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ICARUS/013: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 4/2009


ICARUS Heft 4/2009 - 15. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
Die Fackel von Adenauer

Fakten und Meinungen
Kuno Füssel
Arnold Schölzel
Erhardt Thomas
Gerd Friedrich
Armin Fiand
Hans-Jürgen Falkenhagen/
Brigitte Queck
Vom Antikommunismus zur "friedlichen Revolution"
Was war, was ist, was wird die DDR gewesen sein?
Absolvent einer Arbeit- und Bauernfakultät
Diskussionspapier Menschenrechte
Offener Brief an den Bundespräsidenten
Der Iran - seine Einordnung in die Weltlage,
seine Bedeutung in der Weltfinanzkrise

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Presseerklärung aus
Greifswald: Michael Soltau
Heidrun Hegewald
Gerhard Fischer
Hans-Georg Sehrt
Klaus Georg Przyklenk

Causa Lea Grundig
Vom Überschreiten der Schamschwelle
Leo Haas
Martin Wetzel 1929-2008 Plastik und Zeichnungen
Kampf der Bären und Wölfe

Rezensionen
Peter Michel
Peter Michel
Georg Grasnick
Klaus Georg Przyklenk
Barbara Hug
Selbst sehen, denken und urteilen
Fiktiv und wahr
Marx ist gefragt
Ein weiter Weg zur Würde
Srebrenica

Marginalien
Klaus Georg Przyklenk
Peter Schnetz

Ralf-Alex Fichtner
Abrechnung
Gedichte
Aphorismen
Karikatur

Raute

Kolumne

Wolfgang Richter

Die Fackel von Adenauer

Am 6. und 7. Oktober empfing der polnische Präsident des Europaparlaments Jerzy Buzek die Jugendkarlspreisträger 2009 aus drei europäischen Ländern, Polen, Frankreich und Deutschland. Er begrüßte sie mit den Worten: "Europa braucht uns alle, aber besonders braucht es die jungen Leute. Sie, unsere jungen Europäer, werden bald die Fackel tragen, die von Schuman, Monnet, De Gasperi und Adenauer angezündet wurde." Also erst "bald"? Und wer trägt sie heute und wird sie übergeben?

Angela Merkel ließ im September mit einer medienwirksamen Wahlkampfreise im legendären Adenauerzug "Rheingold", der seit 1953 neben dem Altkanzler und seiner Badewanne auch Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger (sowie Willy Brandt) zu ihren Wahlreden und -erfolgen transportierte, keinen Zweifel an ihrem Anspruch als Fackelträgerin Adenauers. Sonst wäre sie vielleicht eher zu den Dithmarschen Kohltagen gefahren. Ihre Kranzniederlegung am 15. September zum so genannten Deutschlandtag am Grabe Adenauers in Rhöndorf, dem 60. Jahrestag seines Amtsantritts, sowie ihre anschließende Fahrt mit dem Bahnoldtimer von Bonn über die "Heldenstadt Leipzig" nach Berlin, sollte ein Übriges tun.

Die Fackel (oder besser das Irrlicht) von Adenauer flackert weiter. Er wird von Buzek im Zusammenhang mit weiteren westeuropäischen Politikern aus Zeiten der Ost-Westkonfrontation und des Kalten Krieges genannt, die sich schon um den Völkerbund, den "Schuman-Plan" zur Montanunion (der dem Erfinder den "Freiheitspreis der USA" einbrachte), das Europaparlament und den Europarat unterschiedliche und historisch zweifelhafte Verdienste erwarben und entschieden für eine Einigung Europas unter dem Banner der westlichen Werte eintraten. Adenauer rundete mit der Spaltung Deutschlands seinerzeit das westeuropäische Bündnis ab.

Einflussreiche konservative Politikwissenschaftler und Soziologen wie Wilhelm Röpke sahen schon 1945 die Elbe als den "Limes des Abendlandes" an. Faschismus und Sozialismus waren ihm - wie heute fast gängig - ohnehin nur verschiedene Formen totalitärer Herrschaftssysteme. Unmittelbar nach der Niederlage des Hitlerfaschismus gab es noch einflussreiche geistige Strömungen, die in einem künftigen föderativen Westdeutschland eine Brücke zwischen Ost und West sehen wollten. Aber bald sahen sie in ihm nur noch einen "Wellenbrecher des Marxismus" (Jakob Kaiser). Adenauer resümierte in seinen "Memoiren": "Es gab für uns nur einen Weg, unsere persönliche Freiheit, unsere Sicherheit, unsere in vielen Jahrhunderten entwickelte Lebensform, die die christlich-humanistische Weltanschauung zur Grundlage hat, zu retten: fester Anschluss an die Völker und Länder, die in ihrem Wesen die gleichen Ansichten über Staat, Person, Freiheit und Eigentum hatten wie wir. Wir mussten hart und entschlossen Widerstand leisten gegenüber jedem weiteren Druck vom Osten her." Kohls Parole zur Übernahme der Fackel hieß: "Wir wollen den Sozialismus bekämpfen zu Lande, zu Wasser und in der Luft."

Aus diesem Holz sind die Beschlüsse von Europarat und Europaparlament geschnitzt, die sich heute anschicken, jedwede positive Erinnerung an den Sozialismus auszulöschen und ihn dauerhaft als mögliche Alternative von der politischen Landkarte der Menschheit zu tilgen.

So ist es nur verständlich, dass der Präsident des Europaparlaments von osteuropäischen Vorbildern wenig hält, obwohl er aus seiner polnischen Heimat nicht nur Rosa Luxemburg sondern auch Adam Rapacki vorzuweisen hätte. Aus Furcht vor den revanchistischen Plänen der Bundesrepublik und der NATO hatte Polen 1957 der UNO den so genannten Rapackiplan vorgelegt, der ein kernwaffenfreies Mitteleuropa der beiden deutschen Staaten sowie Polens und der CSSR vorschlug. Das wäre durchaus eine mögliche Weichenstellung für ein gemeinsames Haus Europa und eine Koalition der Vernunft gewesen, die im Helsinkiprozess ihre Früchte getragen hätte.

Die Adenauerregierung lehnte das - auch mit Bezug auf die Hallsteindoktrin - ab. Die fortschreitende Militarisierung der deutschen Politik nach dem von Adenauer betriebenen Beitritt zur NATO ist traurige Gegenwart. Und das Vermächtnis seines Antikommunismus wird besonders in den letzten beiden Jahrzehnten in Europarat und Europaparlament besonders hochgehalten und sichtbar.

Das zeigt sich auch in den aktuellen Forderungen des Europaparlaments vom 2. April 2009 (die nach den Beschlüssen des Europarats von 1996 und 2006) den 23. August, den Tag des so genannten Hitler-Stalinpaktes, alljährlich als "Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus" begehen wollen. Man beachte auch die Reihenfolge.

Aber warum gedenkt man dann nicht des 29. September, des Tags, an dem Chamberlain und Hitler, Daladier und Mussolini das Münchner Abkommen aushandelten, mit dem Hitler praktisch einen Freibrief für den späteren Krieg gegen die Tschechoslowakei erhielt. Das gehört übrigens auch zur Vorgeschichte des Vertrages zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Warum soll es moralischer gewesen sein, dass Polen und Ungarn den Krieg Deutschlands gegen die Tschechoslowakei ihrerseits zur Besetzung von Teilen derselben nutzten, als später die Besetzung Ostpolens durch die Sowjetunion? Beides ist völkerrechtlich zu verurteilen - nicht in unterschiedlicher Stimmlage und nicht zur Entlastung des Hauptaggressors Nazideutschland.

Doch differenziertere Erwägungen setzten das Bemühen um Wahrheit voraus. Das ist nicht das Anliegen der zeitgenössischen Geschichtsschreibung. Sie will vornehmlich den Sozialismus, wie er sich historisch konkret herausbildete und behaupten musste, durch Gleichsetzung mit dem Faschismus denunzieren. Unter dem Sammelnamen "totalitäre Systeme" werden die "Verbrechen" von Sozialismus und Faschismus auf eine Stufe gestellt, als ob der Kapitalismus nicht Verbrechen in Dimensionen verübt hätte und noch verübt, vom Kolonialismus bis zum Koreakrieg und Vietnamkrieg, vom Totrüsten der sozialistischen Staatengemeinschaft als Plan bis zur Kubablockade und von denen der Faschismus selbst bis heute eines der größten ist.

Offensichtlich gab es am 2. April um diese politologische Zwangsvereinigung von Faschismus und Sozialismus im Europaparlament heftige Debatten, was man dem Abstimmungsergebnis zur Entschließung "Zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus" nicht mehr ansieht. 553 Ja-, 44 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen zählte man. Wie käme man sonst zu dem wabernden mystischen Satz in einer so gewichtigen Erklärung des höchsten Parlaments der EU-Staaten, "dass Historiker darin übereinstimmen, dass völlig objektive Auslegungen historischer Tatsachen nicht möglich sind und es keine objektive Geschichtsschreibung gibt."

Was für ein großer Anlauf für einen so großen Unsinn. Das hieße doch, dass es um Lenins oder auch Aristoteles Wahrheitskriterium anzulegen in den menschlichen Vorstellungen keinen "Inhalt geben kann, der vom Subjekt unabhängig ist, der weder vom Menschen noch von der Menschheit unabhängig ist". Absurd! Das hat nichts damit zu tun, dass es natürlich zum kleinen Einmaleins des Marxismus gehört, dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist und jede Klasse als immanenten Bestandteil ihres Klassenbewusstseins auch ihr Geschichtsbewusstsein entwickelt. Die Sicht der kämpfenden Klassen auf die Geschichte ist allerdings konträr. Doch eben das ist objektiv so. Und auch für sie gilt der Satz von Marx und Engels aus der "Deutschen Ideologie" "Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht." Das sieht man doch der Entschließung selbst an.

Kaum jemand fühlt sich mit der Krise der westlichen Werte und damit auch des Erbes, das Adenauer hinterließ deutlicher konfrontiert als seine namentlichen Nachfolger. Die unilaterale Welt der USA und ihrer Adepten bricht zusammen. Im heraufziehenden Multilateralismus spielt Europa nicht die von ihm erhoffte dominierende Rolle.

Die Zeitschrift der Konrad-Adenauer-Stiftung "Auslandsinformationen" hat ihr Septemberheft ganz den drohenden Szenarien der Verschiebung globaler Machtverhältnisse gewidmet, die das globale Ringen um die Vorherrschaft der USA und ihrer Verbündeten durchkreuzen. Mit der Frage "Vom Amerikanischen zu einem Asiatisch-Pazifischen Jahrhundert?" beginnt die Reihe der Artikel. Sie beschäftigen sich des weiteren mit der "geopolitischen Machtverschiebung aus dem transatlantischen Raum nach Asien" und fordern, diese strategische Herausforderung zur Chance für Deutschland und Europa zu machen.

Ein weiterer Beitrag stellt die Frage "Primi inter pares? Gestalten Amerika und China das Pazifische Jahrhundert?". "Afrika und das postamerikanische Jahrhundert" heißt ein weiterer Artikel, ehe sich der abschließende Autor dem Thema widmet "Der Verlust von Zentrum und Peripherie. Ein Blick der Anderen auf den Westen".

Der Ost-Westgegensatz ist nicht mehr die Achse der Globalisierung, die Klassenkämpfe erleben nach dem Ende sozialstaatlicher Beschwichtigungen eine neuen Aufschwung und immer mehr Kulturen drängen auf gleichgleichberechtigte Teilhabe am Weltgeschehen.

Nein, sie leuchtet nicht mehr, die eurogermano-atlantische Fackel Adenauers, nicht West noch Ost. Und auch die Fackel der Freiheitsstatue ist verglimmt. Nur, dass wir uns ihre lästige Asche,immer noch aus den Augen reiben.

Raute

Fakten und Meinungen

Kuno Füssel

Vom Antikommunismus zur "friedlichen Revolution"

oder wie sich die Kirche im Kapitalismus gegen die die Kirche im Sozialismus wieder durchgesetzt hat

Beitrag zur Diskussion am 7. Oktober 2009 in Berlin

Die Kirche im Kapitalismus gab es schon lange, bevor das neuartige Phänomen einer Kirche im Sozialismus, als staatlich organisierter Größe, auftrat. Die Kirche, ich meine damit beide, die katholische und die evangelische, ist aber auch älter als der Kapitalismus, mit dessen Herausbildung und Entwicklung sie allerdings verflochten ist. Auch ohne die berühmte These von Max Weber ausführlich zu diskutieren, dass der Kapitalismus in der calvinistischen Form des Protestantismus seine ideellen Wurzeln hat, lässt sich feststellen, dass die christlichen Kirchen, zeitweise und regional verschieden, allenfalls eine vorsichtige Distanz, was eher für die katholische Kirche gilt, meistens aber ein kooperatives und symbiotisches Verhältnis zum Kapitalismus einnahmen. Nie aber haben sie diesen als ein zu beseitigendes System verurteilt, bestenfalls auf katholischer Seite seit den großen Sozialenzykliken der Päpste, beginnend 1891 mit "Rerum novarum" von Leo XIII. bis zu "Caritas in veritate" (2009) von Benedikt XVI., die Auswüchse des Kapitalismus gebrandmarkt, sogleich aber immer eine tüchtige Breitseite gegen Sozialismus und Kommunismus abgefeuert.

Nach 1945, spätestens ab 1949, wurde aus der ideologischen Kontroverse eine durch die Systemkonkurrenz und das Entstehen sozialistischer Staaten im Osten, sowie ab 1959 auf Kuba, beständig überdeterminierte Auseinandersetzung der Kirche mit dem Sozialismus. Nun musste zusätzlich die Situation der christlichen Kirchen in der DDR, Polen, Ungarn, CSSR und Jugoslawien in die Diskussion mit einbezogen werden, die dadurch an Heftigkeit und Unversöhnlichkeit zunahm, dass der traditionelle Antikommunismus, nun verstärkt durch Furcht und Verfolgungsgeschichten, noch mächtiger wurde als vorher. Die Situation der orthodoxen Kirche in der SU möchte ich hier ausklammern, denn sie würde eine eigenständige minutiöse Untersuchung erforderlich machen. Auch vor dem genannten Zeitpunkt wurde schon die Zusammenarbeit von Christen mit sozialistischen Parteien abgelehnt, doch dabei hatte sich die Kirche weniger abweisend und drohend gezeigt. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass Papst Pius XII. pünktlich mit der Gründung der NATO 1949, allen Katholiken bei Strafe der Exkommunikation untersagte, kommunistischen Parteien beizutreten. Papst Johannes XXIII. ließ diesen Erlass dann lautlos in der Schublade verschwinden, sodass er heute so gut wie unbekannt ist. Auch die schrecklichen Erfahrungen mit dem Faschismus und die gelebte Solidarität von Christen und Kommunisten konnten die Kirchen nicht dazu bewegen, wenigstens die Zusammenarbeit stillschweigend zu dulden. Denn auch unter dem deutschen, italienischen und spanischen Faschismus war für die Kirche die Vernichtung des Bolschewismus wichtiger als der bedingungslose Kampf gegen den Faschismus, was bis heute so geblieben ist, wenn man die letzten vierzig Jahre der Geschichte Lateinamerikas bilanziert. Wegen des sprichwörtlichen Antisozialismus hatte andererseits auch die Arbeiterbewegung trotz aller Sozialhirtenbriefe die Kirche so gut wie endgültig abgeschrieben, was für linke Christen bis heute die aufgezeigte Problematik verdoppelte.

Ich reduziere die Auseinandersetzung mit diesem komplexen Bedingungsgefüge auf die Situation der DDR und die in der DDR geprägte Formel von "Kirche im Sozialismus", einer konzeptionellen Herausforderung, der bis heute keine analoge Analyse von "Kirche im Kapitalismus" gegenübersteht. Dieses Versäumnis wurde auch dann nicht ausgebügelt, als nach 1989 die Kirchen der DDR wieder schleunigst vollständig in die "Kirche im Kapitalismus" eingegliedert wurden, aus der sie sich ja nie ganz herausgelöst hatten, was bei allen Beteiligten auf weniger Protest gestoßen war als die sich aus der Formel von der "Kirche im Sozialismus" ergebenden theoretischen und praktischen Konsequenzen.

Die Formel von der "Kirche im Sozialismus" ist eng verknüpft mit dem Selbständigwerden der DDR-Kirchen und der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, denn bis 1969 waren die evangelischen Landeskirchen in der DDR formal immer noch ein Teil der EKD. Zunächst wurde dieser Schritt der Gründung eines eigenen DDR-Kirchenbundes wegen der dadurch eingeleiteten Verminderung staatlichen Argwohns von vielen nur als eine formale Verbesserung der Kontaktmöglichkeiten mit den Westkirchen angesehen. Aufregender wurde die Sache, als es im Bericht der KKL (Konferenz der Kirchen-Leitungen) an die Synode in Eisenach 1971 hieß:

"Zeugnis und Dienst der Kirchen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR vollziehen sich in der sozialistischen Gesellschaft der DDR. Die Kirchen des Bundes sehen in der DDR ihren Staat und meinen es ernst damit ... Reformatorisch bestimmte Kirchen ... begegnen in der DDR das erste Mal in der Geschichte unausweichlich dem Sozialismus in marxistisch-leninistischer Prägung. Es ist die Aufgabe dieser Synode, einen Schritt in der Richtung zu tun, das Zeugnis und den Dienst in dieser sozialistischen Gesellschaft genauer zu beschreiben. Eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der DDR wird ihren Ort genau zu bedenken haben: In dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie." Explizit und kirchenoffiziell wurde diese Formel dann auf der Schweriner Synode des Bundes im Jahre 1973.

Mit dieser Formel wurde eine Tradition positiv fortgeführt, die durch eine verheißungsvolle Annäherung zwischen Christen und Sozialisten unter dem Druck des Faschismus begonnen hatte und im Darmstädter Wort des Bruderrates der Bekennenden Kirche 1947 in der 5. These als zukünftige Aufgabe des Einsatzes für alle Armen und Entrechteten formuliert worden war, wobei gleichzeitig der Antikommunismus als Irrweg bezeichnet wurde. Genau diese Tradition des Antikommunismus aufzugeben und zur Kooperation fortzuschreiten kann als die zweite Traditionsanknüpfung, diesmal in Form der Negation betrachtet werden. Auch für große Teile der Kirchen in der DDR war dies die klare Aufforderung, sich von der Vergangenheit zu trennen und einen Neuanfang zu wagen, denn auch in den evangelischen Kirchen der DDR hatte der Antikommunismus lange Zeit seine Bleibe, wenn auch nicht so selbstverständlich, wie in der katholischen Kirche, bei der es fast sicher war, dass eine lückenlose kirchliche Sozialisation in einem wasserdichten Antisozialismus und Ablehnung der DDR endete. Dass auch die Staatsführung dann Probleme mit diesen Bürgern hatte, ist logisch.

Unser Freund Giselher Hickel hat in seinem Referat auf der Jahrestagung der "Christen für den Sozialismus" im Oktober 2008 in Weimar eine sehr aufschlussreiche und überzeugende Kommentierung der Formel "Kirche im Sozialismus" vorgetragen:

"Kirche war offensichtlich nicht mehr Kirche in einer christlich geprägten Gesellschaft. Ein Anknüpfen an die Tradition einer gesellschaftlich privilegierten und protegierten Kirche nach der Katastrophe des Faschismus war nicht zeit-, nicht sach- und nicht evangeliumsgemäß. Aber die Formel drückt zugleich aus, dass der gesellschaftliche Kontext der Kirchen etwas mit ihrer Identität zu tun hat. Es war sicher nicht das Verdienst der DDR-Kirchen, dass sie die Zeichen der Zeit deutlicher erkannten und ernster nahmen als die in der BRD. Der breite, bequeme Weg zurück in die gesellschaftliche Anerkennung, der sich den BRD-Kirchen sehr schnell wieder eröffnete, war den DDR-Kirchen versperrt. Sie wurden zur realistischen Einschätzung ihrer Lage als Minorität gedrängt und in die Freiheit gestoßen. Aber es gab, Gott sei Dank, immer wieder Stimmen, die mahnten, diese Freiheit bewusst anzunehmen und aktiv zu nutzen." Damit ist es nun nach der Zerstörung der DDR (fast) gänzlich zu Ende.

Bei den von den bürgerlichen und reaktionären Kräften vorbereiteten Jubelfeiern zum Fall der Berliner Mauer 1989, die in den Medien durch Talk-Shows, Filme, Zeitungsartikel und einschlägige Buchrezensionen (man vgl. z. B. die Rezensionen in der ZEIT, Nr. 41, 1. Okt. 2009) schon antizipiert werden, wird man nicht müde, auf den erfolgreichen Beitrag der Kirchen, besser würde man sagen "einzelner Christen", die dann oft Helden genannt werden, zum Sturz des DDR-Regimes und zur Beseitigung des Sozialismus hinzuweisen. Dazu ist folgendes anzumerken: Die christliche Protestbewegung umfasste nur eine geringe Zahl selbstbewusster Christen, denen aber die Kirchenleitungen großzügig die gesamte Infrastruktur der evangelischen Kirche zur Verfügung stellte, wobei auch später kirchliche Funktionäre die bekannten Slogans, wie der "Wir sind das Volk" durch den Slogan "Wir sind ein Volk" zu ersetzen halfen (Bischof Krusche). Der durch Ignoranz und schriftstellerisches Unvermögen auffallende Ehrhart Neubert, dem in der deutschen Ausgabe (die Franzosen haben ihn einfach weggelassen) des "Schwarzbuch des Kommunismus" die Betreuung der DDR-Geschichte anheim fiel, spricht sogar von "protestantischer Revolution". Noch unsäglicher sind die in Sprachterrorismus abgleitenden "knabenhaften" Attitüden der von der Bundesregierung abgesegneten Gedenkstättenverlautbarungen.

Allgemein gilt: Die von den Lohnschreibern der herrschenden Klasse abgelieferten Darstellungen und Kommentare zum 20. Jahrestag "des Falls der Mauer" kreisen permanent und eintönig um folgende vier terminologische Bezugspunkte; die SED-Diktatur, die DDR als Unrechtsstaat, die Stasi und Mauer und Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze. Äußerungen oder vielleicht sogar Gedankengänge, die in diesem Geviert nicht untergebracht werden können, kommen schlicht und ergreifend nicht vor. Hier waltet ein rigoroses Denk- und Schreibverbot, oft begleitet und überboten von Diffamierungen und Falschmeldungen, wie die immer neu wiederholte Aussage, die DDR sei zu diesem Zeitpunkt bankrott gewesen.

Im Besonderen aber gilt: Gerade wenn es um den kirchlichen Beitrag geht, aber nicht nur dann, wird noch eine neue Vokabel ins Rennen geschickt, "die friedliche Revolution". Diskurstheoretisch und ideologietheoretisch lässt sich hier eine interessante Beobachtung machen. Der hasserfüllte, um die genannten vier Stichworte angeordnete Diskurs bekommt plötzlich eine neue Qualität und verliert auf den ersten Blick etwas von seiner aggressiven Borniertheit. Hier werden geschickt zwei in der DDR und auch anderswo positiv besetzte Begriffe zusammengefügt: Friede und Revolution. Beide standen zu Recht auf den Fahnen der DDR und bezeichneten ihre zentralen Ziele. Den hier Anwesenden muss ich das nicht erklären. Doch genauer hinschauend erkennt man, dass nun diese Begriffe dazu verwendet werden, um einen im Ergebnis konterrevolutionären Prozess der Etablierung permanenten sozialen Unfriedens und der Verelendung großer Bevölkerungsteile in ein verklärendes Licht zu tauchen.

Nehmen wir zuerst das Stichwort Friede bzw. friedlich. Erkennbar gibt es zwei Verlaufsformen der Konfrontation zwischen Protestbewegung und Staatsgewalt.

Zum einen äußern die Demonstranten ihren Protest durch Transparente und Sprechchöre, versammeln sich in Kirchen und zünden Kerzen an, werfen aber keine Steine und setzen keine Autos in Brand. Die Staatsgewalt übte zwar bedrohliche Präsenz, verzichtete aber auf den Einsatz des gesamten, im Westen seit den 60er Jahren üblichen repressiven Repertoires, d. h. Schlagstöcke, Tränengas, Wasserwerfer, Hunde und berittene Polizei. Die Montagsdemonstrationen in Leipzig und andere Demonstrationen und Versammlungen verliefen friedlich, weil die noch existierende Staatsgewalt der DDR auf eine flächendeckend gewaltsame Unterdrückung der Demonstrationen verzichtete, wofür sie später nirgendwo belobigt wurde. Dass die DDR als Staat ohne Blutvergießen von der Weltbühne abtrat, will die Gegenseite bis heute übrigens nicht erklären, wie man den einschlägigen Fernsehsendungen (vgl. den unsäglichen Guido Knopp) entnehmen kann.

Zum andern kam es nach den Vorgängen in der Botschaft der BRD in Prag und den nach Genschers Auftritt leider durch die DDR geleiteten Zügen mit den Ausreisenden zur Eskalation. Wütende Demonstranten belagerten die Gleise und demolierten den Bahnhof in Dresden, wobei dann die Polizei sich westlichem Vorbild annäherte. Damit war klar, dass dies nun überall passieren konnte, womit die friedfertige Einstellung auf beiden Seiten zu verschwinden begann. Nicht verschwiegen werden darf, dass die Fluchtwelle in den Westen aber auch erhebliche Lücken z. B. in das Gesundheitswesen riss, was die Staatsgewalt zu verhindern suchte.

Es lag im Wesen der DDR begründet, dass gewalttätige Formen des Protestes nicht zu den alltäglich eingeübten Widerstandsformen gehörten, weil sie in der Kultur der DDR nicht angelegt waren. Stattdessen waren Kritik, Verbesserungsvorschläge, begründeter Widerspruch und auch partielle Identifikation prinzipiell möglich, wobei die Staatsorgane allerdings oft unwillig, verständnislos und repressiv reagierten. Auf der Grundlage des Eingabenrechtes und der Einrichtung von Konfliktkommissionen verbesserten sich vielerorts die Beziehungen zwischen Bevölkerung und Behörden deutlich wahrnehmbar. Es ist müßig, hier Schuldzuweisungen, wer diese positiven Ansätze in ihrer Entwicklung gehemmt hat, nach der einen oder anderen Seite vorzunehmen.

Mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vorgehende Polizeieinheiten sind wahrlich kein Werbeblock für den Sozialismus. Wer verständlicherweise darüber entsetzt ist, sollte sich jedoch fragen, ob die mittlerweile zu Kampfrobotern umgerüsteten Polizisten und das Niederreiten von Demonstranten durch berittene Polizei ein gutes Aushängeschild für eine "freiheitlich demokratische Grundordnung" abgeben, die demnächst zusätzlich durch Bundeswehreinsatz im Innern gegen die eigene Bevölkerung geschützt werden soll. Wer gerne mit der Kategorie "Unrechtsstaat", die ja bisher nirgendwo juristisch sauber definiert wurde, hantiert und sie freigiebig verwendet, trifft bei der heutigen BRD auf ein dankbareres Objekt als bei der alten DDR, wenn man z. B. den Umgang mit Migranten und Migrantinnen als Kriterium wählt.

Kommen wir zum zweiten Begriff: Revolution.

Oft wird das Wort "Revolution" rein metaphorisch verwandt. Wenn eine Situation sich radikal verändert oder etwas ungeahnt Neues auftritt, dann spricht man heute, vor allem in den Medien, gerne von Revolution. Das gilt für Mode, Sport und Sexualität ebenso wie für die Technik. In diesem Sinne wird der Begriff Revolution in der Bezeichnung "friedliche Revolution" zu einer reinen Metapher für einen unvorhergesehenen Wandel der Dinge.

Es ist hier nicht der Platz, eine Begriffsgeschichte von "Revolution" zu entfalten. Drei Hinweise mögen genügen. Zum einen wehre ich mich dagegen, unter Revolution nur Vorgänge wie den Sturm auf die Bastille von 1789 oder auf das Winterpalais von 1917 zu verstehen. Neuere voreingenommene Kommentare zu 1989 sehen das ganz anders. So wird in der riesigen Bilddokumentation von Gerhard Paul das nachträgliche Zerlegen der Berliner Mauer in Souvenir-Stücke mit dem Abriss der Bastille verglichen (vgl. Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder, Bd. II, 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 578; Autor: Godehard Janzing). Zum andern möchte ich verweisen auf die drei zusammengehörigen Definitionsmerkmale des Begriffs "Revolution", die Karl Griewank (Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1969, S. 21 f.) angegeben hat: 1. "Ein stoßweiser und gewaltsamer Umbruch von Staats- und Rechtsverhältnissen", 2. "ein sozialer Inhalt, der in Gruppen- und Massenbewegungen, meistens auch in offenen Widerstandshandlungen derselben in Erscheinung tritt", 3. "die ideelle Form oder Ideologie, die positive Ziele im Sinne einer Weiterentwicklung oder eines Menschheitsfortschritts aufstellt."

Sodann möchte ich zitieren, wie Karl Marx im Vorwort zur "Kritik der politischen Ökonomie" (MEW 13, S. 9) Revolution aufgefasst hat:

"Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind." Dass die Vorgänge von 1989 Lichtjahre entfernt sind von dem, was Marx hier unter revolutionärer Veränderung begreift, muss nicht ausgeführt werden. Es könnte die Vermutung auftauchen, dass die Definition von Karl Griewank greift, worauf ich noch später zurückkomme. Vorher muss ich jedoch darauf eingehen, dass ich mich mit der Verwendung des Begriffes "Konterrevolution" zur Erfassung der Vorgänge von 1989 und ihrer Folgen möglicherweise zu weit vorgewagt habe, vor allem, weil diese Sprachregelung bei der übervorsichtigen Linkspartei, die noch immer nicht begriffen hat, dass Politik vor allem Kampf um Begriffe ist, nicht angekommen ist. Wer milder gestimmt ist, würde wohl eher von Restauration, im formalen Sinne verstanden als Rückkehr der früheren Machthaber in ihre alten Machtpositionen, sprechen wollen.

Ich möchte der Mehrheit der an den Demonstrationen Beteiligten keine bösen Absichten unterstellen. Gestehen wir ihnen zu, dass sie für Reiseerleichterungen, bessere Lebensbedingungen und die Erweiterung konstruktiver Mitsprache bei der Bewältigung der Probleme der DDR auf die Straße und in die Kirchen gingen. Billigen wir ihnen sogar zu, wie es Friedrich Schorlemmer und Heiko Falcke für sich in Anspruch nehmen, dass sie sich für eine Weiterentwicklung des Sozialismus, aber in klarem Dissens mit dem Staatsapparat, engagieren wollten und überhaupt nicht an eine Wiedervereinigung mit dem kapitalistischen Westdeutschland dachten. Nun wissen wir ebenfalls aus dem eben zitierten Vorwort von Marx, dass eine Umwälzung der Verhältnisse nicht nach den ideologischen Formen zu beurteilen ist, in denen sich die Menschen des Konfliktes bewusst werden, sondern nach den materiellen Veränderungen in den ökonomischen Produktionsbedingungen. Legen wir diesen Maßstab an, dann fühle ich mich berechtigt, im Ergebnis von einer Konterrevolution zu sprechen. Im entsprechenden Artikel der "'Europäischen Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften' von H. J. Sandkühler werden als konterrevolutionäre Kräfte solche bezeichnet, die in Denken und Handein "die Wiedererrichtung der Hegemonie der vor der Revolution Herrschenden" (S. 137) betreiben. Natürlich wollte niemand die den beiden deutschen Staaten vorangegangene Nazi-Herrschaft wieder aufrichten und sicher verstanden sich die Bürgerrechtler und Dissidenten auch nicht als Konterrevolutionäre. Nach ihrem Selbstverständnis ging es ihnen aber um die Wiederherstellung der so genannten Bürgerlichen Freiheiten, also der Verquickung mit der bürgerlichen Gesellschaft, die aber gekennzeichnet ist durch Markt und Privateigentum und damit durch die kapitalistische Ökonomie. Doch nicht die gute Absicht, sondern das Resultat sind maßgebend. Zwanzig Jahre danach müssen wir erkennen, dass durch die "Wende" von 1989 nicht der Sozialismus transformiert, sondern abgeschafft wurde und dass an seine Stelle die komplette Wiederherstellung des Kapitalismus im Staatsgebiet der DDR stattfand.

Dies zu bewirken aber war von Anfang an das erklärte Ziel derjenigen, die über die Grenzöffnung den Zusammenbruch der DDR anstoßen wollten wie Genscher, Kohl und Konsorten. Sie spielten zunächst die Unterstützer der "friedlichen Revolutionäre", nahmen dann aber alsbald das Heft in die Hand, entmündigten ihre einstigen Schützlinge und legten alleine die künftige Entwicklung fest. Von den ehemaligen Dissidenten und christlichen Bürgerrechtlern würde ich mir wünschen, dass sie heute öffentlich klar stellen, wie sehr sie sich getäuscht hatten, und dass sie entsprechend bedauern, zur Etablierung von Verhältnissen beigetragen zu haben, die weder für die Kirchen, denn diese sind wieder leer, noch für die Gesellschaft, denn diese ist wieder in Klassen gespalten, einen Fortschritt zum Besseren darstellen.

Die Protagonisten des Umsturzes haben unbestreitbar soziale Inhalte vertreten, nach Reformen gerufen und politische Forderungen in Widerstandshandlungen verkörpert, wie dies Griewank in seinem zweiten Merkmal ausdrückt, doch sie haben dabei vergessen, dass diese schon in der sozialistischen Tradition enthalten waren und daher nur durch die Verwirklichung des Sozialismus und nicht durch seine Beseitigung verwirklicht werden konnten. Erst recht enthält die Veränderung von 1989, um das dritte Definitionsmerkmal von Griewank aufzugreifen, keinerlei ideale Formen zur Förderung des Menschheitsfortschritts, sondern wird zur als Befreiung verkleideten Implementierung des Rückschritts, denn die sozialen Menschenrechte werden bis heute nicht eingeklagt.

Liebe Anwesende, ob aus Ost oder West, gestatten Sie mir am Ende noch eine spekulative Äußerung: Der Mythos von dem entscheidenden Beitrag der Kirchen zur sogenannten Wende veranlasst mich zur Überlegung, ob dieser Mythos nicht doch in der Form richtig ist, dass die Mehrheit der Christen und in den Kirchenleitungen die Implikationen der Formel "Kirche im Sozialismus" praktisch nicht ernst genommen haben. Wäre die Geschichte der DDR nicht ganz anders verlaufen, so dass es zum Oktober 1989 gar nicht hätte kommen dürfen, wenn die Kirchen und ihre Mitglieder das "Christsein für den Sozialismus" als eine Form gerechteren Zusammenlebens nicht nur zugelassen, sondern aktiv gelebt hätten? Ich weiß aber auch nicht, ob die Staatsführung selber mit anerkennender Kooperation darauf geantwortet hätte. All dies sind keine historisch überprüfbaren Hypothesen, es ist reine Spekulation, aber eine, die mich dazu zwingt, darüber nachzudenken, warum wir so oft in der Geschichte den Kairos, also den geeigneten Augenblick, verpassen. Hasta la victoria siempre!


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

"römisch-katholisch" von Szymon Kobylinski 1962 aus "Szpilki"

Ein anderer Prediger "Thomas Müntzer", Christoph van Sichem 1608. Kupferstich

Raute

Fakten und Meinungen

Arnold Schölzel

Was war, was ist, was wird die DDR gewesen sein?

Was die DDR war, kann ich nicht ohne Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen. Bereits die Gründung der DDR war eine Reaktion auf die Bildung eines Separatstaates, der von den Westmächten systematisch in Zusammenarbeit mit den reaktionärsten deutschen Kräften, einschließlich Faschisten, vorbereitet war. Churchills "Wir haben das falsche Schwein geschlachtet", die faktische deutsche Reservearmee für einen von den Briten im Sommer 1945 schon terminierten Angriff auf die Rote Armee, das Atombombenmonopol, die Bildung von Bi- und Trizone und schließlich die Währungsreform waren Schritte nicht nur zur Spaltung, sondern in erster Linie zur Verhinderung von antifaschistischen und damit antikapitalistischen Konsequenzen aus den Verbrechen des deutschen Großkapitals. Die Weigerung, die Potsdamer Beschlüsse zu erfüllen, z. B. die Entflechtung von Konzernen und die Verhinderung ihrer Neubildung, und deutsche Reparationen aus Gesamtdeutschland auch an die Sowjetunion gehen zu lassen, gehörte zu den Vertragsbrüchen, mit denen auf deutschem Boden die Weichen für den Wiederaufstieg derjenigen, die schon im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Faschismus nach außen aggressiven Revanchismus betrieben und nach innen jeden Widerstand in stetig sich steigernder Gewalt niedergeschlagen hatten. Deutschland war von 1933 bis 1945 das Zentrum reaktionärer Politik und Ideologie in der Welt. Deren Träger aber konnten nach 1945 fast unbehelligt in Westdeutschland wieder in Amt und Würden gelangen. Kriegsverbrecher, Judenmörder, Schreibtischtäter, Kopflanger. Im ersten deutschen Bundestag, der sich im September 1949 konstituierte, hatten ehemalige NSDAP-Mitglieder die absolute Mehrheit.

Was war die DDR unter diesen Bedingungen? Ein Akt sowjetischer Politik und Kühnheit der an ihrer Gründung beteiligten Kommunisten, Sozialdemokraten und bürgerlichen Politikern. Sie hatte es mit einem zu allem entschlossenen Gegner zu tun. Im Herbst 1949 liefen die Vorbereitungen für die Remilitarisierung, für die Option, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges rückgängig zu machen, noch im Geheimen, ab 1950 wurden sie öffentlich. Rudolf Augstein schrieb später, der Staat sei gegründet worden, weil man eine Armee brauchte, die Armee sei nicht gegründet worden, weil der Staat sie brauchte. Hallsteindoktrin, Vorwärtsverteidigung, Atombombe auf Leipzig, wenn nötig, wie es im Bundestag in der Debatte um die Atombewaffnung gesagt wurde, Gänsefüßchenland und schließlich Wandel durch Annäherung, aber die deutsche Frage ist offen und die Bundesrepublik nicht nur Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches, sondern mit ihm identisch. Die DDR ein Aufstandsgebiet - das war, das ist die politisch-juristische Suppe, die bis heute köchelt. Die DDR war ein Friedensstaat von Anfang bis zum Ende, notwendigerweise ein bewaffneter. Seitdem es sie nicht mehr gibt, geht von deutschem Boden nicht mehr Frieden aus. Ich erinnere mich noch gut an die triumphierende Geste, mit der Finanzminister Waigel kurz nach dem Anschluß der DDR in Washington aus dem Flugzeug stieg, um den Milliardenscheck der Bundesregierung für die Finanzierung des "Begrüßungskrieges", des Golfkrieges gegen den Irak, zu überreichen. Ich erinnere mich noch gut an die Verkündung Außenminister Genschers, Deutschland habe einen "diplomatischen Sieg" davongetragen, als es gegen den Widerstand seiner wichtigsten Verbündeten 1991 Slowenien und Kroatien zu Separatismus und Krieg durch die diplomatische Anerkennung aufforderte. Völkerrecht, Recht überhaupt? Nur solange es nützt.

Was ist die DDR? Aus dem Staat wurde eine Zone, mit Sonderrechten, Sonderregelungen und einem sozialen Experiment, das weltgeschichtlich ziemlich einmalig ist. In den Augen der Herrschenden das größte Verbrechen der deutschen Geschichte. Die Enteignung von Faschisten und Junkern, das Antasten von Privateigentum an Produktionsmitteln überhaupt wiegt schwerer als alles, was je vorher geschah. Was geht die Stadtväter von Jena 1991 das KZ Buchenwald an, wenn sie den Karl-Marx-Platz zwar nicht wieder in Adolf-Hitler-Platz umbenennen, aber nach einem Pädagogikprofessor, der 1944 eine Vortragsreihe im KZ Buchenwald vor inhaftierten norwegischen Studenten gehalten hatte, um die zu germanisieren, nämlich für die Waffen-SS anzuwerben. Die Rede von den zwei Diktaturen, die Totalitarismusdoktrin und "Rot gleich Braun", wie es in sächsischen Gedenkstätten oder im Bonner Haus der Geschichte besonders exzessiv gepflegt wird - Porträts von Pieck und Ulbricht neben dem von Eichmann unter der Überschrift "Schöne Bilder der Diktatur", der "Misthaufen der Geschichte" (Spiegel) oder das "historische Verbrechen", das vor wenigen Tagen Mechthild Küpper in der FAZ die Linkspartei in Thüringen für regierungsunfähig erklären ließ. Der so genannte Mauerfall wird zum wichtigsten Datum der deutschen Geschichte.

Die DDR war einige Jahre Gegenstand langer Entschuldigungstexte in der Linkspartei. Der Wirtschaftssenator von Berlin hielt es für richtig, die Opfer des 17. Juni 1953 in einer offiziellen Rede in eine Reihe mit den Widerstandskämpfern des 20. Juli 1944 zu stellen.Ja es gab Gegner der DDR und nicht alle waren Faschisten und sie konnten stets sicher sein, einen Rückhalt im Westen zu haben, dem Geld, allerlei Buntes und ungeheure Machtmittel zur Verfügung standen.

20 Jahre Anti-DDR-Hetze ohne DDR haben ihre Spuren hinterlassen - Einschüchterung, Verwirrung, Verteidigung, Rückzug, Resignation. Allerdings auch einen wachsenden Teil der Bevölkerung, die Frau Ferres als DDR-Expertin und die Stasi-Industrie von Birthler, Knabe, Spiegel und allen angeschlossenen Medien nicht mehr ertragen - in West wie Ost. Die DDR selbst wurde zweimal zerstört, juristisch am 3. Oktober 1990, de facto durch Zerschlagung von Betrieben und Einrichtungen, durch die Abwanderung von inzwischen über 3 Millionen Menschen. Die DDR wurde aus einem Staat zu einer Zone, ökologisch sauber, alimentiert, mit Niedriglöhnen und Hartz IV.

Was wird die DDR gewesen sein? Aufklärung. Die deutsche Geschichte, ihre gescheiterten Revolutionen und ihre ganzen Konterrevolutionen konnte man nur in der DDR studieren. Von Aufklärung, deutscher Klassik und Marxismus darf man heute nicht allzu viel wissen, aber die Ausgaben der DDR existieren noch - wie ihre Literatur, ihre bildenden Künstler, die in völlig anderer Tradition stehen als die meisten westwärts. Vor allem aber: Aufklärung über Sozialismus, das Gelungene und das Widersinnige, das Problematische und das Problem auf eine neue Stufe Hebende - die Geschlechterverhältnisse, Bildungs- und Gesundheitswesen, Planung und Warenwirtschaft etc. Das wird noch eine Rolle spielen, über kurz oder lang.

Zum Schluß: In den "Flüchtlingsgesprächen" lässt Brecht mitten im Weltkrieg den Metallarbeiter Kalle und den Physiker Ziffel über die Kosten für eine gute Ausbildung in Marxismus sprechen. Ziffel meint, "eine halbwegs komplette Kenntnis des Marxismus kostet heute, wie mir ein Kollege versichert hat, zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Goldmark, und das ist dann ohne die Schikanen. Drunter kriegen Sie nichts Richtiges, höchstens so einen minderwertigen Marxismus ohne Hegel oder einen, wo der Ricardo fehlt usw. Mein Kollege rechnet übrigens nur die Kosten für die Bücher, die Hochschulgebühren und die Arbeitsstunden und nicht, was Ihnen entgeht durch Schwierigkeiten in Ihrer Karriere oder gelegentliche Inhaftierung, und er lässt weg, dass die Leistungen in bürgerlichen Berufen bedenklich sinken nach einer gründlichen Marxlektüre; in bestimmten Fächern wie Geschichte und Philosophie werdens nie wieder wirklich gut sein, wenns den Marx durchgegangen sind." Für die Bundesrepublik war eine gründliche Ausbildung in Marxismus zu teuer, die DDR hat sich die massenhaft geleistet. Das wird sich auszahlen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

"Heimatkunde: Deutsches Eck", Klaus Georg. Collage

Raute

Fakten und Meinungen

Erhardt Thomas

Absolvent einer Arbeiter- und Bauernfakultät

An die Studenten der Arbeiter- und Bauernfakultät


Dass ihr hier sitzen könnt. So manche Schlacht
wurd drum gewagt. Ihr mögt sie gern vergessen.
Nur wisst: hier haben andre schon gesessen.
Die saßen über Menschen dann. Gebt acht!

Was immer ihr erforscht einst und erfindet,
euch wird nicht nützen, was ihr auch erkennt,
so es euch nicht zu klugem Kampf verbindet
und euch von allen Menschenfeinden trennt.

Vergesst nicht: mancher euresgleichen stritt,
dass ihr hier sitzen könnt und nicht mehr sie.
Und nun vergrabt euch nicht und kämpfet mit
und lernt das Lernen und verlernt es nie.

Bert Brecht


Das Jahr 2009 war für uns Deutsche und insbesondere für die ehemaligen DDR-Bürger in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: ein doppeltes 60-Jahre-Jubiläum, das unser Staats- und das unserer Jugendgeschichte, zu der für viele von uns die Gründung von Arbeiter- und Bauernfakultäten gehört. Mit Hochachtung und Dankbarkeit erinnern wir uns an die Leistungen und die Unterstützung der DDR-Bevölkerung für uns ABF-Studenten. Vor nunmehr 60 Jahren wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet und in ihr auch neun Arbeiter- und Bauernfakultäten. Darunter war auch die ABF Potsdam, an der ich von 1954 bis 1957 studierte.

Dass in der BRD vor 30 Jahren Oberstufenzentren entstanden, das wird in den Medien schon für berichtenswert gehalten. Die Gründung der ABF vor 60 Jahren findet diese Beachtung nicht. Ich will daran erinnern.

Ab 1946 wurden in der ganzen Sowjetischen Besatzungszone Vorstudienabteilungen eingerichtet, die am 1. Oktober 1949, noch vor der Gründung der DDR, in Arbeiter- und Bauernfakultäten umgewandelt worden sind. Im Zuge dieser Umwandlung der Vorstudienabteilungen in reguläre Fakultäten wurden die ABF 1949 als selbstständige Verwaltungseinrichtungen den Universitäten angegliedert.

Der Vorschlag zu dieser Umwandlung wurde von der SED und der Sowjetischen Militäradministration an die Deutsche Wirtschaftskommission und an die Deutsche Verwaltung für Volksbildung gerichtet. Die angeregte Kulturverordnung wurde bereits am 31. März 1949 beschlossen.

Die Grundlage
bildete der Befehl Nr. 50 des Obersten Chefs der SMAD vom 4.9.1945 zur Vorbereitung der Hochschulen auf den Beginn des Unterrichts.

Waren es bei der Gründung der ABF neun eigenständige Fakultäten, so stieg ihre Anzahl zwischen 1955 und 1961 auf 15 Fakultäten, die in den Standorten Berlin und Berlin (Musik), Leipzig und Leipzig (DHfK), Dresden (Kunst), Dresden/Görlitz, Halle 1 und Halle II, Jena, Rostock, Greifswald, Potsdam, Karl-Marx-Stadt, Freiberg/Sa. und Weimar geschaffen wurden.

In dem Maße, wie in dieser Zeit auch die bildungspolitischen Ziele durch die Schaffung von EOS und Polytechnischen Oberschulen erreicht wurden, konnte ab 1966 die Zahl der ABF bis auf zwei Einrichtungen wieder reduziert werden. Diese beiden Einrichtungen waren die ABF II in Halle und die ABF "Wilhelm Pieck" in Freiberg. In ersterer bereiteten sich Studierende auf ein Auslandsstudium, zumeist in der Sowjetunion, vor. Außerdem schulten sich dort Werktätige für einen Arbeitseinsatz im Ausland. Die ABF in Freiburg hingegen widmete sich weiterhin der allgemeinen Vorbereitung auf ein Fach- oder Hochschulstudium.

Die Zielsetzung:
Die Bildung der ABF orientierte auf die Gewinnung der alten Intelligenz für die aktive Mitwirkung beim demokratischen Aufbau, auf die Gewinnung der neuen Intelligenz und auf beider kameradschaftlicher Zusammenarbeit in enger Verbindung mit den Arbeitern und Bauern. Walter Ulbricht formulierte es am 23. September 1947 so: "Auch heute brauchen wir einen akademischen Nachwuchs. Von diesem Gesichtspunkt aus halten wir die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft an den Universitäten für unbefriedigend. An der Universität Halle z. B. studieren nur 8,7 Prozent Arbeiter, 16,7 Prozent Angestellte, 33 Prozent Söhne und Töchter früherer Beamter und 28,9 Prozent Söhne und Töchter der Intelligenz." Otto Grotewohl, später erster Vorsitzender des Ministerrates der DDR, betonte seine Ziele am 5.5.1948 wie folgt: "Wir arbeiten unter anderen Bedingungen und in einer anderen Zeit. Dazu gehört auch, dass wir für die Kinder der Werktätigen die Tore zu den Hochschulen weit aufstoßen. Gerade in der Förderung der Arbeiter- und Bauernstudenten sehen wir eines der wichtigsten Mittel, um eine enge Verbindung der Kulturschaffenden mit den breiten Volksmassen herzustellen."

Wilhelm Pieck, der am 11.10.1949 von der Provisorischen Volkskammer und der Provisorischen Länderkammer der DDR gewählte erste Präsident, skizzierte am 28.10.1949 den bildungspolitischen Weg der DDR auf einer Feierstunde anlässlich der Eingliederung der Arbeiter- und Bauernfakultät in die Humboldt-Universität zu Berlin: "Die Aufnahme der Arbeiter- und Bauernfakultät in den Verband der Humboldt-Universität ist mehr als ein formaler Akt. Darin drückt sich vielmehr aus, dass die alten Schranken, die früher den befähigten jungen Menschen des arbeitenden Volkes den Zugang zu den Höhen der Wissenschaften versperrten, gefallen sind.

In der Deutschen Demokratischen Republik soll aus sozialer Not keine wirkliche Befähigung mehr verkümmern. Den Söhnen und Töchtern unserer Arbeiter und Bauern soll jede Möglichkeit geboten werden, zum Wohl des ganzen deutschen Volkes ihre Fähigkeiten voll zu entwickeln. Der Arbeiter- und Bauernfakultät anzugehören, ist eine hohe Verpflichtung und gewährt keine Vorrechte. Diese hohe Verpflichtung heißt für sie ganz besonders: Lernen, lernen und immer wieder lernen.

Ein neues Verhältnis, beruhend auf dem Prinzip der gegenseitigen Achtung und Gleichberechtigung, beginnt sich zwischen den friedliebenden Staaten der Welt und der Deutschen Demokratischen Republik herauszubilden. Ein solches Verhältnis zu anderen Völkern und ihren Leistungen ist mit dem alten preußisch-deutschen Hochmut nicht zu vereinbaren. Vergessen Sie nie, dass Sie an der Humboldt-Universität nicht zu Ihrem eigenen Nutzen arbeiten und lernen, sondern zum Wohle des ganzen deutschen Volkes, zum Wohle der Deutschen demokratischen Republik."

Die sozialen Wurzeln:
Die jungen Menschen kamen oft direkt aus dem Berufsleben, waren meist Kinder aus Arbeiter-, Bauern-, Intelligenz- und Umsiedlerfamilien. Alle ABF hatten die Aufgabe, junge Werktätige aus der Produktion, der Verwaltung, aus der Kasernierten Volkspolizei und anderen Bereichen von Bildung, Kultur und Gesundheitswesen aufzunehmen und auf ein Fach- oder Hochschulstudium vorzubereiten. Ihnen wurde die Chance geboten, das Abitur zu erwerben. Nicht selten waren es junge Menschen, die wegen zu geringer Kenntnisse oder wegen der Kriegs- und Nachkriegsereignisse den Bildungsweg über die Oberschule nicht gehen konnten.

Es war die neue Arbeiter- und Bauernmacht, die mir und vielen anderen diese Bildungschance geboten hat, und die wir mit Begier und Dankbarkeit genutzt haben.

Mein Weg als Kind einer Spätaussiedlerfamilie
aus Polen führte mich zunächst in die Sowjetische Besatzungszone in das Aufnahmelager Leipzig. Alsbald ging es nach Wiesenburg. Meine Wiedereingliederung in den deutschen Grundschulunterricht erlebte ich am 15. Juni 1949 in der dortigen "Hanno-Günter-Schule". Doch schon Ende Oktober siedelten wir nach Garrey bei Niemegk über, wo ich im Sommer 1950 die Schule mit der 8. Klasse abgeschlossen habe. Nachfolgend wurde ich als Jungarbeiter auf dem Bauernhof des privaten Gärtner A. Gebbers beschäftigt. Diese Landarbeit dauerte bis zum 18. September 1951, bis zu meinem Lehrbeginn im VEB Volksbaumschule "Ernst Thälmann" in Ketzin/Havel.

Nach dem Abschluss der 8. Klasse war ich immer noch der Meinung, nicht alle Wissensdefizite meiner lückenhaften Schullaufbahn ausgeglichen zu haben. Sehr zum Verdruss meiner Eltern hatte ich mich deshalb einer Bewerbung an der Oberschule in Belzig widersetzt.

Als Lehrling nahm ich nun am Berufsschulunterricht in Niemegk teil, engagierte mich mit anderen Jugendlichen im Dorf und in der Berufsschule, was damit belohnt wurde, dass ich mit der FDJ-Delegation der Landjugend des Kreises zu den III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten im August 1951 nach Berlin fahren durfte.

Berufsausbildung und Nominierung zur ABF waren die nächsten Aufgaben für mich. Bald war ich gewählter FDJ-Sekretär des 1. Lehrjahres.

Mit dem Berufswettbewerb war den Lehrlingen eine wichtige Gelegenheit gegeben, sich in der Praxis weiter zu qualifizieren. Zunehmend engagierte ich mich in der Neuererbewegung und durfte darum im 2. Lehrjahr 1952 an der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR am Institut für Landmaschinentechnik in Quedlinburg einen zweiwöchigen Speziallehrgang besuchen. Somit konnte ich die gewonnenen Erkenntnisse in die Neuererbewegung meines Betriebes einbringen. Dafür erhielt ich 1953 als 17-jähriger Lehrling im 3. Lehrjahr die Auszeichnung als Aktivist. Die größte Freude bestand für mich darin, dass mit mir auch Herr Posselt, der Betriebsleiter der volkseigenen Baumschule, als Aktivist ausgezeichnet wurde. Ein Lehrling stand Schulter an Schulter mit dem Betriebsleiter und beide bekamen die gleiche Auszeichnung aus den Händen des BGL-Vorsitzenden.

Für kontinuierlich gute Leistungen im Berufswettbewerb erhielten einige Lehrlinge die Möglichkeit, die Gesellenprüfung ein halbes Jahr früher abzulegen. Zu denen gehörte ich. So konnte ich schon im März 1954 meine Lehrzeit beenden. Nur wenige Wochen später wurde ich vom Betrieb für den Besuch der ABF Potsdam nominiert, um nachfolgend Gartenbau an der Humboldt-Universität studieren zu können. Nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung an der ABF im Juni 1954 wurde auf einer Betriebsversammlung meine offizielle Delegierung durch die Betriebsleitung bekannt gegeben. Gute fachliche Arbeit und gesellschaftliches Engagement war die Begründung.

ABF von innen
Der offizielle Studienbeginn war der 1. September 1954. Wie Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck es in ihren Reden vor ABF-Studenten es wiederholt gesagt hatten, galten wir Immatrikulanten nicht als privilegiert. Wir bejahten unseren Staat und wir wollten die Welt nicht nur interpretieren, wie es Karl Marx in der 11. Feuerbachthese den Philosophen unmissverständlich vorgehalten hat, sondern wir fühlten uns aufgefordert, den Fortschritt in der Gesellschaft mit zu gestalten. Ganz so, wie es in unserer Nationalhymne stand. Wir waren durchaus Realisten, keine Revolutionsromantiker. Für uns Neuankömmlinge, die aus der Produktion kamen, fiel zunächst die Umstellung von der jahrelangen manuellen Arbeit zur geistigen Tätigkeit sehr schwer. Wir mussten uns gegenseitig helfen. Konkret hieß das, freiwillig Studiengemeinschaften zu bilden. Die Zusammenschlüsse sind uns nicht verordnet worden. Aus anfänglich lockeren Zusammenschlüssen wurden schnell feste Solidargemeinschaften. Unsere tiefste Überzeugung war, dass wir keinen unseresgleichen auf dem Weg zur Hochschulreife verlieren wollten.

Das erste Studienjahr, die Grundstufe A, bestand aus sechs Klassen. Wegen meiner Erfahrung als Weltfestspielteilnehmer und als FDJ-Sekretär im Betrieb, wurde ich in meiner Klasse wieder als FDJ-Sekretär gewählt. Durchschnittlich hatte eine Klasse im ersten Studienjahr 27 bis 29 Studenten. Im zweiten Studienjahr, der Stufe B, bestanden ebenfalls noch sechs Klassen, doch diese waren nun in drei Zweige differenziert, jeweils zwei Klassen für den medizinisch-biologischen (BM), für den naturwissenschaftlich-mathematischen (BN) und für den geisteswissenschaftlichen (BG) Zweig. Diese Aufgliederung wurde den späteren Berufswünsche der Kandidaten annähernd gerecht. Im dritten Studienjahr, der Stufe C, wurde diese Differenzierung beibehalten. Methodik gehörte nun mal zur durchdachten Planwirtschaft. Die Klassenstärke lag im zweiten Jahr bei etwa 22, im dritten Jahr bei 20 Studenten. Die hohe Klassenfrequenz, das zeigte die Erfahrung, war eine Ursache für manche unbefriedigende fachliche Leistung und für manche gesundheitlichen Probleme, die einige Studenten nach dem ersten Jahr aufgeben ließen.

Strenge Regeln
Der Unterricht begann stets um 8 Uhr, endete um 13 Uhr. Das Schulgebäude befand sich in der Hegelallee in Potsdam, heute das Gebäude des Einstein-Gymnasiums.

Die Mittagspause dauerte von 13-14 Uhr. Daran schloss sich eine obligatorische Ruhepause unter Einhaltung von Bettruhe an, kontrolliert von einem Lehrer und einem Studenten vom Dienst. Nach 15:30 Uhr folgte das Selbststudium, das in der Gruppe oder auch individuell gestaltet werden konnte. Zwischen 18 und 19 Uhr war Abendbrotpause. Der Abend war weitgehend frei. Doch oft gab es Veranstaltungen, Versammlungen, Sporttraining.

Freizeit war sehr kurz bemessen, weil ja auch das Selbststudium fortgesetzt werden musste. Das freie Wochenende wurde von den meisten Studenten für eine Heimfahrt genutzt oder für die Vorbereitung auf die nächste Woche. Für Unterhaltungsabende stand uns der Studentenklub zur Verfügung. Auch Künstler vom nahegelegenen Hans-Otto-Theater waren da zu Gast. Manche Studenten besuchten zudem das Haus der sowjetischen Offiziere, als gern gesehene Gäste.

Einige Studenten empfanden das strenge Studienregime als paramilitärisch. Auf den ersten Blick mag das den Anschein haben. Doch bei kritischer Wertung aus heutiger Sicht hat sich bei den meisten diese Ordnung als zweckdienlich erwiesen. Bei einigen, die später an der Universität eine locker Studienführung vorfanden und die glaubten, Freiheit ohne Stress genießen zu können, endete die weitere Laufbahn mit der Exmatrikulation. Von den sieben immatrikulierten Studenten der Humanmedizin an der Humboldt-Universität zu Berlin haben nur drei Medizinstudenten ihr Studium mit dem Staatsexamen abgeschlossen.

Unsere Gemeinschaft
Während des Volksaufstandes 1956 in Ungarn streuten westliche Medien unter den ABF-Studenten in Potsdam, dass unser Abitur nach nur drei jähriger Ausbildung von geringerem Wert sei als das der Oberschulen. Wir haben das rasch durchschaut, schließlich lag nebenan ja Westberlin und von dorther waren solche verbalen Schießübungen gängige Alltagspraxis. Dennoch war uns diese Diskriminierung Anlass, vor unserer Schulleitung klarzustellen, dass wir nach dem gleichen Lehrinhalten unterrichtet und geprüft wurden, die für alle Oberschulen galten. Für das Studium erforderte das von uns strikte Disziplin, Selbstdisziplin, die konsequente Einhaltung der Schulordnung und vor allem Solidarität untereinander.

In den Sommerferien 1955 und 1956 fanden jeweils Lehrgänge für den Beginn des neuen Studienjahres in der Pionierrepublik "Wilhelm Pieck" am Werbellinsee statt. Das waren Mischungen aus studentischem Ferienlager mit Vorbereitungsseminaren für das nächste Studienjahr. Auch gesellschaftspolitische Bildung hatte darin einen festen Platz. Da gab es durchaus nicht immer Übereinstimmung. Einige von uns haben das Auftreten einiger Vorzeigereferenten aus Kreisen der Kultur, der Massenorganisationen, vereinzelt auch aus der Politik mit Skepsis und Zurückhaltung begleitet, waren doch unter ihnen keine Werktätigen aus Betrieben, die über Erfahrungen hätten berichten können. Wir, die wir ja aus der Produktion kamen, hätten uns solche Diskussionspartner sehr gewünscht.

Arbeits- und Ernteeinsätze
Ihre Notwendigkeit war für uns schon in den Versen unserer Nationalhymne

"Lass uns dir zum Guten dienen,
Deutschland einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
und wir zwingen sie vereint."

eindringlich nahe gebracht worden. Arbeits- und Ernteeinsätze sind bis weit in die 60er Jahre durchgeführt worden, um bei der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs zu helfen. Unsere Philosophie, dass Wertschöpfung immer aus sinnvollem Zusammenwirken von Theorie und Praxis hervorgeht, sollte ja auch uns, der lernenden Jugend, vor Augen geführt werden. Daraus ergab sich auch, dass unsere Zwischenzeugnisse den Kaderleitungen in den Betrieben vorzulegen waren. Damit blieb der Kontakt zwischen uns und der Belegschaft des Betriebes erhalten.

Unser erster Arbeitseinsatz fand im Januar und Februar 1955 bei klirrender Kälte im Braunkohlentagebau "Schwarze Pumpe" statt. Das war einprägsam, denn wir lernten erstmals die schweren Arbeitsbedingungen der Kohlekumpel kennen. Außer einem kleinen Fläschchen Grubenschnaps gab es keine Vergütung für uns. Andere Einsätze führten zur Kartoffelernte nach Putbus und in ein Dorf bei Nauen. Unsere Hilfe wurde von der Bevölkerung dankbar anerkannt, auch, weil wir ja jugendlichen Schwung ins Dorf brachten.

Unsere Transportzüge sorgten zudem auf den Bahnhöfen dafür, dass Einwohner von der Existenz der Arbeiter- und Bauernfakultäten erfuhren. Für uns war der Zuspruch, den es gab, eine bestätigende Erfahrung.

Mit dem Abschluss
des Abiturs Anfang Juni 1957 kam es zu einem unverhofften Wendepunkt im Leben einiger Kommilitonen, auch meines Lebens. Der Direktor Fritz Leib schlug uns vor, abweichend von unseren bisherigen Studienplänen, Medizin an der Humboldt-Universität zu studieren. Warum? 1956 gab es bei der offenen Staatsgrenze zwischen der BRD und der DDR nach offensichtlich gesteuerten Abwerbeaktionen eine Fluchtwelle von DDR-Ärzten. Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung wurde empfindlich gestört und drohte in einigen Orten zu versagen. Dass das unsere Brüder sein sollten, bekam einen faden Beigeschmack. Der bisherige medizinische Nachwuchs hätte nicht ausgereicht, die entstandenen Lücken zu schließen. Da musste rasch aufgestockt werden.

So war der Wechsel vom Gartenbau- zum Medizinstudium nicht mein Wunsch, sondern mehr ein Ausdruck meines Pflichtverständnisses. Die Entscheidungsfrage hatte uns überrumpelt. Und es gab nur drei Tage Bedenkzeit. Ich schwankte zwischen Pflichtbewusstein und dem Versprechen, das ich den Angehörigen meines Betriebes gegeben hatte.

Am zweiten Juniwochenende 1957 ging ich zum Kaderchef meiner Baumschule. Hilflos und unbeholfen stand ich vor ihm. Ich wusste nicht, wie er auf meine Ankündigung reagieren würde. Doch der, Spanienkämpfer und alter Kommunist, hatte bald durchschaut, was mich umtrieb und sagte: "Das ist eine Auszeichnung. Willst Du? Oder Nicht? Und du willst. Jawohl."

Und ich sagte: "Ja", und fuhr zurück nach Potsdam, um seine und meine Entscheidung dem Lehrerkollektiv mitzuteilen.

ABF für mich


Für mich war sie DDR. Mit der Gründung der ersten Arbeiter- und Bauernrepublik auf deutschem Boden war es möglich geworden, das Leben vieler junger Menschen, ihre weitere persönliche und berufliche Entwicklung zu fördern. Natürlich mussten neben den persönlichen Neigungen des einzelnen auch die Bedürfnisse des Staates, seine Fähigkeit, auf aktuelle und künftige ökonomische, kulturelle, wissenschaftliche, bildungspolitische, ja auch gesundheitspolitische Anforderungen angemessen reagieren zu können, bedacht werden. Für mich, den heute 74-jährigen, resultiert daraus die Überzeugung: Das war zweifelsfrei für mich eine richtige Entscheidung und gemäß dem Eid des Hippokrates, den ich 1957 vor dem Dekan der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin geleistet habe, war das auch für meine späteren Patienten gut und richtig.

Dem Inhalt dieser Eidesverpflichtung bin ich treu gefolgt. Auf dem Wege zum Arztwerden und Arztsein standen mir aufrechte DDR-Bürger, erfahrene Menschenkenner und Hochschullehrer auch aus Westberlin und hilfsbereite, selbstlose Marxisten zur Seite. Einem von ihnen, meinem früheren Klassenkameraden Ingolf Schwerdtfeger aus Luckenwalde, schulde ich besonderen Dank dafür, dass er mich mit Rat und Tat bei diesem Bericht unterstützt hat.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Verbrieft und besiegelt - das Reifezeugnis der ABF

Heute Einstein-Gymnasium, 1957 die Arbeiter- und Bauernfakultät in Potsdam

Raute

Fakten und Meinungen

Gerd Friedrich

Diskussionspapier Menschenrechte

Ansatzpunkte für Parallelberichte von Nichtregierungsorganisationen zum 5. Staatenbericht der BRD zum internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Vorbemerkung

Der UN-Menschenrechtsrat (MRR) führte im Rahmen des neu eingerichteten Länderprüfverfahrens UPR (Universal Periodic Review) Anfang des Jahres die öffentliche Anhörung zur Bundesrepublik Deutschland durch. Im Vorfeld erstellten die Bundesregierung ihren Staatenbericht und zivilgesellschaftliche Akteure - u. a. das Deutsches Institut für Menschenrechte und Forum Menschenrechte - Parallelberichte.

"Wer die Berichte miteinander vergleicht, könnte meinen, dass von zwei unterschiedlichen Ländern die Rede ist", kommentierte das Forum Menschenrechte. Das Forum zeigte sich insbesondere enttäuscht, dass es der Bundesregierung nicht möglich war, selbstkritisch auf die Schwachpunkte der deutschen Politik einzugehen.

"Wir bedauern dies um so mehr, da wir gerade von einem Land wie Deutschland einen besonders guten, beispielhaften Beitrag zum UPR-Verfahren wünschen, in dem die Regierung sich nicht auf Gesetze und Institutionen zurück zieht. ... Ein Staat wie Deutschland sollte ­... die Souveränität aufweisen - wie dies Finnland und die Schweiz ansatzweise vorzeigten - die eigene Politik auch aus der Sicht von Opfern zu bewerten und als Politikauftrag zu formulieren", kritisierte das Forum Menschenrechte. (Die Bundesrepublik Deutschland vor dem UN-Menschenrechtsrat. Bei Menschenrechten im Inneren siebt die Bundesregierung kaum Handlungsbedarf - Pressemitteilung des Forums Menschenrechte)

Man könnte diese Kritik des "sich Zurückziehens auf Gesetze und Institutionen" beim "Fünften Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschlands nach Artikel 16 und 17 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturell Rechte" wortwörtlich wiederholen - auch hier verdrängen die Beschreibungen von Regierungsmaßnahmen und Rechtfertigungsversuche der Bundesrepublik gegenüber Empfehlungen des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, denen sie nicht folgen will, nahezu völlig die Analyse der widersprüchlichen Situation bei der Sicherung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte in Deutschland, auch hier gilt: "Bei Menschenrechten im Inneren sieht die Bundesregierung kaum Handlungsbedarf"!

Der vierte Staatenbericht liegt relativ lange zurück - er wurde 1999 vorgelegt. Der VN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat ihn 2001 behandelt und dazu Schlussfolgerungen und Empfehlungen formuliert. "Auf sie wird im vorliegenden fünften Staatenbericht eingegangen."

Aber wie? Ein Zeitraum von fast 10 Jahren sollte eigentlich zureichend sein, entsprechend den Fragestellungen und den Empfehlungen des Ausschusses, klare Auskunft zu erteilen, auf welchen Gebieten es gelang die Menschenrechtslage zu verbessern, wo die Lage unverändert ist und wo (aus welchen Gründen) Verschlechterungen eingetreten sind. Solche Einschätzungen des erreichten Fortschritts werden auf einigen Gebieten der hier zur Debatte stehenden Rechte dadurch erleichtert, dass ein oder einige wenige Grundparameter schon einen Hinweis auf die Grundtendenz im Berichtszeitraum liefern - z. B. das Recht auf Arbeit - ist die Zahl der Arbeitslosen, insbesondere der Langzeitarbeitslosen, gestiegen oder zurückgegangen? Oder das Recht auf einen angemessenen Lebensunterhalt - hat die Zahl der Armen zugenommen oder abgenommen? Natürlich muss man die Parameter definieren, um die Entwicklung über die Zeit feststellen zu können. Daher fordert der Ausschuss z. B. "den Vertragsstaat nachdrücklich dazu auf eine Armutsgrenze für das Bundesgebiet festzulegen, die die Parameter des ersten nationalen Armuts- und Reichtumsbericht sowie internationale Definitionen des Begriffs Armut berücksichtigt, darunter auch die in der Erklärung des Ausschusses zu Armut enthaltene Begriffsbestimmung." (Empfehlung Nr. 45, S. 76) Die Antwort lautet: "Armut hat in einer modernen Gesellschaft viele Facetten. Sie kann nicht abschließend (?) definiert werden." - Sicher gibt es verschiedene Definitionen von Armut, und wenn man Ungemach fürchtet, legt man sich am besten auf keine fest ... eigentlich gibt es in Deutschland keine Armen, es gibt nur Menschen, die ein "erhöhtes Armutsrisiko" haben. Nachzulesen auf Seite 77: "Der Anstieg der Arbeitslosigkeit der vergangenen Jahre hat eine Erhöhung des Armutsrisikos mit sich gebracht". Also nicht mehr arme, sondern nur mehr Menschen, mit "erhöhtem Armutsrisiko". Die Art und Weise, wie die Ausschussmitglieder hier über die Schwierigkeiten bei der Festlegung einer Armutsgrenze in Deutschland aufgeklärt werden, ist eine Unverschämtheit auf internationalem Parkett!

Die Feststellung, dass sich der Bericht der Bundesregierung mehr an der Beschreibung staatlicher Maßnahmen als an der Analyse der realen Menschenrechtslage orientiert, soll an zwei Problemkomplexen verdeutlicht werden.

I. Abbau sozialer Sicherheit und Zunehmende Polarisierung von "arm" und "reich"

Unter Bezugnahme auf Artikel 9 (Recht auf soziale Sicherheit) des internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte werden im 5. Staatenbericht der Bundesregierung die Regelungen zu den Sozialreformen der "Agenda 2010" dargelegt.

Der Ausschuss hatte bereits 2001 die Befürchtung, dass die Reform der sozialen Sicherungssysteme zur Benachteiligung von Personengruppen führen könnten und formulierte dementsprechend Besorgnis Nr. 23 und Empfehlung 41:

"Der Ausschuss ist besorgt darüber, dass das System der sozialen Sicherung nach seiner Reform und das in einem Reformprozess befindliche Rentensystem des Vertragsstaats die Bedürfnisse von Familien, Frauen, älteren Menschen und der benachteiligten Gruppen der Gesellschaft nicht ausreichend berücksichtigen. ... Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat nachdrücklich dazu auf sicherzustellen, dass das System der sozialen Sicherheit nach seiner Reform und das in einem Reformprozess befindliche Rentensystem die Lage und Bedürfnisse der benachteiligten und gefährdeten Gesellschaftsgruppen berücksichtigen." (S. 61)

Der Bericht geht auf diese Besorgnisse und Empfehlungen des Ausschusses nicht ein.

Da im Bericht der Bundesregierung weder die Frage nach dem Anlass der Reformen, noch die Frage nach den absehbaren bzw. bereits eingetretenen gesellschaftlichen Folgen der Reformen zureichend beantwortet wird, wollen wir das im Folgenden nachholen.

1. Das zentrale gesellschaftliche Problem in Deutschland ist nunmehr bereits seit Jahrzehnten eine tendenziell weiter steigende Massenarbeitslosigkeit: In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre waren etwa 1 Million Erwerbstätige arbeitslos, in den achtziger Jahren stieg ihre Zahl auf knapp 2,5 Million und nach der "Wiedervereinigung" Mitte der neunzigerjahre auf mehr als 3,5 Millionen. (Das sind die offiziellen Arbeitslosenzahlen der Statistik - unter Einberechnung der "stillen Reserve" d. h. der Menschen, die die Arbeitssuche nach längerer Erfolglosigkeit aufgegeben haben, und derjenigen, die zwar arbeitslos sind, aber aus verschiedenen Gründen nicht als arbeitslos gezählt werden, dürfte die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen um mindestens 20 bis 30 Prozent höher liegen).

Die wachsende Zahl von Arbeitslosen führte zu einer immer größeren Belastung der Sozialversicherungen, sowohl auf der Ausgaben- als auch auf der Einnahmenseite. Hinzu kommt, dass nicht zuletzt unter dem Einfluss der Massenarbeitslosigkeit das "Normalarbeitsverhältnis" erodiert - an die Stelle der "Vollzeitarbeit" treten "Teilzeitarbeit" und "Minijobs" und die Einnahmen der Sozialversicherung gehen zurück - sei es, weil die neuen Arbeitsverhältnisse nicht "sozialversicherungspflichtig" sind, sei es, weil die Arbeitnehmer weniger verdienen. So ist die anhaltende Arbeitslosigkeit nicht nur das gravierendste sozialpolitische Problem - sie schlägt auch finanzpolitisch und gesamtwirtschaftlich negativ zu Buche.

Bei steigenden Arbeitslosenzahlen ist soziale Sicherheit unvermeidlich mit wachsenden Ausgaben verbunden. Da sich um die Jahrhundertwende bereits die nächste Welle steigender Arbeitslosigkeit abzeichnete (siehe den 5. Staatenbericht der Bundesregierung: "Die Zahl der registrierten Arbeitslosen stieg von 2000 bis 2005 von 3,890 Mio. um 971.000 auf 4,861 Mio." S. 30), entschloss sich die damalige Bundesregierung das gesamte System der sozialen Sicherung auf den Prüfstand zu stellen.

Wenn bei den Sozialversicherungen die Einnahmen mit den Ausgaben nicht mehr Schritt halten, bleiben für die soziale Sicherung im Prinzip nur zwei Möglichkeiten: Man stellt die Finanzierung der Sicherungssysteme auf eine neue Grundlage, erschließt neue bzw. zusätzliche Quellen zur stabilen Finanzierung der Sozialversicherungen (dafür gab und gibt es zahlreiche gut fundierte Vorschläge und Erfahrungen in Vergleichsländern!) oder man baut die Leistungen der Sicherungssysteme ab.

Die Bundesregierung hat sich für den zweiten Weg entschieden. Damit folgte sie zugleich jener neoliberalen Doktrin, wonach Sozialausgaben für die "internationale Wettbewerbsfähigkeit" eines Landes nur von Schaden sein können. Die Konsequenzen sind verheerend, es droht die Gefahr, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung zu "Verlierern" der weiteren Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung in Deutschland wird.

2. Mit den "Reformen" der "Agenda 2010" wurde der größte Sozialabbau in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands eingeleitet und es wurde ein Paradigmenwechsel bezüglich der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland vollzogen, der weitreichende Folgen hat:

Während in den vorangehenden Jahrzehnten die Sicherungssysteme so ausgelegt waren, dass Arbeitnehmer bei Eintritt des "Risikofalles" ihr Lebensniveau ohne existenzbedrohende Abstriche über einen längeren Zeitraum erhalten konnten, werden sie jetzt rasch an die Armutsgrenze herangeführt. Gesellschaftliche Verantwortung reduziert sich für die wirtschaftlich und sozial Benachteiligten mehr und mehr auf Armenfürsorge. Suppenküchen, Kleiderkammern, Sozialkaufhäuser und Wärmestuben haben Hochkonjunktur.

Ein Ausdruck des Rückzuges des Staates aus sozialer Verantwortung, von zunehmender sozialer Ungleichheit und wachsender Armut ist die "Tafelbewegung": Überschüssige Lebensmittel werden eingesammelt und kostenlos an bedürftige Menschen und soziale Einrichtungen verteilt. Heute versorgen in der Bundesrepublik rund 800 Lebensmitteltafeln - etwa dreimal so viele wie noch im Jahre 2000 - fast eine Million Menschen mit dem Notwendigsten.

Betroffen von den Leistungskürzungen sind in erster Linie die Arbeitslosen selbst, in zweiter Linie die Beschäftigten, die durch den Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt und die gegenwärtige Arbeitsmarktpolitik zur Annahme prekärer und unterbezahlter, befristeter, ungeschützter Arbeitsverhältnisse gezwungen sind. So ist innerhalb eines Jahrzehnts der Niedriglohnsektor in Deutschland von 15 Prozent aller Beschäftigten auf 22 Prozent gestiegen - damit liegt Deutschland auf diesem Gebiet knapp hinter den USA und noch vor Großbritannien auf Platz 2 der OECD-Länder. Im Ergebnis der "Reformen" hat sich eine neue Schicht von Lohnabhängigen in Deutschland herausgebildet, die "working poor", wie wir sie in den 90er Jahren nur aus den angelsächsischen Ländern kannten.

Korrespondierend zum Niedriglohnsektor entwickelte sich die Teilzeitquote - weil es für die Unternehmen günstiger ist, werden immer mehr Beschäftigte in die Teilzeitbeschäftigung gedrängt: Waren es Mitte der neunziger Jahre etwa 15 Prozent aller Beschäftigten, so betrug 2007 die Teilzeitquote bereits 33,5 Prozent.

Niedriglohnsektor und Teilzeitarbeit werden z.T. vom Staat subventioniert: Liegt der Lohn unterhalb der Grundsicherung (Arbeitslosengeld II), kann der Arbeitnehmer einen Zuschuss vom Arbeitsamt erhalten. Damit werden Unternehmer regelrecht ermuntert, Mitarbeitern Löhne unterhalb des Existenzminimums zu zahlen - die betroffenen Arbeitnehmer können sich ja das zum Leben fehlende Geld vom Arbeitsamt holen.

Diese Entwicklung des Niedriglohnsektors in Deutschland wurde durch die Tatsache begünstigt, dass Deutschland eines der wenigen Länder in der Europäischen Union ist, die keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn haben.

3. Mit der Kürzung der Arbeitslosenunterstützung, der Verkürzung der Zeiträume, in denen überhaupt Arbeitslosengeld I gezahlt wird, und der Einführung des Arbeitslosengeldes II - einer Grundsicherung auf dem Niveau der Sozialhilfe - wurde ein gewaltiger Druck auf abhängig Beschäftigten erzeugt, Lohnverzicht zu üben, um den eigenen Arbeitsplatz um jeden Preis zu erhalten - denn Arbeitslosigkeit führt jetzt schnell in die Armut.

Es kann daher nicht verwundern, dass im Zeitraum von 2000 bis 2007 trotz eines konjunkturellen Aufschwungs und eines Wirtschaftswachstums um 8,5 Prozent die Reallöhne in Deutschland sanken. (In einem längerfristigen Vergleich der Europäischen Kommission stehen für den Zeitraum von 1995 bis 2004 einem Wachstum der Reallöhne in Großbritannien um 25,2 Prozent, in Frankreich um 8,4 Prozent ... in der "EU der 15" um 7,4 Prozent ein Reallohnverlust in Deutschland von 0,9 Prozent gegenüber).

Die "Reformen" der Bundesregierung leiteten eine beträchtliche Umverteilung "von unten nach oben" ein: Das auffallendste Merkmal der sozialökonomischen Entwicklung in der BRD im Zeitraum nach 2000 war die rasche Verschiebung beim Einkommen zwischen der Lohnquote und der Quote der Unternehmens- und Vermögenseinkommen - von 72,2 : 27,8 (2000) zu 64,6 : 35,4 (2007). Eine solche Verschiebung in der Verteilung des Volkseinkommens zu Gunsten der Unternehmer und Kapitaleigentümer hat es in der Geschichte der BRD noch nicht gegeben.

4. Durch Langzeitarbeitslosigkeit, Niedriglöhne und "Rentenreform" wurde der Grundstein für einen massiven Anstieg von Altersarmut in den nächsten Jahrzehnten gelegt - die Rentenansprüche von zunehmend mehr Neurentnern werden dann dank Niedriglohnsektor und immer wieder durch Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochenen Arbeitsbiografien - unterhalb des Sozialhilfeniveaus liegen, d. h. sie fallen in den Bereich der "Grundsicherung für Rentner", für die es sich erübrigt, eigene Rentenansprüche zu erwerben. Damit wird zugleich die staatliche Rentenversicherung so diskreditiert, dass künftig wachsende Teile der Bevölkerung sich weigern könnten, überhaupt noch in dieses Rentensystem einzuzahlen. Die staatliche Förderung privater "Eigenvorsorge" fürs Alter, mit der Verluste aus der Absenkung der staatlichen Rente ausgeglichen werden sollen, geht am Kern der Sache vorbei, weil dabei außer acht bleibt, dass es der Einkommensunterschicht schlichtweg an Einkommen mangelt, um eine solche private Vorsorge zu betreiben.

5. Letztlich ist es aber vor allem die "Mitte der Gesellschaft" - d. h. diejenigen, die mit ihrem Einkommen zwischen 70 und 150 Prozent des Durchschnittseinkommen liegen - die vom Paradigmenwechsel in den sozialen Sicherungssystemen betroffen sind: Die Oberschicht wird von den Sicherungssystemen nicht erfasst bzw. ist auf die Leistungen nicht angewiesen und die Unterschicht erhielt bereits bisher so geringe Leistungen, dass sie mit Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe und Grundsicherung für Rentner nicht wesentlich schlechter gestellt ist, als bisher. So ist es keineswegs überraschend, dass die Mittelschicht, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung vor dem Jahre 2000 lange Zeit relativ konstant zwischen 64 und 62 Prozent der Gesamtbevölkerung lag, von 2000 bis 2006 um ca. fünf Millionen Personen auf ein Anteil von 54 Prozent zurückging, während die Unterschicht um sieben Prozentpunkte wuchs. Der soziale Abstieg eines zunehmenden Teils der Mittelschicht war und ist mit den Maßnahmen des Abbaus der sozialen Sicherungssysteme programmiert. (Vgl.: Wochenbericht 10/2008, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung)

Auch die Gewerkschaften weisen nachdrücklich auf die zunehmende Tendenz der Polarisierung von arm und reich hin: Das reichste Zehntel der Bevölkerung konnte sein Einkommen im Zeitraum von 2000-2008 um 18 Prozent steigern, während das ärmste Zehntel einen Verlust um 18 Prozent hinnehmen musste. Auch die Polarisierung beim Vermögen dürfte dadurch weiter verfestigt werden obwohl über den Reichtum in der Gesellschaft in Deutschland nur relativ ungenaue Daten vorliegen, kann man davon ausgehen, das 60 Prozent des privaten Nettovermögens in Deutschland sich in den Händen des einkommensstärksten Zehntels der Bevölkerung befinden, während die untere Hälfte auf der Einkommensskala über kein nennenswertes Vermögen verfügt. Der Staat und die Politik sind gefordert, der Polarisierung von Einkommen und Vermögen entgegen zu wirken, für mehr sozialen Ausgleich zu sorgen und neue Konzepte zur Bekämpfung der Armut in Deutschland zu entwickeln und umzusetzen. Angesichts der desolaten Lage auf dem Arbeitsmarkt ist es höchste Zeit, die "Reformen" zum Abbau des Sozialstaates durch Reformen zum Ausbau des Sozialstaates zu ersetzen, um so der sozialen Spaltung der Gesellschaft entgegen zu wirken.

6. Die Eingangs zitierte Empfehlung Nr. 45 (S. 76) des Ausschusses zielte darauf ab, "eine Armutsgrenze für das Bundesgebiet festzulegen", um "zu gewährleisten, dass die im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes geleistete Sozialhilfe einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht." Unter Hinweis auf die Komplexität des Armutsbegriffes weigert sich die 2009 abgelöste Regierung, eine solche Grenze zu bestimmen. Sie folgte damit einer langjährigen Tradition Deutscher Regierungen. So erklärte die Regierung 1986 auf eine entsprechende Anfrage im Bundestag: "Der Begriff der Armut entzieht sich wegen seiner Vielschichtigkeit einer allgemeingültigen Definition." Und die gleiche Antwort erhielt 1995 die SPD auf ihre diesbezügliche Anfrage im Deutschen Parlament. Auf der Grundlage des gesellschaftlichen Durchschnitts bestimmte Einkommensgrenzen festzulegen, führe zu keinem sinnvollen Armutsmaß, "denn die 50-Prozent-Schwelle (gleiches gilt für 40- bzw. 60-Prozent-Schwellen) misst keine Armut (Einkommensarmut) oder Not, sie misst vielmehr Ungleichheiten bezogen auf einen variablen Parameter (durchschnittlich verfügbares Einkommen)." ("Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage ... der SPD Armut in der Bundesrepublik Deutschland" Bundestag Drucksache 13/3339 vom 28.11.1995, S. 2)

Offenbar gibt es nach Meinung bundesdeutscher Regierungen unterschiedlichen Couleurs in Deutschland keine "Armen", sondern nur "Menschen, mit einem erhöhten Armutsrisiko", denn die Armut wird mit Sozialhilfen verhindert. (Mit dem Sozialgesetzbuch XII "verfügt die Bundesrepublik Deutschland über einen breiten Katalog von Instrumenten, die die Führung eines Lebens ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht, sowie Armut und soziale Ausgrenzung verhindern." - Antwort auf Empfehlung Nr. 45, S. 76/77).

Diese an den gesellschaftlichen Realitäten vorbeigehende Position ist für eine Regierung sehr bequem. Damit kann sie begründen, warum in Deutschland zusätzliche Anstrengungen zur Bekämpfung von Armut und ihrer Ursachen nicht notwendig sind - etwas, was es nicht gibt, braucht man nicht zu bekämpfen. Ferner: Eine Definition der Armutsgrenze würde den unterhalb der Grenze Befindlichen das Recht geben, zusätzliche Hilfen einzuklagen. In dieser Situation befinden sich jene 7,3 Mio. (2007) Bezieher der "Grundsicherung für Arbeitssuchende" (ALG II), bei denen die Sozialleistungen nach Berechnung von Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen nicht annähernd das soziale Existenzminimum abdecken. Und in dieser Situation wird sich in wenigen Jahren zusätzlich ein beträchtlicher Teil von (Neu-)Rentnern wiederfinden, die auf die "Grundsicherung für Rentner" angewiesen sein werden. Unsere Empfehlung an den Ausschuss geht dahin, nichts unversucht zu lassen, damit sich die Bundesregierung den sozialen Realitäten in Deutschland stellen muss.


II. Verwandlung der neuen Bundesländer in ein "Mezzogiorno"

Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hatte in der Vergangenheit schon mehrfach Gelegenheit genommen, größere Anstrengungen zur Angleichung der Lebensbedingungen in Ostdeutschland an die Lebensbedingungen in Westdeutschland anzumahnen. Auch bei der Behandlung des vierten Staatenbericht greift er dieses Thema explizit bei der Behandlung des Artikels 6 - Recht auf Arbeit - und des Artikels 7 - Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen - auf:

"Der Ausschuss bringt seine Besorgnis über die weiterhin hohe Arbeitslosigkeit in dem Vertragsstaat, insbesondere unter Jugendlichen, zum Ausdruck. Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit ist in den neuen Bundesländern besonders gravierend und führt dazu, dass junge Menschen in die alten Bundesländer ziehen ... "

"Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat notwendige Sofortmaßnahmen einzuleiten, um der hohen Arbeitslosigkeit zu begegnen, vor allem der Jugendarbeitslosigkeit und besonders in den Bundesländern, die mit hoher Arbeitslosigkeit konfrontiert sind. Des weiteren empfiehlt der Ausschuss dem Vertragsstaat Anreize für junge Menschen zu schaffen, dass diese in ihrer Region bleiben und dort arbeiten." (Besorgnis Nr 18, Empfehlung Nr. 36).

1. In ihrer Antwort erläutert die Bundesregierung die Lage auf dem Arbeitsmarkt und eine Reihe von Maßnahmen, die zur Verbesserung der Lage beitragen sollen. Hinweise auf Sofortmaßnahmen in den Bundesländern, die besonders von hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind, und Anreize für Jugendliche, in ihrer Region zu bleiben, sucht man vergebens. Wie überhaupt die neuen Bundesländer in dieser Antwort nur am Rande vorkommen. Warum das so ist, wird bereits in den ersten Absätzen der Antwort deutlich: "Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist in Deutschland auch Jahre nach der Wiedervereinigung noch schwierig. Der wirtschaftliche Aufholprozess der neuen Bundesländer ist seit einigen Jahren ins Stocken geraten. Während die Gesellschaft langsam aber sicher zusammenwächst, ist die wirtschaftliche Lage im Osten Deutschlands immer noch deutlich schwieriger als auf dem Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschlands. Dabei zeigt sich aber, dass es im Osten Deutschlands zusehends Wachstumszentren gibt, während sich im Westen einige Problemregionen herausbilden, in denen die Arbeitslosigkeit zum Teil fast so hoch ist wie im ostdeutschen Durchschnitt.

Wegen dieser Entwicklung und der mittlerweile nach der Wiedervereinigung vergangenen Zeit macht eine weitere Differenzierung Deutschlands in alte und neue Bundesländer nur noch eingeschränkt Sinn ­..." (?!) (S. 29/30) Die Antwort von S. 30 wird auf Seite 34 noch einmal bekräftigt: Es gibt in Bezug auf die Arbeitslosigkeit große "Disparitäten" in Ost und in West.

Ist sich der Berichterstatter des Widerspruchs bewusst, den er selbst formuliert hat? "Der Aufholprozess ist ins Stocken geraten" und "die wirtschaftliche Lage im Osten ist deutlich schwieriger" wieso macht dann "eine weitere Differenzierung Deutschlands nach Ost und West" nur noch "eingeschränkt Sinn"?

Dieser Sicht der Regierung muss entschieden widersprochen werden: Eine Vielzahl von Studien belegen, dass es in den neuen Bundesländern übergreifende Probleme und Defizite gibt, durch die der Abstand zu den alten Ländern nicht abgebaut, sondern zum Teil sogar vergrößert wird: Ohne spezifische Lösungen in der Wirtschafts- und Strukturpolitik, in der Bevölkerungspolitik und auch beim weiteren Finanzausgleich wird das Zurückbleiben Ostdeutschlands in ökonomischer Hinsicht noch über Jahrzehnte hinweg andauern, denn die zunehmende Differenzierung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse in den neuen Ländern vollzieht sich auf einem anderen Niveau als gleiche Entwicklungen im Westen Deutschland.

Die Diskrepanzen zwischen den "Flächenländern" in Ost und West - Die "Stadtstaaten" Berlin, Hamburg und Bremen blieben wegen ihrer Spezifik außen vor - zeigen die folgende Tabellen aus "Umbruch - Beiträge zur sozialen Transformation ..." vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V. Bd. 24:

Die Arbeitslosenquote lag im Mai 2009 in Deutschland bei 8,2 Prozent.

Sachsen-Anhalt
Mecklenburg-Vorpommern
Sachsen
Brandenburg
Thüringen
14,0 %
13,6 %
13,3 %
12,9 %
11,8 %
Nordrhein-Westfalen
Saarland
Niedersachsen
Schleswig-Holstein
Hessen
Rheinland-Pfalz
Baden-Württemberg
Bayern
9,0 %
7,8 %
7,7 %
7,7 %
7,0 %
6,2 %
5,1 %
4,7 %

Das durchschnittliche Arbeitnehmerentgelt je Arbeitsstunde betrug 2008 25,27 Euro

Brandenburg
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Mecklenburg-Vorpommern
Thüringen
19,85 €
19,69 €
19,25 €
19,22 €
19,13 €
Baden-Württemberg
Hessen
Bayern
Nordrhein-Westfalen
Rheinland-Pfalz
Saarland
Niedersachsen
Schleswig-Holstein
27,67 €
27,65 €
26,66 €
26,07 €
25,33 €
25,19 €
24,73 €
23,45 €

Die "Armutsgefährdungsquote" lag in Deutschland 2007 bei 11,7 Prozent

Mecklenburg-Vorpommern
Sachsen-Anhalt
Sachsen
Thüringen
Brandenburg
21,4 %
20,3 %
19,1 %
18,9 %
17,0 %
Saarland
Nordrhein-Westfalen
Niedersachsen
Rheinland-Pfalz
Schleswig-Holstein
Hessen
Bayern
Baden-Württemberg
13,9 %
11,5 %
11,0 %
9,8 %
9,6 %
8,9 %
8,6 %
8,0 %

Warum liegen die Arbeitslosenquoten in den neuen Ländern nach fast zwanzig Jahren der Einheit bei nahezu dem Doppelten westdeutscher Länder? Warum liegt das Arbeitnehmerentgelt in den neuen Ländern erst bei etwa 75 Prozent Westdeutschlands, obwohl die Lebenshaltungskosten in Ost und West nahezu gleich sind? Warum sind in den ostdeutschen Ländern prozentual fast doppelt so viele Menschen "armutsgefährdet", wie in Westdeutschland?

2. Bei der Erläuterung der Situation auf dem Arbeitsmarkt durch die Bundesregierung fällt auf, dass bis auf eine Ausnahme statistische Daten der Jahre 2000 bis 2005 herangezogen werden. Die Ausnahme betrifft die Jugendarbeitslosigkeit - hier werden Daten der Jahre 1998 bzw. 1997 und 2004 gegenübergestellt:

"Bis zum Jahr 2004 konnte die Arbeitslosenquote der Jugendlichen unter 25 Jahren ... auf 9,9 Prozent reduziert werden, wobei sie im Bundesgebiet Ost nach dem Spitzenwert von 17,4 Prozent im Jahre 1998 auf 16,2 Prozent im Jahre 2004 gesunken ist, im Bundesgebiet West dagegen vom Höchstwert des Jahres 1997 von 10,9 Prozent auf eine Quote von 8,1 Prozent im Jahr 2004." (S. 32)

Warum wurden hier die Zahlen von 2004 und nicht die Zahlen des Jahres 2005 benutzt, wie bei den anderen Arbeitsmarktdaten? Etwa weil es von 2004 zu 2005 einen kräftigen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit gegeben hat, die dieser "Erfolgsmeldung" den Boden unter den Füßen weggezogen hätte? Jugendarbeitslosigkeit 2005: Ost 19,2 Prozent - Jugendarbeitslosigkeit West 10,5 Prozent. Die folgende Tabelle über die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in den Jahren 2001 bis 2005 zeigt, dass die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen zur Einschränkung der Jugendarbeitslosigkeit besonders in Ostdeutschland nicht sonderlich erfolgreich waren:

Jugendarbeitslosenquoten

2001
2002
2003
2004
2005
Deutschland
Alte Bundesländer
Neue Bundesländer
9,1 %
7,1 %
16,4 %
9,7 %
7,8 %
16,4 %
9,9 %
8,1 %
16,1 %
9,9 %
8,1 %
16,2 %
12,4 %
10,5 %
19,2 %

(Sicher könnte sich die Bundesregierung darauf berufen, dass der Anstieg 2005 auf einen Rückgang der Dunkelziffer bei der Jugendarbeitslosigkeit zurückzuführen ist - 2005 trat "Hartz IV" in Kraft - aber sie hätte damit nichts gewonnen, denn der Wert von 2005 liegt über dem Spitzenwert von 1998 und zeugt so in jedem Falle zwar nicht unbedingt von der Tatenlosigkeit, so doch zumindest von der Wirkungslosigkeit der von der Regierung gegen Jugendarbeitslosigkeit ergriffenen Maßnahmen.)

Der auf Seite 32 folgende Hinweis, dass "im europäischen Vergleich ... die Arbeitslosigkeit Jugendlicher in Deutschland relativ gering (ist)", ist sicher richtig - nur die Bezugnahme auf andere Länder entlastet nicht die Bundesrepublik: Ist Massenarbeitslosigkeit ein gesellschaftliches Problem, so ist Jugendarbeitslosigkeit ein politischer Skandal jungen Menschen kann damit in der Phase ihres Einstiegs in das Arbeitsleben eine Prägung mit auf den Weg gegeben werden, die sie ihr Leben lang begleiten wird.

3. Bedingungen für gleichwertige Lebensverhältnisse in Ostdeutschland zu schaffen, greift der Ausschuss noch einmal in Verbindung mit Artikel 7 "Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen" des Internationalen Paktes für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auf:

"Der Ausschuss ist besorgt darüber, dass trotz der großen Bemühungen des Vertragsstaates um eine Verringerung der Unterschiede Zwischen den alten und den neuen Bundesländern weiterhin große Differenzen bestehen, insbesondere in Form von allgemein geringeren Lebensstandards, höherer Arbeitslosigkeit und geringerer Vergütung für Staatsbedienstete in den neuen Bundesländern". (Besorgnis Nr. 17)

"Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat zur weiteren Verfolgung von Maßnahmen zur Verringerung der Unterschiede zwischen den neuen und alten Bundesländern hinsichtlich des Lebensstandards, der Beschäftigung und der Vergütung von Staatsbediensteten auf" (Empfehlung Nr. 35)

Bezüglich der Vergütung im öffentlichen Dienst teilt die Bundesregierung mit, dass dieses Problem z. T. bereits gelöst ist und sich ansonsten auf dem Wege der Lösung befindet. (S. 38/39) Sie greift noch eine Einzelfrage heraus: Die Höhe des aktuellen Rentenwertes Ost - er liegt nach Auskunft der Regierung bei 88 Prozent des Westwertes - und teilt mit: "Die Angleichung der Renten in den neuen Ländern ist von der Angleichung der Löhne und der Einkommen der aktiv Beschäftigten abhängig." (S. 39) Das ist ganz offenkundig eine Diskriminierung der ostdeutschen Bevölkerung, denn Lohn- und Einkommensunterschiede gibt es auch zwischen westdeutschen Ländern, ohne das sich das im Rentenwert etwa in Bayern oder Schleswig-Holstein niederschlägt - alle westdeutschen Länder haben den gleichen Rentenwert. Mit welchem Recht wird fast zwanzig Jahre nach der Einheit Deutschlands der ostdeutschen Bevölkerung die längst überfällige Angleichung der Rentenwerte verweigert?

4. Getreu der Feststellung auf S. 30 - "eine weitere Differenzierung Deutschlands in alte und neue Bundesländer (macht) nur noch eingeschränkt Sinn" geht die Bundesregierung auf die vom Ausschuss in Empfehlung 35 erhobene Forderung, stärkere Anstrengungen zur Angleichung des Lebensstandards und zur Senkung der Arbeitslosigkeit auf "Westniveau" in den neuen Bundesländern zu machen, nicht ein.

Da die Bundesregierung die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der Situation in Ost und West in Zweifel zieht, bietet es sich an, eine kurze Betrachtung der Ursachen des Zurückbleibens in Ostdeutschland, der aktuellen Situation der Lebensverhältnisse und möglicher Ansatzpunkte für das Herauskommen aus dieser Situation anzufügen:

1990 gab es in Deutschland die Vorstellung, dass es nach dem Anschluss der DDR an die BRD zu einem ähnlichen Wirtschaftsaufschwung in Ostdeutschland kommen könnte, wie in der Phase des "Wirtschaftswunders" nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland - der Bundeskanzler versprach dementsprechend für Ostdeutschland zu diesem Zeitpunkt "blühende Landschaften". Warum haben sich die Erwartungen nicht erfüllt?

Dafür gibt es sowohl objektive als auch subjektive Grunde - zu den wichtigsten objektiven Gründen gehört, dass in der BRD zu diesem Zeitpunkt die industrielle Entwicklung bereits ihren Zenit überschritten hatte: Mit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre setzte ein Strukturwandel ein, den man, etwas vereinfacht, als "Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft" beschreiben kann. Die Zahl der in der Industrie Beschäftigten ging von etwa 13 Mio. in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auf 8,5 Mio. in den achtziger Jahren zurück, schnellte 1991 mit dem Anschluss der DDR noch einmal vorübergehend etwas nach oben, um dann nach der Jahrhundertwende auf ca. 7,5 Mio. zu fallen ... damit ging der Anteil der in der Industrie Beschäftigten an den Gesamtbeschäftigten von etwa 50 Prozent auf nunmehr etwa 20 Prozent zurück. Dieser Strukturwandel wurde von einem Rückgang des Wirtschaftswachstums begleitet. Lag das jährliche Wachstum in den sechzigerjahren im Durchschnitt bei 4,4 Prozent, so in den siebziger Jahren bei 2,7 Prozent und in den achtziger Jahren bei 2,3 Prozent, und im Durchschnitt der folgenden Jahrzehnte wurden 2 Prozent nicht mehr übertroffen. Das Ergebnis war eine zunehmende Härte des Konkurrenzkampfes. In zahlreichen Wirtschaftsbereichen konnten Unternehmen ihren Marktanteil nur noch dadurch vergrößern, dass sie Konkurrenten aus dem Wege räumten. Ein harter Verdrängungswettbewerb setzte ein. Im Ergebnis breiteten sich Langzeit- und Massenarbeitslosigkeit aus.

In diesem Prozess darauf zu setzen, dass es im "Anschlussgebiet Ost" zu einem zweiten "Deutschen Wirtschaftswunder" kommen könnte, war mehr als illusionär.

Zum Zeitpunk der Angliederung der DDR an die BRD fehlte es nicht an warnenden Stimmen, die voraussagten, dass, wenn man die wirtschaftliche Vereinigung vorrangig den Interessen des westdeutschen Großkapitals unterordnet, es zur Herausbildung eines zweiten "Mezzogiorno" in Europa führen wird - d. h., vergleichbar mit der Rolle Süditaliens für die Wirtschaft des Landes -, wird eine große Region Deutschlands, die vormalige DDR, von der "normalen" Wirtschaftsentwicklung des Landes abgekoppelt. Sie wird zu einem Notstandsgebiet, das auf unabsehbare Zeiten am Tropf von Transferleistungen anderer Teile Deutschlands hängt.

Heute, zwanzig Jahre nach der Angliederung der DDR, sind diese Voraussagen weitgehend zur Realität geworden. Das Interesse der westdeutschen Unternehmen im Vereinigungsprozess war darauf gerichtet, neue Märkte zu gewinnen, mögliche ostdeutsche Konkurrenten zu zerschlagen und verwertbare wirtschaftliche Potenziale den eigenen Unternehmen einzuverleiben. Der technische Rückstand in zahlreichen Industriezweigen der DDR und die unzureichende Konkurrenzfähigkeit der "Volkseigenen Betriebe" begünstigten die "Flurbereinigung" durch das westdeutsche Kapital, unterstützt und vorangetrieben durch die so genannte Treuhandanstalt, deren wichtigster Auftrag darin bestand, das "Volkseigentum" so rasch, wie möglich zu liquidieren. (Gewichtet mit den Mitarbeiterzahlen gingen 85 Prozent der von der Treuhandanstalt "privatisierten" Betriebe an westdeutsche Eigentümer, 10 Prozent an ausländische Eigentümer, nur 5 Prozent an Ostdeutsche - vorwiegend Klein- und Kleinstbetriebe, durch ehemals leitende Mitarbeiter in "management buy out" - Verfahren übernommen.)

Der durch diese Strategie verursachte ökonomische Absturz war verheerend, die gesamtwirtschaftliche Leistung Ostdeutschlands ging 1990/91 um 30 Prozent zurück, der Einbruch der Industrie betrug 60 Prozent, die Zahl der Erwerbstätigen sank von 8,9 Mio. 1989 auf 5,8 Mio. 1993 - die ostdeutsche Wirtschaft ging nicht vor 1990 sondern nach 1990 in den Konkurs. Es wird jetzt immer auf die größte Krise in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bezuggenommen - Ostdeutschland hat bereits eine unvergleichlich schwerere Krise hinter sich: Dieser Absturz war in seinen Dimensionen für Ostdeutschland nur vergleichbar mit dem wirtschaftlichen Niedergang zum Ende des Zweiten Weltkrieges und in der Zeit unmittelbar danach.

Obwohl bis zur Mitte der neunzigerjahre ein wirtschaftlicher Aufholprozess zu verzeichnen war in dieser Zeit wurde vor allem die Infrastruktur Ostdeutschlands rekonstruiert - muss man sagen, dass es kein wirksames Konzept der nachhaltigen Heranführung der Wirtschaftskraft und der Lebensverhältnisse in den Ostdeutschen Ländern an das Niveau Westdeutschlands gab. Und es gibt ein solches Konzept auch heute nicht. Die Rückstände bei Löhnen, Renten, im Steueraufkommen und in der Wirtschaftsleistung der Unternehmen pro Kopf liegen seit zehn Jahren nahezu konstant bei 20 Prozent und mehr gegenüber Westdeutschland. "Statt eines Wirtschaftswunders ist ein zweites Mezzogiorno in Europa entstanden, eine lahmende Wirtschaftsregion, die es nicht schafft, an die besser entwickelten Regionen des Landes Anschluss zu finden." (Hans Werner Sinn, Präsident des ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts München)

5. Die finanziellen Transferleistungen aus Westdeutschland lagen zwischen 1991 und 2005 bei etwa 100 Mrd. Euro jährlich - eine gigantische Summe. Aber mehr als zwei Drittel dieser Mittel mussten auf Grund des zu geringen Steuer- und Abgabenaufkommens in Ostdeutschland für gesetzlich vorgeschriebene Sozialleistungen und für den Unterhalt der öffentlichen Hand eingesetzt werden, knapp 20 Prozent flossen in die Rekonstruktion und den Ausbau der Infrastruktur, nur etwa 10 Prozent wurden für die Wirtschaftsförderung direkt eingesetzt, d. h. die Masse der für Investitionen verfügbaren Transferleistungen floss in "Beton" und nicht in "Arbeitsplätze".

Während die neuen Bundesländern bei Neubauten bis 2003 "die Nase vorn hatten", erst wieder 2005/2006 von den alten Bundesländern überholt wurden, hatten die alten Bundesländer seit 1997 z. T. beträchtlich höhere Ausrüstungsinvestitionen pro Kopf zu verzeichnen (der Spitzenwert lag 2006 bei über 150 Prozent des Wertes in den neuen Bundesländer).


Investitionen aller Wirtschaftsbereiche je Einwohner
(Ost-West-Vergleich in Euro)
Neubauten
1995
1997
1999
2001
2003
2005
2006
Neue Bundesländer
Alte Bundesländer
5100
2800
4600
2600
3900
2800
3000
2800
2700
2600
2450
2490
2410
2760
Ausrüstungen und sonstige Anlagen
Neue Bundesländer
Alte Bundesländer
2000
1900
1900
2000
2200
2400
1900
2700
1500
2500
1670
2620
1870
2840

(Vgl. "Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit" 2009)


Die westdeutsche Industrie achtete sorgfältig darauf, dass ihr aus der staatlichen Förderung Ost keine Konkurrenz erwuchs. Da die an sich schon zu geringen Fördermittel für den Ausbau der Wirtschaft dann auch noch über lange Zeit nach dem "Gießkannenprinzip" verteilt wurden, blieb ihre Wirkung sehr begrenzt.

Die "Deindustrialisierung" Anfang der neunziger Jahre zementierte den Rückstand Ostdeutschlands in ökonomischer und sozialer Hinsicht und die letztlich daraus resultierende Abwanderung eines bedeutenden Teils der qualifizierten jugendlichen Bevölkerung ist kaum mehr zu korrigieren. In einer Studie der Deutschen Bank von 2004 - "Perspektiven Ostdeutschlands - 15 Jahre danach" wird festgestellt, dass die neuen Länder "aufgrund einer Reihe kaum änderbarer Faktoren zukünftig nicht die wirtschaftliche Dynamik entfalten können, die ihnen einen Anschluss an die westlichen Länder sichern würde." Zu diesen Faktoren gehören neben den demografischen Bedingungen vor allem die Ausgangsbedingungen im Jahre 1990 und falsche Weichenstellungen im Prozess der wirtschaftlichen Wiedervereinigung.

Die "demografische Falle" wird jetzt zum größten Hindernis für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung und für die Angleichung der Lebensverhältnisse Ost und West die "Auswanderer" sind mehrheitlich jung, weiblich (der Frauenanteil beträgt 63 %) und qualifiziert. Ostdeutschland hat im Zeitraum zwischen 1989 und 2007 nicht nur mehr als 1,5 Mio. (etwa 10 %) seiner Einwohner verloren - es wurde zugleich der Grundstein für sinkende Geburtenraten in der Zukunft gelegt. (Der Verlust an jungen Fachkräften, darunter insbesondere Frauen im gebärfähigen Alter, ist wesentlich höher, als im Rückgang der Wohnbevölkerung in Höhe von 1,5 Millionen zum Ausdruck kommt ein Teil des Abganges an Jugendlichen wird im Saldo verdeckt durch Zuwanderungen mittleren Alters aus Westdeutschland).

Die Faktoren, die zur Überalterung und zum Schrumpfen der Bevölkerungszahlen führen, verstärken sich wechselseitig - die Perspektivlosigkeit in zahlreichen Gebieten Ostdeutschlands führt zur Abwanderung vorwiegend jüngerer Menschen und die Abwanderung wiederum verstärkt die Perspektivlosigkeit. Fachkräftemangel macht sich in verschiedenen Orten bemerkbar und schon heute liegt das Durchschnittsalter der Bevölkerung in jedem der neuen Bundesländer höher, als in jedem alten Bundesland.

Alle neuen Bundesländer weisen für den Zeitraum von 1991 bis 2008 rückläufige Bevölkerungszahlen auf - im Gegensatz zu den alten Bundesländern, die mit Ausnahme Bremens und des Saarlandes von der Migration profitierten und in diesem Zeitraum Bevölkerungszuwachs zwischen 3,1 Prozent (Nordrhein-Westfalen) und 8,6 Prozent (Baden-Württemberg und Bayern) verbuchen konnten. Die Abwanderung hält bis in die jüngste Zeit unvermindert an: 2007 zogen 138 100 Menschen von Ostdeutschland nach Westdeutschland, 2008 waren es 136 500. Bis 2020 geht die Projektion des Statistischen Bundesamtes von einem weiteren Rückgang der Bevölkerung in den neuen Bundesländern von 1,3 Mio. aus.

Trotz Rückgang des Potenzials im arbeitsfähigen Alter blieb die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländer weiterhin sehr hoch. Noch negativer wird die Bilanz wenn man berücksichtigt, dass es per Saldo 400.000 regelmäßige Pendlerinnen und Pendler gibt, die ihren Arbeitsplatz in Westdeutschland oder im Ausland haben.

Mit der Migration haben die an sich schon schweren strukturellen Defizite Ostdeutschlands einen neuen Höhepunkt erreicht - sie dürften nunmehr irreparabel sein.Was bleibt, sind partielle Verbesserungen, nicht ausreichend, um einen selbsttragenden "Wirtschaftsaufschwung Ost" herbeizuführen.

6. Aber man kann ein Gebiet, dass etwa ein Viertel der Fläche und (noch) ein Sechstel der Bevölkerung Deutschlands umfasst, nicht einfach aufgeben! Man muss, jenseits des Zweckoptimismus und der Illusionen, die die Bundesregierung verbreitet, nach neuen Wegen der wirtschaftlichen Sanierung und der sozialökonomischen Entwicklung suchen. Im Grunde ist der "Aufbau Ost als Nachbau West" gescheitert - herausgekommen ist eine Dependenzwirtschaft Westdeutschlands, bei der viele Unternehmen nur als "verlängerte Werkbänke"westdeutscher Großbetriebe überleben konnten. (In gewisser Weise ist eine "Erfolgsmeldung", die in den letzten Wochen durch die Presse ging, symptomatisch für die Situation: Das ostdeutsche Traditionsunternehmen "Pentagon" hat im Jahr 2008 590.000 Kameras vom Typ "Praktika" weltweit verkauft - was nicht in der Meldung stand: diese Kameras werden ausnahmslos und komplett in Asien gefertigt und die Pentagon GmbH, die nach wie vor ihren Sitz in Dresden hat, befindet sich nicht mehr in ostdeutschem Eigentum - sie ist ein Filialbetrieb der renommierten Westdeutschen optischen Werke Schneider mit Sitz in Bad Kreuznach). Mit einer solchen Wirtschaft sind die ökonomischen Rückstände in den neuen Bundesländern nicht aufzuholen. Trotzdem wurden in den vergangenen fast zwanzig Jahren verschiedene Ansatzpunkte für eine erfolgversprechende Ökonomische Entwicklung sichtbar:

- Entwicklung regionaler Wirtschaftskreisläufe, um die Vorteile der Kooperation von Unternehmen vor Ort erfolgreich zur Geltung zu bringen. Das bietet sich vor allem in konsumnahen Wirtschaftszweigen an - Handwerk, Dienstleistungen für die Bevölkerung und die Kommunen, Produkte und Dienstleistungen für den Tourismus in den neuen Bundesländern, verbunden mit dem Ausbau touristischer Zentren in den Mittelgebirgen und an der Ostseeküste, u. a. m.;

- Investitionen in Unternehmen, deren Tätigkeit auf Zukunftsmärkte ausgerichtet ist, etwa alternative Energiequellen, wie Wind- und Solarenergie,Technologien zum rationelleren Umgang mit Energieträgern und Rohstoffen, für Energie- und Rohstoffeinsparungen;in diesen Bereich fallen viele Neuentwicklungen, etwa der Nanotechnologie, der Optoelektronik, der Biotechnologie, der Entwicklung und Produktion neuer Werkstoffe. Ostdeutschland könnte bei entsprechender Förderung und einem konzentrierten Einsatz von Mitteln Zentren für das Angebot von Technologien, Produkten und Dienstleistungen für den Umweltschutz und die Umstellung der Wirtschaft auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad aufbauen;

- Unternehmen, die für innovative Produkte die Netzwerke wissenschaftlicher Einrichtungen vor Ort nutzen können und die Ausbildung von "Clustern" miteinander und mit wissenschaftlich- technischen Einrichtungen verbundener Produktionen, für die insbesondere in den Universitätsstädten gute Voraussetzungen bestehen bzw. geschaffen werden können.

- Im Vordergrund stehen die eigenständige Entwicklung und der Einsatz neuer Produkte und neuer Technologien, da die Märkte in den "klassischen" Bereichen der Industrie unter bestehende Unternehmen zumeist weitgehend aufgeteilt sind und neu gegründete Unternehmen in dem harten Verdrängungswettbewerb in der Regel schlechte Karten haben (Die Vorstellung, in althergebrachte Produktionen mit Hilfe der niedrigeren Löhne in Ostdeutschland einsteigen zu können, ist in den seltensten Fällen aufgegangen - in der Regel gibt es immer noch Länder, in denen die Löhne noch niedriger sind ...).

- Die Entwicklung neuer Formen von Dienstleistungen der Daseinsvorsorge in Gebieten mit ausgedünnter und überalterter Bevölkerung - wie es überhaupt gilt, den ganzen Ideenreichtum für die bessere Befriedigung der rasch wachsenden Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen nutzbar zu machen.

- Mehr Investitionen in Bildung und Wissenschaft, in die Ausbildung hochqualifizierter Fachleute als Voraussetzung, um Unternehmen mit hohen Innovativen Ansprüchen zur Ansiedlung zu gewinnen.

Mit solchen Strategien starten zu wollen, setzt eine dementsprechende zwischen interessierten Ländern und Kommunen abgestimmte Strukturpolitik und den konzentrierten Einsatz von Mittel voraus. Die Vorstellung, dass "der Markt alles richten wird" führt in die Irre - ohne staatliches Engagement in neuen Dimensionen sind Defizite, wie in Ostdeutschland, nicht zu überwinden. Solche Strategien könnten vielleicht auch die Grundlage abgeben, eines der schwersten Handikaps der ostdeutschen Wirtschaft anzugehen: die Ansiedlung von Großunternehmen, Konzernzentralen mit ihren Marketingabteilungen und ihrem Forschungs- und Entwicklungspotenzial - derzeit befinden sich deutsche Konzernzentralen, wie auch die entsprechenden Großbetriebe nahezu ausschließlich in Westdeutschland.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- 20 Jahre danach - die Spur des Volkseigentums
- 20 Jahre danach: Erinnerung - Es gab mal Kranbauer

Raute

Fakten und Meinungen

Armin Fiand

Offener Brief

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Sie haben am 09. Oktober 2009 im Gewandhaus in Leipzig anlässlich des Festaktes "20 Jahre Friedliche Revolution" eine Rede gehalten. In dieser Rede haben Sie ausgeführt:

"Als Pfarrer Christian Führer am 9. Oktober 1989 nach dem allwöchentlichen Montagsgebet die Türen der Nikolaikirche öffnete, da war der Vorplatz schwarz vor Menschen ... Da waren 70.000. Sie mussten mit dem Schlimmsten rechnen, denn es gab klare Drohungen. Zeugenaussagen und Dokumente belegen: In den Betrieben wurden die Belegschaften angewiesen, die Innenstadt zu meiden, denn da werde Blut fließen. In den Schulen wurde den Kindern gesagt: Geht nicht in die Stadt heute, da könnte "etwas Schlimmes" passieren. Das Wort von der "chinesischen Lösung" machte die Runde - vom Massaker auf dem Tiananmen-Platz. Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt."

Diese Darstellung zur Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 ist unrichtig. Der Mitteldeutsche Rundfunk hat darauf hingewiesen, dass es nach seinen Recherchen weder Panzer vor der Stadt gegeben habe, noch seien Blutplasma oder Leichensäcke bereitgestellt worden. Der Bundespräsident habe seine Angaben wahrscheinlich aus einem bekannten Buch, das teils falsche Fakten nenne, sagte der Leiter der Feature-Redaktion beim MDR-Hörfunk, Ulf Köhler. Seine Redaktion habe die Befehls-Akten der DDR-Machthaber aus dem Herbst 1989 studiert.

Ich verstehe nicht, wie die Abteilung in Ihrem Hause, die Ihre Reden vorbereitet, dazu kommt, Ihnen falsches oder unvollständiges Material vorzulegen. Sicherlich sitzen dort hoch bezahlte Leute, die eigentlich über ein Niveau verfügen sollten, das über das der politischen Kampfschreiber bei der BILD-Zeitung hinausgeht. Warum haben Ihre Redenschreiber nicht sorgfältiger recherchiert? Es dürfte doch nicht so schwer sein, nachzulesen, was beispielsweise der letzte Staatsratvorsitzende der DDR, Egon Krenz, er war zu jener Zeit Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrats und Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats - zu den Ereignissen in Leipzig am 9. Oktober 1989 gesagt oder geschrieben und was das Landgericht Berlin in seinem Urteil vom 25.8.1997 hierzu festgestellt hat.

In dem Buch "Herbst '89" von Egon Krenz, Verlag Neues Leben 1999, Seiten 87 folgende, befindet sich ein Kapitel mit der Überschrift "9. Oktober". Dort ist zu lesen:

"Als ich in mein Arbeitszimmer zurückkomme, sitzt Professor Friedrich, Direktor des Jugendforschungsinstituts der DDR, in meinem Vorzimmer. Er, der mir im Sommer vorausgesagt hatte, welch schwere Zeiten uns bevorstehen würden, ist an diesem Morgen direkt aus Leipzig gekommen. Ohne jede Grußformel kommt er mir aufgeregt entgegen und sagt mit zitternder Stimme: "Egon, heute Abend darf in Leipzig kein Blut fließen." Ich schaue ihn überrascht an. Was ist passiert? Mir ist nicht bekannt, dass in Leipzig die Montags-Demonstration mit Gewalt beendet werden soll. Wir hatten uns gestern mit allen Verantwortlichen für die bewaffneten Organe auf Gewaltfreiheit geeinigt.

Friedrich berichtet mir von den Ängsten in der Stadt. Polizei und Kampfgruppen seien in Bereitschaft. Es gebe allgemeine Furcht, heute könnte geschossen werden, um die Montags-Demonstrationen der Leipziger zu beenden.

Ich greife zum Hörer des Telefons der direkten Hausverbindung mit Herger. Ich sage ihm, was Friedrich mir gerade berichtet hat. Herger beruhigt mich. Alles werde so ablaufen, wie gestern besprochen. Die Sicherheitsorgane würden keine Gewalt anwenden, wenn nicht das Leben der Sicherheitskräfte in Gefahr sei. Er stehe ständig mit dem Innenminister in Verbindung und habe rechtzeitig zwei zusätzliche Mitarbeiter seiner Abteilung nach Leipzig geschickt. Sie würden an Ort und Stelle die Lage beobachten und sofort über die aktuellen Ereignisse berichten.

Nach dem Telefongespräch sage ich zu Friedrich: "Walter, sei beruhigt, es wird kein Blut fließen. Von Staats wegen sind alle Vorkehrungen getroffen, dass keine Gewalt angewendet wird. Du kennst mich. Du weißt, dass du dich auf mein Wort verlassen kannst. "

Ich telefoniere mit Rudi Mittig, sage ihm, was mir der Leipziger Professor gerade berichtet hat. Mittig entgegnet: "Mach dir keine Sorgen. Wir haben in Leipzig einen erfahrenen Chef der Bezirksverwaltung, General Hummitzsch. Er garantiert, dass unsererseits niemand Gewalt anwendet".

In Leipzig versammeln sich etwa 70.000 bis 80.000 Menschen. Es finden Friedensgebete statt. In Berlin, Dresden, Halle und anderen Städten gibt es in den Kirchen ähnliche Veranstaltungen wie in Leipzig. Die Organisatoren haben untereinander Verbindung. Alle warten, was in Leipzig geschieht. Ein Funke kann einen Flächenbrand auslösen. Für Herger und mich erneut Anlass, abwechselnd mit dem Minister des Innern, Dickel, und dem Minister für Staats-Sicherheit, Mielke, sowie mit Streletz, der den Verteidigungsminister vertritt, zu telefonieren. Sie sagen: Die Befehlslage ist eindeutig. Die Sicherheitsorgane greifen nicht ein, es sei denn, sie werden angegriffen. Gegen 21:00 Uhr kommt die Meldung: Die Demonstration löst sich auf, Wasserwerfer oder Schlagstöcke wurden nicht angesetzt, es gab keine gewaltsamen Ausschreitungen, die Teilnehmer aus anderen Bezirken reisen mit Bussen oder der Bahn nach Hause.

Der 9. Oktober in Leipzig verläuft friedlich. Vieles hat dazu beigetragen: Der Aufruf der "Sechs" und die Aufforderung der Kirche: "Lasst die Steine liegen!", die Flugblätter des Neuen Forum und die Friedfertigkeit der Demonstranten. In entscheidendem Maße waren es die Volkspolizisten, die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit und die Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR. Die Befehle für die Gewaltlosigkeit wurden in Berlin gegeben. Hätte es tatsächlich einen "Schießbefehl" gegeben, wäre der 9. Oktober anders verlaufen. Glücklicherweise hat die Gewaltlosigkeit viele Akteure: Demonstranten, SED-Mitglieder und Oppositionelle, neue politische Bewegungen und die Staatsmacht DDR.

Herger und ich atmen an diesem Abend tief durch. Die DDR ist vor einer gewaltsamen Auseinandersetzung bewahrt worden. Für den 9. Oktober 1989 bleibt als historischer Fakt festzuhalten: Der Staat hat das Machtmonopol. Er hatte die Macht, Gewaltmittel einzusetzen. Er hat es nicht getan."

Herger war Leiter der Abteilung für Sicherheitsfragen des Zentralkomitees der SED, Mittig war Erster Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit. Im Urteil des Landgerichts Berlin vom 25.8.1997, das gegen Krenz und andere ergangen ist, heißt es:

"... im Herbst 1989 trug der Angeklagte Krenz maßgeblich zur Deeskalation der damaligen Situation bei, die ohne weiteres zu einem Bürgerkrieg mit unabsehbaren Folgen hätte führen können ..." Der Angeklagte Krenz sorgte sowohl in den Oktobertagen des Jahres 1989 mit den zahlreichen Großdemonstrationen in verschiedenen Großstädten der DDR als auch im November 1989 nach Öffnung der Mauer aktiv und initiativreich dafür, dass es zu keinem Blutvergießen kam. Die Kammer hat insoweit als wahr unterstellt, dass er im Zusammenhang mit einer für den 9. Oktober 1989 geplanten Großdemonstration in Leipzig dem Zeugen Prof. Dr. Friedrich, Direktor des Instituts für Jugendforschung der DDR, versicherte, er werde alles in seiner Macht stehende tun, um ein Blutvergießen zu verhindern. Über dieses Gespräch informierte er den Zeugen Dr. Herger, Leiter der Abteilung für Sicherheitsfragen des Zentralkomitees, und ordnete an, durch die Abteilung für Sicherheitsfragen des Zentralkomitees der SED alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte in Leipzig zu verhindern.

Der Zeuge Herger schickte daraufhin zwei Mitarbeiter der Abteilung nach Leipzig mit dem Auftrag, die dortige SED-Bezirksleitung dabei zu unterstützen, die Linie der Gewaltlosigkeit unbedingt einzuhalten. Dabei stand Herger in einem ständigen Kontakt mit dem Minister des Innern Dickel. Der Angeklagte Krenz stand zugleich in ständiger Verbindung mit den Zeugen Keßler, Mielke und Hackenberg, letzterer Vorsitzender der Bezirksleitung in Leipzig, um sicherzustellen, dass diese ihm auf der Linie der Gewaltlosigkeit folgen würden.

Hiernach ist es auch (aus meiner Sicht: sogar hauptsächlich) das Verdienst der DDR-Führung - so ungern man das hierzulande auch hören mag, weil es nicht in das übliche politische Schema passt -, dass es am 9. Oktober 1989 zu keinem Blutbad gekommen ist. Keineswegs ist dieser Erfolg, wie Sie es darstellen, nur den Leipziger Montags-Demonstranten, der Kirche, den von ihr veranstalteten Friedensgebeten und dem Aufruf der "Sechs" zu verdanken. Und das alles wäre gar nicht möglich gewesen, wenn nicht der Zufall mitgewirkt, nämlich die Sowjetunion, warum auch immer, die DDR nicht schon damals "innerlich" abgeschrieben hätte.

Sie, sehr verehrter Herr Bundespräsident, tun in Ihrer Rede so, als würden die Sicherheitskräfte unseres Staates mit 70.000 Menschen, die, weil sie mit ihrem Staat unzufrieden sind, auf die Straße gehen und "Wir sind das Volk" rufen, ganz anders umgehen. Das ist sicherlich richtig, aber nicht so, wie Sie das offensichtlich verstanden haben möchten.

Sie haben den so genannten Lissabon-Vertrag unterzeichnet. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass Sie den Vertragstext sorgfältig gelesen und geprüft haben. Dann wird Ihnen nicht entgangen sein, dass nach dem Vertrag bei Aufstand und Aufruhr ohne Gesetz und ohne richterlichen Beschluss getötet werden darf. Der emeritierte Professor für öffentliches Recht Albrecht Schachtschneider hat hierauf in einer seiner beim Bundesverfassungsgericht gegen das Vertragswerk erhobenen Verfassungsbeschwerden aufmerksam gemacht. Nach seiner Meinung könnten die Montags-Demonstrationen in Leipzig als Aufruhr definiert werden, wie praktisch jede nicht genehmigte Demonstration, so die Krawalle in Griechenland oder die Demonstrationen in Köln und Hamburg. "Man braucht nur ein paar Autonome, die Steine schmeißen."

Das ist dann eigentlich auch schon die Antwort auf die Frage, wie sich die Staaten, die der EU angehören, also auch die Bundesrepublik Deutschland, wahrscheinlich verhalten würden, wenn ihr System in Frage gestellt würde.

Laut MDR soll Ihr Bundespräsidialamtssprecher betont haben: "Selbstverständlich werden wir die Angaben (das sind die in Ihrer Rede) nochmals überprüfen." Das ist sehr löblich. Aber was soll man auch anderes tun, wenn sich herausstellt, dass etwas behauptet worden, was möglicherweise nachweislich falsch ist?

Ich darf wohl davon ausgehen, sehr verehrter Herr Bundespräsident, dass es in Ihrem Hause nicht bei einer Überprüfung im stillen Kämmerlein bleiben wird, sondern dass Sie, falls sich die Darstellung des MDR bewahrheiten sollte, dies unverzüglich auch publik machen werden. Ganz so, wie Sie Ihre Rede gehalten haben, nämlich öffentlich. Mit den Worten eines Ihrer Sprecher "Sollte sich herausstellen, dass uns ein Fehler unterlaufen ist, so würden wir das sehr bedauern", ist es selbstverständlich nicht getan.

Ich sehe meinen Brief als "offenen Brief" an. Deshalb werde ich ihn im Internet verbreiten.

Mit freundlichen Grüßen
(Fiand)

Raute

Fakten und Meinungen

Hans-Jürgen Falkenhagen
Brigitte Queck

Der Iran - seine Einordnung in die Weltlage, seine Bedeutung in der Weltfinanzkrise

Irans Platz innerhalb der Staaten der Welt

Folgende Punkte sollten dabei eingangs berücksichtigt werden:

- der vor Jahren bekannt gewordene Geheimbericht des Pentagon, dass jeder Staat, der den Versuch unternimmt, die USA ökonomisch einzuholen, oder gar zu überholen, von den USA als Feind betrachtet wird;

- die neue NATO-Strategie von 1999, gemeinsam, auch gegen nicht Kernwaffen besitzende Staaten gegebenenfalls mittels eines atomaren Präventivkrieges, militärisch vorzugehen.

Dieses gemeinsame Vorgehen der NATO gegen Rohstoffe besitzende Länder wurde praktiziert

- 1999 im NATO-Aggressionskrieg gegen Jugoslawien, getarnt durch die Völkermordlüge der Serben gegen die Kosovoalbaner,

- 2001 im NATO-Aggressionskrieg gegen Afghanistan, scheinbar gedeckt durch den Artikel 51 der UNO-Charta, weil ein Mitgliedland der NATO, die USA, angeblich von Afghanistan aus angegriffen Worden sei und man nun verpflichtet, wäre, sich militärisch beizustehen,

- 2003 im NATO-Aggressionskrieg gegen den Irak (3. Golfkrieg) unter der verlogenen Propaganda, der Irak hätte Massenvernichtungswaffen und man müsse deren Einsatz gegen die westliche Welt zuvorkommen.

In Wirklichkeit geht es den westlichen Ländern um eine Neokolonialisierung der Rohstoffe besitzenden Länder, unter dem Slogan Gewährleistung der Energiesicherheit der entwickelten Länder der westlichen Hemisphäre, wie auch Bundeskanzlerin Angela Merkel mehrfach betont hat.

Der gegenwärtige Aufschwung in Lateinamerika und der Zusammenschluss vieler lateinamerikanischen Staaten zu dem Staatenbund ALBA vor der Haustür der USA, sowie der Zusammenschluss asiatischer Staaten innerhalb des Shanghai-Paktes, dem auch der Iran als Beobachter angehört, sowie die wachsende Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Staatengruppen, können den USA und den NATO-Ländern nicht gefallen.

Länder wie Nordkorea bzw. der Iran weigern sich, sich dem US- und NATO-Diktat zu unterwerfen, die Urananreicherung in ihren Atomkraftwerken für friedliche Zwecke zu stoppen, was aber den nicht Kernwaffen besitzenden Staaten durch den Nichtweiterverbreitungsvertrag von Kernwaffen ausdrücklich erlaubt ist. Diametral gegen die Bestimmungen des Nichtweiterverbreitungsvertrages von Kernwaffen gerichtet ist die bereits oben erwähnte neue NATO-Strategie von 1999, die entgegen dem Nichtweiterverbreitungsvertrag von Kernwaffen, der den nicht Kernwaffen besitzenden Staaten eine Schutzfunktion gegenüber Kernwaffen besitzenden Staaten zugesichert hatte, atomare Präventivkriege auch gegen nicht Kernwaffen besitzende Staaten vorsieht.

Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass die NATO bisher nur nicht Kernwaffen besitzende Staaten militärisch angegriffen hat.

Iran kommt durch seine außerordentlich günstige geostrategische Lage, seine reichen Öl- und Gasvorkommen, seine bisherige Vermittlerrolle zwischen den Staaten des Nahen Ostens;Asiens und Lateinamerikas, sowie in der UNO eine besondere Rolle zu. Es zählt zu einem der entwickeltsten Länder im Nahen Osten, das nicht nur reiche Naturschätze besitzt, sondern auch den Maschinen- und Flugzeugbau, sowie eine gute Verteidigungsindustrie aufgebaut hat. Dabei ist der Iran zu ca. 80 Prozent von Waffenimporten aus dem Ausland unabhängig.

Eine wesentliche Rolle spielt der Iran mit seiner klaren antiimperialistischen Haltung gegenüber den USA in der Weltorganisation der Staaten der Welt, der UNO. Diese Position kommt sowohl in den Reden des Staats- und Religionsführers des Iran, Khameni, als auch in den Reden des iranischen Präsidenten Ahmadinejad zum Ausdruck.

Als eines der größten Erdöl und Erdgas besitzenden Länder der Welt steht der Iran auf der "Wunschliste" der Länder, die die USA sich untertan machen will (siehe Zeitschrift "Hintergrund", 4. Quartal 2008). Dabei arbeiten, wie der bekannte Wirtschaftswissenschaftler Michael Chossudowsky in seiner Schrift "Die CIA und die AlQuada" (siehe ebenda, S. 27) nach wie vor eng mit den von ihnen geschaffenen und weiterhin von ihnen unterstützten "Islamisch-Militanten Netzwerk" zusammen.

Gleichzeitig haben die USA parallel dazu einen Notfallplan für einen hypothetischen Terroranschlag Irans auf die USA, ähnlich dem vom 11. September 2001 entworfen, der für einen Krieg gegen den Iran und Syrien genutzt werden soll.

Der Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh hatte am 9. Juli 2008 berichtet, dass auf einer NATO-Konferenz der US-Nachwuchsjournalisten in Washington US-Vizepräsident Cheney auf einer Strategie-Sitzung im Sommer 2008 in seinen Amtsräumen vorgeschlagen hatte, einen Krieg gegen den Iran durch gezielte Provokationen vorzubereiten. Bei der Diskussion seien "ein Dutzend Ideen" vorgebracht worden, wie man den Krieg starten könnte.

Cheney habe gar vorgeschlagen, "auf amerikanischen Werften 4 oder 5 iranische Schnellboote nachzubauen", sie mit US-Spezialkommandos der Navy SEAL's in iranischen Uniformen zu bemannen und mit vielen Waffen auszurüsten. Er erklärte: "Beim nächsten Mal, wenn eines unserer Schiffe durch die Strasse von Hormus fährt, greifen diese so genannten iranischen Schnellboote es an und es kommt zum Feuergefecht".

Weil dabei jedoch Amerikaner von Amerikanern getötet worden wären, was im Übrigen schon mal praktiziert wurde vor dem 6-Tagekrieg Israels und den arabischen Staaten durch die Bombardierung des amerikanischen Schiffes "Liberty" seitens der israelischen Luftwaffe in Absprache zwischen CIA und Mossad. Die Schuld dafür wollte man den sozialismusfreundlichen ägyptischen Präsidenten Nasser in die Schuhe schieben, um die USA selbst in diesen "Verteidigungskrieg" Israels gegenüber den arabischen Ländern zu verwickeln. Nach dem Scheitern dieses Planes durch Überlebende von "Liberty" nahm man davon Abstand.

Hersh hatte in einem Artikel in "The New Yorker" Anfang Juli 2008 unter der Überschrift "Das Schlachtfeld vorbereiten - Bush Administration verschärft Geheimaktionen gegen Iran" darauf verwiesen, dass der US-Kongress bereits Ende 2007 auf Anforderung von Präsident Bush einer Eskalation der Geheimdienstoperationen gegen den Iran zugestimmt habe. Dafür seien bis zu 400 Millionen Dollar seitens der US-Regierung bereit gestellt worden, unter anderem für Spionageaktionen zur "Destabilisierung der religiösen Führer des Iran", sowie zur verstärkten Unterstützung iranischer Minderheiten- und Dissidentengruppen.

(In diesen 400 Millionen Dollar sind die von diversen US-Nichtregierungsorganisationen für einen Umsturz im Iran zur Verfügung gestellten Geldern nicht enthalten!)

Die alarmierenden Enthüllungen von Seymour Hersh wurden in den großen Konzern-Medien der USA und Deutschlands totgeschwiegen.

Vor kurzem, und zwar während der Wahlen im Iran, hatte der iranische Präsident Ahmadinejad während eines Treffens von Staatsführern der Shanghai-Gruppe in Jekaterinenburg in Russland, die USA im Hinblick auf den Niedergang des Dollars im Weltmaßstab offen angegriffen.

Er sagte: "Es ist offensichtlich, dass das Zeitalter des Empire zuende ist, eine Wiederkehr ist nicht zu erwarten!" (siehe: "Defiant Ahmadinejad blasts US at Russia summit" unter http://au.news.yahoo.com/a/-/world/5657186).

Bereits im Jahre 2007 auf einem Summit in der Saudi-Arabischen Hauptstadt Riyah vom 17.-18. November hatte Ahmadinejad die OPEC-Staaten aufgerufen, ihre Geldreserven in einer Reihe von Währungen anzulegen, anstatt dem schwächelnden Dollar den Vorzug zu geben. Er sagte: "Sie bekommen unser Öl und geben uns dafür ein wertloses Stück Papier."
(siehe unter: latinamericanewswatch.blogspot.com2007_11_01_archive.html).

Diese Aussagen Ahmadinejads mussten die USA als eine offene Kampfansage an ihre Adresse betrachten. Erinnern wir uns, dass die gleiche Ankündigung S. Husseins, sein Öl nicht mehr in Dollar verkaufen zu wollen, eines der Hauptgründe des US-Krieges im Jahre 2003 gegen den Irak gewesen ist.


Iran und die Weltfinanzkrise

Um zu verstehen, welche Wechselwirkungen es zwischen der Finanzkrise in den USA und den aktuellen Spannungen im Nahen Osten gibt, muss man verstehen, wie das Dollarsystem funktioniert:

Die US-Wirtschaft unterscheidet sich von der deutschen dadurch, dass ihr gesetzliches Zahlungsmittel, der Dollar, zugleich Weltwährung ist.

Als Inhaber der Weltwährung kann die USA bedeutend mehr Waren importieren als andere Länder. Dabei nutzen sie:

1. niedrige Zinsen bei der Vergabe von Krediten,
2. die Geldvermehrung durch die FED (Federal Reserve Bank), was eine physische Vermehrung des Dollars bedeutet.

Dieses Geld liegt heute größtenteils in elektronischer Form als Buchungsgeld vor. Anhänger der US-amerikanischen Finanzpolitik machen sich wenig Sorgen um ihr dadurch entstandenes Handelsdefizit. Sie sagen, das 21. Jahrhundert sei eine virtuelle Wirtschaft bei der produktive Grundlagen angeblich eine geringere Rolle spielten.

Obwohl der Dollar in den letzten Jahrzehnten einer stärkeren Inflation als die DM und der Euro ausgesetzt war, konnten die USA diese Differenz in Form von "Steuern" aus ihrer Weitwährung ausgleichen. Unter dem Motto: Schwache Dollar erhalten starke Waren!

Seit 1971 Nixon die Auflösung der Goldbindung des Dollar veranlasst hatte, machten sich die USA auf nach der Suche einer anderen unverzichtbaren Handelsware. Dies war das Öl. Über spezielle Beziehungen zum Saudi-arabischem Königshaus stellte man sicher, dass Öl nur in Dollar gehandelt wird.

Es musste nun nur noch veranlasst werden, dass der Petroldollar wieder in die USA zurückfließt.

Dazu trug das 1974 mit dem Saudi-arabischen Königshaus geschlossene Geheimabkommen bei. Dies sah vor, dass die Saudis ihr Öl ausschließlich in Dollar verkaufen und die Öleinnahmen bei den "richtigen" Banken in New York und London anlegten. Auf diese Weise konnten die Öleinnahmen der Saudis seither zur Deckung des Defizits der USA herangezogen werden.

1975 wurden auch alle anderen OPEC-Länder auf den ausschließlichen Verkauf von Öl in Dollar festgelegt. Auf diese Weise entstand das so genannte Recycling der Petroldollar und auf diese Weise konnte in den USA auch ein ständiges Wirtschaftswachstum erzielt werden.

Der Finanzkreislauf zwischen OPEC und den großen Bankhäusern in London und New York bildeten seither die Grundlage für die gesamte weitere Entwicklung der Weltwirtschaft.

Die Hochzinspolitik unter US-Bankchef Paul Volcker und die Einführung schwankender Zinssätze stellten sicher, dass die von den Entwicklungsländern aufgenommenen Kredite sehr schwer rückzahlbar waren.

Auch die Banken in Europa und Südostasien wurden angehalten, ihre Dollarüberschüsse in den USA wieder anzulegen. Hauke Ritz schreibt: "Ob dieser Wirtschaftspolitik ein dauerhafter Erfolg beschieden sein wird, hängt davon ab, ob die Rolle des Dollar als einziger Ölwährung gewahrt bleiben kann" (Siehe Zeitschrift "Hintergrund", 4. Quartal 2008, Hauke Ritz "Finanzkrise und aktuelle Geopolitik").

Dieses System funktioniert aber nicht mehr, wenn ein Ölförderland politisch und militärisch stark genug ist, eine andere Währung als den Dollar zu etablieren.

"Dann aber, wenn der Dollar als internationale Öl-Reserve- und Handelswährung abgelöst würde, würden die vorhandenen Dollar stark an Wert einbüßen und so würde die amerikanische Notenbank keine Möglichkeiten mehr haben, den Dollar physisch nachzudrucken bzw. elektronisch in Umlauf zu bringen ..." (siehe ebenda)

Dadurch würden, so Hauke Ritz "die Seignioragevorteile stark schrumpfen, mit denen die USA in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht nur ihre Warenimporte, sondern auch ihre exorbitanten Militär- und Geheimdienstausgaben finanziert haben ... Der Status der USA als weltbeherrschender Macht steht und fällt mit der Rolle des Dollar als Weltwährung" (siehe ebenda).

Mit anderen Worten, die militärischen Interventionen der USA im Nahen Osten sind nicht nur der zunehmenden Ölverknappung im Weltmaßstab geschuldet, sondern der finanzpolitischen Bedeutung des Öls.

Die USA haben erkannt, dass es nicht unbedingt notwendig ist, Öl selbst zu fördern, sondern die Transportrouten des Erdöls und seine Fakturierung (Anlage des Geldes) zu kontrollieren.

Und plötzlich schert der Iran als eines der Erdöl- und Erdgas-reichsten Länder der Welt aus diesem "eingespieltem" Kreislauf aus!

Iran hat am 17. Februar 2008 den bisher einzigartigen Versuch unternommen, eine eigene, von den USA unabhängige, Ölbörse zu gründen, die sich laut IRNA-Nachrichtenagentur auf der Insel Kish befindet.

Dies ist eine ungeheure Herausforderung für den Dollar als Ölwährung, zumal das Weltfinanzsystem derzeit in einer tiefen Krise steckt und auch die anderen OPEC-Staaten es dem Iran gleichtun könnten.

An der iranischen Ölbörse sind außer dem US-Dollar alle Währungen willkommen. Gehandelt wird mit Hilfe einer Kunstwährung, einem Währungskorb, in dem neben dem Euro und dem Yen auch die regionalen Währungen der Golfstaaten vertreten sind.

Japan, China, Indien und andere asiatische Staaten, die arabischen Petrolmonarchien, ebenso wie die zentralasiatischen Ölproduzenten um das Kaspische Meer, haben allesamt ein Interesse an einer internationalen Ölbörse ohne westliche Mittelsmänner und ohne den Zwang, in Dollar zahlen zu müssen. Ein Ölhandel in einheimischen Währungen bedeutet gleichsam auch eine Aufwertung dieser im Vergleich zum Dollar.

Weiß doch jedermann im internationalen Ölgeschäft, dass die Ölpreise nicht von den Erdöl produzierenden Ländern allein gemacht werden, sondern von westlichen Ölhändlern wie Philip Brothers, einer Tochter der Citicorp, Cargill oder Taurus, die zugleich den Ölhandel dominieren und von den beiden Ölbörsen wie der International Petroleum Exchange (IPE) in London und der New York Mercantile Exchange (NYMEX), die auch die Weltfinanzkurse bestimmen.

Die USA verstehen nur zu gut, dass mit dem Verlust der Monopolstellung des Dollars auf dem Weltmarkt, auch die wichtigste ökonomische Basis des US-Imperiums wegbricht.

Ein Schelm, der Böses dabei denkt, als bereits vor der Eröffnung der iranischen Ölbörse im Februar 2008 im Laufe weniger Tage gleich vier Unterseekabel im Persischen Golf schwer beschädigt wurden, braucht doch jede internationale Börse funktionierende Internetverbindungen!

Nach der Eröffnung der iranischen Ölbörse aber veranlassten die USA ihre westlichen Bündnispartner, einen regelrechten Kontenkrieg gegen den Iran zu eröffnen. Mit Hilfe "schwarzer Listen" sind damit drei der wichtigsten iranischen Banken de facto isoliert worden. Keine europäische Großbank wagt es mehr, mit den iranischen Staatsbanken Geschäfte zu machen, aus Angst, ebenfalls in das Raster der Verfolgungsbehörden zu gelangen.

Aber die gegnerischen Angriffe der westlichen Länder konnten die Ölbörse nicht aufhalten. Natürlich erschweren die westlichen Finanzaktionen dem Iran das Geschäft, aber verhindern können sie es nicht.

Im Gegenteil. Die aktuellen, von den USA veranlassten Sanktionen und Finanzaktionen, treffen vor allem mittelständische europäische Unternehmen, die sich auf Ausfälle in dreistelliger Millionenhöhe gefasst machen müssen.

Der Iran, der seine Bankguthaben vorsorglich aus den europäischen Banken abgezogen hatte - dabei handelte es sich um mehr als 75 Milliarden Dollar - transferierte seine Konten inzwischen auf asiatische Banken.

Auf die Europäer indes kommen harte Zeiten zu. Speziell die Bundesrepublik Deutschland, der traditionell wichtigste europäische Handelspartner des Iran, bezahlt den bitteren Preis für seine Gefolgstreue gegenüber den USA. Siemens, der z. B. von den USA, Verzeihung, der Bundesregierung, gedrängt worden ist, keine neuen Geschäfte mehr mit dem Iran abzuschließen, wurde durch chinesische Handelspartner abgelöst. So hatte China bereits im Jahre 2007 die BRD als wichtigsten Handelspartner des Iran abgelöst und internationale Geldtransaktionen laufen nun über Banken in Singapur und Dubai. Die Banken in Europa und auch der Schweiz, die sich leider ebenfalls dem US-Diktat unterworfen haben, haben das Nachsehen.

Ein weiterer Punkt verdient ebenfalls berücksichtigt zu werden, warum sich die USA gegenwärtig so auf den Iran fokussiert haben.

Iran ließ sich nämlich trotz US-Drohungen, es mit Bunker brechenden Atombomben anzugreifen, nicht davon abhalten, den Bau einer Gas-Pipeline zu planen, die durch Pakistan hindurch nach Indien führen soll. Das würde die Energiesicherheit Irans, Pakistans und Indiens erhöhen, den US-Einfluss auf beide Staaten schwächen und einen großen Teil des Gashandels der US-amerikanischen Kontrolle entziehen. Über eine Verlängerung dieser Pipeline nach China wird bereits intensiv nachgedacht.

Vor diesem Hintergrund muss man auch die ständigen Bombardements Pakistans durch die USA in den letzten Monaten einordnen, die, wie könnte es anders sein, seitens der USA mit dem Agieren von AlQaida- bzw. Talibananhängern in diesem Raume erklärt werden.


Zusammenfassend kann man feststellen:

Der Iran ist politisch, ökonomisch und militärisch gesehen ein Land, das den US-Weltherrschaftsplänen diametral entgegen steht.

Zusammen mit anderen Ländern des Shanghai-Paktes und den lateinamerikanischen Staaten könnte durch die seitens des Iran im Frühjahr 2008 ins Leben gerufene Ölbörse die Monopolstellung des Dollars auf dem Weltmarkt gebrochen und das Empire geschwächt werden.

Mit dem Verlust seiner führenden Stellung auf dem Währungs-, Handels- und Finanzmarkt wäre die USA nicht mehr in der Lage, ihre exorbitanten Militär- und Geheimdienstausgaben zu finanzieren und folglich würden auch ihre Aggressionskriege zur Erlangung einer US-Weltherrschaft unmöglich, bzw. stark eingeschränkt werden, was zu einem Aufleben der Befreiungsbewegungen in aller Welt gegen Neokolonialismus und globalen Neoliberalismus auch in den entwickelten Ländern der Welt führen würde.

Aus diesem Grunde tun die USA im Verbund mit anderen NATO-Staaten alles, im Iran wieder ein US-freundliches System zu etablieren, und dazu ist ihnen jedes Mittel recht.

Am günstigsten wäre es für die NATO-Staaten gewesen, durch einen "Volksaufstand" nach den Wahlen im Juli 2009, einen Regimewechsel im Iran zu bewerkstelligen, so wie das seitens der CIA schon mal in den fünfziger Jahren mit dem Sturz des iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh praktiziert worden ist.

Dann hätte man sich seitens der USA und ihrer Verbündeten nicht die Hände schmutzig zu machen brauchen.

Dieses Vorhaben eines Regimewandels im Iran nach westlichen Vorstellungen soll nach dem Wunsch des ehemaligen US-Außenministers Kissinger nunmehr mit "militärischen" Mitteln, sprich, einem Aggressionskrieg gegen den Iran, gelöst werden.

Da einige linke Kräfte sich auch in vergangenen Kriegen der USA und der NATO, bzw. durch bunte "Volksrevolutionen" im Sinne der internationalen Monopolbourgeoisie irreführen ließen und den langen führenden Arm der USA und NATO dahinter nicht gesehen haben, oder nicht sehen wollten, seien sie gewarnt, sich nicht auch diesmal wieder vor den Karren der neokolonialen Einpeitscher spannen zu lassen, um danach, wenn wieder ein Land seiner Oberhoheit über seine Naturschätze durch die internationale Monopolbourgeoisie beraubt worden ist, resignierend festzustellen: "Das haben wir nicht gewollt."

Der drohende Krieg gegen den Iran durch die USA und die NATO, der sich gegen uns alle richtet, muss verhindert werden!


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Dragan Rumencic, 1980. Collage/Tusche

Raute

Freundeskreis "Kunst der DDR"

Causa Lea Grundig

Das Bekanntwerden des schändlichen Umgangs mit dem Andenken der Grundigs an der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald hat viele Proteste erweckt. Einen dieser Protestbriefe richtete Prof. Dr. Hans-Dieter Grampp aus Berlin an den Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern. In einem Antwortbrief aus der Staatskanzlei vom 7. Oktober 2009 heißt es "... dass Ihre Befürchtungen hinsichtlich einer Umtaufe oder Abwicklung des Hans-und-Lea-Grundig-Preises unbegründet sind".

Dieser durchaus unmissverständlichen Aussage lag als Begründung eine abgelichtete Presseerklärung bei, die sich auf zwei Preise bezieht, auch auf den Rudolf-Stundl-Preis. Die wenigen Bezüge auf diesen zweiten Preis haben wir in der Wiedergabe der Medieninformation, durch (...) gekennzeichnet, ausgelassen. Ansonsten haben wir uns an die getreue Wiedergabe auch der manchmal eigenwilligen Grammatik gehalten.

Ob damit wirklich die Befürchtungen ausgeräumt wurden?


Medieninformation der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald vom 26. August 2009.

Neue Konzeption für die Vergabe von Stiftungspreisen der Universität Greifswald


Aufgrund von Medienberichten über einen angeblich fragwürdigen Umgang mit dem Hans-und-Lea-Grundig-Preis (...) gibt der Geschäftsführende Direktor des Caspar-David-Friedrich-Instituts (CDFI) und Vorsitzender des Stiftungsrates der Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung (...) Prof. Michael Soltau, folgende Erklärung ab:

Seit Mitte der 90er Jahre, und somit vor Beginn meiner Tätigkeit am Caspar-David-Friedrich-Institut (CDFI) sind der Hans-und-Lea-Grundig-Preis (...) nicht mehr vergeben worden. Damals sollte die Vergabe beider Preise auf eine neue strukturelle Grundlage gestellt werden.

In meiner derzeitigen Funktion als Geschäftsführender Direktor des CDFI bin ich seit Beginn des Wintersemesters 2008/09 u. a. auch mit allen Fragen zur Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung (...) befasst.

In diesem Zusammenhang muss vorab auf die in der Satzung der Grundig-Stiftung vorgeschriebene Zusammensetzung des Stiftungsrates hingewiesen werden. Der Stiftungsrat konstituiert sich aus dem jeweils amtierenden Geschäftsführender Direktor, einem Vertreter des jeweils anderen Bereichs (Bildende Kunst bzw. Kunstgeschichte) für den Zeitraum der Amtszeit des Geschäftsführender Direktor, sowie dem Dezernenten für Rechtsangelegenheiten unserer Universität. Daraus wird ersichtlich, dass der Stiftungsrat in persona in regelmäßigen Abständen wechselt, was eine gewisse Diskontinuität in der Betreuung der Stiftung mit sich bringt. (...)

Die zunehmende Wahrnehmung der Thematik in der Öffentlichkeit hat mich veranlasst, zunächst eine sachliche Klärung der Situation zu erwirken sowie alle in Frage kommenden rechtlichen Aspekte untersuchen zu lassen, damit der Blick auf die Anliegen der Stiftungsgeber frei von persönlichen oder politischen Auffassungen gerichtet werden kann.

Eine Zusammenlegung beider Stiftungen kommt nach meinem heutigen Kenntnisstand allein aus stiftungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht.

Darüber hinaus prüfen wir, in wie weit Stiftungsziele und Motive der Stiftungen im Rahmen der an unserem Institut vertretenen Inhalte in Forschung und Lehre einen angemessenen Platz finden können.(...)

Um eine für unser Institut angemessene Ausschreibungspraxis auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre zu gewährleisten, wird erwogen, einen modifizierten Ausschreibungsrhythmus im Abstand von 3 oder 4 Jahren zu ermöglichen, was zudem die Attraktivität des Preises in Folge einer höheren Dotierung mit sich bringen würde. Um die Kontinuität der Arbeit des jeweiligen Stiftungsrates zu verbessern, soll geprüft werden, ob der bisherige Zeitraum von zwei Jahren auch weiterhin sinnvoll sein kann. Hier könnte ein Zeitraum von 4 Jahren eher praktikabel sein.

Das Stiftungskapital beider Stiftungen ist in der Zwischenzeit satzungsgemäß durch die Greifswalder Universität verwaltet worden.

Die Klärung und Umsetzung der hier dargestellten Aspekte erfordert Zeit. Wir gehen aber davon aus, der interessierten Öffentlichkeit noch in diesem Jahr eine schlüssige Gesamtkonzeption zur Vergabe beider Preise vorstellen zu können.

Greifswald, den 24.8.09
Prof. Michael Soltau

Raute

Freundeskreis "Kunst der DDR"

Heidrun Hegewald

Vom Überschreiten der Schamschwelle

Über den fatalen Umgang mit der Grundig-Stiftung an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald

So genannte Menschen, die sich darauf verstanden, die "deutsche Rasse" und nicht nur die "arische" von "Untermenschen" zu befreien, diese so genannten Menschen haben Lea Grundig ihre eigene Haut zum Vorwurf gemacht. In die wurden Male eingebrannt - die Angst vor Verfolgung und Vernichtung. Lea Grundig hat überlebt. Haben wir jemals die Überlebenden gefragt, ob sie wirklich überlebt haben?! Hans Grundigs Überleben des Grauens war eine kurze Frist. Beider Körper warfen nicht nur den eigenen Schatten, sondern auch den der wahnhaften Verbrechen der Vergangenheit.

Eine humanistische Unerbittlichkeit prägt ihr Werk. Die Erfahrung ihrer Demütigungen und der daraus erwachsene Wille, einer besseren Welt ihre Fähigkeiten zu bieten, hat diesem Werk Ausdruck gegeben. Es ist absolut nicht nötig, ihre Leistungen gegeneinander zu vergleichen. Lea Grundigs Kunst ist eine realistische, sehr authentisch und unrettbar verloren an den Kampf, das Grauen des Faschismus, das ihre Biographie durchzieht, zu erinnern und zu verdammen. Krieg und Bedrohung hat sie ihr Veto im Kunstblatt entgegengesetzt und den Lebenswert und -sinn beschworen. Nur allzu berechtigt. Und sicherlich sensibilisierter, mit reaktiver Wachsamkeit durch Erfahrenes, als manch einer oder eine, hat sie unmittelbar aufs Alltägliche reagiert.

Ihre Mittel hatten das legitime Motiv. Sie war ein Opfer. Nun soll ihr ein weiteres Mal die Würde genommen werden. Nur ihr - denn sie hatte noch Zeit, ihre Haltung im öffentlichen Leben einzusetzen. In der DDR. Wäre Hans Grundig ein längeres Leben vergönnt gewesen, würden, mit aller Sicherheit, beide abgestraft werden.

Scham überkommt mich - im Angesicht dessen, dass die Entwicklung eine so kurze Spanne brauchte, um dem Neo-Faschismus schon wieder Raum zu geben. Es ist beruhigend, dass die Grundigs diese Erfahrung nicht mit ins Grab nehmen mussten.

Der Antikommunismus bleibt auf sie angesetzt. Der Antisemitismus steht wieder auf Lea Grundigs Schwelle. Ihr schwarzes Haar wäre es nicht mehr gewesen, das sie verrät. Aber die Haltung! Eine jüdische Kommunistin ist jüdischer - eine kommunistische Jüdin ist kommunistischer als eine andere. Nun werden in dieser Charakteristik die kommunistischen Verbrechen der Lea Grundig gesucht und ihr nachgesagt. Unbewiesene Beschuldigungen. Ohne Namen, Daten, Sachverhalt. Aber das braucht ein vorgegebenes Delikt heute nicht. Ort und Zeit haben die Adresse: Unrechtsstaat DDR. Und wieder sind so genannte Menschen in vorauseilendem Gehorsam zur Stelle, um Täter zu bestimmen. Die neudeutsche freischaffende Täterschaft ist eifrig. Oft zum Zwecke der Selbstreinigung. Im Karrieresog. In Schamlosigkeit.

Als Lea Grundig 1972 die Ehrendoktorwürde verliehen wurde, übergab sie dem Verleiher, der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, ein Stiftungsguthaben von 40.000 Mark. Für eine Stiftung, die die Namen von Hans und Lea Grundig trägt. Der Zinsertrag wurde im Abstand von zwei Jahren für einen Preis ausgelobt. Den erhielten preiswürdige Studierende oder Absolventen des Faches Kunstgeschichte. Sie gab die Summe, nicht, weil sie reich war, sondern weil sie wollte, dass ihr und ihres Mannes humanistisches Anliegen weiterlebt und um jungen begabten Menschen zu einem guten Fortkommen zu verhelfen. Bis 1996 stank das Geld nicht. Jetzt stammt es von einer Unwürdigen. Mit deren Namen will die Universität Würdigungen nicht mehr verbinden. Eifrige, die vollziehen, was Gunst bewirkt, können sich selten auf ihre innere Haltung stützen, bei deren Abhandensein bringt der Wankelmut Fatales zueinander.

Die Universität Greifswald ist sich ihrer antisemitischen Handlung wahrscheinlich nicht bewusst, denn der zweite Akt ihrer Namensbereinigung geht in "bemerkenswerter Sensibilität" in die andere Richtung. Ernst-Moritz Arndt ist der Namensgeber der Greifswalder Universität. Den Namen des "Hasspredigers" wollen sie nicht mehr. Und nun heißt es: In der DDR wurde Ernst-Moritz Arndt geschätzt und sein Antisemitismus hingenommen. Keineswegs. Arndt hat mit nationalistischen Tendenzen geeifert - aber unter der Pein napoleonischer Fremdherrschaft. Das gab seinem nationalen Fanatismus einen Charakter. Antifeudales Nationalbewusstsein war sein Thema. Keine ostdeutsche lexikalische Auskunft verschweigt das.

Wie gehen nun Akt 1 und Akt 2 der Namensbereinigung zusammen? Gehorsam vereint sie. Egon Bahr, nach dem gewesenen Feindbild der "ehemaligen" BRD gefragt, fasste lakonisch zusammen: "Die DDR muss weg!" So zitierte er die offizielle Meinung - ein politisches Ziel.

Ein System erledigen, dessen spezifische Mechanismen kappen, die Treuhand wüten lassen, ist die eine Seite, die einfachere. Aber dann die Menschen, deren Herkommen die ostdeutsche Sozialisation ist - sie muss man um ihre Erinnerungen, ihre Kultur und um ihren Verstand bringen. Das grenzt an Überforderung. Das geringe und profane Leben setzt Werte. Ermöglicht Wertungen. Und verinnerlicht entsteht ein Wertesystem, das extravertiert und introvertiert zum gesellschaftlichen Konsens wird. Ein verwurzeltes Werk, ein Wurzelwerk, in dem Wissen, Träume, Ideale und Utopien nisten. Ein gewisses Volkseigentum - eine Eigentümlichkeit. Exempel müssen statuiert werden, damit die Ostdeutschen endlich im Tal der Ahnungslosen, dem Reich des Vergessens, ankommen - und Demütigung Demütige aus ihnen gemacht hat.

Infame Ideen gehören zur Dramaturgie, eine kuriose dazu ist diese: Die Universität Greifswald überlegt, die aufgezinste Summe des Stiftungskapitals der Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung zu nehmen, einen Forschungsauftrag zu postulieren, um die kommunistischen Verbrechen der Lea Grundig im Unrechtsstaat Deutsche Demokratische Republik zu recherchieren. Verbrechen, die sie in ihrer Staatsnähe als Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler von 1964 bis 1970 beging. Um dann den "Kosten" gerecht zu werden, ist die Täterschaft zu "verwissenschaftlichen" - finanziert von der Delinquentin selbst!

Lea Grundig hat sich erlaubt, mit den Metaphern ihrer Kunst für ihre Ideen zu kämpfen. Ihren Glauben an eine gerechtere Welt hat sie mit den Intentionen des gesellschaftlichen Programms der DDR verbunden.

September 2009

Raute

Freundeskreis "Kunst der DDR"

Gerhard Fischer

Leo Haas

Eröffnungsrede zur Ausstellung

Verehrte Anwesende, meine Damen und Herren, liebe Freunde der GBM und des Arbeitskreises Kunst aus der DDR, jemand könnte kommen und fragen: "Was soll's? Wozu eine Ausstellung über Leo Haas? Er ist seit 26 Jahren tot. Warum an ihn erinnern - noch dazu in einer Galerie, die sich doch sonst zumeist dem Werk lebender Künstler öffnet?"

Genau so gut könnte jemand kommen und sagen: "Was soll's? Wieso den 60. Jahrestag der DDR zum Anlass einer solchen Ausstellung nehmen, die Gründung eines Staates, der vor neunzehn Jahren unterging? Was vergangen, kehrt nicht wieder."

Wir wissen sehr wohl, manche reden so. Wir kennen das Wort aus dem Matthäus-Evangelium: "Lass die Toten ihre Toten begraben." Merkwürdig ist allerdings: Jener zweite deutsche Staat scheint ein typisch Untoter zu sein, sonst würden seine Widersacher seinen Leichnam nicht fortwährend schänden, in unseren Tagen emsiger denn zuvor, und sonst würden viele seiner ehemaligen Bürger nicht fortgesetzt an ihn denken und über ihn sprechen.

Leo Haas war fast drei Jahrzehnte lang ein Bürger der DDR. Sein Leben, sein Werk vollendeten sich in dieser Republik. Mit ihr fühlte er sich innerlich verbunden. Zuweilen räsonierte er inwendig, wie wohl mancher von uns auch. Aber die Ziele, die sich dieser Staat gestellt hatte - Frieden und Antifaschismus, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit waren die seinen.

Solche Anliegen sind heute so aktuell wie ehedem. Die gesellschaftlichen Kräfte, mit denen sich Leo Haas auseinander setzte - Imperialisten, Antikommunisten, alte und neue Nazis - sind heute so gegenwärtig wie damals. Die Gefahren, die ihr Treiben mit sich bringt, sind eher noch gewachsen. Ihnen gilt es entschlossen entgegen zu treten. Auch deshalb diese Ausstellung.

Will man über jemanden einen kurzen biografischen Abriss geben, so beginnt man meist mit dem Satz: "Ihm (oder ihr) ist nicht an der Wiege gesungen worden, dass ... "Unserem Leopold wurde nicht an der Wiege gesungen, dass er sein Schaffen dereinst mit der Arbeiterbewegung verbinden würde.

In ein eher bürgerliches Elternhaus wurde er am 15. April 1901 hinein geboren, und dieses Haus, ein jüdisches, stand in Troppau, einer Stadt von damals knapp 30.000 Einwohnern im seinerzeitigen Österreichisch-Schlesien. Aber an der Wiege gesungen wurde ihm der Internationalismus. Dreisprachig - deutsch, tschechisch und ungarisch - wuchs er auf.

Nach dem Abitur studierte er zwei Jahre lang Malerei an der Kunstakademie in Karlsruhe. Hier schloss er Freundschaft vor allem mit dem zehn Jahre älteren Karl Hubbuch, dem Aquarellisten und Grafiker. Von ihm lernte er ein tieferes Verständnis für politische Fragen, die Gegnerschaft gegen den Krieg - der bis dahin schrecklichste war gerade zu Ende gegangen - und die Parteinahme für den sozialen Fortschritt.

Dann ließ sich Leo Haas für weitere zwei Jahre in Berlin fortbilden, besonders von Emil Orlik und Willi Jaeckel. Einer anschließenden Studienreise nach Südfrankreich und nach zwei Schaffensjahren in Wien folgte eine zwölfjährige Periode vielseitiger Arbeit als Maler und Grafiker in seiner Heimatstadt, die nun auch offiziell den angestammten tschechischen Namen Opava trug. Für Haas war es selbstverständlich, sowohl dem tschechischen wie auch dem deutschen Künstlerverband anzugehören. Hatte er schon in Wien angefangen, für die Presse zu zeichnen, so setzte er jetzt in Opava die Tätigkeit für Zeitungen in verstärktem Maße fort.

Damit war nach dem Münchener Abkommen vom 30. September 1938 abrupt Schluss. Das Sudetenland, zu dem das mährische Opava gehörte, fiel an Hitler-Deutschland. Faschisten zertrampelten das Atelier von Leo Haas. Er selbst musste nach Ostrava im noch unbesetzten Teil der CSR ausweichen. Dort holte ihn am 15. März 1939 mit der Okkupation von Böhmen und Mähren das Nazireich ein. Noch im gleichen Jahr wurde der Geltungsbereich der Nürnberger Rassegesetze auf das Reichsprotektorat ausgedehnt, und Leo Haas wurde Zwangsarbeiter im berüchtigten Juden-KZ Misko, danach in Ostrava.

Wegen aktiver Widerstandsarbeit an der Seite von Kommunisten verhaftete ihn 1941 erneut die Gestapo. 1942 begann sein Leidensweg durch weitere Konzentrationslager: zunächst Theresienstadt im Ghetto und das letzte Vierteljahr in der "Kleinen Festung" -, anschließend Auschwitz, dann Sachsenhausen mit der "Fälscherwerkstatt", schließlich Mauthausen samt Nebenlagern. Am 6. Mai 1945 wurde er im Lager Ebensee befreit. Das war für ihn seine "zweite Geburt".

Diese Lagerjahre haben Leo Haas endgültig geprägt. Sein Erleben in den KZs, die Qual wie den Kampf, hat er zeichnerisch festgehalten. Allein in Theresienstadt, dem tschechischen Terezin, hat er Hunderte von Zeichnungen angefertigt und für die Nachkriegszeit eingemauert. Er schreibt: "Das Bewusstsein, einmal Zeugenschaft ablegen zu müssen, hatte mir geholfen, die Hölle zu überleben." Sein weiteres Leben stand im Zeichen unablässiger Anklage gegen Faschismus und Krieg, unermüdeten Wirkens für eine andere, eine bessere Gesellschaft.

Drei große grafische Zyklen von Leo Haas künden von den schrecklichen Spuren, die der KZ-Terror in ihm hinterließ. Aber in der Hauptsache stellte er sein Talent fortan in den Dienst der sozialistischen Presse, namentlich als Karikaturist. Zehn Jahre lang arbeitete er in Prag für das KP-Zentralorgan "Rudé Právo", für die "Tvorba" und die satirische Zeitung "Dikobraz". Im September 1955 übersiedelte er, unterstützt von DDR-Behörden, nach Berlin. Hier entstand Zeichnung auf Zeichnung für den "Eulenspiegel", für "Neues Deutschland", für die "Wochenpost".

Künstlerisch beschritt Leo Haas durchaus auch neue Wege. Für das bekannte Studio Heynowski und Scheumann schrieb er optische Drehbücher, so für die Filme "Aktion J", der am Beispiel von Globke die faschistische Judenverfolgung dokumentierte, und "Mord in Lwow", der das Wüten der Wehrmachtseinheit "Nachtigall" unter dem späteren Bonner Minister Oberländer darstellte.

Auch an DEFA-Dokumentarfilmen arbeitete er mit, namentlich als Autor und Animateur. Für den Deutschen Fernsehfunk in Berlin-Adlershof entwickelte er - einer Idee des damaligen Programmdirektors Walter Heynowski folgend - die Reihe "Zeitgezeichnet". Die Sendungen zeigten ihn, wie er auf einer Glaswand mit Fettstift jeweils eine tagesaktuelle Karikatur entwarf. Heinz Grote, seinerzeit Chefredakteur der "Aktuellen Kamera", schrieb mir darüber aus seiner Erinnerung einen ausführlichen Bericht.

An Würdigungen für Leo Haas hat es in den letzten Jahrzehnten seines Lebens nicht gefehlt. 1964 wurde ihm der Kunstpreis der DDR, 1966 der Professorentitel, 1971 der Orden "Banner der Arbeit" verliehen. Seine Vaterstadt Opava ernannte ihn 1981 zum Ehrenbürger. Am 13. August 1983 ist Leo Haas in Berlin verstorben. In Friedrichsfelde fand er seine letzte Ruhestätte.

Unsere Ausstellung möchte einen kleinen Einblick in sein Leben und Werk geben, in seinen persönlichen Entwicklungsweg, in sein Frühschaffen, in die schweren Jahre der Nazi-Lagerhaft, in die Jahre danach, die er dem Kampf gegen Renazifizierung, um gesellschaftliche Veränderungen, dem Ringen um Frieden in der Welt widmete.

Unser Dank gilt der "Mediengalerie", einer Einrichtung der Gewerkschaft ver.di Berlin-Brandenburg im früheren Haus der deutschen Buchdrucker. Sie hat uns die Tafeln einer Ausstellung ausgeliehen, die sie 2008 zum 25. Todestag von Leo Haas veranstaltet hat. Sie wurde inzwischen auch am Ernst-Haeckel-Gymnasium in Werder/Havel gezeigt und soll demnächst nach Opava wandern.

Unterstützt wurden wir dankenswerterweise auch durch Leihgaben und anderweitige Mitarbeit von der Staatlichen Bücher- und Kupferstichsammlung Greiz und ihrem "Satiricum", von Herrn Claus Herrmann aus der Familie von Leo Haas und nicht zuletzt von unserem unermüdlichen Freund Harald Kretzschmar, der jahrelang mit Leo Haas zusammengearbeitet hat.

Mögen uns aus dieser Ausstellung neue Kraft, neuer Mut in der Arbeit für Frieden, Bürgerrecht und Menschenwürde zuwachsen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

"Leo Haas", Zeichnung von Harald Kretzschmar in "Eulenspiegel" 34/1983

Leo Haas: "Weihnachten in Ravensbrück", Illustration zu Bodo Schulenburg "Es war einmal ein Drache"

Raute

Freundeskreis "Kunst der DDR"

Hans-Georg Sehrt

Martin Wetzel 1929-2008

Plastik und Zeichnungen

Eröffnungsrede zur Ausstellung in der GBM-Galerie Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gudrun Wetzel,
zunächst erst einmal freue ich mich darüber, dass es eine Ausstellung hier in Berlin in der GBM-Galerie für den Hallenser Martin Wetzel gibt.

Er war ein Bildhauer, der sich Zeit seines Lebens zu dem bekannt hat, was den wirklichen Bildhauer ausmacht, eben dem Bild des Menschen, der künstlerischen Gestaltung eines humanistischen Menschenbildes. Dabei war der Start für ihn gar nicht in die Kunst, sondern eine Lehre als Ofensetzer und einige Zeit danach auch noch die Tätigkeit als solcher. Doch ein kleiner Umweg - beides, Ofensetzer und Modelleur sollte sich später als höchst hilfreich auswirken - führte ihn schließlich an das "Institut für Künstlerische Werkgestaltung Burg Giebichenstein, Halle", so der Name der heutigen Burg Giebichenstein, Hochschule für Kunst und Design, Halle. Hier studierte er bis 1958 in der Fachrichtung Plastik bei Gustav Weidanz. Dieser Bildhauer war mehr als nur der wichtige Lehrer für ihn. Gerhard Lichtenfeld, der einige Jahre ältere Bildhauerkollege an der "Burg", der spätere Nachfolger von Gustav Weidanz in der Leitung der Bildhauerklasse bis zu seinem zu frühen Tod 1978 (Darauf folgte Bernd Göbel, der seit 2009 im Ruhestand nun seinerseits von Bruno Raetsch abgelöst wurde, alles "Burg"-Schüler.), zu Gustav Weidanz: "Als ich vor fast 30 Jahren wagte, mich in der Bildhauerei zu versuchen, galten an der Burg Giebichenstein in Halle - einer wenig traditionsbelasteten Schule - die "Vier großen M", Maillol, Marcks, Marini, und Moor, als Vorbilder reinster Plastik. Rodin wurde damals schamhaft verschwiegen. Die "Vier großen M" verkörperten das Ausbildungsprogramm. Mein Lehrer Weidanz war auf dem Gebiet der angewandten Bildhauerei ihr Sprachrohr."(1)

Martin Wetzel, sozusagen indirekt ergänzend, einmal im Gespräch zu mir: "Den Sinn für Maßverhältnisse konnte der Bursche (gemeint war Weidanz) abhandeln, selbst an einer alten Treppe." In diese Atmosphäre kam also Martin Wetzel, und ab diesem Zeitpunkt sollte ihn die "Burg" nicht mehr loslassen, auch wenn es durch die Zeiten keineswegs immer ein Zuckerlecken war. Es ist wohl gerade der Geist dieser Schule, in der seit ihrer Gründung durch Paul Thiersch 1915 Wert auf das Handwerk, auf die Beherrschung des Handwerks als Grundlage aller Kunst gelegt worden war, der es Martin Wetzel, der ja eben auch vom Handwerk kam, angetan hatte. Nicht zufällig arbeitete er an Aufbau und Einrichtung der Gießerei mit. Hier war es das Wachsausschmelzverfahren, ein altes, zeitweise in neuer Zeit etwas in Vergessenheit geratenes Bronzegussverfahren, an dessen Nutzbarmachung für die Kunst Martin Wetzel an der "Burg" federführend beteiligt war. Aber eigentlich ist federführend zu ungenau, denn er war bis 1962 als Fachinstrukteur in der Gießerei, danach bis 1968 wissenschaftlich-künstlerischer Mitarbeiter und Assistent dort, und schließlich Dozent im Fachbereich Plastik.Von 1974 bis zu seiner Emeritierung 1994 leitete er den Fachbereich Keramik (seit 1975 als Professor). Hier wirkte sich also, wie schon angedeutet, seine frühere Ausbildung und Tätigkeit wiederum sehr positiv aus. Das galt für die Arbeit mit den Studenten, aber auch für die eigene künstlerische Tätigkeit.

Das allgemeine Lehrerdasein war das eine, das andere war das, was für mich den erfolgreichen Künstlerlehrer ausmacht - seine ständige Arbeit am Objekt. Mit großer Kontinuität und großem Fleiß entstand ein Lebenswerk, von dessen Komplexität und Breite die Zeitgenossen und auch so mancher Fachkollege kaum eine Vorstellung haben. Gudrun Wetzel hat sich ein Werksverzeichnis zur Aufgabe gemacht, um es vor Augen zu führen und auch die Nachweisarbeit zu sichern. Eine Sisyphosarbeit, noch dazu, weil sie es nun traurigerweise allein zu Ende führen muss. Ihr ist sehr zu danken. Denn die Zeiten sind schnelllebiger geworden, und die figürliche Kunst hat es trotz langsamen Wiederentdeckens ihrer zeitlosen Qualitäten momentan in den Museen und bei den großen Gegenwartsausstellungen immer noch recht schwer. Neben durchaus anerkennenswerten künstlerisch qualitätsvollen Abstraktionen und Grenzüberschreitungen nehmen Belanglosigkeiten, Austauschbares und nur Gedachtes, aber unprofessionell Umgesetztes einfach oft noch zuviel Raum ein. Doch Jammern ist da fehl am Platz, dagegen helfen nur Ausstellungen wie diese.

Es sind eigentlich alles keine spektakulären Werke und doch geben sie einen Eindruck von dem, was Martin Wetzel an Intensität, Können, Geist, Phantasie und Realitätsgefühl in seinen Arbeiten einsetzen konnte.

Sind es anfangs noch die eher ausgeglichenen, etwas überlängten strengen Formen seines Meisters und Lehrers Gustav Weidanz, drängt ab etwa 1965 zunehmend das M mit dem Gesamtnamen Maillol in den Vordergrund. Hier fand Martin Wetzel sinnlichere, schwellende Formen, ohne dass sie das Maß verloren hätten, die ihm gefielen und seinem Wesen entgegen kamen. Sie können das z. B. gut bei der sich genussvoll etwas drallen der Sonne entgegenstreckenden weiblichen Figur "Frühling" (1965) sehen. Das ist nicht abstinent, sondern hier zeigt sich offensiv die Freude des Bildhauers am Sinnlichen des menschlichen, vor allem des weiblichen Körpers.

Die Terrakotten gewinnen neben den Bronzearbeiten bald an Gewicht in seinem Tun, naturgemäß besonders ab dem Zeitpunkt, zu dem er Leiter des Fachbereichs Keramik wird.

Wolfgang Hütt dazu: "Mit fast spielerischer Anmut meistert er die statuarische Verlagerung der plastischen Massen. Einige dieser Terrakotten erhalten ihren besonderen Reiz durch vorsichtig gesetzte farbige Akzente oder durch Strukturen, die das Einbrennen von Oxiden zusätzlich betonte."(2)

In der Ausstellung finden sie Beispiele aus späteren Jahren, die für die Perfektion und das ausgeprägte Gefühl des Bildhauers für Körperlichkeit am weiblichen Torso wie auch bei der "Liegenden im Haar" - schon allein ein schöner Titel, der mehr zu Rodin als anderen weist - stehen. Martin Wetzel modelliert mit Vorliebe seine Figuren, obwohl die Technik des Gipsabgusses bei ihm auch zu finden ist, da sie sich für Großplastiken gut eignet, wie es schon Ernst Barlach und in seiner Fortsetzung Gerhard Marcks an der Fassade der Marienkirche in Lübeck vorgeführt haben. Brunnen von Martin Wetzel in Erfurt und Halle zeugen davon.

Für den Bronzeguss steht in der Ausstellung ein vollendeter weiblicher Torso, ganz im Gegensatz zu manchem Torso manch anderen Bildhauers, bei dem man das Gefühl hat, es fehlt wirklich etwas, der für die Sicherheit Martin Wetzels bei der Gestaltung der Körperpartien steht und zugleich auch zeigt, wie wichtig ihm die Oberfläche seiner Plastiken ist. Bei den Gipsen müssen Sie ich vorstellen, dass sie häufig für die Umsetzung in anderes Material gedacht waren. Aber schon hier macht die Bearbeitung oft deutlich, wie er es sich gedacht hat.

Bronze, Kalkstein, Terrakotta, Gips, Fayence kann man zwar sehen, aber das Haptische verlangt eigentlich, dass man sie begreift, dann begreift man sie wohl erst richtig und auch ihren Schöpfer. Aber das ist nun mal die Crux von Ausstellungen in Museen und andernorts. Man bräuchte es zu Hause, wie diese kleine Stehende, knapp 20 cm hoch, Bronze, einzige Kleidung ein schmales Band um die Hüfte mit einer Rose an der Seite, leicht geneigter Kopf, keuscher Blick, auf meinem Grafikschrank - ein Geschenk von Martin Wetzel, das ich, das wir sehr lieben.

Martin Wetzel hat, wie schon bemerkt, einen ausgeprägten Sinn für die Schönheit, besonders die weibliche und eine ganz natürliche Erotik. Das heißt nicht, dass er nicht mit klaren Augen die Welt gesehen hätte. Unrecht, Gefahr, Probleme, Gewalt. Auch dazu hat er sich als Bildhauer überzeugend geäußert. Besonders in seinen Reliefplastiken findet sich dazu einiges, es sei aber auch auf die das Leid und die Gefährdung des Menschen artikulierende Gestaltung verwiesen, wie sie sich bei der Bronze "Mann am Pfahl mit verbundenen Augen" (1976/77) äußert. Eine Figur auch ohne die bekannten Attribute Christus oder dem heiligen Sebastian zuordnenbar. Aber auch der auf der Einladungskarte für diese Ausstellung zu sehende eindrucksvolle männliche Akt mit dem Titel "Verzweiflung" (1971) gehört hierher. Doch es sind nicht nur die großen Gesten, die ans Herz gehen, sondern Martin Wetzel hat gerade auch in der kleinen Form seine Stärken in der Gestaltung menschlicher Alltäglichkeit gehabt. Eben das Bekenntnis zur Schönheit, oft auch mit Humor gepaart, nicht übertrieben, und doch hoffnungsvoller Optimismus. Und wenn ich von der Oberfläche, dem Reiz der Oberfläche, der von seinen Plastiken ausgeht, sprach, dann zeigt sich für mich die ihr geltende Aufmerksamkeit des Bildhauers auf überzeugende und schöne Weise in seinen Fayencen aus den neunziger Jahren. Sie strahlen eine Grazie und Eleganz aus, vielfach bei zurückgenommener Formensprache, die sich fast der klassischen Antike annähert. Im Dekor sparsam, fast streng und doch ganz akzentuiert in der Farbigkeit, mitunter mit Glanz, im Faltenwurf und in den Körperformen.

Ich weiß, dass es Martin Wetzel (und auch Gudrun) in diesen neunziger Jahren aus verschiedenen Gründen zeitweise nicht so gut ging. Aber das findet man nicht als Spiegel in diesen Arbeiten. Es ist wohl das Aufrichten an der Schönheit und das Spiel mit der Schönheit, der menschlichen Schönheit, das ihm bis zuletzt wichtig war. Auch seine kleinen Terrakotta-Neujahrs-Glückwunsch-Medaillons künden davon. (Gudrun Wetzel hat es übrigens genauso gehalten mit ihren zurückhaltenden freundlichen Landschaftsbildern und Stillleben, die sie bewusst hier nicht neben die ausgereiften Arbeiten ihres Mannes hängen wollte.)

Auch das passt dazu: Ich erinnere mich sehr gut an den letzten Besuch bei ihm etwa zwei Wochen vor seinem Tod im vergangenen Jahr. Es ging ihm gesundheitlich sehr schlecht. Wir haben auch darüber gesprochen, aber wir haben auch über Kunst allgemein und auch über seine Kunst gesprochen, und das ließ ihn sichtlich zumindest für einige Minuten seine Misere etwas vergessen.

Doch noch etwas anderes: Leicht vergisst man über dem bildhauerischen Werk Martin Wetzels seine ausgeprägten zeichnerischen Fähigkeiten, die im Gegensatz zu anderen Bildhauern meines Erachtens als eigenständiges Werk bzw. eigenständiger Werkteil neben dem Bildhaueroeuvre dieses Künstlers zu verstehen sind und viel zu wenig bekannt sind. Deshalb sei auch ein kleiner Blick auf die Zeichnungen getan, die ja erfreulicherweise hier mit in diese Ausstellung einbezogen wurden. Hier äußert sich Martin Wetzel auf zweierlei Weise. Da ist einmal die typische Bildhauerzeichnung, bei der es in linearer Darstellung um die Situation der Figur im Raum geht und um die Kennzeichnung der Körperlichkeit durch von Licht getroffener Körperteile und im Schatten liegender Körperformen, meist durch grobe Schraffuren oder Kreuzlagen. Hier ist die Beziehung zur Plastik ganz direkt. Die zweite von Martin Wetzel mit Bravour geübte Zeichnungssprache lässt seine Akte als sichtlich erlebbare und erlebte Körper erscheinen, durchgezeichnet, das Blatt füllend und in feinem Lineament, auch mit Zwischentönen und gewischtem Grau, erinnernd an die Vorarbeiten für fein ziselierte große Kupferstiche und doch ganz malerisch. Auch bei seinen Entwurfsarbeiten für plastische Objekte zu anderweitigen Themen wählte er diese aufwändige Zeichentechnik.

Martin Wetzel hat sich immer als Bildhauer betätigt, aber er hatte eine Professur für Keramik an der "Burg". Und damit war er - neben seiner ehemaligen Kommilitonin Gertraude Möhwald - einer derjenigen, die mit ihren Arbeiten versucht haben zu verdeutlichen, dass es eigentlich gleich ist, aus welchem Material die Figuren geformt werden. Der Ton ist zwar weicher und lässt daher andere Formen zu - doch es ist gleichberechtigte und anspruchsvolle Kunst, gleich ob als Keramik oder als Bronze oder aus dem ihn ob seines Widerstandes beim Bearbeiten reizenden kompakten Stein. Gerade ihm schrieb er, Martin Wetzel, die stärkste erzieherische Wirkung zu, da man eben nur einmal unüberlegt schlägt und die geplante Vollfigur wird zum ungeplanten Invaliden. Und das beim Preis der Steine in der Neuzeit! Wichtig und maßgebend bei allem bleibt: Martin Wetzel zeigt, dass das richtige Gefühl für Maß und Form über Wert, Qualität und Unwert einer Plastik, allgemein eines Kunstwerkes, entscheidet, nichts anderes.

Abschließend sei noch ein Blick auf den Menschen Martin Wetzel getan. Ich denke, das gehört einfach dazu, wenn man sich erinnert. Und eben dann noch im Zusammenhang mit einem Preis, der am Tag der Menschenrechte verliehen wird, und einer Ausstellung, die wohl die einzige Würdigung seines runden Geburtstages ist, denn er wäre am 17. Dezember 2009 80 Jahre alt geworden.

Martin Wetzel gehörte keineswegs zu den verklemmten, in höheren Sphären schwebenden ätherischen Künstlern. Er war praktisch, direkt, humorvoll und sinnlich. Und auch das finden Sie natürlich bei genauem Blick allenthalben in seinen Arbeiten. Sein besonderes Verhältnis zur Natur und zur Natürlichkeit hat ihn sicher auch vor der eigentlich einem braven deutschen Hochschullehrer durchaus anstehenden akademischen Prüdigkeit geschützt. Offenheit der Sinne und eine vordergründige Freude beim Gestalten fern bequemer Anlehnung. Und eine mit all dem verbundene erfrischende Eigenständigkeit in Gedanken und Handeln zeichneten ihn aus und ließen den Umgang mit ihm zu den Begegnungen werden, an die man sich gern erinnert, so wie ich es heute getan habe. Im Übrigen ist dem Schlossmuseum Frankenhausen und besonders auch Renate Weinert zu danken, dass der wesentliche Teil der Arbeiten von Martin Wetzel komplex und in guter Betreuung bewahrt wird und eben auch für solche Ausstellungen wie diese zur Verfügung steht.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie von all dem, was ich Ihnen erzählt habe, etwas finden mögen beim Betrachten der Werke von Martin Wetzel und dass Sie dabei auch etwas von der Freude empfinden mögen, die er nach meinem Eindruck immer an seiner künstlerischen Arbeit gehabt hat.


Anmerkungen:

(1) Lichtenfeld, Gerhard: Die "Vier großen M" 1975. In: G. L. und Schüler. Kunsthalle Bad Kösen. 1986 Katalog S. 13
(2) Hütt, Wolfgang: Martin Wetzel, Katalog, Seeheim-Jugenheim, 1997, o. S.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Einladungskarte zur Ausstellungseröffnung, gestaltet von Prof. Rudolf Grüttner
- Torso I, 1967, Bronze, 70 cm


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Man steht im Leben immer wieder vor der Wahl, es sich selbst leicht und den anderen schwer zu machen - oder umgekehrt. Aber wann hat man denn die Wahl?

Arthur Schnitzler

Raute

Rezensionen

Peter Michel

Selbst sehen, denken, urteilen

Lothar Lang: Ein Leben für die Kunst. Erinnerungen, Faber & Faber Verlag GmbH 2009,
Harteinband mit Schutzumschlag, 336 Seiten, 45 Abb. (sw), ISBN 978-3-86730-091-9, 19,90 €

Das Lebensfazit eines souverän denkenden und handelnden Menschen liegt vor. Lothar Lang ist wohl der intimste Kenner der Kunst im Osten Deutschlands, ihrer Verflechtungen und Verzweigungen, ihrer öffentlich sichtbaren und verborgeneren Qualitäten, ihres Reichtums und der Bedingungen, unter denen sie existierte. Viele haben auf ein solches Buch gewartet; es wuchs in der Stille und sammelt auf nahezu enzyklopädische Weise Wichtiges, das heute in Vergessenheit zu geraten droht. Die Vereinfacher sind seit Jahren am Werk; erst kürzlich präsentierten sie mit der Ausstellung Kunst und Kalter Krieg im Berliner Zeughaus wieder ein typisches Ergebnis ihrer Scheuklappensicht. Gut, dass Lothar Langs Erinnerungsband, unterstützt von der Pirckheimer-Gesellschaft, gerade jetzt erscheint.

Ein Kerngedanke steht bereits am Anfang: Verantwortung vor der Kunst schließt humanistische Verpflichtung ein (S. 87). Damit kennzeichnet Lothar Lang die Haltung des schwäbischen Holzschneiders HAP Grieshaber, zu dem viele Künstler und Intellektuelle der DDR ein freundschaftliches Verhältnis hatten; der Satz gilt jedoch ebenso für ihn. Er wendet sich an einen kunstmündigen Leser. Den größten Gewinn haben wohl jene, die die Entwicklung der bildenden Künste in der DDR mit offenen Augen und Sinnen verfolgen konnten mit der Bereitschaft, sich ihr vorurteilslos zu nähern, nicht in Denkschablonen zu verfallen und dogmatische Enge zu meiden. Faszinierend ist immer wieder, wie er mit einem weiten Blick auf die deutsche, europäische und in weiterem Sinne internationale Kunstentwicklung das Werk einzelner Künstler oder Künstlergruppen erschließt und wertet, wie er Querverbindungen herstellt - auch zu anderen Künsten, vor allem zur Literatur und zum Theater - und sich in der Kunst der Gegenwart ebenso sicher bewegt wie in der Historie. So entstand eine Kunstgeschichte der persönlichsten Art, ein unverzichtbarer Beitrag zur tatsächlichen, so notwendigen und immer wieder durch vorgefasste Meinungen behinderten Aufarbeitung der ostdeutschen Kunstentwicklung. Und seine Sprache macht das Lesen zum Genuss, manchmal im Plauderton, meist aber in einer wohldurchdachten Mischung aus wissenschaftlicher Akkuratesse und feuilletonhafter Freizügigkeit. Es gibt keine gestanzten Wendungen, sondern eine aus reicher Erfahrung gewonnene Unabhängigkeit, auch in der Form.

Im Personenregister, das dem Text folgt, stehen 750 Namen von Künstlern, Philosophen, Schriftstellern, Verlegern, Druckern, Galeristen, Kunsthistorikern, Bibliothekaren, Antiquaren usw. Wenn Lothar Lang gegen Ende seiner Reflexionen erschrocken feststellt, dass er viele Künstler, die er kennt oder kannte, unerwähnt ließ (S. 316), so steht ihm doch - wie jedem, der sich mit diesem Bereich befasst - das Recht auf subjektive Vorlieben zu. Immer wieder kommt er in den unterschiedlichsten Zusammenhängen z. B. auf Gerhard Altenbourg, Max Beckmann, Carlfriedrich Claus, Fritz Cremer, Heinrich Ehmsen, Max Ernst, Wieland Förster, Alberto Giacometti, Hermann Glöckner, Dieter Goltzsche, Bernhard Heisig, Gerhard Kettner, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Käthe Kollwitz, Wilhelm Lachnit, Harald Metzkes, Gabriele Mucchi, Otto Niemeyer-Holstein, Pablo Picasso, Curt Querner, Hans-Theo Richter, Wilhelm Rudolph, Herbert Sandberg, Werner Stötzer, Werner Tübke, Herbert Tucholski, Hans Vent, Albert Wigand und Horst Zickelbein zurück. Mit diesen wenigen Namen ist das Programm angedeutet. Aus seinen Erinnerungen an Begegnungen mit Künstlern und Werken sprechen Achtung, oft Verehrung und Herzenswärme, auch dann, wenn er kritische Anmerkungen nicht verschweigt. Denkt er an Künstler, die aus der DDR ausbrachen oder vertrieben wurden - darunter Hans Körnig, Horst Strempel, Carl Crodel, Kurt Bunge, Gerhard Richter, Günter Uecker und Klaus Staeck -, so klagt er einen verhängnisvollen Umgang mit ihnen an, bleibt aber bei der Wahrheit, verfolgt ihren Weg weiter, ordnet sie nicht pauschalierend in die Rubrik Ausgebürgert ein und schmuggelt keine Namen hinzu, wie es Hartmut Pätzke praktiziert, um das Unrecht noch unrechter zu machen. Lothar Lang lässt sein Leben Revue passieren: Er prägte über Jahrzehnte die kunstkritische Arbeit der Weltbühne, war Ausstellungsmacher, Leiter des Kunstkabinetts in Berlin-Weißensee und der Kabinettpresse Berlin, Herausgeber großer Mappenwerke, Chefredakteur der Marginalien von August 1964 bis zu seinem 70. Geburtstag, aktiver Mitgestalter der Pirckheimer-Gesellschaft und Präsident der internationalen Exlibris-Vereinigung F.I.S.A.E.; er ist Autor bedeutender Editionen zur Geschichte der Buchillustration (z.B. Expressionismus und Buchkunst), zum Umgang mit Kunst (z.B. Der Grafiksammler) und zur Kunstgeschichte. Sein Standardwerk Malerei und Grafik in der DDR erschien als ergänzte Wiederaufnahme 2002 bei Faber & Faber unter dem Titel Malerei und Grafik in Ostdeutschland; und er schrieb Monographien über das Bauhaus, über Grosz, Guttuso, Klee und andere.

Im Erinnerungsbuch reflektiert er die Entstehung und das Schicksal solcher Manuskripte und antwortet auf die Frage: Mit wem berätst du dich? Mit niemandem. Ich kann selbst sehen, denken und urteilen. Das brachte ihm nicht nur Freunde. Manches wurde abgelehnt oder auf die lange Bank geschoben. Im Juli 1966 äußerte der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Schwerin, Bernhard Quandt, anlässlich der Zurückweisung eines Katalogtextes über Wieland Förster, Lothar Lang missachte das Volk und halte es für dumm. Und von einem Abteilungsleiter aus dem Ministerium für Kultur kam die Meinung, Lothar Langs Texte seien subjektivistisch, unwissenschaftlich, esoterisch und vertrügen sich nicht mit den Positionen der Arbeiterklasse (S. 119). 1968 wurde das Kunstkabinett geschlossen und 1969 verlor Lothar Lang seine Dozentur. Natürlich trafen um solche und andere Vorgänge, doch er ließ sich nicht beirren. 1976 - während der Präsidentschaft Willi Sittes im Künstlerverband der DDR - wurde er rehabilitiert und zum Kurator des DDR-Teils der documenta 1977 und der ersten großen Präsentation von DDR-Kunst in Paris berufen. Lothar Langs Kommentar: Es zeigte sich, dass ich kein Oppositioneller gewesen bin, sondern ein etablierter Außenseiter (S. 151).

Alles das wird im Buch lebendig. Für mich geriet das Lesen - um eine Formulierung Lothar Langs zu gebrauchen - zum Sturzbach der Gefühle. Dass ich ihn nicht überreden konnte, für die Bildende Kunst zu schreiben, kann ich nun besser verstehen; die Verletzungen aus der Zeit der Formalismusdiskussion und ihrer Nachwirkungen waren noch nicht verheilt. Über manchen Künstler hätte ich gern mehr gelesen. Sein Feuilleton über Gerhard Kettner, das er für diese Erinnerungen schrieb, spart leider das bittere Ende dieses Großen der Zeichenkunst aus, der in der Nachwendezeit von eigenen Kollegen in tiefe Verzweiflung getrieben wurde. Die Passagen über die Fünf Erdteile, die Werner Tbke für das Interhotel Astoria Leipzig geschaffen hatte, und über andere Werke sind nun mit dem Wissen über ihre Beseitigung oder Zerstörung verbunden. Da sind auch meine Erinnerungen an manche Begegnung mit Lothar Lang in Freienbrink, in Berlin, auf Schloss Burgk und in Spreenhagen.

Er zitiert auf Seite 302 Bernhard Heisig, den er als Jahrhundertfigur deutscher Kunst erkennt: Ein Volk ist ohne seine Geschichte kunstunfähig. Das Buch weist mit Nachdruck darauf hin, dass diese Erkenntnis die Existenz der DDR unwiderruflich einschließt. In dem schon einmal genannten wissenschaftlichen Band Eingegrenzt - Ausgegrenzt wird Lothar Lang unter die einfachen Erfüllungsgehilfen der Macht einsortiert. O sancta simplicitas!


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Rezensionen

Peter Michel

Fiktiv und wahr

Wolfgang Hütt: "Es gibt kein Arkadien", Roman, Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle 2009,
328 Seiten, Ganzleinen mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-86634-680-2, 22,50 €

Kaum ein Kunstpublizist ist so eng mit der Entwicklung der bildenden Kunst im Osten Deutschlands verbunden ist wie Wolfgang Hütt. Viele werden sich an seinen im Henschelverlag in zahlreichen Auflagen erschienenen Band "Wir und die Kunst" erinnern, der den Zugang zu den Werken der Baukunst, der Malerei und Grafik, der Plastik und Bildhauerei in Vergangenheit und Gegenwart erleichterte, der von Kunsterziehern, Studenten, Mitgliedern der Zirkel des bildnerischen Volksschaffens ebenso gern genutzt wurde wie von Menschen der unterschiedlichsten Berufe. In vielen Bücherregalen steht er heute noch. Hütt wurde als Verfasser wissenschaftlicher, populärwissenschaftlicher und monografischer Bücher bekannt, als unermüdlicher Vermittler zwischen Künstlern und Kunstbetrachtern, als Autor von Werken zur Kunstgeschichte, z. B. zur Düsseldorfer Malerschule, als publizistischer Begleiter von Malern, Grafikern und Bildhauern, als langjähriges Mitglied des Redaktionskollegiums der Zeitschrift "Bildende Kunst" und als Autor von Kinderbüchern. In besonderer Erinnerung ist mir sein Buch "Der Drachentöter im Paradiesgärtlein", erschienen in der Reihe "Kunst für Kinder" im Kinderbuchverlag Berlin, das Lesern ab 12 Jahren eine erste intensive, neugierig machende Begegnung mit Grundlagen der christlichen Ikonographie ermöglichte, und der Band "Was Städte und Häuser erzählen", eine Einführung in Architektur und Plastik und in die Kunst, die Umwelt zu betrachten. Von tiefer Sachkenntnis zeugte sein Buch "Künstler in Halle" in der Folge "Welt der Kunst" des Henschelverlages. Und 2004 gab der Verlag Janos Stekovics seine Publikation "Gefördert. Überwacht. Reformdruck bildender Künstler der DDR. Das Beispiel Halle" heraus, die sich durch Sachlichkeit und Objektivität wohltuend von solchen "wissenschaftlichen" Hetzschriften wie "Eingegrenzt. Ausgegrenzt" (Akademieverlag Berlin) unterschied. In den Achtziger- und Neunzigerjahren erschienen seine autobiographischen Schriften "Heimfahrt" und "Schattenlicht".

Nun liegt sein Roman "Es gibt kein Arkadien" vor. Es geht dann um eine Gruppe bildender Künstler aus der DDR, die sich anlässlich einer Ausstellung ihrer Werke in der BRD aufhält. Sie trifft dort auf einen Kollegen, der vor vielen Jahren die DDR verlassen und sich in Westdeutschland eine neue Existenz aufgebaut hat. Eine Malerin begegnet in ihm ihrem früheren Geliebten wieder. Die nun aufbrechenden Erinnerungen führen in die Fünfzigerjahre, in die Zeit der Realismus-Formalismus-Diskussion zurück. Der Roman, dem man in jeder Zeile einen Kunsthistoriker als Autor anmerkt, gewinnt aus dieser Konstellation sein Kompositionsprinzip: ein Hin- und Herpendeln zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die für Künstler z. T. existenziell bedrohlichen Einengungen in der kulturpolitischen Praxis der frühen DDR werden mit den Problemen der Künstlerexistenz in der BRD konfrontiert, ohne Schwarzweißmalerei und immer bezogen auf die ganz subjektiven Gefühle und Handlungen der Akteure.

Während das "unproduktive Aufkochen der Fünfzigerjahre" in der Kunstpublizistik der DDR bis zu ihrem Ende nicht erwünscht war, gab es in der Belletristik der Achtzigerjahre schon eine größere Offenheit. Das war für Wolfgang Hütt Anlass, dieses Thema als Roman zu gestalten. Das Manuskript war 1988 abgeschlossen. Der Aufbau-Verlag lehnte es wegen "Papiermangels" ab. Der Hinstorff-Verlag Rostock hatte durchaus die Absicht, das Buch publikationsreif zu machen. Darüber kamen die "Wende" und das Ende für die Produktion der meisten DDR-Verlage. Nun liegt dieser Roman vor, leider zu einem Zeitpunkt, da die "Delegitimierung" der DDR einen neuen Höhepunkt erreicht. Er gemahnt uns daran, dass eine schonungslose Analyse der eigenen Fehler das Ende der DDR vielleicht verzögert hätte, obwohl allen klar ist, dass die Zusammenhänge größer sind, die zu ihrem Zusammenbruch führten.

Die Personen der Handlung sind fiktiv, doch für jede gibt es lebende Vorbilder, und natürlich fließen auch autobiographische Erfahrungen ein. Das ist ein Roman, den jene richtig rezipieren können, die bewusst die Entwicklung der DDR mitgestaltet und miterlebt haben.Von den "Delegitimierern" kann er missbraucht werden. Das aber war nicht die Absicht Wolfgang Hütts.


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Rezensionen

Georg Grasnick

Marx ist gefragt

Lorenz Knorr und Walter Tschapek: "Karl Marx in unserer Zeit", Verlag für Akademische Schriften, Bad Homburg, 2009,
256 S., ISBN 978-3-88864-462-7, 16,00 €

Um es vorwegzunehmen, das vorliegende Buch dürfte eine wertvolle Hilfe vor allem für junge Menschen sein, die sich mit dem Werk von Karl Marx auseinandersetzen möchten. Die gegenwärtige globale Krise hat sichtbar das Interesse von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Position erhöht, Konkretes über Marxens Gedankenwelt, über die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Profitwirtschaft und die Ursachen der Krise zu erfahren. Die Neuerscheinung zeichnet sich besonders dadurch aus, dass es dem Leser die analytische und emanzipatorische Kraft des Marxismus für das Verständnis der Entwicklungstendenzen in der Welt des Kapitals anschaulich vor Augen führt.

Lorenz Knorr legt zunächst - mit Rückblick auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 - die Vorgeschichte der gegenwärtigen globalen Krise dar. Er konstatiert, wie seinerzeit durch staatliche Eingriffe in die Wirtschaftspolitik, also bei Widerlegung der These von den "Selbstheilungskräften der Wirtschaft", Konsequenzen aus der Keynes'schen Lehre gezogen wurden. In den USA mit dem New Deal, einem "linken" und im faschistischen Deutschland mit einem "rechten Keynesianismus", der durch intensive Kriegsvorbereitungen charakterisiert war.

Als Ursache der heutigen Krise des privatwirtschaftlichen Systems, wird auf drei Haupttrends verwiesen. Einmal auf die Deregulierung aller grundlegenden Regelungen und Verpflichtungen, die nach 1945 getroffen wurden, um zu verhindern, dass solche Schrecken und Leiden, wie sie durch zwei Weltkriege und den Faschismus verursacht worden waren, sich wiederholten. Weiter die wahnwitzigen, vom US-Militär-Industrie-Militär-Komplex veranlassten Kriegsbudgets, bei fortschreitend "ausgelauchter Gesellschaft". Und schließlich die nach dem Ende der Systemalternative im Rahmen einer "Neuen Weltordnung" mit Ressourcenkriegen praktizierte Missachtung des Völkerrechts und totale Skrupellosigkeit gegenüber militärisch schwächeren Staaten bzw. Völkern.

In der BRD wurde nach "Wohlfahrtsstaat" und verordneter "Sozialpartnerschaft" nach dem Wegfall der Systemalternative außenpolitisch die im Wesen des Imperialismus liegende Kriegsbereitschaft aktiviert und im Innern die Deregulierung zu Gunsten des "freien Marktes" durch schrittweisen Abbau des Sozialstaates betrieben.

Die von den USA angeheizte Hochrüstung bei völlig unzureichender Wertschöpfung habe weltweit zur Reduzierung der Ausgaben für Sozialinvestitionen mit gravierenden Folgen vor allem für die Entwicklungsländer geführt.

Knorr veranschaulicht, dass die Ergebnisse der Beratungen und Konferenzen der Regierungen kapitalistischer Länder über Wege aus der gegenwärtigen Krise - ob Hilfen für vom Bankrott betroffene Banken oder Konzerne oder bessere Kontrollen sowie Steuerung der Finanzströme - durchweg systemstabilisierenden Charakter haben. Das Grundproblem, die systembedingte Überproduktion bei völlig unzureichender Kaufkraft bleibe bestehen und damit der Weg in die nächste Krise.

Der Autor unterbreitet Überlegungen zu Aktionsfeldern für sozialen Fortschritt, Überlegungen für zunächst pragmatische Schritte, ohne das große humane Ziel aus dem Auge zu verlieren.

In einer Übersicht über die Werke von Marx vermerkt Knorr, dass die gegenwärtige Krise nachdrücklich dessen Erkenntnisse hinsichtlich der wichtigen Gegensätzlichkeiten dieser kapitalistischen Gesellschaft, ihrer Krisenanfälligkeit sowie Verelendung und Inhumanität belegt.

Der Leser wird mit drei Bereichen des Schaffens von Marx vertraut gemacht: mit dem theoretischen Gesamtkomplex "aufeinander bezogener Teilbereiche von Geschichte, Mensch und Gesellschaft sowie Wirtschaft mit dem dazugehörenden ideologischen bzw. kulturellen Überbau". Weiter auf den dialektischen Materialismus, diese höchst produktive sozialistische Methode und Lehre, die es ermögliche, Geschichte und Sozialstruktur der Gesellschaft konkret zu analysieren und transparent zu machen, um Schlussfolgerungen für die Humanisierung des menschlichen Zusammenlebens und eine menschenwürdige Zukunft zu gestalten. Und schließlich den wissenschaftlichen Sozialismus als "umfassende Aktionsstrategie und als bewegende geschichtsbildende Kraft".

Knorr hebt die Bedeutung der Frühschriften von Marx hervor. Er verweist auf das emanzipatorische Ziel, das das Werk durchdringe. Das Privateigentum an Produktionsmitteln, das kapitalistische Gesellschaftssystem blockiere die Selbstentfaltung und die kollektive Selbstbestimmung der Mehrheit der Menschen. Als Voraussetzung für den Machterhält der herrschenden Kräfte werde das gesellschaftliche Bewusstsein mit Lügen und Verdrehungen der herrschenden Ideologie beständig manipuliert und durch Infragestellung der sozialen Sicherheit diszipliniert.

Erinnert wird an die von Marx nachgewiesenen Zusammenhänge von Ausbeutung des Menschen und Überfällen auf andere Völker und dass "mit dem Gegensatz der Klassen im Innern ... die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander" fällt.

Standen die Frühschriften am Anfang des Marx'schen Schaffens, so gelte das von ihm und Engels 1848 fixierte Kommunistische Manifest als Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Sozialismus, und es bildet den Übergang zu den Spätschriften mit dem "Kapital" als Hauptwerk. In ihm seien erstmals innere Strukturen und Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Profitwirtschaft offengelegt: die "immanenten Widersprüche sowie die latente Krisenanfälligkeit infolge des wachsenden Gegensatzes von dynamischer Produktivkraftentfaltung und privilegierten relativ verfestigten Besitzverhältnissen".

Walter Tschapek vermittelt eine sehr hilfreiche Studieanleitung für das "Kapital". Dieses Werk, notwendige Ergänzung zu den Frühschriften, verdeutliche die Stellung des Menschen in Wirtschaft. Gesellschaft und Staat und offenbare, dass die Lösung der Menschheitsprobleme in den Produktions- und Besitzverhältnissen zu suchen ist und erfolgen muss.

Abschnitt für Abschnitt - von Ware und Geld, über die Produktion des absoluten und relativen Mehrwerts, den Arbeitslohn, den Akkumulationsprozess des Kapitals - vermittelt der Autor Empfehlungen und Erläuterungen für das Studium, wobei er besonders darauf aufmerksam macht, dass es beim Studium der ökonomischen Analysen von Marx notwendig sei, "Verständnis für sein methodisches Vorgehen zu erlernen" und das Abstrahieren von allen abweichenden Faktoren zu beachten. Vorgeschlagen wird auch, ganz im Sinne von Marx, eine kritische Haltung an den Tag zu legen, zu unterscheiden, was für Marxens Zeiten Gültigkeit besaß und was für die kapitalistische Produktionsweise generell zutrifft sowie den Sinneswandel bestimmter Worte und Begriffe seit Marx zu berücksichtigen.

Mit Blick auf die gegenwärtige Krise stellt der Autor fest, dass die wissenschaftlich-technische Revolution beweise, dass bestimmende Produktivkraft in der kapitalistischen Produktionsweise die Wissenschaften sind. Sie haben jedoch ihre Dominanz in der Gesellschaft noch nicht erreicht und sind noch an das Kapital gebunden. Ihre und auch der Bildung Befreiung von Privatinteressen sei ein wichtiger, nicht auf die Zukunft zu vertagender notwendiger Schritt zur Lösung angehäufter sozialer Probleme.

In dem Buch sind in einem speziellen Kapitel demokratische Kritiken und Alternativen von Politikern, Wissenschaftlern und Publizisten wiedergegeben. So u. a. von Ex-Bundespräsident Rau, vom ehemaligen UNO-Generalsekretär Butros Ghali, vom Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, vom Journalistenpreisträger Martin Hesse und vom Rechtsphilosophen und ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde.

Und nicht zuletzt: In einem Anhang ist das Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 zu finden.


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Rezensionen

Klaus Georg Przyklenk

Ein weiter Weg zur Würde

Roger Reinsch: Der weite Weg zur Würde, edition bodoni, Berlin 2009,
153 S., ISBN 978-3-940781-05-5, 9,00 €

§ 2
"Würdeverletzung liegt vor, wenn ein Mensch einer Behandlung ausgesetzt wird, die ihn zum bloßen Objekt degradiert und seine Subjektqualität in Frage stellt oder Ausdruck der Verachtung des Wertes ist, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt."

Wo steht so was? Könnte? Sollte es? So steht es in diesem Buch und ist ein Vorschlag des Verfassers, Menschenwürde genau und einklagbar in eine Verfassung zu schreiben. Sechs solcher Paragrafen hat Roger Reinsch am Ende seines Buches vorgeschlagen. Sie sind das Fazit seiner Texte. Die sind vielgestaltig, mal empirisch-historisch, mal philosophisch, oft essayistisch und auch mal reine Dichtung in freien Rhythmen und reimlos.

Es beginnt mit dem allen bekannten, schönen Wort von der Menschenwürde. Es ist in unseren Tagen sehr üblich davon zu reden und klingt gut. Und wer alles davon redet und geredet hat! Es ist ein reicher Zitatenschatz, der da ausgebreitet wird: Salvador Allende, Angela Merkel, der Volksbund der Deutschen Kriegsgräberfürsorge, Raoul Castro und streikende IKEA-Arbeiterinnen, Ulrike Meinhof, Eugen Drewermann und das Werbeblättchen eines Therapiezentrums. Und wir wissen schon, dass sie nicht alle das gleichen Wort meinen können.

Dann beginnt ein Exkurs zur Würde. Die ist erst mal erblich im Haus der Fürsten und geht vom Vater auf den erstgeborenen Sohn über. Immerhin gab es Gegenstimmen im Parlament, als die deutsche erbliche Kaiserwürde beschlossen wurde. Würde also gar nicht von Gott mitgegeben als unveräußerliches Menschenrecht, sondern im Kampf der herrschenden Klasse abgetrotzt.

Daran erinnert zu werden, dass es auch heute noch heißt, in Amt und Würden zu sein, macht nachdenklich. Fragwürdig, welche Würden da heute noch vergeben werden. Das Umfeld des Wortes ist sorgsam ausgeleuchtet worden, der Text genussvoll zu lesen. Und er führt auch hin zum Menschenbild, ein Bild, das jedem einzelnen von uns und überall auf der Welt Würde als unabdingbare Eigenschaft des Menschseins bestätigt. Ein Menschenrecht.

Selbstverständlich hat die kapitalistische Gesellschaft bisher nirgendwo ein Fleckchen Erde so gestaltet, dass dort Menschenwürde für alle Wirklichkeit geworden wäre.

Die sehr anschaulichen, sprachlich anteilnehmend erzählten Leben machen aus dem Text emotional berührende Literatur. Dass Menschenwürde eben nicht voluntaristisch herbeiverordnet werden kann, geht aus den weiteren Kapiteln hervor. Das ist der wissenschaftliche Anspruch des Buches. Es ist klar strukturiert, führt von der Beschreibung der Lebenswirklichkeit auch immer wieder zu den Grundtatbeständen gesellschaftlichen Seins.

Es gehört zu den Vorspiegelungen über diese Verhältnisse, sie als Demokratie zu bezeichnen. Diese Verhältnisse sind (...) wie erkennbar, vom Grundsätzlichen bei also von vornherein ungerecht!

Noch ein Vorzug dieses Buches, seine deutliche Sprache.

Bleibt noch die Frage: "Wie hältst du es mit der Revolution, Roger?" Er hält, er hält zu ihr.

Zur Pariser Commune, zur Oktoberrevolution, nicht weil er Gewalt propagiert, sondern weil er Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen versteht. Und er zitiert Rosa Luxemburg:

Es ist ein toller Wahn zu glauben, die Kapitalisten würden sich gutwillig dem sozialistischen Verdikt eines Parlaments, einer Nationalversammlung fügen. Die imperialistische Kapitalistenklasse überbietet als letzter Spross der Ausbeuterklasse die Brutalität, den unverhüllten Zynismus, die Niedertracht aller ihrer Vorgänger.

Klingt schon wie das Schlusswort für dieses Buch eines streitbaren Materialisten, ist es dann aber noch nicht.

Wie es sich gehört, hat der Autor alle Quellen sorgsam belegt und für jedes Kapitel einen Anhang mit Anmerkungen zum genaueren Verständnis beigegeben.


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Rezensionen

Barbara Hug

Srebrenica

Alexander Dorin: Srebrenica. Die Geschichte eines salonfähigen Rassismus. Verlag Kai Homilius, Berlin, Oktober 2009
ISBN 978-3-8970&839-1, ca. 300 Seiten, 24,80 €

"Der Konflikt um Srebrenica begann 1992 mit bestialischen Massenverbrechen an der serbischen Bevölkerung in und um Srebrenica. Bis 1995 wurden dabei mehrere Tausend Menschen getötet und z. T schwer verletzt. Insgesamt wurden in dieser Zeit in ganz Ostbosnien ca. 190 serbische Dörfer zerstört. Die moslemische Armee und paramilitärische Einheiten verschonten dabei niemanden; vertrieben, entführt, gefoltert und ermordet wurden Frauen, alte Menschen und Kinder, wie auch körperlich und geistig Behinderte. Die westlichen Massenmedien schwiegen über diesen Horror, um das propagierte Bild der serbischen Aggressoren und Alleinschuldigen nicht zu gefährden."

Berichte, Analysen und Dokumentationen mehren sich, die dem Leichentuch aus Lügen, das mit Hilfe der NATO und westlicher Medien über den Balkan gelegt wurde, seine Stimmigkeit absprechen. Serbische Berichte gelten als einseitig, sie werden wenig zitiert. Zu Unrecht, denn sollte einer Stimme aus einem kriegsversehrten Land die wahrheitsgemäße Schilderung von Vorgängen abgesprochen werden können? Ich denke nicht.

Wenn der Nichtkundige vom "Massaker von Srebrenica" hört, versteht er darunter im allgemeinen ausschließlich die Ereignisse, die sich ab Juli 1995, seit dem Tag der Einnahme Srebrenicas durch das serbische Militär, zugetragen haben sollen. Zwischen dem 11. und dem 17. Juli 1995 sollen in der Region Srebrenica vom serbischen Militär bis zu 8000 moslemische Männer erschossen worden sein, gemäß den Angaben der damaligen moslemischen Regierung unter Alija Izetbegovic. Die Massaker und Verbrechen an der serbischen Bevölkerung zwischen 1992 und 1995 wurden von den westlichen Medien totgeschwiegen. Dorin greift daher im ersten Teil seines Buches die Massenverbrechen an fast 3300 Serben auf, hauptsächlich in der Region Podrinje. Diese Verbrechen seien gut dokumentiert, so Dorin.

Mit der Anzahl der von der Izetbegovic Regierung behaupteten 8000 Toten wurden Manipulationen durchgeführt, die Dorin im Sinne der Wahrheitsfindung versucht aufzuklären und darzulegen. Brisant ist hier auch eine Aussage von Hakija Meholic, er war Polizeichef von Srebrenica, dass Bull Clinton im April 1993 ein "Angebot" an Izetbegovic gemacht habe. Clinton soll geäußert haben, dass die USA nur zugunsten der bosnischen Muslime eingreifen könne, wenn die serbische Armee in Srebrenica mindestens einige tausend Menschen ermorden würde ... Die Streitkräfte der Tschetniks sollten in Srebrenica einmarschieren und ein Gemetzel an 5000 Moslems verüben - dann würde es eine militärische Intervention geben ... Also habe Clinton das Massaker von Srebrenica zwei Jahre vorher "vorausgesehen" und eine NATO Intervention "prophezeit...", so Dorin.

Die geheimen Waffenlieferungen durch die MPRI - Privat Military Companies der US, geführt durch ehemalige US-Generäle - führten im Frühsommer 1995 zu immer stärkeren Provokationen aus den Moslemenklaven heraus. Große serbische Einheiten waren nach Ostbosnien in den Raum Srebrenica/Zepa verlegt worden. Gemäß Jürgen Elsässer spielten die geheimen Waffenlieferungen der MPRI eine mitentscheidende Rolle für die weitere Entfesselung des Konfliktes.

John Laughland nannte den Prozess gegen Slobodan Milosevic vor dem ICTY - International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia - in Den Haag ein Zerrbild, einen Hohn auf die Rechtsprechung. Cathrin Schütz widmete ihr Buch zur NATO-Intervention in Jugoslawien ihrem Doktorvater, Dieter S. Lutz. Dieter S. Lutz wurde nicht müde zu versuchen, so meint C. Schütz, seinen Einfluss auf die Politiker der Bundesregierung geltend zu machen, um die deutsche Teilnahme an kriegerischen Handlungen gegen Jugoslawien geltend zu machen.

Wem unterstand die spätere Durchführung der Massaker? Wer führte sie durch? Wer fälschte die Zahlen der Toten und die Todesursachen? Alexander Dorin fand auf späteren Wahllisten insgesamt 3000 Namen von Menschen, die als umgekommen galten. Die Menschen lebten also noch. Alexander Dorin fand Nachweise, nach denen 2000 Tote, die Opfer von Gefechten waren, als Massakeropfer gezählt wurden. Eine umfassende Bestandsaufnahme der Todesursachen wurde durch den serbischen Pathologen Dr. Zoran Stankovic vorgenommen.

Das Bildmaterial des Pathologen umfasst Tausende von Leichen, umgekommen im Gebiet um Srebrenica. Allerdings ergibt die Anzahl der von Stankovic registrierten Toten eine starke Diskrepanz zu den Zahlen, die das Tribunal in Den Haag vorgab gefunden zu haben. Aus einem Buch von Liljana Bulatovic-Medic spricht das nackte Grauen. Es ist eine Sammlung von Zeugenaussagen von überlebenden serbischen Zivilisten, die ab 1992 von moslemischen Soldaten gefangen wurden, in der Folge misshandelt und gefoltert, z. B. von Slavka Matic oder Milka Kovacic.

Dorin dokumentierte vor einigen Jahren in "In unseren Himmeln kreuzt der fremde Gott" verheimlichte Fakten der Kriege in Ex-Jugoslawien. Auch bezüglich Srebrenica wurden ihm Tausende Seiten von Materialien zugänglich, die durch Befragung der Bevölkerung, Quellenstudium, kritische Prüfung, und Interviews vor Ort aufbereitet werden konnten. Und hier lässt Dorin nicht locker. Seine Untersuchung gilt in diesem Buch den Gräueln von Srebrenica.

Zum ersten Mal liegt in deutscher Sprache eine Veröffentlichung vor, die das widerlegt, was als Version der "Massaker von Srebrenica" bereits verfälscht in die Lehrbücher eingegangen ist.

Dorins Bücher sind eine Pflicht für den Historiker, der die Wahrheit sucht. Deutschlands "Elite" zeigte das hässliche Gesicht des Herrenmenschen unmaskiert auf dem Balkan. Die EU baut ihre Festung auf Blut und Leichen, im Balkan und anderswo. Ehemalige Generäle aus Deutschland spielen mit dem "präventiven" Atomkrieg. Andere Kreise inszenieren weiter und mischen weiter auf. Gegenbeweise sind erwünscht, aber nicht zu finden.


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Marginalien

Klaus Georg Przyklenk

Abrechnungen

20 Jahre danach liegt sie nun endlich vor, die Abrechnung. Der größte Elektriker aller Zeiten hat sie im polnischen Fernsehsender tvn24 vorgelegt, eine detaillierte Rechnung betreffs "Sieg über die Kommune". 30 Prozent, so listet er auf, gingen auf sein, Lech Walesas, Konto. Das ist angemessen, denn er kann das auch begründen.

Andere, eigentlich mehr nur seine Helfer, würden von der Öffentlichkeit als Helden gefeiert, was sie aber mitnichten seien. Der größte Anteil an der Beute, nämlich 50 Prozent, müssten ohnehin an Karol Wojtila gehen, denn der habe das Grundkapital zum Unternehmen "Kommunetod" beigesteuert. Der habe die Völker Europas aufgerufen, "das Gesicht der Welt zu verändern". In der eigentlich doch angenehm kommerziellen Sprache der Rechnung dieser vom Papst geforderten Gesichtschirurgie gibt es aber auch zu Herzen gehende Textbausteine: "Es macht mich heute traurig, dass Helden aus denen gemacht werden, die keine waren... "

Und dann spricht er auch aus, dass Mineralnij Sekretär Michail "weder den Kommunismus noch die Berliner Mauer" habe stürzen wollen.

Den letzten Teilposten von 20 Prozent hat Lech Walesa aber doch mehr summierend unter "Rest der Welt" auf die Liste gesetzt. Den Finger auf jeden Posten legen, geht nicht. Das ist natürlich nicht so korrekt, wie man sich eine Elektrikerrechnung wünscht. Da wird es wohl Streit geben. Vielleicht wird festgestellt werden müssen, dass einer mit einem Friedensnobelpreis doch etwas zu viel, der eine Pfarrer, oder die andere Katechetin doch etwas zu wenig abbekommen haben. Sollte vielleicht eine Rückgabe gefordert werden? Reicht es, darauf zu vertrauen, dass jemand freiwillig den Orden zurückgibt? Historische Beispiele solch großmütig-moralischen Handelns gibt es ja. Ganz schwer wird es werden, wenn es darum geht, Einwohnern von Heldenstädten einen gerechten Anteil zu bemessen. Und der Mann mit dem Zettel? Hat er den überhaupt im Blick gehabt? Bei uns im Dorf haben welche das Stasi-Objekt gestürmt. Wie viel Promille? Und der Hausmeister, der ihnen aufgeschlossen hat und ihnen die Räume gezeigt hat? Der auch?

Walesa hat keine Dezimalstellen und kein Komma vorgesehen. Es wird nachzubessern sein.

Und dabei glaubten wir doch, wir hätten schon lange bezahlt.

Raute

Marginalien

Peter Schnetz

Gedichte

Sozialhilfe mit der Eisenfaust,
Angst als Jobmaschine,
Milliarden-Betrügereien.

Die Schlacht der Schlachter,
Enteignung des Misthaufens,
es wird alles gefälscht.

Kunst gegen Krieg,
Kapitalismus und Konsum.

Der Mitmensch zählt nur,
wenn er Rendite bringt.
Was nicht verstanden wird,
wird vernetzt.
Geschwindigkeit führt zur
Einkerkerung.

Staatsrecht auf Überwachung,
Gewaltverherrlichung,
Überleben im Zoo der Edelmarken,
tote Ratten schneiden Grimassen.

Die Welt ist licht genug.
Wenn Strohhalme einen
bunten Strauß machen,
unser blauer Planet
funkelt wie ein Juwel.


Die Unterschichten vor allem dafür loben,
dass sie unten bleiben,
für all die heiligen Momente
in der Krise Betrug,
Manipülation
und Parteikomplott.

Die Goldkäfer krabbeln,
Dilettanten im Pleitenland,
nichts als nationale Leere,
die geheime Geschichte
der Gehirnwäsche,
Prozession der Schädlinge.

Suche Firma,
die ein Idiot führen kann.
Wachstum mit Totalverlust.

Gib mir dein Fleisch,
das Öl ist das Blut
des Sieges.

Aufruhr, Auflösung,
Umsturz und Chaos.
Was vom Leben blieb,
schluckte der Morast.

Sei cool, sei du, sei Superheld,
wo die wilden Äpfel rollen,
gescannt wie Gott sie schuf.

Es gibt kein Erinnern,
nur tückische Gegenwart.


Die Gedichte und eine Illustration von Michael Knobel entnahm der Icarus mit Einverständnis des Verfassers seinem neuen Gedichtband »Rächer der Entlaubten«, Verlag Peter Schnetz, Bamberg, 2009, 132 S.
Der Schattenblick veröffentlicht die Texte mit freundlicher Genehmigung des Autors Peter Schnetz.

Raute

Aphorismen

Alles, was ist, könnte nicht sein, wenn es nicht unendlich wäre.
Johann Wolfgang v. Goethe

Lustige Menschen begehen mehr Torheiten als traurige, aber traurige begehen größere.
Ewald Christian von Kleist

Wo sie uns fürchten, ist unsere Hoffnung, wo sie uns hassen, dort ist unsere Liebe.
Hanns Cibulka

Die ganze Kindheit ist eine Ausbildung zum perfekten Kindsein, am Ende der Kindheit wird man aus dieser Ausbildung entlassen und soll, als ausgebildetes Kind, kein Kind mehr sein. Das ist, als würde man nach Jahren des Fußballtrainings die Lizenz zum Bobfahren bekommen.
Robert Menasse

In der Wissenschaft und in der Kunst wird die doppelte Prüfung des Menschen sichtbar. Wir dürfen das eine dem anderen nicht opfern. In allen beiden brennt der Funke nach Erkenntnis.
Hanns Cibulka

Am Tage des Erfolgs ist man immer überrascht über die Zahl derer, die plötzlich entdeckt haben, dass sie unsere Freunde sind.
Andre Maurois

Die Religion bezieht ihre Legitimität aus Millionen von Mitläufern.
Karen Duwe

Plebiszit - Volksentscheid zur Ermittlung des Herrscherwillens.
Ambrose Bierce

Notwendiges darf man auch zweimal sagen.

Empedokles von Agrigent

Es ist ganz natürlich, dass wir Leute um uns versammeln, deren Verhaltensweisen und Neigungen mit den unseren übereinstimmen.
Mark Twain

Wer verlangt, dass man um wegen seines Reichtums verehre, der hat auch das Recht zu verlangen, dass man einen Berg verehre, der Gold in sich hat.
Ewald Christian von Kleist

Aber ohne Arbeit gibt es kein Glück.
Stendhal


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

SISYPHOS 2009
Ralf-Alex Fichtner, 2009, Lavierte Finelinerzeichnung, 14,8 x 21 cm

Raute

Klaus Georg Przyklenk

Kampf der Bären und Wölfe

zum Titelbild von Hans Grundig

Kein Zweifel, das ist keine Tiermalerei. Das ist auch nicht in der Sklavensprache vorgetragen. Das ist unverhüllt klar. Die Tiere sind keine Tiere. Seit es Äsops Fabeln gibt, werden sie verstanden. Sie sind keine Ausflucht vor der Wahrheit. Sie sind die Wahrheit.

1938, als das Bild entstand, war alles verständlich. Jedermann wusste, wer seine Panzer Tiger und Panther nannte, die U-Boote die Wolfsrudel der Weltmeere. Raubtiere, die Namensgeber für die Waffen der faschistischen Staatsgewalt. Wer da angreift und wer bedrängt ist, es ist Bild geworden. Farbe macht den branstigen Geruch des Krieges erlebbar.

Dabei ist es doch erst 1938. Die deutschen Faschisten haben Österreich geholt, die verratene CSR militärisch besetzt. Bis zum Krieg gegen die Sowjetunion sind es noch drei Jahre. Und doch stellt Hans Grundig als den eigentlich Angegriffenen den russischen Bären in den Mittelpunkt des Bildes. Hellseher war er nicht, nur ein Maler, der in den Kämpfen der Zeit die Interessen der Klassen zu beobachten wusste. Wo anderen unbestimmte Ahnungen und Gefühle den Ausdruck der Werke bestimmten, war es bei ihm das Wissen um die Gesellschaft, in der er lebte.

Hans Grundig war Kommunist. Als Maler hatte er alle künstlerischen Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts verfolgt, auf ihre Nutzbarkeit für das eigene Schaffen sorgsam geprüft. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass seine Farbe von expressiver Kraft und seine fantastischen Bildfindungen von surrealer Überraschung scheinen. Dass er dabei nie die Schwelle zum Abstrakten überschritten hat, ist in seinem Wollen, mit seiner Kunst zu wirken, wohl begründet.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- "Arbeitslose Zigarettenarbeiterin", 1925, Öl
- Aus dem Triptychon "Weg des Faschismus, 1938, rechter Seitenflügel
- "Widerstand", aus dem Radierzyklus "Tiere und Menschen". 1938


*


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Joachim Lautenschläger "Ikaros" 1989, Radierung, 16,5 x 17,5 cm

Ikaros

Dieses Blatt entstand 1989 in einer Reihe von Grafiken nach dem ersten Besuch in Westberlin unmittelbar nach der Grenzöffnung. Es waren sechs Radierungen neben sechs Fotografien auf Transparentpapier, Versuche voller Ratlosigkeit, Erkenntnissen und Wahrheiten. Für mich ein mentales Massaker: die Mauer von der anderen Seite! Ein seltsames Wechselbad der Emotionen. Natürlich Freude über das Ende der Teilung Deutschlands, natürlich Neugier; das Grundgesetz der BRD lesen, Demokratie.

Auf dem "Westpaket" steht "Freiheit" geschrieben. Das verspricht viel. Hochfliegende Hoffnungen. Vielleicht einmal nach Italien reisen. Ikaros ist unterwegs. Aber die auffliegende Gestalt entpuppt sich als Schattenbild, radikal, bedrohlich, gründlich. 1989 eine Ahnung...

Joachim Lautenschläger

Raute

Unsere Autoren:

Hans-Jürgen Falkenhagen, Dr. - Philologe, Potsdam
Armin Fiand - Jurist, Hamburg
Gerhard Fischer, Prof. Dr. - Historiker, Berlin
Gerd Friedrich, Prof. Dr. - Ökonom, Berlin
Kuno Füssel, Dr. - Theologe, Andernach
Georg Grasnick, Prof. Dr. - Politologe, Berlin
Heidrun Hegewald - Malerin und Grafikerin, Berlin
Barbara Hug, Dr. - Autorin, Tobel/Schweiz
Joachim Lautenschläger - Grafiker, Groß Nemerow
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Klaus Georg Przyklenk, Dr. - Ikarusredakteur, Woltersdorf
Brigitte Queck, Diplomstaatswissenschaftlerin, Potsdam
Wolfgang Richter, Prof. Dr. - Friedensforscher, Berlin
Peter Schnetz - Autor, Bamberg
Arnold Schölzel, Dr. - Chefredakteur Junge Welt
Hans-Georg Sehrt, Dr. - Kunsthistoriker, Halle/S.
Erhard Thomas, Dr. - Mediziner, Berlin


*


Titelbild:
Hans Grundig, "Kampf der Bären und Wölfe", 1938, Öl auf Sperrholz, 98 x 101 cm, NG Berlin

2. Umschlagseite:
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung

Rückseite des Umschlages.
Joachim Lautenschläger, "Ikaros", 1989, Radierung, 16,5 x 17,5 cm

Abbildungsnachweis: Archiv Przyklenk S. 5, 6, 10, 19, 20, 33, 38, 39, 3. US.
Faber & Faber Verlag S. 44
Ralf Alex Fichtner S. 52
Rudolf Grüttner S. 41
Joachim Lautenschläger Rücktitel
Museum Bad Frankenhausen S. 42 NG Berlin Titels.
Projekte Verlag Cornelien GmbH S. 46
Erhard Thomas S. 13, 14, 15
Verlag für Akademische Schriften S. 47

Raute

Impressum

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Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
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Redaktion:
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Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms
Redaktionsschluss: 10.11.2009

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH
Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-332-0

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe linke Spalte) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

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Quelle:
ICARUS Nr. 4/2009, 15. Jahrgang
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2010