschaft - "materialistischen Szientismus" vorzuwerfen. [78] Viel bedeutsamer ist jedoch, dass im Verlauf der positiven Aufnahme der Marxschen Theorie durch die aufstrebende Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts die Komplexität seiner Analyse zu einer objektivistischen Darstellung des Kapitalverhältnisses mit gewissem, nämlich für die kapitalistische Produktionsweise finalem Ausgang verkam, dem auf der anderen Seite eine zutiefst subjektivistische politische Handlungstheorie entsprach - mal revolutionär, mal eher reformerisch. Was seit der Aufklärung im modernen bürgerlichen Denken vorherrschte, nämlich die Dichotomie einer quasi naturgesetzlich sich vollziehenden gesellschaftlichen Entwicklung mit der "unsichtbaren Hand" des Marktes (Adam Smith) bei gleichzeitiger "Autonomie" und "Selbstverantwortung des Individuums" (Kant), wurde in der seit dem 1.Weltkrieg gespaltenen Arbeiterbewegung in einen verkürzten und verstümmelten "Marxismus" übernommen, in dem Marx nur noch die Rolle eines sozialistischen Ökonomen spielte, der die Ausbeutung der Arbeiter unter kapitalistischen Bedingungen und die historischen Tendenzen dieser Produktionsweise im Hinblick auf einen Übergang in ein höheres Stadium analysiert hatte.

Dabei ging leider verloren, dass sich Marx gerade nicht als Verbesserer der herrschenden politischen Ökonomie verstand, sondern als deren fundamentaler Kritiker, der nicht nur ihre ungelösten Probleme zu lösen trachtete, sondern schon bei ihren grundlegenden Kategorien wie Wert, Ware, Geld und Kapital und deren ideologischem Niederschlag in den Köpfen ansetzte. Ihrem eigentlichen Gehalt nach handelt es sich also keineswegs um eine positive Theorie etwa eines "sozialistischen Aufbaus" staatlich geplanter Marktsysteme, sondern im Gegenteil um eine Kritik warenproduzierender Systeme überhaupt. Die erkenntnistheoretische Seite der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie wurde damit völlig aus dem Blickfeld verbannt, ja es wurde sogar der widersinnige Versuch unternommen, mit Marx eine "Politische Ökonomie des Sozialismus" zu schaffen. Auch Marxens geschichtsphilosophische Bezugnahme auf das Proletariat als Klassensubjekt historischer Umwälzungen findet sich noch in späteren Werken. Nachdem er schon die klassische politische Ökonomie kritisch überwunden hatte (etwa ab 1857), versuchte er noch so manches Mal, seinen ursprünglichen geschichtsphilosophischen Ansatz mit seiner Strukturanalyse in Einklang zu bringen: "Soweit solche Kritik (die Kritik der politischen Ökonomie - JA) überhaupt (!) eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf (!!) die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist - das Proletariat."[79] "Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistische Hülle (!?). Sie wird gesprengt. (...) Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses (!) ihre eigne Negation."[80] Der analytische Forscher Marx, dessen in fast 40 Jahren mühsam erarbeitete Untersuchungsergebnisse in seinem unvollendet gebliebenen dreibändigen Hauptwerk gipfeln, steht also nur allzu oft unvermittelt neben dem Marx der Arbeiterbewegung. Dieser Arbeiterbewegungs-Marx schuf in Anlehnung an seine frühe Religionskritik eine in manchen Passagen als soziale Erlösungsutopie interpretierbare Theorie, indem er als kritischer "Schüler jenes großen Denkers"[81] den Hegelschen Fortschritts- und Entwicklungsbegriff ins materialistisch-soziologische wendete und dessen Geschichtsdialektik in die notwendig sich immer vorwärts bewegende Gesellschaftsentwicklung uminterpretierte. Im Zentrum dieser Entwicklung sollte ausgerechnet jenes Proletariat stehen, das er gemäß seiner eigenen Kritik der politischen Ökonomie ja gerade als vom Kapital konstituierte und immer wieder neu reproduzierte soziale Kategorie festgehalten hatte: "Der kapitalistische Produktionsprozess, im Zusammenhang betrachtet oder als Reproduktionsprozess, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der andren den Lohnarbeiter." "Das Gesetz endlich, welches die relative Überbevölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen." "Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt."[82]

Diese Arbeiterklasse ist in den Rechtsvorstellungen befangen, wie sie aus den Gesetzmäßigkeiten des Warentauschs hervorgehen und denen gerade auch der Tausch der Ware Arbeitskraft gegen Geld unterliegt: "Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhen alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie."[83] Und ausgerechnet diese Arbeiterklasse sollte die "lichten Höhen" seiner Wissenschaft erreichen und dabei in der Lage sein, "ihre steilen Pfade zu erklimmen".[84] Statt dessen entwickelte die Arbeiterklasse in allen Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit um die Art und Weise der Kapitalproduktion (Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen), um die Verteilung des produzierten Wertes (Lohn, Profit und Sozialleistungen) und nicht zuletzt um eine gesellschaftliche und politische Anerkennung (Koalitionsrecht, Wahlrecht und Mitbestimmung) zwar eine Art kollektiver Identität, diese verblieb jedoch in der großen Mehrzahl aller Fälle innerhalb eines gemeinsamen Bezugssystems, nämlich der modernen Warenproduktion, wie es deren Struktur ja auch nahelegte: "Die Erhöhung des Arbeitspreises bleibt also eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachsender Stufenleiter sichern."[85] "Von ganz elastischen Schranken abgesehen, ergibt sich aus der Natur des Warentausches selbst keine Grenze des Arbeitstages, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warentausches besiegelt."[86]

In dem Maße, wie durch viele Kämpfe, Rückschläge und Brüche hindurch sich die Form der Lohnabhängigkeit verallgemeinerte und ihre Träger als "gleichberechtigte Staatsbürger", "Warenverkäufer" und Konsumenten im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt wurden, gingen dann auch noch die Reste eines revolutionären Nimbus verloren, der zwar einerseits oft nur "ideologisches Anhängsel" praktischer Alltagspolitik gewesen war, andererseits jedoch auch noch oft in nicht zu unterschätzender Weise identitätsstiftend gewirkt hatte. Die Arbeiter haben ihren "Beruf" als Klasse an den Nagel gehängt.

Wir haben es bei Marxens Gesamtwerk also mit einem mixtum compositum zu tun, aus dem die Strukturanalyse der kapitalistischen Produktionsweise freizulegen wäre und damit diejenigen Mechanismen, die auch noch heute wirkungsmächtig das Zentrum unserer gesellschaftlichen Entwicklung steuern - nämlich die Produktion menschlichen Lebens in einem umfassenden Sinn, doch im Rahmen eines fetischisierten warenproduzierenden Systems, das mit seinen Krisen, Absurditäten und destruktiven Resultaten für Mensch und Natur zu einer scheinbar alternativlosen Selbstverständlichkeit geronnen ist. Dies umso dringender, als die mit dem Abtreten der vermeintlichen Gegenentwürfe im Osten[87] weltumspannend dominierende kapitalistische Produktionsweise, die sich entgegen aller anderslautender Behauptungen mit allen politischen Regimes verträgt, eine zerstörerische Potenz erreicht hat, die die Lebensgrundlagen der Gattung und damit diese selbst zu vernichten droht. Soziale Emanzipation, d.h. vor allem Befreiung aus diesem System der kapitalistischen Warenproduktion, kann zwar nicht das Werk einer Arbeiterklasse sein, deren genaue Definition heute schon weitgehend unmöglich geworden ist, kann aber auch genauso wenig nicht ohne gewichtige Teile der Lohnabhängigen erreicht werden. Dies sind die Bedingungen des Problems. Hic Rhodus hic salta! Marxens Wahlspruch "De omnibus dubitandum" (an allem ist zu zweifeln)[88] ist also zuallererst auf ihn selbst anzuwenden und es gilt der Satz Kants, dass man einen Autor besser verstehen muss, als er sich selbst.[89] Letzteres fällt insofern leichter, als seit 1976 eine historisch-kritische Gesamtausgabe ediert wird, deren Abteilung II ("Das Kapital" und Vorarbeiten) just im Sommer 2012 nach längeren Geburtswehen abgeschlossen wurde. Somit sind zum ersten Mal alle diesbezüglichen Manuskripte und relevanten Texte zugänglich, die einen unverstellten Blick auf Marxens beinahe 40jährigen Forschungsprozess erlauben.

Versuch über Marx' Erkenntnistheorie in den "Grundrissen" und im "Kapital", über seine Forschungs- und Darstellungsmethode

Die Grundfrage aller Philosophie gilt dem Verhältnis von Denken und Sein und damit der Frage, wie Erkenntnis überhaupt möglich ist. Das Sein zeigt sich dem erkennen wollenden Verstand nicht unmittelbar. Es vermittelt sich vielmehr dem praktisch sich verhaltenden Alltagsverstand als eine Art "falsche" Konkretheit, als Erscheinung. Das impliziert eine primäre und unmittelbare Einstellung der Menschen zu ihrer Wirklichkeit, einen Bereich sinnlich-praktischer Tätigkeit, der es ihnen erlaubt, ihre Absichten und Interessen im Rahmen eines komplexen Systems sozialer Beziehungen zu verfolgen, eine Welt der Phänomene, in die sie hineingeboren werden, deren inneren Zusammenhang sie nicht kennen müssen: "Sie wissen das nicht, aber sie tun es."[90] In den Köpfen der Teilnehmer reproduziert sich die phänomenale Warenwelt als eine Summe verschiedenster Anschauungen und Vorstellungen, die die Erscheinungsformen der Wirklichkeit festhalten und erklären, nicht aber deren Wesen. Zu diesem Komplex von Erscheinungen, die die alltägliche Umgebung und das geläufige Verständnis durch ihr regelmäßiges, unmittelbares und selbstverständliches Auftreten bestimmen und damit den Schein von Natürlichkeit und Selbständigkeit erlangen, gehören: 1. Die äußeren Erscheinungen, die sich an der Oberfläche abspielen (vor allem in der Zirkulation). 2. Die gängige, unkritisch sich dazu verhaltende Praxis. 3. Die geläufigen Vorstellungen in den Köpfen über diese beiden und 4. die überkommenen, fixierten Objekte, die scheinbar nicht das Resultat menschlicher Praxis sind. Damit erhält die Kritik der politischen Ökonomie eine philosophische Dimension; sie wird auch zu einer Kritik der aus den Erscheinungen resultierenden Ideologie, jener spezifisch ökonomischen Denkweise, die Marx im Unterkapitel "Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis"[91] entwickelt und die eins der konstitutiven Elemente der gegenwärtigen Produktionsweise ist. Denn der Kapitalismus ist von Anfang an mehr als nur ein Ensemble von besonderen Produktions- und Austauschverhältnissen - er ist zugleich eine Alltagsreligion, ein System von Vorstellungen und gängigen Denk- und Urteilsformen, die aus diesen hervorwachsen und das alltägliche Handeln aller Beteiligten bestimmen. Die allseitige gesellschaftliche Abhängigkeit des bürgerlichen Individuums verschwindet hinter dem Schein angeblich autonomer Handlungsmöglichkeiten, sodass sogar der soziale Absturz noch als selbstverschuldet begriffen wird, und gleichzeitig tritt ihm der gesellschaftliche Prozess als äußerlich und naturgesetzlich gegenüber, obwohl er sich doch erst durch das Handeln aller bürgerlichen Subjekte konstituiert hat.

Daneben gibt es aber noch die sekundäre und vermittelte Tätigkeit des menschlichen Verstandes auf der Suche nach dem hinter den Erscheinungen liegenden Wesen. Dies erfordert die Anstrengungen wissenschaftlichen Bewusstseins, denn fielen Erscheinung und Wesen zusammen, wäre Wissenschaft unnötig: "Wenn, wie der Leser zu seinem Leidwesen erkannt hat, die Analyse der wirklichen, inneren Zusammenhänge des kapitalistischen Produktionsprozesses ein sehr verwickeltes Ding und ausführliche Arbeit ist; wenn es eine Arbeit der Wissenschaft ist, die bloß phänomenale Bewegung auf die innere, wirkliche Bewegung zu reduzieren, so versteht es sich ganz von selbst, dass in den Köpfen der kapitalistischen Produktions- und Zirkulationsagenten sich Vorstellungen über die Produktionsgesetze bilden müssen, die von den wirklichen ganz abweichen und nur der bewusste Ausdruck der scheinbaren Bewegung sind."[92] "Hier (im dritten Band des "Kapital" - JA) wird sich zeigen, woher die Vorstellungsweise von Spießer und Vulgärökonom stammt, nämlich daher, dass in ihrem Hirn nur die unmittelbare Erscheinungsform der Verhältnisse reflektiert, nicht deren innerer Zusammenhang. Wäre letzteres übrigens der Fall, wozu wäre dann überhaupt eine Wissenschaft nötig?"[93]

Unmöglich aber wäre die Wissenschaft, wozu auch die Philosophie gehört (die Scheidung zwischen beiden ist relativ jung[94], erst recht die positivistische Dominanz in der Wissenschaft), wären Wesen und Erscheinung zwei völlig disparate Sphären. In jeder Erscheinung wird jedoch das Wesen teilweise sichtbar, aber in nicht adäquater Form und nur in einigen Aspekten. Das Wesen ist also nicht wie bei Platon oder im Christentum eine Wirklichkeit völlig anderer Ordnung: es wird von der Erscheinung gleichzeitig verdeckt und offenbart und ohne die Erscheinung wäre das Wesen nicht erfassbar. Auch das wissenschaftliche Bewusstsein findet keine andere Welt vor, als die der Erscheinungen, der "falschen" Konkretheit. Sie ist immer der Ausgangspunkt - "eine chaotische Vorstellung des Ganzen"[95] - doch in dem Bemühen, der Struktur der Sache, der "Sache selbst" auf die Spur zu kommen, muss sie zerstört, zergliedert, das "Eine" muss geteilt werden, um das verborgene Wesen des Seins zu enthüllen. Dies geschieht auf dem Wege der Abstraktion, deren Kraft "das Mikroskop" und die "chemische(n) Reagenzien" der Naturwissenschaft ersetzen muss.[96] Das theoretische Denken kann nur als kritisch-dialektisches die fetischisierte Welt des Scheins auflösen, da die Logik A=A die Beziehung zwischen Erscheinung und Wesen nicht erfassen kann. Dabei kann es weder um eine reduktionistische Vereinfachung gehen, in der das Komplizierte auf einfachste Formeln heruntergebrochen wird, noch um das Zerreißen eines "Vorhangs", der dem Betrachter nur den Blick verstellt hat und hinter dem wie durch ein Wunder die Wahrheit sichtbar wird. Vielmehr setzt die Erkenntnis als geistige Reproduktion der Wirklichkeit ein Aufspüren des inneren Bandes zwischen den Abstrakta voraus, das deutlich macht, warum jene Erscheinung auf ein ganz bestimmtes Wesen zurückzuführen ist und warum dieses Wesen ausgerechnet jene Erscheinung annahm, also beide in ihrer Dynamik erfasst. Erst dann kann von einer Reproduktion des Ganzen "als geistig Konkretes" mit "einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen"[97] geredet werden. Der Weg von der "falschen" Konkretheit bis zu dieser reichen Totalität ist identisch mit dem Begreifen der Wirklichkeit, jedoch kann dieses Begreifen bei Marx im Gegensatz zur letztlichen Identität von Sein und Bewusstsein bei Hegel nie absolut sein. Das menschliche Wissen - und es gibt kein anderes - als eine spezifische, in der Arbeitsteilung abgesonderte Form der Tätigkeit wirklicher Menschen bleibt insofern ebenso wie der historische Prozess immer unabgeschlossen. Die Forschungsmethode umfasst laut Marx im Wesentlichen drei Stufen: 1. Umfassende Aneignung des Stoffes, Bewältigung des Materials bis in alle historisch zugänglichen Details. 2. Analyse der einzelnen Entwicklungsformen dieses Materials. 3. Erforschung des inneren Zusammenhangs der Entwicklungsformen in ihrer Einheit. Schon daraus folgt, dass man das Verfahren der Analyse, wie es in der dialektisch-materialistischen Kritik der bürgerlichen Ökonomie vorliegt, keineswegs als fertiges Schema verwenden kann und dass alle Versuche, die im "Kapital" vorkommenden Denkformen zu verabsolutieren und in verallgemeinerter Form als System einer "dialektischen Logik" zu fixieren, misslingen müssen. Wenn der Wissenschaftsbegriff des praktischen Materialismus eine Enthüllung der spezifischen Logik des spezifischen Gegenstandes fordert, dann sind damit radikal alle Versuche abgelehnt, aus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie eine fertige dialektische Methodologie zu abstrahieren; auch alle Versuche, eine "Weltanschauung" daraus zu konstruieren müssen daran zerschellen. Die Dynamik der in dieser Kritik durch Abstraktion gewonnenen Kategorien ergibt sich im Forschungsprozess aus ihren Mängeln, ihren Widersprüchlichkeiten, die zu immer neuen Lösungen drängen.[98] Diese neuen Lösungen heben zwar die Widersprüche nicht auf, schaffen "aber die Form, worin sie sich bewegen können. Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen."[99] Die Darstellung dieses Zusammenhangs in einer theoretischen Konstruktion ist von diesem Forschungsprozess zu unterscheiden. Gelingt diese Darstellung "und spiegelt sich das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun" [100] und "als handle es sich nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektik dieser Begriffe".[101]


Anmerkungen

[1] Dem aufmerksamen Leser dieser Untersuchung wird nicht lange verborgen bleiben, wie viel der Autor dem Werk von Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert (vgl. Anm.11) verdankt, ohne dessen strikte Periodisierung Marxschen Denkens oder gar seine Definition der Geschichte als Prozess ohne Subjekt zu teilen, von seiner Werttheorie ganz zu schweigen.

[2] Marx, Brief an Lasalle 22.Feb.1858, in: MEW Bd.29, Berlin 1963, S.550, Hervorhebung hier + in den folgenden Zitaten von Marx.

[3] Marx, Das Kapital. Erster Band, Vorwort zur ersten Auflage (1867), in: Marx Engels Werke (MEW) Bd.23, Berlin 1962, S.15-16

[4] Mit einer gewichtigen Einschränkung: der Begriff der Volkswirtschaftslehre entbehrt im Gegensatz zur politischen Ökonomie völlig der philosophischen Dimension, obgleich deren gegenwärtige "Theorien" natürlich unausgesprochen philosophische, nämlich positivistische Grundannahmen voraussetzen.

[5] Marx, Brief an Kugelmann 28.Dez.1862, in: MEW Bd.30, Berlin 1964, S.640

[6] Eine erste historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels wurde ab 1927 in einer Zusammenarbeit des Marx-Engels-Instituts (MEI) in Moskau unter der Leitung von David Borissowitsch Rjasanow (eigentlich D.B. Goldenbach) u.a. mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung versucht. Erschienen sind allerdings nur 12 Bände, da der Faschismus in Deutschland und die stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion, denen auch Rjasanow zum Opfer fiel (1931 deportiert und im Januar 1938 unmittelbar nach einer viertelstündigen Verhandlung erschossen), die Weiterarbeit unmöglich machten. 1936 stellte das MEI die wissenschaftliche Arbeit an der ersten MEGA endgültig ein. Später erschienen lediglich und schon nicht mehr als Teil der MEGA die "Grundrisse" in zwei Bänden. Bezeichnenderweise enthielten die wissenschaftlichen Arbeiten rund um die MEGA, soweit sie ab 1976 zu DDR-Zeiten erschien, keinerlei Aufarbeitung zur Geschichte der ersten MEGA-Edition.

[7] Überschrieben mit "Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt", heute in: MEW Bd.40, (früher: Ergänzungsband. Erster Teil), 3. überarbeitete und erweiterte Auflage (!), Berlin 2012, S.568-588.

[8] Marx, Brief an Engels vom 16.Jan. 1858, in: MEW Bd.29, S.260

[9] z.B. Erich Fromm, Das Menschenbild bei Marx, Frankfurt 1963; Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution, (englisch 1941), Neuwied und Berlin 1962; Erich Thier, Das Menschenbild des jungen Marx, Göttingen 1957.

[10] z.B. Roger Garaudy, Gott ist tot, Frankfurt 1965; Pater Jean-Yves Calvez, Karl Marx. Darstellung und Kritik seines Denkens (1956), Olten und Freiburg 1964; Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, erweiterte Ausgabe, (1947-49), Frankfurt 1962; Dieter Henrich, Karl Marx als Schüler Hegels (1961), in: ders., Hegel im Kontext (1971), neue und erweiterte Auflage Frankfurt 2010.

[11] z.B. Louis Althusser, Für Marx, Frankfurt 1968; Paul Kägi, Genesis des historischen Materialismus, Wien, Frankfurt, Zürich 1965, Ernest Mandel, Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx, Frankfurt 1968; Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, überarbeitete und erweiterte Neuauflage Münster 1999.

[12] Anmerkung zu einem nicht überlieferten Teil von Marxens Dissertation "Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie" von 1840/41, in: MEW Bd.40, S.327-328

[13] Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort (1859), in: MEW Bd.13, Berlin 1961, S.7

[14] Marx, Der leitende Artikel in Nr.179 der "Kölnischen Zeitung" (1842), in: MEW Bd.1, 16. überarbeitete Auflage, Berlin 2006, S.102-103

[15] Ebenda, S.97.

[16] Marx, Rechtfertigung des ++-Korrespondenten von der Mosel (1843), ebenda, S.177.

[17] Marx, Über die ständischen Ausschüsse in Preußen (1842), in: MEW Bd.40, S.419

[18] Engels datierte später den materialistischen Einfluss Feuerbachs schon auf 1841 (da erschien dessen "Wesen des Christentums", vgl. Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie (1886), in: MEW Bd.21, Berlin 1962, S.272), wofür es allerdings in den Marxschen Texten keinen Beleg gibt.

[19] Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843), in: MEW Bd.1, S.209, vgl. auch ebenda S.216 und 218.

[20] Ebenda, S.281.

[21] Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/44), Ebenda, S.391.

[22] Vgl. dazu seine Schilderung des Verhältnisses zu Proudhon, die er - allerdings im Abstand von über 20 Jahren - im Brief an die Redaktion des "Social-Demokrat" gibt (Brief an J.B. v. Schweitzer, "Über P.-J. Proudhon" (1865), in: MEW Bd.16, Berlin 1962, S.25-32).

[23] Siehe MEW Bd.1, S.499-524

[24] Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: MEW Bd.40, S.475

[25] Ebenda, S.517

[26] Ebenda, S.574

[27] Ebenda, S.571

[28] Ebenda, S.536

[29] In den Pariser Exzerptheften von 1844 hatte er der Nationalökonomie in einem Kommentar zu Ricardo noch vorgeworfen, dass sie dem Menschen, "also dem Leben selbst alle Bedeutung abspricht". (Marx, Historisch-ökonomische Studien (Pariser Hefte), in: MEGA, Abt. IV, Bd.2, Berlin 1981, S.421 - Hervorhebung JA).

[30] Marx, Engels, Die heilige Familie (1844), in: MEW Bd.2, Berlin 1957, S.85 und S.138

[31] Marx, Thesen über Feuerbach (1845), in: MEW Bd.3, Berlin 1958, S.533

[32] Ebenda, S.534 und 535

[33] Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort (1859), a.a.O., S.10

[34] Marx, Engels, Die deutsche Ideologie (1845-46), in: MEW Bd.3, S.18

[35] Ebenda, S.48, 44 und 45

[36] Ebenda, S.25, 26. "Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess" (ebenda, S.26).

[37] Ebenda, S.35

[38] Siehe seine Studien zu James Mill von 1844 (auszugsweise in: MEW Bd.40, S.443-463); die Hefte 1-5 der Manchester-Exzerpte von 1845 sind in der Abteilung IV (Exzerpte, Notizen, Marginalien) im Band 4 der Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA), Berlin 1988, S.7-354 veröffentlicht und die restlichen Hefte sollen in Band 5 erscheinen.

[39] Marx, Engels, Die deutsche Ideologie, a.a.O., S.354 und 383

[40] Marx, Das Elend der Philosophie, (1846/47), in: MEW Bd.4, Berlin 1959, S.130, aus dem Französischen.

[41] Eine von vielen Stellen: ebenda, S.81.

[42] Ebenda, S.61-182; ein fast als Kurzfassung dieser Schrift zu bezeichnende Kritik der Auffassungen Proudhons findet sich im Brief vom 28.Dez. 1846 an den russischen Publizisten Annenkow, in: ebenda, S.547-557 und MEW Bd.27, Berlin 1963, S.451-463.

[43] In: MEW Bd.4, S.459-493

[44] In: MEW Bd.6, Berlin 1959, S.397-423

[45] Das Elend der Philosophie, a.a.O., S.126-128

[46] Vgl. ebenda, S.106-114

[47] Allerdings ist dort nur von der Bourgeoisie als Motor der Geschichte die Rede, sodass sich Engels bei einer Wiederauflage des Manifests 1888 veranlasst sah, zu erklären, dass unter Bourgeoisie "die Klasse der modernen Kapitalisten" zu verstehen ist. (Manifest, a.a.O., S.462, *Anmerkung)

[48] Manifest, a.a.O., S.474-475

[49] Vgl. Lohnarbeit und Kapital, a.a.O., S.408-409, vgl. auch das etwa zur gleichen Zeit entstandene Manuskript "Arbeitslohn", ebenda, S.535-556

[50] Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, a.a.O., S.10-11

[51] In der IV. Abteilung der MEGA füllen sie alleine fünf Bände mit zusammen ca. 3000 Seiten.

[52] Vgl. seinen Briefwechsel mit Engels von Ende November 1851 in: MEW Bd.27, S.370-375, wo schon sehr detailliert von einem mehrbändigen Werk die Rede ist.

[53] Jedenfalls bemerkte er später, dass noch nie über das Geld "unter solchem Geldmangel geschrieben worden ist" (Brief Marx an Engels 21.Jan. 1859, in: MEW Bd.29, S.385).

[54] Ein fotomechanischer Wiederabdruck in einem Band erschien 1953 und noch einmal 1974 in Berlin; heute in: MEW Bd.42, Berlin 1983, nach dieser Ausgabe wird hier zitiert.

[55] Brief Marx an Engels 8.Dez. 1857, in: MEW Bd.29, S.225

[56] Brief Marx an Engels 16.Jan. 1858, ebenda, S.260

[57] Brief Marx an Engels 31.Mai. 1858, ebenda, S.330

[58] MEW Bd.13, S.615-642 (dort allerdings als Einleitung von "Zur Kritik ..." bezeichnet) und MEW Bd.42, S.19-45

[59] Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, a.a.O., S.7

[60] In einem Brief an Lasalle vom 28. April 1862 verweist Marx auf sein "Eigentümlichkeit", alles "nach 4 Wochen (...) wieder total" umzuarbeiten (in: MEW Bd.30, S.622).

[61] Nicht vollständig überliefert, erstveröffentlicht 1941 im Rahmen der "Grundrisse", ebenso in den Ausgaben Berlin 1953+1974, S.869-947, heute in: MEGA Abt. II Bd.2, Berlin 1980, S.17-94

[62] Ungeachtet seiner sonstigen Einschätzungen ist es das bleibende Verdienst von Roman Rosdolsky, diesen Aspekt der "Grundrisse" hervorragend herausgearbeitet zu haben (siehe sein "Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen 'Kapital'", Frankfurt 1968).

[63] Die zweite Auflage von 1872 war die letzte, die Marx noch selbst erlebte (in: MEGA, Bd. II/6, Berlin 1987) und mit der er alles andere als zufrieden war (vgl. sein Nachwort zur zweiten Auflage, in: MEW Bd.23, S.18). Die heutige Version des Kapital I-Textes beruht also nicht auf einer Marxschen Endredaktion, jedoch sind die Eingriffe von Engels weitgehend unproblematisch, wie ein Vergleich mit Marxens nach 1867 entstandenen Manuskripten, den ersten Band betreffend, zeigt. Die inzwischen weit verbreitete wohlfeile Behauptung, dass "alle drei Bände des Kapital ... nicht in Marxschen, sondern in Engelsschen Redaktionen" vorliegen würden (M. Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, 5.Aufl., Münster 2011, S.161, Hervorhebung bei Heinrich), ist zwar in ihrer Allgemeinheit unbestreitbar, verwischt jedoch die qualitativen Unterschiede der Engelsschen Eingriffe in die Bände I bis III.

[64] Grundrisse, Einleitung, a.a.O., S.41

[65] Brief Marx an Engels 10.Feb. 1866, MEW Bd.31, Berlin 1965, S.174

[66] Urtext von "Zur Kritik ...", in: Grundrisse, Berlin 1953+1974, S.945 und MEGA Bd. II/2, S.91

[67] In den "Grundrissen", MEW Bd.42, ab S.371 und im "Kapital" im 24.Kapitel.

[68] Grundrisse, Einleitung, a.a.O., S.40

[69] Grundrisse, a.a.O., S.372

[70] "Man kann das 'Kapital' von Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig begreifen, ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben. Folglich hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen!!" (Lenin, Konspekt zu Hegels "Wissenschaft der Logik", in: Werke Bd.38, Berlin 1964, S.170, Hervorhebung bei Lenin)

[71] Für viele: der bezüglich der ökonomisch-philosophischen Theorieentwicklung des frühen Marx erstaunlich moderne, sehr gründliche und leider viel zu früh verstorbene W. Tuchscheerer, Bevor "Das Kapital" entstand., Berlin 1968, S.108.

[72] Marx, Theorien über den Mehrwert (1861-63), Zweiter Teil, in: MEW Bd.26.2, Berlin 1967, S.112 (akkomodieren = anpassen)

[73] Das Kapital, Erster Band, Vorwort zur ersten Auflage, a.a.O., S.16

[74] Zur Kritik...., Vorwort, a.a.O., S.9

[75] Ebenda, S.8

[76] Ebenda, S.9

[77] Ebenda

[78] Vgl. insbesondere: Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt 1973, S.36-87, das Zitat findet sich auf S.86.

[79] Das Kapital, Erster Band, Nachwort zur zweiten Auflage, a.a.O., S.22

[80] Ebenda, S.791. Im Anschluss an den folgenden Absatz führt Marx noch in einer Fußnote den in der Anmerkung 47 bereits zitierten Satz von der Unvermeidlichkeit des proletarischen Sieges aus dem "Manifest" an.

[81] Das Kapital. Erster Band, Nachwort zur zweiten Auflage, a.a.O., S.27

[82] Ebenda, S.604, 675 und 765

[83] Ebenda, S.562

[84] Ebenda, Vorwort zur französischen Ausgabe, S.31

[85] Ebenda, S.649

[86] Ebenda, S.249

[87] Vermeintlich deshalb, weil bei allen nicht zu übersehenden Verschiedenheiten die grundlegenden Kategorien der Waren- und Geldwirtschaft, wie sie Marx ja gerade kritisiert, in diesen Gesellschaften nach wie vor Gültigkeit besaßen, überzeugend nachgewiesen in: Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie, Frankfurt 1991, mit dem man nicht in allen seinen Schlussfolgerungen übereinstimmen muss.

[88] Marx, Bekenntnisse (1865), in: MEW Bd.31, S.597

[89] Ein ähnlicher Satz findet sich auch bei Marx: "Darüber hinaus muss der Schriftsteller unterscheiden, was ein beliebiger Autor in der Tat aussagt, von dem, was er auszusagen glaubt." (Marx, Brief an Kowalewski, April 1879, in: MEW Bd.34, Berlin 1966, S.506)

[90] Das Kapital, Erster Band, a.a.O., S.88. "Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage." (Thesen über Feuerbach, a.a.O., S.533)

[91] Vgl. Das Kapital. Erster Band, a.a.O., S.85-98.

[92] Ökonomische Manuskripte 1863-1867, Teil 2, (1864/65), MEGA Bd. II/4.2, Berlin 1992, S.385-386 und: Das Kapital, Dritter Band, in: MEW Bd.25, Berlin 1964, S.324 (die Hervorhebungen des Manuskripts wurden von Engels nicht übernommen; die Schreibweise wurde von mir modernisiert, da ich nicht recht einzusehen mag, welcher Erkenntnisgewinn daraus zu ziehen wäre, Ware "Waare" und Wert "Werth" zu schreiben.).

[93] Marx, Brief an Engels, 27.Juni 1867, in: MEW Bd.31, S.313; vgl. auch Marx, Brief an Kugelmann, 11. Juli 1868, in: MEW Bd.32, Berlin 1965, S.553.

[94] Die Väter der englischen Nationalökonomie William Petty, David Hume und Adam Smith waren alle auch Philosophen.

[95] Grundrisse, Einleitung, a.a.O., S.35

[96] Das Kapital, Erster Band, Vorwort zur ersten Auflage, a.a.O., S.12

[97] Grundrisse, Einleitung, a.a.O., S.35

[98] "Gegenstände, die man seit vielen Jahren zum Hauptobjekt seiner Studien gemacht, (...) zeigen (...) immer wieder neue Seiten" und rufen "neue Bedenken" hervor (Marx, Brief an Lasalle, 22.Feb. 1858, in: MEW Bd.29, S.550).

[99] Das Kapital. Erster Band, a.a.O., S.118

[100] "Allerdings muss sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden." (Das Kapital, Erster Band, Nachwort zur zweiten Auflage, a.a.O., S.27)

[101] Grundrisse, a.a.O., S.85-86

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Buchbesprechung von Sebastian Klauke

Lothar Peter: Marx an die Uni. Die Marburger Schule
Geschichte, Probleme, Akteure

Köln: PapyRossa Verlag, 2014, 224 Seiten, Euro 14,90

Mit Marx an die Uni. Die Marburger Schule. Geschichte, Probleme, Akteure liegt die erste eigenständige Monographie zu diesem Themenkomplex vor. Der Band umfasst neben dem Fokus auf die Entwicklung der Marburger Schule zahlreiche, meist kurz gefasste biographische Darstellungen ihrer Akteure sowie kommentierte Vorstellungen wichtiger Veröffentlichungen und eignet sich - nicht zuletzt wegen seines besonnenen und gut zugänglichen Schreibstils - hervorragend für einen Einstieg und Überblick zum Thema. Der Autor selbst verdankt der Schule "wesentliche intellektuelle und politische Impulse und Erfahrungen" (7) und macht damit seine persönliche Verbundenheit von vornherein transparent. Die Monographie führt ohne Romantisierungen und Überhöhungen in jene Zeit zurück, in der die bundesrepublikanische Politikwissenschaft von einer inneren Spaltung gekennzeichnet war, die heute weitestgehend keine Rolle mehr spielt und für jüngere Generationen längst "in Vergessenheit geraten" (ebd.) ist. Das Buch ist Resultat einer "doppelte[n] Selbstreflexion" des Autors: zum einen führt er die kritische Auseinandersetzung mit spezifischen Thematiken und Begriffen sowie der eigenen "Position im akademischen Feld", zum anderen leistet er Erinnerungsarbeit (8). Es handelt sich um einen wichtigen Beitrag zur Politischen Ideen- und Theoriegeschichte der Politikwissenschaft.

Die Marburger Schule nahm ihren Anfang "1951 mit der Berufung von Wolfgang Abendroth als ordentlichem Professor auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Wissenschaftliche Politik" und ihre Zeit "[endete] in den Jahren nach 2000" (12). Ihre Bezeichnung als Schule erachtet der Autor als gerechtfertigt, da sie alle "konstitutiven Merkmale" der wissenschaftlichen Schuldbildung aufweise (12), die Peter wie folgt darlegt: Ihr Ursprung geht zurück auf eine "Einzelpersönlichkeit [...], die ein neues wissenschaftliches Paradigma" erschuf (9) und "eine neue Denkweise" (9f.) verkörperte. Ferner haben sich "weitere Akteure" mit eben diesen "identifiziert[...]" und bildeten schließlich eine "epistemische Gemeinschaft", die von "institutioneller Stabilität" gekennzeichnet war (10). Ebenso liegt eine "räumliche [...] Bindung" an die Marburger Universität vor, begleitet von "dauerhaften Aktivitäten", wie der "Herausgabe von Schriftenreihen" (ebd.). Auch haben die Beteiligten ihre politische und wissenschaftliche Orientierung nach außen "aktiv" vertreten (ebd.). Für Peter handelte sich auch weniger um eine "gesellschaftswissenschaftliche Schule" sondern um eine "sozialwissenschaftliche" (17). Diese Bezeichnung trage "eine[m] eher pragmatischen Wissenschaftsverständnis Rechnung, das sich der bis heute feststellbaren Grenzen des Leistungsvermögens der auch der Marburger Schule tragenden Disziplinen bewusst ist" (18). Die Marburger Schule war grundsätzlich "in vielfacher Hinsicht von männlichen Denkformen, Handlungsmustern und Verhaltenscodes dominiert" (104). Ursula Schmiederer war die einzig etablierte Frau "im politikwissenschaftlichen oder soziologischem Institut" (104). Eines der wohl charakteristischen Eigenschaften der Schule war die Einbeziehung "auch sehr junge[r] AutorInnen in die Forschungsarbeit und Textpublikation" (128, Fußnote 247).

Laut Peter sei bislang noch nicht geklärt, ob die Bezeichnung Marburger Schule derjenigen einer Abendroth Schule vorzuziehen sei (12). Letztere würde zumindest die Verwechslung mit der gleichnamigen Schule der Philosophie verhindern (13). Beide Bezeichnungen sind geläufig, Peter gibt aber der Marburger Schule den "Vorzug" (ebd.), da Abendroth nicht die alleinig prägende Person war, sondern auch der Soziologe Werner Hofmann - wenngleich "nur wenige Jahre" lehrend - von Bedeutung war (ebd.). Ferner ist auch Heinz Maus zu erwähnen, der 1960 in Marburg eine Professur übernahm (ebd.). Nicht von ungefähr wurde daher auch von einem "Marburger Dreigestirn" gesprochen (ebd.). Es sei auch deshalb gerechtfertigt, von einer Schule zu sprechen, da weder die Emeritierung noch der Tod von Abendroth, Maus und Hofmann das Ende der durch sie vorangetriebenen "wissenschaftlich-politische[n] Orientierung" (13f.) bedeutete. Diese währte noch mehr als drei weitere Dekaden fort (14). So vorhergehenden Bestimmungen etwas einschränkend ist Peter der Auffassung, dass insgesamt weniger eine "originäre paradigmatische Neuschöpfung" sondern vielmehr eine "Rekonstruktion, Aktualisierung und Anwendung reiner bereits vorhandenen Geschichts- und Gesellschaftstheorie" - und zwar der "marxistische[n] Theorie" - stattfand (14). Ganz praktisch habe die "gesellschaftskritische Botschaft des linken Professoren [Abendroth] [...] zu einer weltanschaulichen Polarisierung innerhalb der Marburger Studentenschaft" beigetragen (16).

Peter unterscheidet in seiner Darstellung der Marburger Schule "vor allem drei Phasen" (19): 1. Die Phase der "Entstehung und Konsolidierung", die sich von den frühen 1950er Jahren bis Mitte der 1960er Jahre erstreckt. 2. die "vom Marburger Dreigestirn dominierte Phase zwischen 1966 bis 1972". Und 3. die "Fortsetzung der marxistischen Orientierung durch die Nach-Abendroth-Generation" ab Mitte der 1970er Jahre bis hinein in die 2000er Jahre (ebd.). Für das Verständnis aller Phasen sei eine "gesellschaftlich-politische Kontextualisierung" erforderlich, zumal die Akteure mit ihrer Arbeit die "Verhältnisse ihrer Zeit" auch "verändern wollten" (ebd.). Diese Einordnung leistet Peter in kurz gehaltenen, nur grob umreißenden Textpassagen zu Beginn jedes Kapitels. Peter hält es für ein Defizit, dass ein Großteil der bislang erschienenen Darstellungen zur Marburger Schule "mit dem Ausscheiden Abendroths aus dem Universitätsleben [enden]" (20), daher legt er einen besonderen Fokus auf die von ihm skizzierte dritte Phase. Ein weiterer entscheidender Unterschied zur übrigen Literatur ist sein Bezug auch auf die Soziologie (ebd.).

Es sei "schwer" gewesen, "sich dem Bann seiner persönlichen Präsenz zu entziehen" (24) urteilt Peter über die Person und den Lehrenden Abendroth. "Ein wesentlicher Anteil am Leben Abendroths als Wissenschaftler und politischer Persönlichkeit kam seiner Frau Lisa zu" (25). Sie stellte "ihre eigenen Bedürfnisse nach wissenschaftlich-politischer Tätigkeit hinter der ihres Mannes zurück [...]" und ohne ihre "aufopfernde" Unterstützung hätte Abendroth "nicht die Leistungen [...] erbringen können, die ihn auszeichneten" (ebd.). Dies bedeutete für Lisa Abendroth eine "existentielles Dilemma", dessen Auflösung ihr nicht gelang. Sie wäre gern als Historikerin tätig gewesen, hatte sie doch noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 bei dem Historiker Wilhelm Mommsen promoviert (25f.). Auf Grund dieser Konstellation verschwand sie nicht "hinter dem dichten Vorhang traditioneller Rollenzuweisungen", wie es beispielsweise den Ehefrauen von Hofmann und Maus erging (25). Lisa Abendroth beteiligte sich redaktionell und konzeptionell an zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen ihres Ehemanns (26).

Für Abendroth war noch immer die Arbeiterbewegung "der zentrale politische Akteur", dem er zutraute, eine "sozialstaatliche [...] und wirtschaftsdemokratische [...] Entwicklung" der Bundesrepublik zu entzünden und letztlich eine von Abendroth als notwendig beschworene "sozialistische [...] Transformation" einzuleiten (28). Obwohl er nach Einschätzung von Peter "über alle Voraussetzungen" für die Ausarbeitung einer "umfassenden Theorie des Politischen oder der Politikwissenschaft" in Form eines "profunden Wissens, einer außergewöhnlichen analytischen Fähigkeit und argumentativer Stringenz" verfügte, habe er dies nicht verwirklicht (30). Abendroth gab "der praktisch-argumentativen Relevanz seiner Arbeit" gegenüber der "Grundlagenforschung" den Vorzug (ebd.). Die von ihm gemeinsam mit Kurt Lenk lediglich herausgegebene Einführung in die politische Wissenschaft wurde zu einem "Standardwerk", die daran beteiligten AutorInnen stammen "aus dem Kreis der Mitarbeiter, Doktorandinnen und Doktoranden" (ebd.).

Abendroth verfolgte ein "öffentliches Engagement als marxistischer Intellektueller" (31). Ab 1968 wurde er "zu einem der intellektuellen Protagonisten der Renaissance des Marxismus und der Studentenbewegung" (32). Bekanntermaßen habilitierte sich Jürgen Habermas bei Abendroth mit seiner Arbeit über den Strukturwandel der Öffentlichkeit, da ihm dies bei Adorno - wohl in Folge der ablehnenden Haltung von Horkheimer - verwehrt blieb (ebd.). Bis in die Mitte der 1960er Jahre habe sich "der Marxismus noch nicht als das autoritative und identitätsstiftende Paradigma im Marburger Institut für wissenschaftliche Politik" etabliert (32). Ferner könne von einer "einheitliche[n] linke[n] Ausrichtung [...] auf professoraler Ebene" bis zu diesem Zeitpunkt nicht gesprochen werden, waren doch mit Erich Matthias und Ernst Otto Czempiel "Nichtmarxisten" (33) als Professor tätig. Ebenso erwiesen sich die Mitarbeiter und Doktoranden als heterogen und vertraten in dieser Zeit ein breites politisches Spektrum: linksliberal, sozialdemokratisch, linkssozialistisch (33f.).

Viele "Schüler der ersten Generation", die bei Abendroth ihre Doktorarbeiten verfassten "und/oder Assistenten wurden", schlugen selbst akademische Karrieren ein (34). Seit 1964 erfolgte die Herausgabe der Marburger Abhandlungen zur politischen Wissenschaft, womit das vielleicht wichtigste Anzeichen der Herausbildung einer Schule sichtbar wurde (36). Außerdem bildete sich "im Schatten des regulären Institutsbetriebes" langsam "eine informelle Gruppe von Soziologen und Politologen", die sich einer "explizit marxistische[n] Richtung" verschrieben (36f). Zu dieser gehörten unter anderem Karl Hermann Tjaden, Dieter Boris und der Verfasser des Buches selbst. Die bis heute bekanntesten Teilnehmer waren Frank Deppe und Georg Fülberth. Gemeinsames Kennzeichnen war auch, dass sie alle im Sozialistischen Deutschen Studentenbund eingebunden waren (37).

Ein "kräftiger Innovationsschub" für den "Prozess der Herausbildung" der Marburger Schule erfolgte 1966 "durch die Berufung von Werner Hofmann auf einen zweiten Lehrstuhl für Soziologie" neben Heinz Maus (41). Es kam zu einer "spürbaren Verringerung der Ungleichgewichte zwischen den beiden Fächern [Politikwissenschaft und Soziologie]" (ebd.). Maus war es in Einschätzung Peters bis dahin nicht gelungen, sich und das Fach "zu profilieren" (ebd.). Peter schildert Hofmann als einen "rhetorisch versierten" und "nahezu druckreif vortragenden" (42) Wissenschaftler mit "autoritärem ... Gestus" (43), der sich "für kluge Ideen, interessante Informationen und begründete Einwände" erwärmen konnte (ebd.). Maus fehlt es im Vergleich mit den anderen beiden zwar an Charisma, nichtsdestotrotz war er aber ebenso prägend wie diese (55).

Peter stellt ausführlich die jeweilige Marx-Rezeption und das Marxismusverständnis der drei prägenden Professoren vor (56-75). Abendroth bspw. verwehrte sich einer Einteilung von Marx in einen jungen und alten sowie einer sich gegenseitig ausschließenden Gegenüberstellungen von Philosophie und Ökonomie bei Marx (57). Abendroth benutzte die Marxsche Theorie um die seinerzeit "gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse auf ihre politische Veränderbarkeit hin zu untersuchen" (58). Er habe dabei "der marxistischen Theorie keine qualitativ neuen Momente hinzugefügt" (59). Hofmann, Maus und Abendroth war gemeinsam, dass die Marxsche Theorie als die noch immer "gültige Schlüsseltheorie für die Analyse des modernen Spätkapitalismus" betrachteten (75). Differenzen ergaben sich in der "Deutung und Bewertung" der Entwicklung der damaligen "sozialistischen Staaten", insbesondere ihrer "politischen Deformationen" (ebd.). Hielten Abendroth und Hofmann diese für durchaus "korrigierbar", war Maus auf Grund seiner Prägung durch die Frankfurter Schule deutlich skeptischer, gar ablehnend (ebd.).

Es folgt auf rund 20 Seiten ein Vergleich der Frankfurter mit der Marburger Schule auch hinsichtlich ihres Verhaltens zueinander (76-97). Es gab lediglich "sporadische Kontakte" (76), denn "zu unterschiedlich waren intellektuelle Kultur und Wissenschaftsverständnis" (ebd.). Auch fällt im Vergleich "mit den Leistungen der Frankfurter Schule ... der Ertrag theorie- und methodenbezogener sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung der Marburger Schule zweifellos bescheidener aus" (93). Defizitär sind beide vor allem in Bezug auf die Frage der Geschlechterverhältnisse, auch "das Mensch-Natur-Verhältnis" ist bei beiden "unterbelichtet" (ebd.).

Ab Mitte der 1960er Jahre ist eine Zunahme der Anzahl linker und insbesondere marxistischer Mitarbeiter und Doktoranden im Bereich der Soziologie und Politikwissenschaft zu beobachten (101). Zwischen diesen beiden Bereichen gab es ohnehin eine "fließende" Grenze und vielfache "Wechsel zwischen Tätigkeiten an einem der beiden Seminare" (98). Relevante Personen, die vielfach selbst akademisch tätig wurden, sind u.a. Karl Hermann Tjaden, Margarete Tjaden-Steinhauer, Rüdiger Griepenhauer, Ursula Schmiederer Hans-Ulriche Deppe, Herbert Claas (101f.). Es bildeten sich deutliche Konturen einer "epistemischen Gemeinschaft" heraus, gekennzeichnet von einer "Aneignung sozialistischer bzw. marxistischer Theorie" und eines "die Grenzen des akademischen Feldes überschreitenden politischen Engagements" (102). Mit dem Ende des SDS in den späten 1960er Jahren und dessen Auflösung 1970 erfolgte der Übergang vieler Mitglieder "zu dem DKP-nahen MSB Spartakus", auch viele Mitarbeiter des Mittelbaus näherten sich - unterstützt von Hofmann und Abendroth - der Partei an (102f.). Aber nicht alle gingen diesen Weg, vielmehr mehrten sich die Diskussionen und Auseinandersetzungen auch in der Einschätzung der DDR (103f.). Für mehrere Jahre hatte die Marburger Schule ein Quasi-Monopol "auf die Fortbildung hunderter hessischer Lehrer im soziologischen Institut" (104). Es fanden umfangreiche Kooperationen mit der DKP und dem zur Partei gehörenden Institut für Marxistische Studien und Forschungen (ISMF) statt (105f.). Berufsfelder für die SchülerInnen wurden u.a. auch die Gewerkschaften und Aktivitäten im "linken Flügel der SPD" (106). Auch der Autor selbst war Mitglied der DKP und arbeitete insbesondere in seiner Zeit als Professor der Soziologie an der Bremer Universität eng mit dem ISMF zusammen (110f.).

1971 wurde Abendroth emeritiert, Frank Deppe, Peter Römer und Georg Fülberth wurden zu Professoren am im gleichen Jahr "neue eingerichteten [...] Fachbereich 03 - Gesellschaftwissenschaften", zu dem neben der Politikwissenschaft und Soziologie auch Erziehungswissenschaften und Philosophie gehörten (106f.). Von 1981 bis 1978 hatte Hans Heinz Holz die Professur für Philosophie inne, erwies sich aber hinsichtlich seines "praktisch-politisch Engagements" und "seinem zur Abstraktion neigenden wissenschaftlichen Habitus" aus Sicht der Marburger Schule als eine "Enttäuschung" (107). Vor allem Frank Deppe war eng mit Wolfgang Abendroth und der Universität Marburg verbunden. Seine gesamte akademische Karriere fand dort statt, war er dorthin nach Erwerb seines "soziologischen Vordiploms" aus Frankfurt gewechselt (112). Ebenso wie Abendroth vertritt er ein Selbstverständnis als "politischer Intellektueller" und war und ist jenseits des Akademischen politisch aktiv (113). Dies setzt sich bis heute fort und auch publizistisch ist er bis in die heutige Zeit hinein produktiv. "Renommee" erlangte Deppe vor allem als "marxistischer Gewerkschaftstheoretiker" (116). Zentral war nach dem Abgang von Abendroth auch Georg Fülberth, dessen Fokus zu jener Zeit auf der Geschichte der Sozialdemokratie und der kommunistischen Parteien Deutschlands lag (119). Fülberth war der einzige "Hauptrepräsentant" der Marburger Schule, der tatsächlich den Beitritt zur DKP vollzog (120). So wurde er für diese Partei auch "Stadtrat im Marburger Kommunalparlament", ferner ist er bis heute journalistisch tätig (ebd.).

Peters Monographie ist gespickt mit kleineren biographischen Darstellungen, die auch von der Tragik und den gesellschaftlichen Umständen zeugen, in denen es offen marxistisch orientierten AkademikerInnen vielfach nicht einfach gemacht wurde. Ein Beispiel ist Jürgen Harrer, dem eine Professur verwehrt blieb, daraufhin Lektor beim - im Übrigen verdeckt von der DDR mitfinanzierten - Pahl-Rugenstein-Verlag wurde und schließlich 1990 den Papyrossa Verlag gründete. In beiden Verlagen erschienen bzw. erscheinen u.a. Arbeiten von Deppe und Fülberth (121). Exemplarisch stellt Peter die wissenschaftliche Arbeit der Marburger Schule auch an Reinhard Kühnl und seinen Forschungen zum Faschismus (125-129) und Dieter Boris und seinen Arbeiten über Lateinamerika dar (129-133). Vor allem ersterer verfasste dabei mehrere publizistische Bestseller (125).

Der Fachbereich pluralisierte sich, was durchaus zu Spannungen führte (133f.). Außerdem nahm der politische Druck auf die Marburger Schule zu. Die Entwicklung umfasste auch Forderungen, die vermeintliche kommunistische Kaderschmiede zu schließen (138-141), mehrfach äußerten auch andere Politikwissenschaftler wie Iring Fetscher (139f) öffentlich Kritik an den Marburgern. Peter selbst bescheinigt der Marburger Schule im Rückblick durchaus eine "thematische und methodische Selektivität", ferne eine "gewisse Abschottung gegen bürgerliche Wissenschaft" sowie "durchaus anfechtbare Einseitigkeiten in der Beurteilung bestimmter sozialer politischer Tatbestände". Dies hätte allerdings besser wissenschaftlich und nicht politisch einer eingehenden Kritik unterzogen werden sollen (141). Anhand der "Kontroverse um ein Buch über Gewerkschaftsgeschichte" (142), publiziert von Fülberth, Deppe u.a., zeichnet Peter nach, unter welchem gesellschaftspolitischen Druck die Marburger zeitweise standen, der sich gerade nicht im Austausch wissenschaftlicher Argumente niederschlug, sondern vornehmlich entlang politisch-ideologischer Positionierungen verlief.

Ebenfalls sehr aufschlussreich ist die von Peter geschilderte Spannung zwischen den Marburgern und der Zeitschrift Das Argument (153-161). Im Kern ging es um die Frage der Identität des Marxismus und wurde durch Wolfgang Fritz Haug in seinen Veröffentlichungen zum Pluralen Marxismus vorangetrieben. Dies war Ausdruck des "Kampfes um Hegemonie auf dem intellektuellen Feld des Marxismus" (161). Die wissenschaftliche Produktivität der Marburger Schule war auch in den 1980er Jahren hoch (162). Reinhard Kühnl beispielsweise leistete einen Beitrag zum Historikerstreit der 1980er Jahre, der jedoch weitestgehend unkommentiert blieb (168-171). Bereits 1977 waren die Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft durch den Verlag Arbeiterbewegung und Gesellschaftswissenschaft als interne Publikationsplattform abgelöst worden (171). An dem Mitte der 1980er Jahre durch Frank Deppe ins Leben gerufenen Marxistischen Arbeitskreis nahmen u.a. auch die späteren Professoren Klaus Dörre und Hans-Jürgen Bieling teil, ebenso Hans-Jürgen Urban und Witich Roßmann, die heute in den Gewerkschaften tätig sind. (172). Zumindest im Bereich der Politikwissenschaft fand in jener Zeit kein "fruchtbarer Austausch zwischen den Vertretern unterschiedlicher Wissenschaftsauffassungen" statt (174), während es in der Soziologie hingegen durchaus entsprechende Kontakte gab, die auch freundschaftliche geprägt waren (174f.). Bis auf Fülberth reflektierten die Vertreter der Marburger Schule die Umbrüche von 1989/1990 nicht, zumindest nicht öffentlich wahrnehmbar (175). Auch in den 1990er Jahren und darüber hinaus folgten zahlreiche Publikationen. Fülberth widmete sich dem ganz eigenen Projekt der von ihm so benannten Kapitalistik, Deppe trat vor allem mit seinem mehrbändigen Werk zum Politischen Denken im 20. und 21. Jahrhundert hervor. Dieses kommentiert Peter insbesondere unter methodischen Gesichtspunkten kritisch (197-202). Im Gegensatz noch zu Abendroth, Maus und Hofmann gab es im Grunde keine Versuche der ihnen nachfolgenden Generation, auch auf dem Gebiet der "bürgerlichen scientific community" (204) Präsenz zu zeigen. Eine nennenswerte Ausnahme bildet ein von Peter geschildertes Streitgespräch zwischen Deppe und Ulrich Beck (180-186).

Die Darstellung von Peter endet etwas unvermittelt und geht leider nicht auf der Emeritierung der Generation um Deppe und Fülberth ein. Von daher wird auch nicht mehr ein Blick darauf geworfen, was nach ihnen kam und wie es heute um die Politikwissenschaft an der Marburger Universität steht, wie und wo das Nachleben der Marburger Schule stattfindet. Lediglich auf die seit 2009 bestehende Juniorprofessur von John Kannankulam wird hingewiesen, dass diesem die Juniorprofessur von Hans Jürgen Bieling vorausging, bleibt unerwähnt. Der daraus ableitbare Umstand, dass die Professuren von Deppe und Fülberth offensichtlich nicht adäquat neubesetzt und fortgeführt worden sind, wird nicht ausgeführt.

Sicherlich hätte es den Rahmen der Arbeit gesprengt, dass Wirken der zahlreichen Schüler an anderen Universitätsstandorten nach zu verfolgen und danach zu schauen, ob es hier vielleicht zu ähnlichen Schulbildungen kam, wie es mit Blick auf die zweite Generation der Frankfurter Schule in einigen Fälle geschah. Dies bleibt also künftiger Forschungsarbeit überlassen. Ebenso ausstehend ist die systematische Aufarbeitung von (ehemaligen) Standorten kritisch-marxistischer Politikwissenschaft wie Hannover, Bremen, Bielefeld oder auch Berlin. Als aktuelle Zentren kritischer, akademisch verankerter Wissenschaft in diesem Sinne erweisen sich im deutschsprachigen Raum vor allem Jena (Harmut Rosa, Klaus Dörre), Kassel (Sonja Buckel, Christoph Scherrer) und Wien (Birgit Sauer, Ulrich Brand). Auch die Universität Frankfurt ist dahingehend noch immer relevant, wenn auch längst nicht mehr in den Ausmaßen der 1970er Jahre und 1980er Jahre. Auch der Vergleich dieser mit der Frankfurter Schule oder eben der Marburger wäre reizvoll. Spannend zu erfahren wäre, wie es die anderen noch lebenden Vertreter der Marburger Schule mit der hier besprochenen, an vielen Stellen persönlich gehaltenden, nichtsdestotrotz gerade auch deshalb empfehlenswerten und in ihrer Gesamtheit gelungenen Darstellung, halten.

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Buchbesprechung von Karl Reitter

Susann Witt-Stahl, Michael Sommer (Hg.):
"Antifa heißt Luftangriff". Regression einer revolutionären Bewegung

Hamburg: Laika-Verlag, 2014, 212 Seiten, Euro 21,-

Nein, erfreulich und aufmunternd ist die Thematik nicht, die die HerausgeberInnen mit diesem Sammelband dokumentieren. Es geht, wie der Untertitel ja informiert, um Entwicklungstendenzen im antifaschistischen Milieu, die letztlich zu antilinken Positionen und zum Schulterschluss mit neoliberalen und imperialistischen Mächten geführt haben. Der Titel, Antifa heißt Luftangriff, ist ein Zitat. Wenn also hochgerüstete Staaten ihre Bombenflugzeuge einsetzen um Angst, Tod und Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, dann ist dies Antifaschismus. Wie solche Haltungen Gestalt annehmen konnten, woher sie ihre Motivationen beziehen und mit welchen rhetorischen Figuren sie arbeiten, darüber informiert dieses Buch mit lesenswerten Beiträgen. Zweifellos ist die Gruppe jener PublizistInnen, die jahrein, jahraus als SchreibtischtäterInnen gegen die islamische Welt im Allgemeinen und gegen die PalästinenserInnen im Besonderen ideologisch in den Krieg ziehen, eher klein. Auch jene, die in jeder gesellschaftskritischen und antikapitalistischen Initiative, sei in der Blockupy-Bewegung oder im Versuch, gegen die Zumutungen von Hartz IV Widerstand zu leisten, die "Schlageter[1]-Wende der bundesdeutschen Linken nach 1989" (51) zu erkennen glauben, stellen ein überschaubares Grüppchen dar. Aber, und alleine dieser Umstand zeigt die Dringlichkeit dieses Buches, ihr Einfluss geht weit über ihr unmittelbares Milieu hinaus. Die AutorInnen nennen klar die Daten und Fakten. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Partei die Linke, diverse autonome Zentren, die TAZ, - in all diesen Strukturen besitzt diese Strömung Einfluss. Darüber hinaus werden ihre ProtagonistInnen von bürgerlichen Zeitungen und diversen Think Thanks mit offenen Armen aufgenommen. In Österreich ist eine bescheidene aber doch merkbare Akzeptanz dieser Haltungen, insbesondere in einigen studentischen Vertretungsgremien, zu vermerken. Zu nennen wäre auch der Republikanische Klub, der den Kriegstreibern von Stop the Bomb, die lieber heute als morgen einem militärischen Angriff Israels auf den Iran applaudieren möchten, Veranstaltungen in seinen Räumlichkeiten gestatte. Grund genug also, nicht mehr die Augen vor diesen Entwicklungen zu verschließen sondern ihnen offensiv zu begegnen.

In den ersten zwei Beiträgen werden die ideologischen Grundlagen dieser Entwicklung ausgeleuchtet. Susann Witt-Stahl zeigt überzeugend auf, dass dieses Milieu schon länger auf die Totalitarismusthese eingeschwenkt ist, wie sie unter anderem von Vordenkern des Neoliberalismus, insbesondere von August von Hayek, formuliert wurde. Die Grundthese der Totalitarismuslehre ist simpel: rechte wie linke Strömungen seien letztlich identisch, das Nazi-Regime entspreche dem Stalinismus und umgekehrt. Als emanzipatorischer Dritte fungiert klarerweise der radikale Marktliberalismus. Beide totalitären Strömungen seien durch Kollektivismus zu kennzeichnen, die das Individuum und seine Rechte verschmähten. Der herabgekommene Antifaschismus adaptierte mit Begeisterung diese Thesen. Sowohl der Faschismus als auch linke Bewegungen seien durch einen personalisierten Antikapitalismus gekennzeichnet, der letztlich in Antisemitismus münden müsse, werden wir belehrt. Der Jude stünde für die Schattenseiten des Kapitalismus, die nun unbegriffen und undurchschaut, ihm angelastet würden. Die Totalitarismustheorie lässt sich problemlos in eine Reihe von Entgegensetzungen umsetzen: der redliche Arbeiter gegen das Zinskapital, das Kollektiv gegen den abstrakten Wert, die schwache aber ehrliche Bewegung gegen ungreifbare Mächte. Das Schöne an dieser Liste, alle die dieses simple Prinzip begriffen haben können sich als antifaschistische KritikerInnen entwerfen: Gestern die Nazis gegen das Finanzkapital, heute die Linke gegen soziale Ausgrenzung und Kürzungen im Sozialwesen. Klar muss da der Geschichte ein wenig Gewalt angetan werden. Das Dritte Reich wird als quasi "Sozialstaat" (37) umgelogen, oder, wie die Autorin mit Bezug auf Karl Hein Roth festhält, die Ideologie und Lügen des Faschismus werden für "bare Münze genommen."(36) Die Ergänzung zur Totalitarismusthese ist die sogenannte Extremismusforschung. Extremist ist, wer ein totalitäres System anstrebt. Auch an dieser offiziell geförderten akademischen Forschungsrichtung nascht die verkommene Antifa Bewegung ein wenig mit, wie die Autorin materialreich aufzeigt.

Wie das alles mit Adorno Zitaten und Verweis auf den marxschen Fetischbegriff zusammengeht? Darüber informiert der Beitrag von Michael Sommer über den mehrfach publizierten Artikel von Moishe Postone Nationalsozialismus und Antisemitismus. Mit welcher Dreistigkeit Postone im Brustton der Überzeugung die Marxsche Philosophie von den Füßen auf den Kopf stellt, ist nicht alltäglich. Aus dem Kapitalverhältnis, einer spezifischen Form der Herrschaft des Menschen über den Menschen bei Marx, wird ein abstraktes, anonymes Akkumulationsprinzip; aus dem Verhältnis immanenter und transzendenter Momente der kapitalistischen Vergesellschaftung wird ein immanentes Binnenverhältnis ohne potentiell systemsprengende Momente. Der abstrakte Wert ist alles - alles ist der abstrakte Wert, so lautet letztlich sein Credo. Wie Sommer überzeugend zeigt, setzt Postone an die Stelle der inneren Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise die formale Entgegensetzung zweier Kapitalseiten: das Konkrete und das Abstrakte, die doch letztlich nur zwei Seiten des Selben darstellen würden. Klassenkampf? Bestenfalls ein belangloses und bedeutungsloses Binnenverhältnis des Kapitals. In Wirklichkeit aber bloß der ohnmächtige Versuch, eine Kapitalseite gegen die andere ausspielen zu wollen. Herrschaft des Menschen über den Menschen - weit gefehlt! In der Theorie Postones ist die kapitalistische Herrschaft "ein System von Herrschaft und Zwängen, das - obwohl gesellschaftlich - unpersönlich, sachlich und 'objektiv' ist und deshalb natürlich zu sein scheint."[2] Wenn an die Stelle der Herrschaft des Menschen über den Menschen bloß sachliche und persönliche Zwänge treten, dann muss die Kritik an bestimmen Klassen oder gar bestimmten Individuen unabdingbar eine verkürzte, von Fetischvorstellungen geprägte Haltung darstellen. Wie Postone und seiner Jünger mit den dutzenden, ja hunderten Passagen bei Marx umgehen, in denen er Kritik ad personam formuliert, das bleibt wohl deren Geheimnis. Die Dimension des abstrakten Werts wird, so Sommer, von Postone derart ausgedehnt, sodass "was nicht auf Anhieb zu durchschauen, wohl Formen des Werts sein müssen." (72) Letztlich läuft alles bei Postone auf einen simplen Monismus des abstrakten Werts hinaus. Dass die konkrete Arbeit letztlich als ablösbar vom Kapitalverhältnis aufgefasst wird, oder allgemeiner formuliert, dass die Dimension des Gebrauchswerts unabhängig von Tauschwert betrachtet werden kann (wie Marx dies permanent tut), wird von Postone als Fetischismus bezeichnet. Folgende Aussage könnte als typisches Beispiel für den Versuch gelten, befangen in fetischisierten Vorstellungen die gute, konkrete Seite gegen die üble, abstrakte auszuspielen: "Die Maschinerie verliert ihren Gebrauchswert nicht, sobald sie aufhörte, Kapital zu sein. Daraus, dass die Maschinerie die entsprechendste Form des Gebrauchswerts des Capital fixe, folgt keineswegs, dass die Subsumtion unter das gesellschaftliche Verhältnis des Kapitals das entsprechendste und beste gesellschaftliche Produktionsverhältnis für die Anwendung der Maschinerie."[3]

Postone lieferte die Stichworte, die Szene griff sie dankbar auf. "Zu 'abstrakt' werden neben der Börse, Intellektualität und dem Künstlichen auch Müßiggang, Luxus, Ausschweifung, Freizügigkeit und Fleischeslust sortiert. Unter 'konkret' ist subsumiert, was der Alltagsverstand eben im Gegensatz zu abstrakt darunter verstehen mag: 'Nestwärme', 'z.B. etwa Holzhacken', 'Proletenromantik' und 'Altbier' sind als Synonyme für 'Nazi' in den einschlägigen Debatten längst eingebürgert." (60, die Worte in einfachen Anführungsstrichen entstammen einschlägigen Publikationen.) Und so läuft die Argumentation à la Postone: Anstatt zu erkennen, dass es kein Andres des abstrakten Werts gibt, dass die greifbaren Aspekte der Wirklichkeit tatsächlich eben nichts anderes sind als eine weitere Form des Werts, glauben plump fühlende Rebellen in der konkreten Dimension die Basis ihres Widerstandes erkennen zu können. Der durch Postone aufgeklärte Antifa Aktivist hingegen weiß; diese peinlichen Verkürzungen können nur im Antisemitismus enden. Zu Recht verweist Sommer auf den Gewinn, den ein Teil der Szene aus diesen theoretischen Konstruktionen zieht:[4] "Für sie ist diese 'marxistische Antisemitismustheorie' hoch attraktiv: Mit ihr kann man sich an der Spitze des kritischen Bewusstseins glauben, ohne von Arbeiterklasse oder Klassenkampf reden zu müssen, sondern im Gegenteil, indem man 'die da unten' als bloß 'von Fetischverhältnissen gezeichnet denunziert'." (90) Vielleicht hätte es Sommer noch etwas schärfer formulieren müssen, wir müssen nicht nur nicht mehr vom Klassenkampf reden, wir könne es im Grunde gar nicht, da Klassenherrschaft bei Postone als geschichtsmächtige nicht existiert: "Die Kapitalform gesellschaftlicher Verhältnisse hat einen blinden, prozessualen, quasi-organischen Charakter."[5] Also liegt die Schlussfolgerung nahe, wer rebelliert ist quasi ein Nazi. Mit dieser Sichtweise lässt sich durchaus Staat machen.

Der Beitrag von Matthias Rude trägt den bezeichnenden Titel: Nie wieder Faschismus - immer wieder Krieg. Klarerweise ist diese Überschrift eine Anspielung auf das ursprüngliche Credo: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. Akribisch zeichnet der Autor jene Prozesse nach, die ein Teil der Antifa-Bewegung von KriegsgegnerInnen zu KriegsbefürworterInnen umcodierte. Als erste Station wird der zweite Golfkrieg von 1991 genannt. Um dem Wiedergänger Hitlers, so eine Bezeichnung der BILD Zeitung für Saddam Hussein die auch in der Antifa für Furore sorgte, in den Arm zu fallen, sei eben Krieg nötig. Eine verzerrte Sichtweise des II. Weltkriegs, so der Autor, wurde quasi zum Vorbild erkoren. "Der antisemitische Faschismus wird zur antikapitalistischen Massenbewegung umgedeutet, dem nur mit imperialistischem Krieg beizukommen sei." (106) Zugleich werden die Interventionen der Alliierten, ungeachtet ihrer tatsächlichen Motive und Aktionen, zum genuin antifaschistischen Kampf hochstilisiert. Der nächste Akt vollzieht sich 1998/99 im Krieg um das Kosovo. Erneut erscheint ein Wiedergänger Hitlers auf der Weltbühne, dieses Mal nennt er sich Milosevic. 2011 hingegen lautet sein Name, unter anderem in der Diktion des Grünen Spitzenpolitikers Cem Özdemir, Muammar al Gaddafi. Es bedurfte bloß einer weiteren Verallgemeinerung und die bellizitische (kriegsbejahende) Ausrichtung war auf Schiene: "Israel oder das Judentum und die USA werden in solchen Kreisen inzwischen derart gleichgesetzt, dass auch hinter der Kritik an den US-geführten westlichen Kriegen Antisemitismus vermutet wird." (111) Akribisch zeigt der Autor nach, wie auf Basis dieser Orientierung es zu inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen ehemals linken, neoliberalen und rechten Gruppierungen kommt. Insbesondere in Kriegsfragen formulieren einzelne Personen aus der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Achse des Guten (Henryk M. Broders Interventionstruppe), Stop the Bomb, AutorInnen der Zeitschriften Phase 2, Jungel World, Bahamas, konkret, sowie SchreiberInnen diverser Internetblogs Auffassungen, die ebenso in neoliberalen Mainstream Medien zu finden sind. Wobei es nicht selten zu Überschneidungen kommt, AutorInnen, die gestern in kleinen linken Publikationen schrieben, schreiben heute in saturierten Großmedien. Einer Karriere abträglich ist Bellizismus im Gewande des Antifaschismus keineswegs.

Die Beiträge von Jürgen Lloyd und Eberhard Schultz beschäftigen sich mit der Frage, wie denn der Faschismus zu begreifen sei. Jürgen Lloyd greift vor allem auf die Theorie des Monopolkapitals zurück, die mich nicht unbedingt überzeugt. Interessanter fand ich den Beitrag von Schultz, der vor allem vor dem "freundlichen Faschismus" (139) warnt, also einem Faschismus, der nicht auf gewaltbereiten Schlägertrupps basiert, sondern sich im "autoritären Sicherheitsstaat" (151) verkörpert, der mit modernsten Überwachungsmethoden arbeitet und allgemeine Bürgerrechte massiv einschränkt. Insbesondere weist er darauf hin, dass der repressive Sicherheitsstaat "einzelne Personen und Gruppen ... ausdrücklich außerhalb der Rechtsordnung" (145) stellt. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf das Buch Terrorlisten[6] des leider inzwischen verstorbenen Autors Victor Kochers verweisen, dessen Werk die Thesen von Eberhard Schultz punktgenau bestätigen.

Maciej Zurowski diskutiert in seinem Beitrag Das Märchen vom kleineren Übel historische und aktuelle Strategien, den Faschismus und Rechtsradikalismus zu bekämpfen. Ausgehend von den Erfahrungen in England plädiert er mit überzeugenden Argumenten gegen den Versuch, immer und überall möglichst breite Bündnisse zu schließen. Auch die aktuellen Formen der Volksfrontstrategie würden sich letztlich konterproduktiv erweisen. "Materialistisch betrachtet entbehrt der Gegensatz, den Antifaschisten zwischen Parteien wie der BNP oder der Front National auf der einen und 'legitimen' Establishment-Parteien auf der anderen Seite herstellen, jeder logischen Grundlage." (160) Antikapitalistische Kritik und Kampf gegen die Nazis treten auseinander: "Die Revolution ist quasi bei Bedarf in einer anderen Abteilung erhältlich, während der Antifaschismus im Volksfront-Department zu einer staatstragenden Ideologie degeneriert." (162)[7] Tatsächlich zählt offiziell der Antifaschismus zur Staatsdoktrin in Deutschland und Österreich. Hierzulande verknüpft er sich mit einem verlogenen Österreich Patriotismus: Österreich sei das erste Opfer der Aggression Hitlers gewesen, so steht es in den Schulbüchern. Dass militante Abwehrorganisationen gegen faschistische Übergriffe notwendig sind, wird vom Autor nicht bezweifelt. Aber dies könne eine politische Strategie nicht ersetzen. Sehr präzise arbeitet er die Verknüpfung zwischen martialischem Gehabe a la "kein Fußbreit den Faschisten" und der ungewollten Affirmation kapitalistischer Verhältnisse heraus. Dem "radikal gebärenden Antifa-Ismus" lege im "Grunde eine Volksfront-Logik wider Willen" inne. "Dadurch, dass sie ein Symptom zum permanenten Hauptfeind erhebt, verharmlost sie implizit die Ursache." (162) Die Vorstellung, das rechte Lager verstehe bloß die Sprache des Baseballschlägers, wird einer ausführlichen Kritik unterzogen. An der "Schlacht der Ideen" führe letztlich kein Weg vorbei.[8] Zurowski diskutiert eine ideologische Intervention in das rechtsradikale Milieu sehr differenziert am historischen Beispiel der Schlageter Rede von Karl Radek aus 1923. Der Autor schätzt diese Auseinandersetzung als Gratwanderung ein, verweist aber darauf, dass die NSDAP ihren Mitgliedern verbot, an den Debatten mit den Kommunisten teilzunehmen.

Wolf Wetzel bilanziert in seinem Beitrag Die Angst des Antifaschismus vor seiner eigenen Idee die Entwicklung der Antifa Bewegung der letzten Jahrzehnte. Sein Resümee: "Es war schließlich gewaltig an einem ungeschriebenen antifaschistischen Grundsatz gerüttelt worden: Antifaschismus ist nicht mit, sondern nur gegen diesen Staat durchsetzbar."(171) Der Staatsapparat würde nicht mehr wie vorher als stiller Dulder oder, je nach Situation, als aktiver Förderer faschistischer Umtriebe erkannt, sondern avancierte zu einem Garant gegen die faschistische Bedrohung. "Solange der Kapitalismus von etwas viel Grausameren bedroht ist, muss man an der Seite kapitalistischer Staaten den Rückfall ins Vormoderne verhindern, die Errungenschaften des Kapitalismus gegen seine barbarischen Feinde retten." (172) Auch diese Wendung musste zum Schulterschluss mit neokonservativen und rechtspopulistischen Kräften führen: Dass das aufgeklärte Abendland vom islamischen Fundamentalismus bedroht sein soll, dieser Sichtweise kann nicht nur Stop the Bomb zustimmen, sondern zum Beispiel auch die FPÖ. Dass der Staat aus der antifaschistischen Kritik ausgenommen wurde, erwies sich, so Wolf Wetzel, insbesondere im Falle des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) als fatal. Nicht nur, dass die von ihnen begangenen Morde an MigrantInnen jahrelang als interne Konflikte in diesem Milieu medial dargestellt wurden, ohne Spur eines Beweises versteht sich, zögert die Linke teilweise, entschlossen radikale Aufklärung über die Verwicklungen des deutschen Geheimdienstes zu fordern. Vorstöße in diese Richtung wurden von den Behörden sofort gekontert. Offen wurde von Sprechern der Verfassungsschutzämter die Forderung zurückgewiesen, die Identität ihrer V-Leute offen zu legen. "Dass sie nicht die Verfassung schützen, sondern ihre eigene rechtswidrige Praxis, ist vielfach belegt." (179) Ob die Forderung des Autors, nach restloser Offenlegung aller Unterlagen und Akten des Verfassungsschutzes ungehört verhallt? Angesicht der manifesten Regressionstendenzen in der Antifa Bewegung ist dies zu befürchten. Schließlich überwacht der Staatsschutz ja auch islamische Hassprediger, daher darf er bei seiner verdienstvollen Tätigkeit nicht irritiert oder behindert werden....

Der Band wird mit einem Gespräch zwischen Susann Witt-Stahl und Moshe Zuckermann abgerundet, in dem erneut die ideologischen Grundlagen der Rechtsentwicklung von Teilen der Antifa Bewegung ausgeleuchtet werden. Im Epilog beschäftigt sich die Herausgeberin mit bedenkenswerten Tendenzen innerhalb der ukrainischen Rechten und Faschisten, die dem in Antifa Kreisen kolportierten Klischee immer weniger entsprechen. Angesicht der dramatischen Ereignisse in der Ukraine würde erneut klar, dass Faschismus letztlich darauf abzielt, die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Herrschaft mit allen Mitteln zu sichern. Antisemitismus kann, aber muss nicht im Mittelpunkt stehen. Auch die extreme Rechte ist zu ideologischen Wandlungen fähig. Im Falle der ukrainischen Rechten und Faschisten dominieren insbesondere ein rassistisch motivierter Hass auf RussInnen und bestimmte Adaptionen neoliberaler Motive. Als exemplarisches Beispiel für das Unverständnis bezüglich des Grundcharakters faschistischer Bewegungen zitiert Susann Witt-Stahl die grüne Osteuropasprecherin Marieluise Beck, die allen ernstes behauptete, die ukrainische Partei Swoboda könne keine rechtsextreme Organisation sein, da sie den Beitritt der Ukraine zur EU fordere und zudem drei jüdische Bürger in der Putschregierung säßen. "Ob sie damit allen Ernstes meint, dass Juden keine Faschisten sein können oder Juden sich niemals neben Ultrarechte auf die Regierungsbank setzten würden - das bleibt ihr Geheimnis." (208) Dem ist wohl nichts mehr hinzuzufügen.


Anmerkungen

[1] Schlageter war ein durch den I. Weltkrieg geprägter Aktivist der insbesondere gegen die Besetzung des Ruhrgebietes 1923 durch belgisch-französische Truppen agierte. Er wurde deswegen von französischen Behörden zum Tode verurteilt. Nicht nur die NSDAP, auch Karl Radek (KPD) aber auch Heidegger bezogen sich in Reden und Stellungnahmen auf Schlageter. An seiner Person soll sich die weitgehende Übereinstimmung zwischen dem rechten und dem linken politischen Lager bewiesen haben.

[2] http://www.krisis.org/1979/nationalsozialismus-und-antisemitismus

[3] Zufällig ist es Marx, der in diesem Zitat das Konkrete gegen das Abstrakte ausspielt. (MEW 42; 596)

[4] Im Anhang zu seinem Artikel unterhält uns Sommer mit einer Blütenlese aus dem an Postone orientierten Antifa-Lager. Ein Schmankerl will ich nicht vorenthalten: "Wer sich mit der Formel x Ware A = y Ware B nicht nur irgendwie beschäftigen, sondern sie in all ihren Konsequenzen kritisieren möchte, muss sich mit der bewaffneten Selbstverteidigung Israels solidarisch erklären." (99) Das geht schnell, was? Vom wem diese Perle stammt, erfährt ihr auf Seite 99 dieses Buches.

[5] http://www.krisis.org/1979/nationalsozialismus-und-antisemitismus

[6] Kocher, Victor - TERRORLISTEN Die schwarzen Löcher des Völkerrechts, ISBN 978-3-85371-323-5, Promedia Verlag Wien. Terrorlisten werden, so Kocher, ohne rechtliche Grundlage von internationalen Gremien unter US Patronanz erstellt. Wer auf diese Listen kommt, dem werden elementare Rechte entzogen. Es ist kein Rechtsweg vorgesehen, um gegen solche Stigmatisierungen Einspruch zu erheben!

[7] Diese Aussage erinnert an die peinliche Haltung französischer MarxistInnen angesichts der Stichwahl zwischen Chirac und Le Pen, ersteren zu unterstützen. Chirac sollte also gewählt werden, allerdings mit einer Kluppe auf der Nase, so war es auf Plakaten abgebildet.

[8] Ich kann diese Auffassung ausgehend von der österreichischen Erfahrung nur bestätigen. Seit Jahrzehnten starrt ein Teil der Linken auf die FPÖ wie das Kaninchen auf die Schlange und mobilisiert mit "demokratischen Kräften" gegen Aktivitäten ihres rechten Randes. Die Kehrseite: Die eigentlichen neoliberalen Angriffe, insbesondere der Versuche des ÖVP Politikers Wolfgang Schüssel ab 2000, analog zur Politik Thatchers die österreichische Gesellschaft unumkehrbar neoliberal umzuwälzen, gerieten so aus dem Blick.

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IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 25. September 2014
Redaktionsschluss der Nr. 52: 3. November 2014

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Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin,
Maria Gössler, Stefan Junker, Franz Naetar, Karl Reitter, Walter S.

Layout: Karl Reitter

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse"

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: grundrisse (Wien, Print)

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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 51, herbst 2014
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
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E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2014