Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

INTIFADA/005: Zeitschrift für antiimperialistischen Widerstand Nr. 29/2009


Intifada Nummer 29 - Sommer 2009
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand



INHALT
Editorial
ARABISCHER RAUM
Psychiatrie in Bethlehem, Wahnsinn in Gaza
Über die Orientierungslosigkeit der palästinensischen Befreiungsbewegung
Umstrittener Waffenstillstand
Über die Politik der Hamas
Schwedischer Antisemitismus?
Die Debatte über den Organhandel Israels
Gaza-Tibet
Überlegungen zum Nachdenken
INTERNATIONAL
... und es gibt ihn doch
Antiimperialistischer Impetus des Iran
Anything new, Mr. President?
Zu Obamas Außenpolitik
Das "Terrorproblem" der Türkei
Amerikanische Seilschaften
Das Ende der LTTE
Über Sri Lanka
EUROPA
Alles wieder gut?
Wie die Krise schön geredet wird
Europa - was jetzt?
Thesen zu einer Krise der europäischen Gesellschaften
Systemopposition in Ostdeutschland?
Anmerkung zur deutschen Einheit
"Nationalen Antikriegstag" verhindern!
Neonazis mobilisieren in Dortmund
Rassismus und Kolonialismus
Die Durban-Review Konferenz
Populismus und Hegemonie
Ambivalenzen eines Begriffs
THEORIE
Debatte um konkrete Utopie
Beiträge zum Sommerseminar 2009
Kommune oder Cabrio
Skizzen eines alternativen Gesellschaftsmodells
AKTIVISMUS
Solidarität statt Almosen
Aufbauarbeit in einem Flüchtlingslager im Libanon
REZENSIONEN
Muslimgauze: Der gefallene Kämpfer
Srebrenica: Der Kronzeuge

Raute

Editorial

Die Situation in Afghanistan eskaliert. Die NATO scheint die Kontrolle über einen Teil des Landes verloren zu haben. Ein von deutschen Truppen befohlenes Massaker und der Wahlbetrug des Präsidenten Karsai sind zum Public Relations-Desaster für die Besatzer geworden. Diese Entwicklung ist keineswegs unbedeutend: Nach dem erzwungenen Kompromiss im Irak, den halben israelischen Niederlangen im Libanon und im Gazastreifen ist der Zusammenbruch der Afghanistan-Strategie ein weiterer Rücksetzer. Neben der Wirtschaftskrise sind es gerade diese politischen Probleme, die das Weltsystem erschüttern. Die unipolare Welt des amerikanischen Imperiums wankt. Schwierig ist nur, dass neben der Krise des Imperiums, auch die Krise echter Opposition andauert. Diesen Problemen folgt die vorliegende Ausgabe der Intifada.

Mohammed Aburous untersucht Obamas Politik im Nahen Osten und beschäftigt sich mit den Schwierigkeiten des palästinensischen Widerstandes im Gazastreifen sowie mit der Konferenz der Fatah. Wilhelm Langthaler versucht eine Analyse der Situation in der Islamischen Republik Iran und wagt sich an einen Beitrag zur Rekonstruktion einer politischen Alternative und Utopie. Stefan Hirsch und Sebastian Baryli beschäftigen sich mit der Krise Europas und den entstehenden politischen Verwerfungen. Dazu gibt es eine Reihe von Berichten der Solidaritätsbewegung mit dem Widerstand im arabischen Raum, etwa jenen der antiimperialistischen Organisation Sumud, europäischen Aktivistinnen und Aktivisten, die diesen Sommer im Libanon beim Wiederaufbau in einem palästinensischer Flüchtlingslager geholfen haben.

Sumud ist der arabische Begriff für "Standfestigkeit" und diese brauchen nicht nur die Befreiungsbewegungen, sondern auch eine antagonistische Opposition in Europa. Wir hoffen, mit dieser Ausgabe etwas dazu beizutragen.

Stefan Hirsch

Raute

ARABISCHER RAUM

Psychiatrie in Bethlehem, Wahnsinn in Gaza

Über die Orientierungslosigkeit der palästinensischen Befreiungsbewegung

Von Mohammad Aburous

Im August vereitelte die Hamas den Versuch der Salafiten, das "Islamischer Emirat Gaza" zu erichten. Fast zur selben Zeit hielt im Westjordanland Fatah ihren sechsten Parteikongress ab.


Der Name Bethlehem hängt in Palästina nicht nur mit dem Geburtsort von Jesus zusammen, sondern auch mit Psychiatrie, denn in dieser Stadt befindet sich das einzige psychiatrische Krankenhaus im Westjordanland. In der Volkssprache wird über einen Psychiatriereifen gesagt: Ab nach Bethlehem!

1. Der Fatah-Kongress

Nach Bethlehem pilgerten am 4. August 2260 Delegierte der "Palästinensischen Nationalen Befreiungsbewegung", abgekürzt: FATAH, wo der sechste Kongress ihrer Bewegung tagte. Ein historisches Ereignis, nicht nur wegen der Tatsache, dass der letzte derartige Kongress im Jahre 1988 stattgefunden hatte. Denn sogar den fast ausgetrockneten Jordan ist seit 1988 viel Wasser hinuntergeflossen: die erste Intifada, das Oslo-Abkommen, die Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA), das Scheitern der Verhandlungen, die zweite Intifada, Arafats Tod, der Wahlsieg von Hamas, der Machtverlust der Fatah in Gaza, die Umwandlung der Fatah in eine Kollaborationsbehörde im Westjordanland usw.

Für alle diese Themen hatten die 2260 vorsichtig auserlesenen Fatah-Delegierten ganze drei Tage, aus denen schlussendlich fünf wurden.

Die Wahl von Bethlehem als Kongressort im besetzten Westjordanland brachte den Kongress unter israelische Kontrolle. Israel bestimmte, wer die Grenzen passieren durfte und machte in diesem Sinne die Einreise an sich zu einer Demütigung der Oslo-Gegner innerhalb der Fatah. Das Beharren von Abbas und seiner Riege auf Bethlehem als Austragungsort diente dazu, die meisten seiner politischen Gegner, darunter hochrangige Gründungsmitglieder der Fatah wie etwa Faruq Qaddumi (formal der Außenminister der PLO) auszuschließen.

Die Fatah hat sich historisch als unüberschaubare Zusammensetzung von mehreren politischen Strömungen unterschiedlicher Ideologien und Ziele entwickelt. Ein Bündel mit nicht-zusammenhängendem Inhalt, das jahrelang in der Faust von Arafat zusammengehalten wurde, der vor allem die Finanzen der Bewegung kontrollierte. Welche Strömung innerhalb der Bewegung in den Vordergrund trat, das hing immer mit der regionalen und internationalen politischen Konjunktur zusammen. Die Statuten der Fatah sind so dehnbar, dass sie zum Schluss jenem dienen, der die Geldmittel kontrolliert und mit seinen Außenbeziehungen Druck ausüben kann.

Im Zentralkomitee (ZK) waren ursprünglich alle Strömungen vertreten. Durch Austritt oder natürlichen bzw. gewaltsamen Tod von ZK-Mitgliedern verlagerte sich das Gewicht innerhalb des ZK ebenfalls der internationalen politischen Konjunktur zufolge. Da die Statuten dem ZK das Recht geben, die Kongressdelegierten zu ernennen, ist die Wahl des ZK durch den Kongress eine Farce.

Da ein wesentlicher Teil der ZK-Mitglieder (unter ihnen kein geringerer als Arafat selbst) tatsächlich gestorben ist oder keine Einflussmöglichkeiten hat, konnten Abbas und seine Anhänger eine angenehme Mehrheit der Delegierten zum Kongress durchbringen. Anderen, die den willkürlich zusammengesetzten Kongress boykottieren wollten, wurde mit dem Abdrehen der Gehälter gedroht. Eine Scheinopposition musste auch dabei sein, um dem Kongress einen konfrontativen und somit legitimen Charakter zu verleihen.

Durch die Ortswahl kam der Kongress unter israelische Kontrolle. Von nun konnte Israel bestimmen, wer die Grenzen passieren durfte.

Der Ausfall der Delegierten aus Gaza durch das von Hamas verhängte Ausreiseverbot durfte die Beschlussfähigkeit nicht stören: Rund fünfhundert neue Delegierte aus dem Westjordanland wurden als Ersatz ernannt. Die Bevölkerung Gazas durfte dann per SMS oder Telefon abstimmen.

Die Anführer des Militärs und der Sicherheitsapparate waren übervertreten. Hingegen musste Zakaria Zubeidi, Anführer der Aqsa-Brigaden und Held der Schlacht um das Flüchtlingslager Jenin 2002, am Eingang feststellen, dass sein Name doch nicht auf der Delegiertenliste stand. Er musste in Bethlehem auf eine "Koordination" mit den Israelis warten, die ihn unversehrt nach Jenin zurückbringen würde.

Von Bilanzen und Diskussionen über die Ereignisse der vergangenen zwanzig Jahre und ihre Bedeutung für die Gegenwart war nicht die Rede. Die Eröffnungsansprache von Abbas wurde später als "Bericht des ZK" verkauft, es gab keinen Finanzbericht und alle politischen und organisatorischen Streitthemen wurden vom öffentlichen Kongress in kleine geschlossene Runden verbannt, die dann ihre Berichte separat an die neugewählte Führung abgeben sollten.

Spaß beiseite: Der Fatah-Kongress erreichte das von den Organisatoren gesetzte Ziel: Wahl eines neuen ZK. Genau genommen bedeutete das die Eliminierung eines Teiles der "alten Garde", die in der Fatah und in der PLO in Opposition zu Abbas stand.

Unter dem Motto "Verjüngung" der Bewegung, ersetzte man 70-jährige Oslo-Gegner durch 70-jährige Abbas-Treue. Die jungen Gesichter, alle in die PNA eingebunden und viele aus den Sicherheitsapparaten der PNA, wie etwa der verhasste Mohammad Dahlan (1), wurden in das ZK hinauf katapultiert. Arafats Tod und die Verlagerung des politischen und finanziellen Gewichts ins Westjordanland marginalisiert die Auslandsführung. Die Macht konzentriert sich um die von den Israelis bevorzugten Abbas und Dahlan.

Abgesehen von den üblichen Sätzen über das Recht auf Widerstand (Abbas ersetzte in seiner Rede den Begriff "bewaffneter Kampf" durch "Volkswiderstand") hat der Kongress keine politische Wende im Programm der Fatah gebracht. Der jetzige Kurs der fast bedingungslosen Kollaboration mit der israelischen Besatzung wurde bestätigt, die Hauptakteure holten sich ihre Legitimität aus dem Parteikongress und auch die Fatah-Sitze in der veralteten PLO-Exekutive wurden mit neuen Gesichtern aufgefüllt. Diese wird der Autonomiebehörde (PNA) unterstellt und dient nur dazu, der Kollaborationsbehörde historische Legitimität zu verleihen, etwa im Streit mit der gewählten Hamas-Mehrheit (die Hamas ist nicht Teil der PLO) im Parlament der PNA.

2. Das Gaza-Labyrinth

Die Hamas verbot den Fatah-Delegierten aus Gaza die Ausreise zum Kongress in Bethlehem. Hamas hatte im Gegenzug für die Ausreiseerlaubnis die Freilassung ihrer eintausend in den Gefängnissen der PNA inhaftierten Aktivisten gefordert. Dies nützte die Fatah umgehend aus, um etwa die Gegner von Mohammad Dahlan, die in Gaza geblieben waren, ebenfalls vom dem Kongress auszuschließen und dagegen Abbas-treue Elemente als Delegierte zu ernennen. Infolge des Kongresses kam es zu Massenaustritten im Fatah-Kader in Gaza. Das Ausreiseverbot erwies sich als ein Dienst an Abbas und Dahlan und wurde von Vielen als Repressionsmaßnahme betrachtet.

Egal wie sehr sich in Fatah eine Opposition gegen Abbas und Dahlan auflehnen sollte, werden solche Maßnahmen jede Vertrauensbasis zwischen Hamas und den anderen Organisationen zerstören und die Chancen auf ein Alternativprojekt zur PNA vernichten. Aber was will die Hamas?

Am 14. August rief ein Anführer der salafitischen (2) Gruppe "Dschund Allah" (Die Soldaten Gottes) in Rafah ein "islamisches Emirat" in Gaza aus. Binnen 24 Stunden stürmten die "Exekutiv"-Truppen der Hamas die "Iben Taymiyyah" Moschee, in der sich die Soldaten Gottes verschanzt hatten, und töteten den Anführer sowie einige seiner Anhänger. Bei den Gefechten starben 24 Personen, 150 wurden verletzt. Einer der Toten hatte eine wichtige Rolle bei der Gefangennahme des israelischen Soldaten Gilad Shalit gespielt. Die Gruppe "Die Soldaten Gottes" galt früher als Koordinationspartner der Hamas. Die Behauptungen, es handle sich um ausländische Kämpfer aus dem Umfeld der Al-Qaida, sind vor diesem Hintergrund nicht haltbar. Unter den Toten war auch ein Neffe von Moussa Abu-Marzouq, einem Politbüromitglied der Hamas.

Dieses Ereignis ist von äußerster Tragweite, ist es doch das erste Mal seit der Machtübernahme in Gaza 2007, dass die Hamas-"Exekutive" Palästinenser gezielt tötet. Es handelt sich auch hier nicht um die traditionellen Rivalen der Hamas aus dem Fatah-Milieu oder um Kollaborateure, sondern um islamistische Kämpfer. Die Stellungnahme der Hamas zum Sturm auf die Moschee ähnelt in ihrer Terminologie jener von Abbas im Westjordanland: "Extremisten, illegale Waffen, Zügellosigkeit, irregeführte Takfir-Sekten, Durchsetzung des Gesetzes...". Dies erklärt die heftige Kritik seitens des Islamischen Dschihads und der PFLP am brutalen Vorgehen der Hamas gegen die Salafiten.

Hamas wollte offensichtlich ein Exempel statuieren um abzuschrecken. Die Gruppe hatte nämlich die sofortige Einführung der Scharia und die "Wiederaufnahme des Dschihads gegen Israel" gefordert, was - ironischerweise - den ursprünglichen Forderungen der Hamas ähnelt. Der Konflikt mit den diversen islamistischen Gruppen fing mit dem Versuch der Hamas-Regierung an, die Moscheen unter die Kontrolle des Religionsministeriums zu bringen (mit dem selben Argument hat die PNA Hamas aus den Moscheen des Westjordanlands verdrängt).

Zuvor hatten die Salafiten Internetcafés gesprengt, eine Hochzeit angegriffen, eine unverschleierte Frau mit Säure angegriffen und die Leute am Strand belästigt. Die Behörde der Hamas hatte bislang nichts gegen derartige Aktionen unternommen, solange sie eine langsame, eher schleichende Islamisierung des Gazastreifens bedeuteten. Seit dem Ende des Krieges im Januar, und um den Waffenstillstand einzuhalten, beschäftigt Hamas ihre Kader mit der internen Kontrolle über Gaza. Fern von medialer Konfrontation wird ein sanfter Kulturkrieg geführt. Wird eine Islamisierungsmaßnahme medial aufgegriffen und kritisiert, so distanziert sich die Regierung und behauptet, es würde sich um Einzelfälle handeln. Ein deutliches Beispiel dafür ist etwa die Einführung der Kopftuchpflicht in öffentlichen Gebäuden und Mädchenschulen. Heftige Proteste von säkularen Kräften und nichtreligiösen Bürgern wurden zum gefundenen Fressen für Ramallahs Medien. Das Bildungsministerium sprach von Einzelhandlungen lokaler Direktoren, ergriff jedoch keine Maßnahmen, um diese rückgängig zu machen.

Jeder Ungehorsam wird als Kollaboration und als Teilnahme am Dayton-Projekt (3) unterdrückt. So wurden nicht nur Aktivisten des Islamischen Dschihads verhaftet, die sich nicht an den Waffenstillstand halten wollten, sondern auch Aktivisten der nicht bewaffneten "Islamischen Befreiungspartei", die nur ein Flugblatt in Gaza verteilten, in dem die pragmatische Politik der Hamas mit jener der Fatah verglichen wird. Das Flugblatt bezeichnet die Regierung der Hamas in Gaza als "Repressionsregime" und vergleicht sie mit jener von Israel und der PNA im Westjordanland. Tatsächlich hält die Hamas rund hundert Fatah-Aktivisten im Gazastreifen fest. Demgegenüber sitzen jedoch mehr als tausend Aktivisten der Hamas in den PNA-Gefängnissen im Westjordanland, meist unerwähnt von den Medien.

Hamas hat es verabsäumt, aus ihrem politischen Sieg nach dem Krieg im Januar politisches Kapital zu schlagen und den Moment zu nützen. Genau wie nach der Sprengung der ägyptischen Grenze durch die ausgehungerten Massen in Gaza ein Jahr zuvor, wurde die politische Dynamik auch diesmal in den Sand gesetzt.

Anstatt als Trägerin des Widerstandsprojektes an der Bildung einer politischen Front mit den Widerstandskräften zu arbeiten und ein Alternativprojekt zur Kollaborationsbehörde in Ramallah zu bilden, bemüht sich Hamas, selbst die PNA zu sein bzw. diese mit der Fatah zu teilen. Auf der Suche nach politischer Anerkennung ist die politische Führung bereit, die Zweistaatenlösung zu akzeptieren und schlussendlich für Israel den Grenzenpolizisten zu spielen. Die Blockade und die miserable Situation in Gaza zwingt sie zu Verhandlungen mit Fatah unter der Obhut des ägyptischen Geheimdienstes. Die bedingungslose und (mit der jetzigen rechtsradikalen israelischen Regierung sinnlose) Einhaltung eines einseitigen Waffenstillstands wirkt nicht nur negativ auf die Beziehung zu den anderen und eigenen Kampforganisationen, sondern auch auf die Beziehung mit der eigenen Basis. Daher ist es kein Wunder, dass viele der Salafiten ehemalige Kämpfer der Hamas-nahen Qassam-Brigaden sind.

Karikaturistisch dekadent in Bethlehem und Ramallah, surrealistisch in Gaza und politisch gelähmt überall: die palästinensische Bewegung ist heute so orientierungslos wie nie zuvor. Palästina selbst kann derweil warten.


Anmerkungen

1) Mohammad Dahlan war bis 2007 der starke Mann der Fatah in Gaza und dort für die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung mit der Hamas im Juni 2007 verantwortlich. Als Leiter des verrufenen Sicherheitsapparats "Preventive Security" galt er, selbst für die Fatah-Basis, als Kollaborateur und Handlanger der israelischen Armee.

2) Als "salafitisch" bezeichnen sich die Anhänger bestimmter moderner Strömungen des politischen Islam, u.a. die Al Qaida. Sie kritisieren die Moslemische Bruderschaft und die Hamas wegen ihres politischen Pragmatismus in Bezug auf die Einführung der Sharia und die Konfrontation mit den "Ungläubigen".

3) Der Dayton-Plan vom Mai 2007, benannt nach dem US-General K. Dayton, der als Sicherheitskoordinator zwischen der PNA und Israel fungiert, beinhaltet die militärische und wirtschaftliche Stärkung der PNA und Fatah unter Mahmoud Abbas, um die gewählte Hamas-Regierung zu schwächen und langfristig zu stürzen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Das Recht auf Widerstand gegen Israel wurde am Kongress heftig diskutiert.

Politische Perspektivlosigkeit schafft den Nährboden für A-Qaida-nahe Salafiten.

Raute

ARABISCHER RAUM

Umstrittener Waffenstillstand

Über die Politik der Hamas

Von Wilhelm Langthaler

Die Kritik der Salafiten gegen die Hamas richtet sich vor allem gegen den Waffenstillstand mit Israel. Diese politische Auseinandersetzung provoziert historische Vergleiche.


Im Sommer eskalierte der Konflikt zwischen der in Gaza herrschenden Hamas und den militanten Salafiten erstmals in einer Form, die auch vom Westen wahrgenommen wurde. Doch wie lässt sich die blutige Auseinandersetzung erklären? Radikal-Islamisten gegen - ja, wen nun eigentlich? - vielleicht Radikal-Radikal-Islamisten, um in der Methodik der westlichen Medien zu bleiben, die "radikalislamisch" als Prädikat der moralischen Verwerflichkeit benutzen.

Tatsächlich, hinsichtlich des Kulturkonservativismus und dessen Erhebung zur Richtschnur islamischen Verhaltens unterscheiden sich Hamas und die Salafiten nur graduell, genauso hinsichtlich der Härte der Durchsetzung. Einen derartig blutigen Konflikt erklärt das also kaum.

M. E. steht dahinter eine rein politische Frage, nämlich der einseitige Waffenstillstand mit Israel. Rufen wir uns die Hintergründe der Waffenruhe kurz ins Gedächtnis: Gaza bleibt mit einem Embargo belegt, das kaum das einfache Überleben erlaubt. Es handelt sich dabei um die größte moralische Wunde im Fleisch des Westens, eine Art Ursünde, die zeigt wie verlogen das gesamte Gerede von Demokratie, Menschenrechten, Aufklärung etc. ist. Trotzdem wird die Aushungerung auf Biegen und Brechen von der "westlichen Wertegemeinschaft" unterstützt. Wer ausschert, ist Antisemit. Punkt! Israel versuchte mehrfach die demokratisch legitimierte Hamas-Regierung mit brutaler Gewalt zu beseitigen, zuletzt im Januar 2009. Hamas gelang es, sich als David gegen Goliath zu verteidigen - dank eines unbesiegbaren Widerstandsgeists im einfachen Volk. Doch Widerstand gegen die ganze "internationale Gemeinschaft" kann nicht bedeuten, den Krieg permanent zu führen. (Ein Krieg, der diesen Namen kaum verdient, sondern angesichts der extremen Waffenungleichheit korrekt eigentlich nur als Massaker bezeichnet werden kann.) Des Waffenstillstands bedarf es zum einfachen Überleben. Mag sein, dass einige Kämpfer sich opfern können, aber nicht ein ganzes Volk. Eine politische Führung, die den Konsens der Massen behalten will, muss das bei Strafe des sonstigen Untergangs in Rechnung stellen. Das heißt nicht, dass militärische Aktionen nicht möglich seien, aber diese müssen ganz besondere politische Umstände vorfinden, am besten aus der Verteidigung heraus. Der Waffenstillstand ist daher eine absolute Notwendigkeit, alles andere ist Selbstmord von Abenteurern. Die Einseitigkeit der Waffenruhe ändert daran nichts, denn es bleibt nun einmal das Vorrecht des Stärkeren den Schwächeren zu provozieren. Dass man dann und wann gegen die ständige Demütigung seine Würde wieder herstellen will, ist klar und verständlich. Es wäre aber fatal, das in eine Offensivstrategie münden zu lassen, wie es die militanten Salafiten propagieren. Die totale Niederlage wäre unvermeidlich.

Aus dieser Sicht ist die Niederschlagung von bewaffneten Versuchen, den Waffenstillstand zu brechen legitim, insofern er letztlich eine Mehrheit repräsentiert.

Der Waffenstillstand ist daher eine absolute Notwendigkeit, alles andere ist Selbstmord von Abenteurern. Die Einseitigkeit der Waffenruhe ändert daran nichts.

Man kann hier durchaus ein vielbemühtes (und oft missbrauchtes) Beispiel aus der kommunistischen Geschichte als Analogie heranziehen. Als Lenin nach der Revolution angesichts der Intervention und des Bürgerkriegs 1918 mit Deutschland Frieden schloss, wurde das innerhalb der Kommunistischen Partei wütend als Kapitulation bekämpft. Lenin setzte den Waffenstillstand (mehr war es nicht, denn in keiner Weise wurde der imperialistische Gegner hofiert oder sonst wie legitimiert) dennoch durch und rettete damit den neuen Staat, der am Zusammenbruch dahinschrammte.

Die Vorwürfe an die Hamas seitens der Salafiten sind letztlich ähnlich geartet. Es wird von Kapitulation und Kollaboration mit Israel gesprochen. So wie unter den Bolschewiki gibt es auch unter der Hamas eine große Bandbreite an Positionen, einschließlich solcher, die die Zweistaatenlösung akzeptieren und Israel anerkennen wollen. Es handelt sich auch um ein Doppelspiel, je nachdem für wessen Konsum eine Aussage getätigt wird - auch das ist bis zu einem gewissen Grad eine legitime Technik der Macht, die man aus aller Welt kennt. Zudem kommt die Hamas von den Moslembrüdern, deren Quintessenz die islamische Kulturreform und ein islamischer Kapitalismus als Ersatz für die antikoloniale Revolution war. (Der Vorwurf des islamischen Kapitalismus wird empört zurückgewiesen, doch was ist das, wenn man die Eigentumsverhältnisse im Wesentlichen unangetastet lassen will? Die Moslembrüder haben sich in Ägypten, ihrem Ursprungsland, fast in eine Kaste im Rahmen der kapitalistischen Arbeitsteilung verwandelt: sie bestehen vorwiegend aus Ärzten, Ingenieuren, Professoren, etc.) Doch im Unterschied zu ihren Brüdern auf der anderen Seite des Suezkanals ist die Hamas zur Plattform des Volkswiderstands geworden, nämlich genau ab jenem Zeitpunkt, an dem die PLO den historischen Kompromiss von Oslo eingegangen ist. Die Fatah wurde von den Zionisten nach Strich und Faden betrogen (oder ließ sich betrügen), hat alles hergegeben und im Gegenzug nichts bekommen.

Unter den gegebenen historischen Bedingungen des zionistischen Extremismus an der Macht und des permanenten Krieges der USA gegen den Widerstand (an dem Obama auch nichts ändern wird, selbst wenn er den Israelis zum Schein ein Ende des Siedlungsbaus abringen mag), kann und will Hamas nicht kapitulieren. Es ist kein Platz für eine zweite Fatah. Die Abwanderung ihrer Basis zu den Salafiten ist sicher kein Indikator einer Tendenz zur Kapitulation unter den Massen. Der anhaltende Volkswiderstand unter der Fahne des Islam bleibt das Grundcharakteristikum der palästinensischen, und - etwas allgemeiner - der nahöstlichen Gesellschaften. Hamas vertritt diesen oder sie ist nicht!

Der Fehler liegt also nicht am Waffenstillstand, der die Gefahr der Kapitulation heraufbeschwöre. Aus einer antiimperialistischen Sicht kann an der Unterstützung für Hamas als Führung des Widerstands nicht gerüttelt werden, doch zwei Kritikpunkte drängen sich auf, geschöpft aus den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts der sozialen Revolution.

So notwendig die Unterdrückung militärischer Rebellionen sein mag, so sehr wird sich die politische Repression gegen die Mitkonkurrenten im Widerstand als Bumerang erweisen. Entweder legitimiert sie deren Rebellion oder erweist sich als "self fulfilling prophecy", die die Konkurrenten zum Feind treibt (siehe die linkssäkulare Bewegung im Iran). In jedem Fall bedeutet dieses Herangehen einen Verlust an Hegemonie, die im Widerstand erworben wurde. Angezeigt wäre der Versuch, eine möglichst breite politische Front des Widerstands einschließlich der nichtislamischen Kräfte zu bilden, die der Fatah und der PNA jegliche Legitimität entziehen würde. Eine solche Front könnte zur neuen PLO im besten Sinn werden.

Zweitens ist da der Zug zum Kulturkonservativismus. Dieser entspricht sicher einem Trend in der Gesellschaft, wo Widerstand mit Islam identifiziert wird und dieser wiederum sich vor allem in der Einhaltung kulturkonservativer Regeln manifestiert. Doch Palästina ist nicht Afghanistan. Es gibt einen signifikanten säkularen Sektor, auch im Widerstand. Diesen zu ignorieren, an den Rand zu drängen oder sogar zu unterdrücken, kann auf lange Sicht dem Widerstand nur schaden. Auf der anderen Seite muss der linke Widerstand aber die islamische Hegemonie für die laufende Periode als Tatsache akzeptieren und beim notwendigen Bündnis in Rechnung stellen.

Raute

ARABISCHER RAUM

Schwedischer Antisemitismus

Die Debatte über den Organhandel Israels

Von Mohammad Aburous

In einer schwedischer Zeitung erschien ein Bericht über Organhandel mit palästinensischen Leichen. Israel zog ein altbekanntes Register: den Antisemitismusvorwurf.


Die Reaktion der israelischen Regierung auf den schwedischen Zeitungsbericht über Organhandel (1) ähnelt in ihrem karikaturistischen Ausmaß der Reaktion einiger islamischer Länder auf die geschmacklosen dänischen Karikaturen. So eine Reaktion war zu erwarten von einer Besatzungsmacht, die seit Jahren ungestraft für mehrere Kriege und Menschenrechtsverletzungen in der Region verantwortlich ist. Der Antisemitismusvorwurf ist hier eine Farce. Dieser wurde bereits inflationär im Zusammenhang mit der Verurteilung der israelischen Angriffskriege im Libanon und Gazastreifen gebraucht, sowie gegen jede Kritik an der israelischen Politik gegen die palästinensische Bevölkerung. Das verhängte kollektive Einreiseverbot für schwedische Journalisten unterscheidet sich nicht von anderen Vorgehensweisen militärischer Regime gegen Medien, die auf unangenehme Weise über etwaige Verbrechen berichten. Beängstigend ist jedoch das Schweigen der europäischen Presse zu der erpresserischen Forderung der israelischen Regierung, die tief in die europäische Pressefreiheit eingreift. Im Gegenteil: der italienische Außenminister Franco Bertini meldete sich freiwillig mit einer Initiative (2), beim nächsten EU-Ministertreffen eine Erklärung abzugeben, die den Zeitungsbericht verurteilt und ein Vorgehen gegen "Antisemitismus" in Europa verspricht.

Bertini forderte die Journalisten zur "Eigenverantwortung" auf, damit ähnliche Artikel nicht solchen Kräften dienen, die "gegen die Juden agitieren und gegen Israel und sein Existenzrecht sind".

Eine inhaltliche Diskussion über den Artikel und die Möglichkeit seiner Richtigkeit hat es bisher nicht gegeben. Es geht um Autozensur, damit Israel und sein Image nicht gefährdet sind.

Die Ausführungen im Artikel des schwedischen Journalisten Donald Boström in der Zeitung Aftonbladet (3) enthalten tatsächlich ernsthafte Anschuldigungen gegen "die einzige Demokratie im Nahen Osten". Interviewte Palästinenser erzählen, wie ihre Angehörigen von der Nähe angeschossen, lebendig abtransportiert und in Leichensäcken zurückgeschickt wurden. (4) Die Familien berichten von autopsierten Körpern und fehlenden Nieren. Boström geht ein Stück weiter und bringt dies mit israelischen und internationalen Organhandelsnetzen in Verbindung. Er fängt seinen Artikel mit dem US-Netz von Levy Izhak Rosenbaum an, der Ende Juli in Brooklyn vom FBI wegen illegalem Organhandel verhaftet wurde. Rosenbaum hat unter anderem Nieren aus Israel illegal importiert und in den USA verkauft. (5) Der Artikel von Boström beschuldigt die israelische Armee, direkt mit dem Organhandel Geschäfte zu machen und dafür auch gezielt zu töten.

Dass bei getöteten Palästinensern Organe fehlten, das erzählten zahlreiche palästinensische Familien schon seit den 1980er Jahren den lokalen Medien. Einer der Fälle wurde 2002 sogar von der israelischen Regierung zugegeben. Vor allem für die Palästinenser sind solche Berichte keine Neuigkeiten.

Die direkten Anschuldigungen des Artikels im Zusammenhang mit dem Organhandel sind schwer zu beweisen und die Story ähnelt einem typischen Sensationsbericht, der Tatsachen zu verknüpfen versucht. Sie bietet dadurch eine Fläche für einen pro-zionistischen Gegenangriff.

Andererseits sind Meldungen über Organdiebstahl von getöteten Palästinensern ernst zu nehmen, auch wenn es Einzelfälle wären. Durch die jetzige Gesetzeslage im Gebiet sind die Bewohner von Westjordanland und Gazastreifen in vieler Hinsicht rechtlos. Für die Palästinenser dort gilt nicht das israelische Gesetz, sondern militärische Gesetze, die aus den Gesetzen Israels, Jordaniens und der britischen Mandatsmacht zusammengestellt wurden. Dazu kommen weitere israelische Maßnahmen, welche stets mit dem Zauberwort "Sicherheit" gerechtfertigt werden. Zum Beispiel gibt es im israelischen Staatsgebiet kein Todesurteil, aber extralegale Hinrichtungen palästinensischer Aktivisten in den besetzten Gebieten bilden einen wesentlichen Bestandteil der israelischen Sicherheitsdoktrin. Wenn unter diesen Bedingungen selbst das Leben von Palästinensern leicht zu beenden ist, so ist kaum zu erwarten, dass ihr Tod respektiert wird.

Basierend auf Aussagen palästinensischer Familien, ist der Artikel für die europäische Presse und Politik genauso bedeutungslos wie die Aussagen palästinensischer Zeugen gegen Israelis vor einem israelischen Gericht. Handelt es sich hingegen um Berichte über Vergewaltigungen in iranischen Gefängnissen, so reichen für Presse und Politik die Aussagen politischer Aktivisten in Teheran, um die gesamte iranische Regierung zu verurteilen.

Ginge es nicht um den israelischen Staat, so wäre der Artikel nicht anderes behandelt worden als die dänischen Karikaturen und man hätte die Freiheit der schwedischen Kollegen verteidigt. Geht es jedoch um die Verbrechen des israelischen Militärs, so reichen nicht einmal die Angriffe und Massenmorde in Gaza und Libanon, um diese zu verurteilen. Hier relativiert sich die Pressefreiheit, und somit die Glaubwürdigkeit der europäischen Elite.


Anmerkungen

1) Donald Boström, Aftonbladet, 17.08.2009, www.aftonbladet.se/kultur/article5652583.ab

2) Haarez, 31.08.2009

3) englische Übersetzung und Kommentar von Gilad Atzmon in "Palestine Think Tank",
http://palestinethinktank.com/2009/08/19/gilad-atzmon-the-idf-israels-organ-grinder/

4) Dass die Begräbnisse Nachts und unter wenigen Angehörigen Beobachtung der israelischen Armee stattgefunden hatten, dies rechtfertigte die israelische Armee damit, verhindern zu wollen, dass die Begräbnisse zu politischen Demonstrationen werden.

5) New Jersey Real-Time News, 23. und 24. Juli, 2009, http://www.nj.com

Raute

ARABISCHER RAUM

Gaza - Tibet

Überlegungen zum Nachdenken

Von Charlotte Malterre

Das Engagement für Tibet gehört heute zum guten Ton. Doch wer für die Palästinenser oder gar für die politische Anerkennung der Hamas eintritt, der gerät schnell ins Abseits.


Als der Intercityzug Genf-Zürich in Bern, der Hauptstadt der Schweiz hält, erregen wehende tibetische Fahnen meine Aufmerksamkeit. Als die Fahnenträger in den Zug steigen und an mir vorbei zu ihren Sitzen gehen, schaue ich sie mir genauer an. Wer sind diese Leute, die an einem sonnigen Samstag in dieser ach so neutralen Schweiz für die Freiheit Tibets demonstrieren? Zunächst einmal Tibeter, dann Leute wie Großmütter mit kleinen Fahnen an den Rucksäcken, junge Leute, Familien ­...

Und dann frage ich mich, warum sich Leute für Tibet engagieren und nicht für Gaza. Natürlich gibt es hin und wieder auch Demonstrationen für Palästina, das ist schon richtig. Aber es geht um etwas anderes. Was wir bei Freunden und der so genannten Zivilgesellschaft, die sich nicht allzu sehr mit Politik befassen möchte, erleben ist der allgemeine Konsens, dass Tibet ein unterdrücktes Land ist und eine freie Nation sein soll. So eine klare Aussage hört man selten, wenn es um Gaza und Palästina geht.

Andere Leute, wie zum Beispiel Gideon Levy, stellen auch solche Überlegungen an. In der israelischen Zeitung "Haaretz" erschien sein Artikel "Palästinenser und Tibeter - ein Fall von Doppelmoral", wo er die Frage aufwirft, warum die Israelis für Tibet Mitgefühl zeigen und nicht für das besetzte Palästina, für das sie Verantwortung tragen. Ein Argument von Gideon Levy ist, dass es eine Frage der Mode ist. Die Menschen mögen Tibet, es ist "in"; Palästina war 1980, es ist "out".

Wenn das stimmt, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, denn in der Mode kehrt alles wieder. Palästina wird wieder einmal im Trend liegen so wie Leggings oder Schallplatten. Man muss nur Geduld haben und hoffen, dass dieser Modetrend etwas tiefer geht als die immer beliebten so genannten Palästinensertücher, die von Leuten getragen werden, die keine Ahnung von deren symbolischer Bedeutung haben.

Leider sind es wohl andere Gründe, die der angesprochenen Doppelmoral zu Grunde liegen. Wie bequem und verlockend ist es doch pazifistische Mönche, die der Gewalt abschwören, zu unterstützen! Du wirst dir nie den Vorwurf des Antisemitismus oder Rassismus gegenüber den Chinesen anhören müssen, wenn du Tibet unterstützt. Du wirst sogar Freunde finden, die wie du politisch korrekt auf der richtigen Seite stehen und die Unterdrückten unterstützen, und du wirst dich gut fühlen, weil du eine gerechte Sache unterstützt. Da gibt es dann auch Themen, die nicht zu politisch sind, die du mit deinen Verwandten beim Abendessen diskutieren kannst.

Tibet verdient natürlich unsere Unterstützung, aber warum verweigern wir diese Palästina?

Die Wahrheit ist, dass die Palästinenser keine pazifistischen Mönche sind. Sie kämpfen ihren Kampf selber und warten nicht mehr auf internationale Hilfe, die sowieso nicht kommt. Sie töten - oder sie versuchen es zumindest - ihre Unterdrücker, sie nutzen den Spielraum von Demokratie, den sie haben, um nicht genehme islamische Parteien zu wählen und sie verbergen die Haare ihrer Frauen. Das ist doch letztklassig, oder nicht? Es ist nicht "cool" Muslime zu unterstützen. Es ist nicht "cool" bewaffnete Kämpfe zu unterstützen.

Und während das von den USA unterstützte Israel nicht kritisiert werden darf, ist es so viel leichter und bequemer seine Kritik am guten alten kommunistischen China und seiner Missachtung der Menschenrechte kundzutun. Während Hollywood Schauspieler und Sänger sich für Tibet engagieren und auf Benefizveranstaltungen auftreten, findet man sie auf ebensolchen Veranstaltungen für Palästina nicht. Die Olympischen Spiele haben schließlich den pro-Tibet Aktivisten die perfekte Tribüne für ihren Protest geboten, sie waren allerdings relativ erfolglos und ohne Unterstützung der internationalen Politik.

Die Tatsache, dass die Tibeter im Moment ihr Schicksal zu akzeptieren scheinen und ihren früheren Guerrillakampf praktisch eingestellt haben, heißt aber nicht, dass es nicht wieder anders werden kann. Dann könnte es problematisch und unbequem werden, Tibet zu unterstützen. Während jedoch die Leute hier im Westen sich damit befassen, was im Moment "in" oder "out" ist, leiden beide Völker unter permanenter Besatzung. Wie wäre es damit beide zu unterstützen?


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Die Mauer in Israel symbolisiert das koloniale System der Unterdrückung.

Raute

INTERNATIONAL

... und es gibt ihn doch

Antiimperialistischer Impetus des Iran

Von Wilhelm Langthaler

Die Präsidentschaftswahlen im Iran liegen nun schon lange genug zurück, um ihre enorme globale Bedeutung nüchterner einschätzen zu können.


Nicht umsonst lag der Fokus der Weltpolitik wochen-, wenn nicht monatelang auf den Wahlen in der Islamischen Republik Anfang Juni 2009. Mit der Präsidentschaft Ahmadinedschads war der Iran für die USA abermals zum wichtigsten staatlichen Feind aufgestiegen. Das lag nicht nur an der konfliktfreudigen und bisweilen sogar verbal provokativen Politik des Präsidenten, sondern zu einem guten Teil auch an den Ereignissen im Irak, wo die USA dem Widerstand nur Herr zu werden vermochten, indem sie dem Iran das Feld überließen. Zudem konsolidierte sich die iranische Rolle als Schutzschirm für Widerstandsbewegungen wie der libanesischen Hisbollah und der palästinensischen Hamas. Es ist in erster Linie der Iran, der im Nahen Osten und damit auch global den imperialen Herrschaftsanspruch der USA herausfordert. Als Symbol dafür steht das iranische Nuklearprogramm, das Washington unter keinen Umständen zulassen darf, will es seine exklusive globale Macht erhalten.

Angesichts des irakischen Debakels waren die Neokons und Bush daran gescheitert, ihr iranisches Problem mit kriegerischen Mitteln anzugehen, trotz einer mächtigen Kampagne innerhalb des US-Regimes. Entsprechend hoffte man in Washington, dass sich bei den Präsidentschaftswahlen die eher prowestlichen Kräfte in der Islamischen Republik durchsetzen würden. Die USA hätten den Iran als Regionalmacht akzeptiert, im Gegenzug hätte dieser auf die Unterstützung für antiimperialistische Bewegungen in der Region verzichtet, so das Kalkül.

Die weltweite mediale Kampagne für die "Reformer" wurde in einer Weise geführt, die deren Wahlsieg bereits vorab als unverrückbare Gegebenheit präsentierte. Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass es im Iran bereits historisch, aber ironischerweise vor allen Dank des durch die Revolution etablierten Bildungswesens, eine außergewöhnlich breite Bildungsschicht gibt. Diese ist eng mit Millionen Emigranten in den USA und Europa aus eben diesen Schichten verbunden, die eine Verwestlichung für den Iran anstreben. Gegenseitig schaukelten sie sich in der Gewissheit auf, dass sie die Mehrheit des iranischen Volkes repräsentieren würden.


Schlag ins Gesicht

Die Abfuhr, die ihnen bei den Wahlen dann erteilt wurde, traf sie unerwartet wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Verlierer war in erster Linie der Westen, denn die dezidiert antiwestliche Linie Ahmadinedschad wurde erdrutschartig bestätigt. In zweiter Linie stellten die Wahlergebnisse einen Dämpfer für die prowestliche Bildungsschicht dar, die schmerzlich erleben musste, wie isoliert sie von der breiten Masse der Bevölkerung ist. (Dass das nicht immer so war, beweist die Tatsache, dass der "Reformer" Khatami in den 1990er Jahren ähnliche Wahlerfolge verzeichnen durfte, wenn auch nicht mit der gleichen massiven Wahlbeteiligung von 85%, wovon die meisten westlichen Länder nur träumen können.) Und drittens gereichte Ahmadinedschads Wahlerfolg auch jenem Teil der Klerikerelite zum Schock, die eine Normalisierung mit dem Westen auf Schiene bringen will.

Als was der Wahlerfolg Ahmadinedschads indes nicht interpretiert werden darf, ist eine glatte Bestätigung des klerikalen Establishments. Tatsächlich vertritt der Präsident eher eine Außenseiterposition, was sich schon darin zeigt, dass er nicht dem Klerus angehört. Vielmehr rechnet man ihn einer millenaristischen Strömung zu, der Hojatiyya, welche die von Khomeini etablierte theologische Legitimation der Islamischen Republik, das Filayat-e Fakih, die Herrschaft der Rechtsgelehrten, ablehnt. Khomeini hatte die Organisation seinerzeit sogar verbieten lassen.

Als Symbol dafür steht das iranische Nuklearprogramm, das Washington unter keinen Umständen zulassen darf, will es seine exklusive globale Macht erhalten.

Was der Westen und sein kollektives politisches Gehirn für die Massen, der Medienapparat, nicht verstehen kann und will, ist, dass Ahmadinedschad eine Form des Protests im Volk gegen das Establishment kanalisiert. Ein Protest, der jedoch nicht gegen das Regime als ganzes gerichtet ist, sondern durch Reformversprechen kanalisiert wird (dazu später mehr).

In einem gewissen Sinn löste Ahmadinedschad die "Reformer" auf ihrem Terrain ab, die auf der Basis der gleichen Unzufriedenheit rund ein Jahrzehnt lang den wählbaren politischen Apparat des Irans besetzten - und kläglich daran scheiterten die durch ihre Versprechungen erzeugten Erwartungen zu erfüllen.

Entsprechend dem allzu simplen westlichen Narrativ mag es paradox erscheinen, doch tatsächlich entbehrt es nicht einer gewissen politischen Logik, wenn sich die ehemaligen "Reformer" heute mit dem Herz des Establishments verbünden, personifiziert durch Rafsandschani, der nicht zufällig seines Zeichens als reichster Mann des Landes gilt. Beide treten sie im Kern für wirtschaftsliberale Reformen und einen Modus vivendi mit dem Westen ein. Die Differenzen über die kulturelle und politische Liberalisierung erscheinen darüber sekundär.


Wahlbetrug?

Die Antwort der großen Koalition Westen-Mittelschichtsbewegung-Wirtschaftsestablishment kam postwendend: Wahlbetrug! Was nicht sein darf, kann nicht sein.

Wir wollen uns mit den vermeintlich kriminalistischen Aspekten der Frage nur am Rande auseinandersetzen, denn die Debatte verstellt die Sicht auf die politische Plausibilität des Wahlsiegs Ahmadinedschads. Außerdem gibt es genügend gute Dokumentationen, die die Unhaltbarkeit der Vorwürfe belegen.

Nur ein Beispiel mit welch unlauteren Methoden eine so alterwürdige Zeitung wie die "New York Times" arbeiten. Die Sache erinnert stark an die falsche Übersetzung, die Ahmadinedschad den Satz unterstellt, er wolle Israel von der Landkarte tilgen. Am 23. Juni 2009 berichtete die "New York Times", dass der Wächterrat eingeräumt hätte, dass "in 50 Städten die abgegebenen Stimmen die Zahl der Wahlberechtigten um 3 Millionen" übersteigen würden. Ein klareres Eingeständnis des Betrugs wäre kaum vorstellbar. Tatsächlich heißt es in der Stellungnahme des Wächterrats vom 22. Juni auf den Vorwurf reagierend, dass in bestimmten Städten mehr Stimmen als überhaupt möglich abgegeben worden wären: "Die Gesamtzahl an Stimmen in den betreffenden Städten beträgt rund drei Millionen. Selbst wenn man alle diese Stimmen annullieren würde, änderte sich das Gesamtergebnis nicht." Zwischen Gesamtzahl und über die Zahl der Wahlberechtigten hinausgehende Zahl der abgegebenen Stimmen bleibt doch ein erheblicher Unterschied. Zudem muss man wissen, dass es kein an ein Melderegister gebundenes Wahlrecht gibt. Jeder Wahlberechtigte kann überall wählen. Nun aber zu den eigentlich politischen Argumenten.

Ahmadinedschad gewann 2005 die Präsidentschaftswahlen gegen Rafsandschani in ähnlichen Relationen. Er oder ihm zugerechnete Kräfte gewannen zwischenzeitlich immer wieder Wahlen. Was wäre so verwunderlich daran, wenn er diesmal abermals gewonnen hätte, überhaupt wenn man die sozio-politischen Frontstellungen in Rechnung stellt?

Zudem gibt es eine erstaunliche westliche Meinungsumfrage, die von einem Institut namens "Terror Free Tomorrow: The Center for Public Opinion" (CPO) durchgeführt und durch den "Rockefeller Brothers Fund" finanziert wurde. Diese sagte den überwältigenden Wahlsieg Ahmadinedschads glatt voraus. In einem Interview mit der "Washington Post" nach den Wahlen bestätigten die Studienautoren abermals die Plausibilität der Wahlergebnisse. Der Geldgeber lässt indes auf keine Parteilichkeit für den verfemten Präsidenten schließen, um so mehr als das gleiche Institut zuvor schon einige Untersuchungen für BBC und ABC durchgeführt hatte.

Stalin soll einmal gesagt haben, dass nur wichtig sei, wer die Stimmen zähle und nicht wer sie abgäbe. Hätte der iranische Staatsapparat überhaupt die Möglichkeit einen so gigantischen Wahlbetrug durchzuführen, wo es nicht um einige Prozentpunkte, sondern um die Hälfte aller abgegebenen Stimme geht? Auf der Ebene der Wahllokale waren allerorts Beobachter aller Kandidaten zugelassen, was einen Betrug dieses Ausmaßes unmöglich macht. Insgesamt ist der gesamte Staats- und Verwaltungsapparat, vielleicht abgesehen von den paramilitärischen Einheiten, durch einen heftigen Fraktionskampf gekennzeichnet, der sich durch alle Ebenen zieht. Unter solchen Bedingungen kann auch in der Zentrale eine solche maßlose Fälschung nicht durchgeführt werden. Diese setzte die vollständige Kontrolle über den Apparat voraus, über die Ahmadinedschad nicht einmal annähernd verfügt.

Gerade die Tatsache, dass solche Wahlen überhaupt zustande kommen können, bringt die Spaltung des Regimes zum Ausdruck. Die Kandidaten werden durch den Wächterrat, ein nicht durch Volkswahl bestimmtes Gremien, geprüft und zugelassen. Es wäre formal möglich gewesen, die Kandidaten der "Reformer" von der Wahl überhaupt auszuschließen und so die gefährliche Konfrontation im Gefolge des Urnengangs hintanzuhalten. Das geschah offensichtlich aufgrund der politischen Kräfteverhältnisse nicht. Das Regime scheint also auf die Legitimation durch das Votum des Volkes nicht verzichten zu wollen.

Unter dem Strich ergibt sich, dass bei den Wahlen im Iran mehr zur Wahl steht, als bei jeder Wahl im Westen. Bei hiesigen Wahlen darf man getrost von der Faustregel ausgehen, dass, je heftiger sich die Kandidaten attackieren, desto geringer ihre inhaltlichen Unterschiede sind. Nachdem die herrschenden Eliten Wirtschaft, Politik, Medien, Kultur usw. fest im Griff haben, was sich auch durch Wahlen nicht ändern lässt, verliert die Masse immer mehr die Motivation ihre bedeutungslosen Stimmen überhaupt abzugeben.

Die extreme hohe Wahlbeteilung im Iran von rund 85% weist auf die inhaltliche Bedeutung der Wahlen hin. Die Zulassung dieser Divergenz zeigt de facto mehr demokratischen Spielraum an, als er im Westen zur Verfügung steht. Ganz zu schweigen von Saudiarabien und Ägypten, den wichtigsten Verbündeten des Westens in der Region, die keine Wahlen zulassen. Demokratiedefizite stehen dort allerdings in keinem Widerspruch zu "unseren Werten", sondern tun das offensichtlich nur in jenem Land des Nahen Ostens, das demokratische Wahlen zulässt, insofern tatsächlich etwas zur Wahl steht.


Die Grüne Bewegung als Hebel des Westens

Singende Massen, tanzende Männer und geschminkte Frauen, deren Haar nur notdürftig durch ein grünes Tuch verdeckt wird. So lässt sich leicht ein medialer Hype über die Demokratiebewegung produzieren, die sich endlich gegen die finsteren und lustfeindlichen Radikal-Islamisten aufzustehen getraut, die zudem den Holocaust zu wiederholen drohen. Es besteht kein Zweifel, hier rebelliert die westliche Kultur und Demokratie, ja der dominante Linksliberalismus gegen den mittelalterlichen Islam. Wer könnte da noch die Unterstützung verweigern?

Zentrum der Bewegung ist der gebildete Mittelstand vor allem aus der Hauptstadt. Geführt von den Studenten geht es der Bewegung im Wesentlichen um eine kulturelle Liberalisierung gegen eine allzu rigide und konservative Interpretation des Islam. Sie verlangen nach mehr demokratischem Spielraum, nach dem Recht auf Meinungsäußerung und natürlich auch nach wirtschaftlichen Perspektiven. Die Islamische Republik machte höhere Bildung breiten Massen zugänglich, ohne ihnen in der Folge auch standesgemäße Beschäftigung bieten zu können.

Zentrum der Bewegung ist der gebildete Mittelstand. Geführt von den Studenten geht es der Bewegung im Wesentlichen um eine kulturelle Liberalisierung.

Die Forderungen sind nicht nur verständlich, sondern zweifellos für sich genommen auch legitim. Das enthebt uns jedoch nicht der Aufgabe, sie in ihrem gesellschaftlichen und globalen Kontext zu verstehen. Die Tatsache, dass die Bewegung weder von der globalen kapitalistischen Elite, noch von dem von dieser vertretenen Wirtschaftsliberalismus Distanz hält, muss stutzig machen. Unweigerlich drängt sich die Einreihung der "grünen Revolutionen" in die Serie der "farbigen Umstürze" auf, erprobt zuerst gegen das widerspenstige Serbien, dann erfolgreich angewandt im NGO-Stil vor allem durch die Apparate der US-Außenpolitik gegen unliebsame Regierungen beispielsweise mittels der "orangen Revolution" in der Ukraine oder der "Rosenrevolution" in Georgien.

Unbestreitbare Tatsache ist jedenfalls, dass sich nicht nur der gesamte Westen hinter die Bewegung gestellt hat (der solche Entscheidungen üblicherweise nicht aus philantropisch-demokratischer Motivation trifft), sondern auch gewichtige Teile des Establishments und des Klerus. Dabei kommt die entscheidende Rolle nicht dem unterlegenen Kandidaten Mussawi zu, sondern dem Schwergewicht Rafsandschani, dem Ahmadinedschad seit Anbeginn an ein Dorn im Auge ist.

Rafsandschani & Co geht es weniger um Demokratie - die hatten sie in der Vergangenheit genauso missachtet -, sondern vor allem um eine Politik zugunsten der Wirtschaftselite, die aber keineswegs den Rahmen der Islamischen Republik sprengen soll. Die Bewegung selbst tendierte indes überhaupt weg vom islamischen Regime kontrolliert durch den Klerus. Die persischen Bildungsschichten zeichnen sich durch einen sehr starken Laizismus aus, der, obwohl nicht opportun, immer klar durchscheint. Angesichts dieser Stoßrichtung, die den prokapitalistischen Klerus in letzter Konsequenz selbst in Frage stellen würde, sowie der sichtbaren Aussichtslosigkeit ihrer Umsturzversuche zog dieser letztlich die Notbremse und ließ die Bewegung fallen. Rafsandschani tauchte einige Zeit ab, überließ Mussawi seinem Schicksal und kehrte zum institutionellen Weg zurück. Aber auch von der anderen Seite riskiert Mussawi im Regen stehen gelassen zu werden. Denn er hält formal am Vilayet-e Faqih fest, was gerade beim Mittelstand Stein des Anstoßes ist.

Ahmadinedschad konnte die Bewegung mit relativ dosierter Gewaltanwendung zum Schweigen bringen. In der westlichen Presse ist von knapp 20 Toten und mehreren Tausend Verhafteten, Folter etc. die Rede. Nicht nur im Vergleich mit der Geschichte der Islamischen Republik ist das moderat. Ein Indianeraufstand in Peru, der in etwa zur gleichen Zeit stattfand, soll nach westlichen Berichten sogar mehr Tote gefordert haben. Dabei ging es im Gegensatz zum Iran keineswegs um die Macht im Staat, sondern um einen durchaus regional begrenzten Konflikt. Lokale Hungerunruhen in Dritte-Welt-Ländern fordern schnell einmal ein paar Dutzend Tote, die der westlichen Medienmaschine meist nicht einmal eine Kurzmeldung wert sind. Im verbündeten Ägypten gehört das zum täglichen Brot der Polizeiarbeit, ebenso wie die Folter in Gefängnissen.

Es ist eine Fehleinschätzung und Anmaßung der Köpfe der Bewegung, die Mehrheit der Bevölkerung zu repräsentieren - eine typische mittelständische Selbsttäuschung, die nur unter Ausblendung der sozio-politischen Verhältnisse möglich ist. Man hält sich selbst für aufgeklärt und kann sich nicht erklären, warum die ungebildeten Massen der Weisheit letzten Schluss nicht folgen.

Wenn Demokratie als abstrakte Forderung erhoben wird, ohne explizite Abgrenzung zum Imperialismus und zur kapitalistischen Wirtschaftselite, und wenn sie sich gegen ein Regime richtet, das in einem akuten Konflikt mit dem Westen steht, dann dient die Bewegung ungewollt (bisweilen auch gewollt) den Interessen des Westens. Während die breite Bevölkerung ihren Unmut gegen die Wirtschaftselite und den Imperialismus in islamischer Form äußert, protestieren die Studenten vor allem gegen die islamisch legitimierte Rigidität des Regimes und nehmen dabei die Unterstützung des Westens und der Wirtschaftselite gerne an.

Denn trotz vermeintlicher linker Beteiligung an der Bewegung, geht es dieser nicht so sehr um Volksmacht und eine kollektive Wirtschaft- und Lebensweise. Wie der Mittelstand im Rest der kapitalistischen Welt, haben sie genug vom politischen Aktivismus und wollen sich amüsieren und konsumieren. Die Straffreistellung des vorehelichen Geschlechtsverkehrs ist daher wichtiger als der Kampf gegen den Imperialismus. Oder in "linker", politisch-korrekter Diktion, die im Iran nicht weniger Verbreitung hat als bei uns: Bei der Bekämpfung des "islamischen Faschismus" ist jeder Verbündete recht.


Heftiger Fraktionskampf

Der Wahlerfolg Ahmadinedschads hat seine plebejisch-militärisch-antiimperialistische Fraktion sicher unmittelbar gestärkt. Die liberale Mittelstandsbewegung konnte niedergeschlagen, die prokapitalistische Fraktion des Establishments in die Schranken gewiesen werden. Selbst Familienmitglieder des Rafsandschani-Klans wurden kurzzeitig verhaftet und prominente Exponenten der Establishments, die die Bewegung unterstützten, wie der ehemalige Vizepräsident Abtahi, in einem Schauprozess gedemütigt.

Doch Ahmadinedschad darf sich seiner Macht nicht zu sicher sein. Nicht nur weil er da und dort über die Stränge geschlagen haben dürfte, wie beispielsweise bei der missglückten Ernennung des Vizepräsidenten Meshaie. Dieser stammt ebenfalls aus der Hojatiyya. Deren institutionelle Stärkung wollte das religiöse Oberhaupt Khameini, der sonst Ahmadinedschad unterstützt hatte, offensichtlich nicht dulden. Dabei handelt es sich nur um eine kleine Episode, die aber deutlich zeigt, dass sich große Teile des Klerus mit Ahmadinedschad nicht wohl fühlen, selbst wenn sie aus Kulturkonservativismus die "Reformer" ablehnen. Der Widerstand großer Teile des Parlaments gegen die Regierungsbildung durch Ahmadinedschad legt von seinen Schwierigkeiten bei der Kontrolle des Staatsapparats Zeugnis ab.

Im Kern geht es um die soziale und antiimperialistische Tradition, die auf die Revolution zurückgeht und immer ein mehr oder weniger starkes Moment der Islamischen Republik war und ist. Ahmadinedschad versucht diese in seiner Art anzusprechen und zu mobilisieren, was mit dem tatsächlich kapitalistischen Establishment aus Klerus, Bazar und staatsnahen Großbetrieben massiv in Konflikt gerät. Diese wollen die Islamische Republik als kapitalistische Regionalmacht unter Vermeidung eines offenen Konflikts mit dem Westen positionieren. Auch wenn Rafsandschani es nicht offen sagen kann, so schrieen es doch seine Anhänger anlässlich seiner ersten Freitagspredigt nach den Ereignissen in die Welt hinaus. Gegen das offizielle "Tod Amerika" skandierten sie "Tod Russland, Tod China".

So moderat die Positionierungen erscheinen, kombiniert mit den Attacken aufs Establishment reichen sie aus, um die unzufriedene Armut anzusprechen.

Dementsprechend hat sich das Establishment von Anfang an gegen die Wirtschaftspolitik Ahmadinedschads aufgelehnt. Obwohl er hie und da auch radikale Versprechungen machte, wie die Verteilung des Bodens der Pistazienpflanzer (eine persönliche Spitze gegen Rafsandschani, der die Nr. 1 dieser Zunft ist), so scheinen diese rhetorischen Ausritte eher populistische Funktion zu haben. Ihm schweben keine radikalen Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse vor, sondern es geht vor allem um die breitere Verteilung der Ölrente. Die wichtigsten Maßnahmen bestehen daher in billigen Krediten für Kleinproduzenten und -konsumenten, Transferleistungen sowie Preissubventionen für Brennstoffe und andere Güter des täglichen Bedarfs (in einem gewissen Sinn Chávez light). Gerade die Preisstützungen stehen unter heftigem Druck der iranischen Wirtschaftsliberalen und wurden immer wieder beschnitten. So moderat die Positionierungen des Präsidenten erscheinen mögen, kombiniert mit den verbalen Attacken auf das Wirtschaftsestablishment reichen sie aus, um die mit der wirtschaftlichen Situation unzufriedene Armut anzusprechen.

Die Rafsandschani-Leute greifen ihrerseits Ahmadinedschad wegen der hohen Inflation an, die durch die Ausschüttung der staatlichen Ölgelder angeheizt wird. Sie behaupten, die Inflation schade am meisten den Armen. Gleichzeitig zeigt jedoch die heftige Debatte über den Artikel 44 der Verfassung, die eine "halbstaatliche Wirtschaft" vorsieht, aus welcher Richtung der Wind weht. Privatisierung, Förderung von Leistung, Abbau von unproduktiven Subventionen, Liberalisierung des Handels - alles altbekannte Rezepte, so ungewöhnlich sie auch aus dem Mund von Ajatollahs klingen mögen. Für den Westen jedenfalls besser als nichts.

In diesen sozioökonomischen Fragen bilden Klerus, Wirtschaftselite sowie die bewaffneten Kräfte, also das reale Establishment, über alle anderen Differenzen hinweg einen ziemlich geschlossenen Block. Es stellt sich die Frage, wie weit Ahmadinedschad Maßnahmen setzen kann und will, die den Interessen des Establishments wirklich entgegenlaufen und nicht nur Elemente des Kleinkriegs der verschiedenen Fraktionen untereinander betreffen.

So darf nicht vergessen werden, dass des Präsidenten Hauptstütze die Pasdaran, die Garde der Revolutionswächter, sind. Diese profitierten massiv von den Privatisierungen und spielen eine zentrale Rolle in allen Sektoren der Wirtschaft, einschließlich des Schmuggels und der Mafia. Sie mögen die antiimperialistische und nationalistische Tradition der Revolution verkörpern, die Interessen der Armut vertreten sie nicht oder nur soweit populistisch entschärfbar.

(Diese kurze sozioökonomische Skizze bleibt sicher grob. Doch es ist bezeichnend, dass die Kohorten iranischer Exillinker, desto sie mehr auf Marx pochen, desto weniger in der Lage sind, auch nur Elemente einer Interpretation des Fraktionskampfes zu liefern. Für sie sind alle Teile des Regimes gleichermaßen reaktionär-kapitalistisch bis faschistisch.)


Gratwanderung

Die Grenzen und Schwierigkeiten von Ahmadinedschads Antiimperialismus zeichnen sich also klar ab. So sehr er die soziale Komponente der Tradition der Revolution anzusprechen vermag, so sehr muss sie populistisch bleiben, um die Unterstützung der Pasdaran und damit eines entscheidenden Teil des Establishments nicht zu verlieren. Ahmadinedschad ist ein domestizierter Rebell, mit einem Fuß Teil des Establishments, während er mit dem anderen mit den Massen spielt, was mit heißer Luft allein mittelfristig nicht möglich sein wird.

Zudem tut die weitere Akzentuierung der Verschmelzung von islamischem Kulturkonservativismus und Antiimperialismus nicht gut, sondern verkleinert eher dessen Unterstützerbasis. Darüber hinaus drängt eine derartige Politik die ehemalige Linke, auch die islamische Linke mit den Wirtschaftsliberalen zusammen und beide Richtung Imperialismus. Der fast totale Verlust der Bildungsschichten ist auf Dauer für das Regime eine Katastrophe. Kurz gesagt, Ahmadinedschad handelt allen von Gramsci aufgestellten Regeln zur Erlangung der Hegemonie entgegen.

Seine Stärke bleibt die Verbindung von sozialen Interessen der Unterklassen (wenn auch populistisch) mit dem Antiimperialismus und Nationalismus, die im Iran konsensfähig bleiben. Darum auch der Hass, mit dem er vom Westen verfolgt wird.

Ansatz einer sozialrevolutionären Linken kann es nicht sein, dem fatalen Beispiel der iranischen Linken folgend, das repressive Regime im Namen der Demokratie auf antiislamisch-säkularistischer Basis anzugreifen - sei es gar mit der Hilfe des Imperialismus. Vielmehr muss am antiimperialistischen und auch sozialen Element angeknüpft werden, die nun einmal aus historischen Gründen mit dem Islam verheiratet wurden. Hier muss angetrieben und die Umsetzung eingefordert werden, die Unzulänglichkeiten und Halbheiten aufgezeigt und schließlich auch Demokratie und kulturelle Freiheiten (nicht zuletzt auch für die nationalen Minderheiten) verlangt werden. Statt ausschließend muss auf eine einschließende und tolerante Formulierung des Islam hingewirkt werden. Ali Shariati würde sich da als Traditionsstrang anbieten.

Seine Stärke bleibt die Verbindung von sozialen Interessen der Unterklassen mit dem Antiimperialismus und Nationalismus, die im Iran konsensfähig bleiben.

Einzige Eintrittskarte bleibt aber der Antiimperialismus. Unser Vorschlag ist das antiimperialistische Moment des Regimes als (schwierigen) Bündnispartner zu verstehen. Diese eindeutige Positionierung würde die Voraussetzung für offene Kritik und letztlich auch eine echte sozialrevolutionäre Opposition schaffen.


Obama und Krieg

Unmittelbar besteht keine Kriegsgefahr. Obamas Signal an die Welt war, die Aggression zu stoppen. Unseres Erachtens kann diese Ankündigung, so sehr sie unmittelbar wirkt, nur rhetorisch, substanzlos bleiben, denn es gibt eine innere Logik der imperialen Macht, der unter Strafe des Machtverlusts zu folgen ist.

Vorerst hat der Iran im langjährigen Ringkampf zwei Punkte gemacht, einerseits der schrittweise aber unaufhaltsame Ausbau des Einflusses im Irak, andererseits die Widerwahl Ahmadinedschads, die den regionalen und antiimperialistischen Anspruch Persiens festschreibt.

All das bleibt für die USA letztlich inakzeptabel, insbesondere das Atomprogramm, auch wenn sie gegenwärtig unmittelbar nicht dagegen einschreiten kann. Obama wird die Karten im Verhandlungspoker neu verteilen, aber der Einsatz bleibt der gleiche. Nach und nach wird er den Strick enger ziehen und - sollte der Iran nicht nachgeben, was unter Ahmadinedschad unwahrscheinlich ist - die Eskalationsspirale treiben. Die Mittel sind wohlbekannt: wirtschaftliche Sanktionen und letztlich militärische Macht. Denn ein potentiell mit Atomwaffen ausgestatteter Iran wäre vermutlich der Todesstoß für die bereits schwer gebeutelte monopolare Weltordnung. Den Anwärtern in den Startlöchern für die Positionen regionaler Zentren kann der iranische Vorstoß nur recht sein, solange sie es nicht selbst tun müssen. Daher unterstützten sie allesamt Ahmadinedschad, selbst Brasiliens Lula.

Dabei kommt auch für Obama ein weiterer, schwer berechenbarer Störfaktor dazu: Israel und die zionistische Lobby im US-Regime selbst. Diese wollen unter allen Umständen eine baldige militärische Ausschaltung des iranischen Nuklearprogramms. Diesbezügliche militärische Muskelspiele führt Israel immer wieder durch. Wohlplatzierten Medienberichten zur Folge erlangte es auch die Genehmigung Ägyptens zur Nutzung des Suezkanals und Saudiarabiens zum Überflug seines Territoriums. Rein militärisch scheint Israel für so einen begrenzten Militärschlag fähig zu sein. Sie könnten dies auch ohne direkte Zustimmung der USA tun, wohl wissend, dass sie damit ihren Großen Bruder unter Zugzwang setzen.

Die Implikationen für das iranische Regime und die daraus abzuleitenden Maßnahmen können aus heutiger Sicht nur schwer abgeschätzt werden. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass man Zeit habe und die Behauptung der Fortsetzung des Nuklearprogramms ausreiche. Um keine Blöße zu zeigen und der antiimperialistischen Rhetorik Genüge zu tun, könnte man aber auch zu einem in der ganzen islamischen Welt populären Raketenangriff auf Israel greifen. Ein Eingreifen der USA auf viel höherer Stufenleiter wäre wahrscheinlich, denn Israel bleibt unantastbar.

Trotz gegenteiliger Versprechungen kann der Wahlmonarch Obama sein Reich nur erhalten, wenn er Krieg führt, zumal in der Wirtschaftskrise, die alle globalen Konflikte verschärft. Denn die militärische Überlegenheit bleibt der letzte und stärkste Trumpf Amerikas.

Der imperialistische Krieg bietet aber gleichzeitig die einfachste Arena für den Eintritt der subalternen Massen in eine aktive Rolle in der Geschichte, wie man zuletzt im Irak sah. Die Islamische Republik wird ihrer jedenfalls bedürfen, um sich zu verteidigen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Präsident Ahmadinedschad bei einer Rede an der Columbia University in New York.

Malereien an den Mauern der früheren US-Botschaft in der Hauptstadt Teheran.

Raute

INTERNATIONAL

Anything new, Mr. President?

Zu Obamas Außenpolitik

Von Mohammad Aburous

Der US-Präsident zog in den Wahlkampf mit dem Versprechen eines grundlegenden Wandels. Doch kann er tatsächlich eine politische Veränderung herbeiführen?


Vor einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Diskurs des neuen amerikanischen Präsidenten muss festgestellt werden, dass die acht langen Jahre seines Vorgängers George W. Bush dafür sorgten, dass schon der Abgang von Bush als Person an der Spitze der US-Politik von vielen als eine historische Wende angesehen wurde. Da musste Obama nicht viel dazu tun. Er übernahm seine Funktion jedoch im Zeichen einer Weltwirtschaftskrise, mitten in zwei angefangenen und nicht beendeten Kriegen und im Schatten einer zu unterschiedlichen Graden vertieften Feindschaft der USA mit dem Rest der Welt. Seine Person musste für alle die vorgefertigte Figur des Hoffnungsträgers erfüllen. In den Slogan "Yes We Can" lässt sich das Wunschdenken von jedem projizieren.

Außenpolitisch versprach Obama den amerikanischen Wählern und der Welt einen baldigen Abzug der Truppen aus dem Irak. Er stellte insgesamt eine weniger aggressive, respektvollere US-Außenpolitik in Aussicht. Das war Anlass für die Linke in allen Teilen der Welt, insbesondere jedoch in Europa, sich ernsthaft Hoffnungen auf eine radikale Veränderung der US-Politik zu machen. Nicht umsonst hieß Obamas Wahlkampfmotto "Change". Jetzt, nach sechs Monaten konkreter Politik, können kalte Bilanzen gezogen werden.

Als erster "Höhepunkt" der neuen Nahost-Politik galt die Rede Obamas an die "moslemische Welt". Erwartungsgemäß wurde sie nicht nur medial als eine Wende wahrgenommen. Vom Podium der Islamischen Azhar Universität in Kairo richtete er am 4. Juni 2009 seine Worte der Versöhnung an die islamische Welt. Den Koran, die Bibel und den Talmud zitierend, verkündet die Rede eine neue Welt der Toleranz, des Friedens und des Wohlstands. Ein "Neubeginn" wird angekündigt.

Inhaltlich kann die Rede als das Maximum dessen angesehen werden, was die heutige US-Administration "den Moslems" anbietet. In einer genaueren Analyse wirkt sie jedoch schon nach den ersten Absätzen ernüchternd.

Kampf der Kulturen?

Es geht laut Obamas Diskurs um "eine Spannung zwischen den USA und der islamischen Welt". Die "historischen Wurzeln" dieser Spannung zu erläutern, würde "den Rahmen" seiner Rede "sprengen". Wohlgemerkt: Obama sieht wie sein Vorgänger und die Mehrheit im Establishment den Konflikt im Rahmen des "Kampfes der Kulturen" angesiedelt.

Die konkreten Krisen und die laufenden Kriege der USA (oder des Westens) gegen konkrete Völker und konkrete Staaten werden zu einer Spannung zwischen Westen und Islam abgeflacht und entpolitisiert. Die Aussage, dass "Amerika und Islam in keinem Widerspruch stehen" ist zwar schön, geht aber am Thema vorbei, oder genauer: sie entpolitisiert es.

Afghanistan und Irak

Konkreter wurde Obama in seiner Definition der "Spannungs-Felder". Das sind Terror, die "Situation zwischen Israel und den Palästinensern und der arabischen Welt" und die Nuklearfrage (Iran). Die US-Invasion von Afghanistan wurde praktisch (und mit geeignetem Koran-Zitat) gerechtfertigt, während jene des Irak als ein "willkürlicher Beschluss" bezeichnet wurde, der sowohl in den USA als auch außerhalb "umstritten" ist. Wenn Obama "den Sturz des Tyrannen Saddam Hussein" auch als eine Errungenschaft betrachtet, hätten "die Ereignisse im Irak" die USA daran erinnert, "ihre Konflikte möglichst mit diplomatischen Mittel zu lösen". Der Krieg selbst wird nicht verurteilt oder als Fehler bezeichnet. Nur die "Ereignisse" machen die Besatzung teuer und einen Abzug angesagt.

Palästina: Was neues, Herr Präsident?

Obwohl Obama in diesem Kontext anerkennt, dass die Palästina-Frage den Charakter eines globalen Konfliktpunktes hat, bringt sein Diskurs nichts Neues. Die Bindungen "zwischen den USA und dem Staat Israel stehen über jeder Frage und beruhen über das Politische hinaus auf "historischen und kulturellen Beziehungen".

Dass die USA dem Recht der Palästinenser auf "Würde, Chancen und einen eigenen Staat" (rhetorisch) nicht den Rücken kehren werden, ist auch nichts Neues. Ebenso wenig neu ist die Aufforderung an Israel, den Bau von Siedlungen im Westjordanland einzustellen. Schon 1991 stoppte George Bush Senior in einer einzigartigen Aktion Kredite an Israel, als die israelische Rechts-Regierung unter Yitzak Shamir eine ähnliche Forderung ablehnte. Es kamen seit damals viele ähnliche Forderungen, aber nie wurde daraus konkreter politischer Druck.

Die laufenden Kriege der USA gegen Völker und Staaten werden zu einer Spannung zwischen Westen und Islam abgeflacht und entpolitisiert.

Schärfer wird aber die Aufforderung an die Palästinenser, die Waffen niederzulegen und Israel anzuerkennen. Auch dies beinhaltet nichts Neues, auch nicht bezüglich der Konsequenzen für die Palästinenser, die Israel nicht anerkennen wollen. Die gewählte Regierung von Hamas wird erst anerkennt werden, wenn Hamas Israel und alle unterschriebenen Abkommen der PLO und der PNA mit Israel anerkennt. George W. Bush hatte es zuvor genau so elegant formuliert.

Kurz, Obama bietet den Palästinensern nichts Neues an, weder ein neues Konzept, noch eine neue konkrete Maßnahme, geschweige denn das Eingehen auf eine ihrer Forderungen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Streit mit Netanjahus Regierung um die israelischen Siedlungen im Westjordanland als Ablenkungsmanöver. Ein möglicher Labour-Nachfolger Netanjahus könnte so als israelischer Obama auftreten und die gleiche anti-palästinensische Politik ungestört fortsetzen.

Weiters fordert Obama die arabischen Staaten (er spricht bisher von Moslems, von Arabern war keine Rede) auf, über die Arabische Friedensinitiative (1) hinaus Verantwortung zu übernehmen und "dem palästinensischen Volk dabei zu helfen, seine Institutionen zu entwickeln, die daran arbeiten werden, den palästinensischen Staat zu stützen, und [noch ein Mal] die Legitimität des Staates Israel anzuerkennen".

Anstatt die Arabische Friedensinitiative als ernsthaftes Friedensangebot der arabischen Staaten an Israel wahrzunehmen und folglich die darin enthaltene Abzugs-Forderung an Israel zu diskutieren, deutet Obama die Initiative um und enthebt Israel erneut jeder Verantwortung: Die Rolle der arabischen Staaten besteht für ihn einzig darin, den palästinensischen Widerstand zu neutralisieren.

Iran: Islam gegen Islam?

Als dritte Spannungsquelle kommt der Nuklearstreit mit dem Iran hinzu. Hier hält sich Obama kurz. Er gibt sich versöhnlich und gibt sogar die Rolle der USA beim Sturz der gewählten Mosaddegh-Regierung in den 1950er-Jahren zu. Er zeigt sich verständnisvoll gegenüber den Vorwürfen der Doppelmoral: "Ich verstehe, dass manche dagegen protestieren, dass einige Länder Waffen besitzen, die es bei anderen nicht gibt". Der Ton ist sehr versöhnlich und klingt nach einem Aufruf zum Dialog, nähert sich sogar einem Aufruf zu einem nuklearfreien Nahen Osten (den Israel nach wie vor ablehnt). Dieser Ton hätte etwas Neues beinhalten können, wäre er nicht nach wenigen Tagen von Hillary Clinton relativiert worden, die zu allen drei Punkten schärfere Töne von sich gab, damit der "Dialogwille" des Präsidenten nicht "als Schwäche missverstanden wird". Verläuft dieser Dialog nicht nach Wunsch, so bringt es Clinton auf den Punkt: "Wir werde nicht zögern, uns und unsere Alliierten zu beschützen: mit dem stärksten Heer der Welt". Dies sei laut Clinton keine Drohung, sondern "ein Versprechen an das amerikanische Volk".

Gesucht wird eine Front mit dem "guten Islam" gegen den "bösen". Die Ziele der Außenpolitik bleiben jedoch die alten, und, wenn es sein muss, auch die Mittel.

Somit schließt sich der Kreis: Obama wirbt um die Sympathie der islamischen Welt. Gesucht wird eine Front mit dem "guten Islam" gegen den "bösen". Die Ziele der US-Außenpolitik bleiben jedoch die alten, und, wenn es sein muss, auch die Mittel.

Das Werben um den "guten Islam" kommt in anderen Teilen der Rede erneut deutlich zum Ausdruck. Obama mahnt Menschenrechte, Demokratie, Frauenrechte und religiöse Freiheiten ein. Die USA seien heute die Verkörperung dieser Werte, welche nicht im Widerspruch zum Islam stünden. Hinter dem Gerede über Toleranz, kulturelle Souveränität und Nicht-Einmischung in die internen Angelegenheiten der jeweiligen Staaten versteckt sich die Bereitschaft der USA, ihre klassischen Alliierten wie Ägypten und Saudi-Arabien nicht mehr mit solchen Themen zu erpressen. Damit kann man sich auf das Wesentliche konzentrieren: Iran, und die Liquidierung der Widerstandsenklaven.

Die Früchte dieses Diskurses zeigen sich im Moment in Afghanistan: Die US-Besatzung des Landes wird nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, Obama hat die US-Truppen aufgestockt, die Kriegshandlungen intensiviert und eine größere internationale Beteiligung erreicht. Was den Iran betrifft, so ist die Richtung, welche die USA einschlagen werden, derzeit unklar. Ein Angriff ist jedoch keinesfalls auszuschließen. Es scheint viel mehr, dass die USA noch darauf warten, dass sich der sunnitische Ring um den Iran enger schließt.

USA, vom Imperator zum Kalif?

In dieser Welt der Toleranz, die in der Rede von Obama verkündet wird, geht es hauptsächlich um religiöse Toleranz im Sinne von Religionsfreiheit. Da der Konflikt auf Kultur und Religion reduziert wird, wird dem Widerstand durch eine moderate, entpolitisierende Religion jede Legitimität geraubt. Auch im Westen sollen die Rechte der Moslems respektiert werden, ihre Religion zu leben, und Moscheen sollen gebaut werden. Dies wird einen wesentlichen Teil der moslemischen Elite beschwichtigen: den offiziellen Islam, wie etwa Saudi Arabien, die Moslemischen Brüder und Organisationen in ihrem Umfeld, und schließlich die moslemischen Institutionen im Westen. Das macht immerhin einen wichtigen Teil des organisierten Islam aus. Auch wenn teilweise eher reserviert, wurde der Diskurs Obamas hier willkommen geheißen. Bis auf die Dschihadisten um Al-Qaida steht die gesamte islamische Bewegung in Warte-Stellung. Obama stößt auf Ähnliches: Nur eine derartige Anschauung macht etwa die dänischen Karikaturen, oder neuerdings den Mord an der Moslemin Marwa Sharbini in Deutschland (Hintergrund Kopftuch) weltweit wichtiger für die moslemischen Eliten als Themen wie Palästina, Irak, Afghanistan oder gar die politische Repression im eigenen Land.

Mit Obamas Diskurs ist auch ein Teil der Linken beglückt: Krieg steht nicht unmittelbar bevor und Immigranten können sich mehr Rechte und Respekt erhoffen. Die falsche Vereinfachung, die Bush als Person für das ganze Unheil des letzten Jahrzehnts verantwortlich machte, ist dieselbe, mit der man sich durch die Person Obamas eine grundlegende Veränderung erhofft. Durchtränkt von der imperialistischen Logik, klammert sich die westliche Gesellschaft an die Illusion einer Veränderung, die jedoch dieselben Privilegien weiter garantieren soll. Die neue Figur wird es den Medien leichter machen, die Handlungen der Politik zu verschönern.

Geht es aber um konkrete Politik, so sagt Obamas Diskurs nichts Neues: Die USA werden weiterhin ausschließlich ihren Interessen nachgehen. Die USA haben sich nicht verändert, bieten aber ein sympathisches Gesicht an, das es für ihre Alliierten leicht macht, mitzuspielen. Ein Krieg, an dem Barak Obama teilnimmt, kann leichter gerechtfertigt werden.

Setzt man bei Obama guten Willen voraus, so wird der US-Apparat trotzdem in der Lage sein, allen zu zeigen, wer der Herr im Haus ist. Nicht nur der deutlichere, aggressivere Diskurs von Hillary Clinton wird dafür sorgen, sondern auch die Aktionsfähigkeit eines Militär- und Sicherheitsapparates im Dienste einer Wirtschaftslobby, die sich von Versöhnungsreden nicht beeindrucken lässt. Der Staatstreich in Honduras vor drei Monaten ist ein Beispiel dafür.


Anmerkung:

1) Beim arabischen Gipfeltreffen in Beirut 2004 boten alle arabischen Staaten die vollkommene Normalisierung ihrer Beziehungen mit Israel gegen einen totalen Abzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten an. Israel lehnt nach wie vor dieses Angebot ab.

Raute

INTERNATIONAL

Das "Terrorproblem" der Türkei

Amerikanische Seilschaften

Von Mustafa Ilhan

Ein 25-jähriger Krieg mit über 40.000 Toten - darunter die Morde an 17.000 kurdischen Oppositionellen in den Neunzigern - das ist die Geschichte der Türkei.


Nun lässt die AKP-Regierung mit sensationellen Reformen zugunsten der Kurden aufhorchen und gerät dabei in Konflikt mit der alten Oligarchie. Ist eine Lösung des historischen türkisch-kurdischen Konfliktes absehbar? Ist das im Rahmen der weiter bestehenden westlichen Hegemonie denkbar?

Am 28. Juli 2009 trafen sich die nordirakische Kurdenführung, die USA und die AKP-Regierung in Ankara, um die kurdische Frage zu erörtern. Es war nicht das erste Mal, dass sich diese drei staatlichen Protagonisten diesbezüglich zusammentaten. Zum wiederholten Mal wurde das sogenannte Terrorproblem der Türkei (PKK) besprochen und von den selbst ernannten Weltbefreiern (USA) in die Welt posaunt. Die Medienberichte fielen zunächst nicht anders als in den Jahren zuvor aus.

Nun aber hat die AKP-Regierung das ganze Land, besonders das kurdische Volk, mit einer Nachricht überrascht. Zum ersten Mal im kurdisch-türkischen Konflikt wurde eine kurdische Partei (DTP, die viertgrößte Partei der Türkei) von der Regierung anerkannt und zu einem Gespräch am 5. August 2009 eingeladen. Ein Motiv dafür dürfte sein, dass es für die AKP noch andere Probleme wie z.B. die Geheimorganisation Ergenekon gibt, die für die AKP noch viel gefährlicher ist als die PKK. Das Agieren der AKP kann indes nicht rein taktisch interpretiert werden. Viele Indizien sprechen dafür, dass sich die AKP nicht nur konjunkturell gegen den alten türkischen Staat und dessen prowestliche Nomenklatura aufstellt.

Einen Tag später folgte die nächste Überraschung. Die DTP-Führung traf sich mit US-Botschafter James Jeffrey zum Abendessen. Im Anschluss an diese Zusammenkunft erklärte DTP-Parteichef Ahmet Türk, dass die Partei in Washington ein Verbindungsbüro eröffnen wird. Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass ein Kampf für die Unabhängigkeit des kurdischen Volkes, der sich auf die amerikanische Demokratie verlässt, ein jähes Ende finden würde. Wenn die PKK amerikanische Interessen im Irak vertreten und/oder einen amerikanischen Krieg gegen den Iran unterstützen würden, wäre Kollaboration statt Unabhängigkeit erreicht. Ob die USA allerdings einen solchen Partner adoptieren, wird sich spätestens mit dem 2011 beginnenden Rückzug der USA aus dem Irak zeigen.

Viele Indizien sprechen dafür, dass sich die AKP nicht nur konjunkturell gegen den alten Staat und dessen prowestliche Nomenklatura aufstellt.

Möglicherweise eröffnet sich für die kurdische Bewegung dennoch die Möglichkeit eines demokratischen, von den USA unabhängigen Fortschritts. "Ich bin nicht der Öcalan, der damals an den realen Sozialismus glaubte, ich bin auch nicht der Öcalan, der ich vor zehn Jahren war. Auch die Türkei ist nicht die Türkei, die sie vor zehn Jahren war." (4. August 2009). Damit ist nicht nur die türkische Politik gegenüber den Kurden gemeint. Damit ist die Gesamtheit der politischen, ökonomischen und kulturellen Schritte der AKP-Regierung gemeint, die sich gegen die alte staatlich-militärische Nomenklatura richten.

Öcalans These einer "radikalen Demokratisierung" der Türkei ist ein Modell, um die Strukturen und Akteure der alten "Räuberregierungen" um ANAP, DYP, DSP usw. zu zerschlagen. Es geht darum, die Türkei von faschistisch-chauvinistischen und anti-kurdischen Parteien wie CHP, MHP, DP und von der Vorherrschaft des Militärs zu befreien. Das hat noch nichts mit einem unabhängigen Kurdistan oder gar einer kommunistischen Gesellschaft zu tun, kann aber dennoch als legitim und notwendig betrachtet werden.

Öcalan formuliert mit seiner These der radikalen Demokratisierung viele Ideen, die auch den Interessen der AKP entsprechen. Die kurdische Bewegung - in den Kandil-Bergen (Guerilla), in der DTP und in Imrali (Gefängnisinsel) - steht vor der Herausforderung, positive Elemente der AKP-Politik aufzunehmen und anzutreiben, während die Einmischung der Amerikaner zu bekämpfen ist. Das Gemeinsame von türkischer Regierung und kurdischer Bewegung kann darin formuliert werden, den alten Staat zu zerschlagen. Denn dieser alte Staat und seine Regierungen waren es, welche das Land dem Westen ausgeliefert haben.

Die türkische Gesellschaft kann sich nur emanzipieren, wenn sie sich von der westlichen Umklammerung befreit, was mit der AKP - mit ihrer religiösen Ideologie zur Verteidigung der Interessen des Landes - durchaus kompatibel ist. Das gemeinsame Interesse der Massen und der Regierung liegt darin, den Einfluss der USA und der EU zu begrenzen und unabhängig von außen zu agieren.

Um diesen Prozess in Gang zu setzen, muss die AKP beweisen, dass sie sich grundsätzlich von den alten Regierungsparteien unterscheidet. Sicher, die AKP unterliegt auch anderen Einflüssen. Dennoch könnte sie durch mutige demokratische Schritte im Inland sowie eine andere Außenpolitik (z.B. durch Energieverhandlungen mit Russland) eine fortschrittliche Vorreiterrolle in der islamischen Welt spielen.

Der AKP-Regierung hält man die versuchte Iranisierung des Landes vor. Die AKP sei Feind der Linken und der alevitischen Religionsgemeinschaft - überhaupt ein Feind der Demokratie. Dem entgegnend: Wann durften Gewerkschafter und Arbeiter in den letzten 33 Jahren, so wie jetzt am 1. Mai 2009, mit roten Fahnen auf dem Istanbuler Taksimplatz demonstrieren? Wann konnten die Kurden zuletzt ihren nationalen Feiertag Newroz am 21. März ohne offizielle Verbote abhalten? Newroz war früher illegal, warum ist jetzt legal?

Seit 1982 wird das Land mit einer Putschverfassung regiert. Zum ersten Mal gibt es einen Vorschlag zur Verfassungsänderung. Zum ersten Mal wird die kurdische Frage als eine Frage der Demokratisierung des Landes dargestellt. Die alevitische Minderheit wird vom Staat politisch anerkannt und ökonomisch unterstützt. Die türkisch-kurdische demokratische und linke Bewegung sollte die AKP-Regierung bei konkreten politischen Reformen unterstützen, anstatt sie aus allen Richtungen pauschal zu kritisieren und Vorwürfe wie "Iranisierung" und "statt Schulen werden Moscheen gebaut" zu erheben.

Am 26. August 2009 sprach sich Generalstabschef Ilker Basbug gegen den Verfassungsänderungsvorschlag der AKP aus. Der türkische Staat und die türkische Nation seien ein unteilbares Ganzes, die Sprache des Landes sei einzig türkisch. Diese Aussagen spiegeln sehr gut wider, welcher Antagonismus derzeit in der Türkei vorherrscht.

Es sollen keine maßlosen Hoffnungen in die AKP gesetzt und auch nicht der Eindruck erweckt werden, dass alle Reformen fortschrittlich sind.

Die linke Bewegung darf sich nicht auf die einseitige Formel reduzieren, dass die AKP die kurdische Frage nicht wirklich lösen wolle - stattdessen ist es geboten, positiven Bezug auf den Vorschlag einer Verfassungsänderung (was zurecht immer von der Linken gefordert wurde) zu nehmen. Es ist klar, dass die AKP-Regierung die PKK für illegitim erklärt. Doch eine demokratische Lösung der kurdischen Frage ist nur möglich durch den Kampf gegen die kemalistischen Militärs und Putschisten wie Ergenekon. In Bezug auf die religiöse Entwicklung des Landes (Bau von Moscheen, Religionsunterricht) muss man die demokratische und linke Bewegung daran erinnern, dass die Türkei immer noch zur islamischen Welt gehört.

Es sollen keine maßlosen Hoffnungen in die AKP gesetzt und auch nicht der Eindruck erweckt werden, dass ausnahmslos alle Reformen fortschrittlich sind. Es sind verschiedenste Faktoren am Wirken. Vieles hängt von der Politik der PKK gegenüber dem Iran ab. PJAK, die Iranfront der PKK, steht jetzt zwar auf der Terrorliste, wurde aber bis vor Kurzem mit Geldern der USA unterstützt. Anstatt sich westlichen Hegemoniebestrebungen anzudienen, sollte die kurdische Bewegung einen Waffenstillstand mit dem Iran vereinbaren. Ohne ein intelligentes Agieren in der Türkei und ohne Verhandlungen mit Teheran und Damaskus wird eine demokratische kurdische Nation perspektivisch nicht entstehen.

Es gilt also, auch mit dem Iran gemeinsame Interessen auszuloten (ohne auf die kurdischen Rechte zu verzichten), anstatt dem US-Imperialismus um den Hals zu fallen. Um zu eruieren, wie man mit dem Iran gemeinsames Handeln entwickeln kann, lohnt ein Blick auf das venezolanische Vorgehen. Um hingegen eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie Kurdistan aus westlicher Sicht aussehen soll, ist ein Blick auf die EU-Kolonie Kosovo angebracht: Das kann und soll kein Vorbild für die unterdrückten Völker dieser Erde sein.


INFO

Ergenekon

Ergenekon ist laut Anklageschrift der Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft eine "terroristische Vereinigung". Diese Organisation mit nationalistischem und faschistischem Hintergrund betätigt sich innerhalb der staatlichen Strukturen und insbesondere der Sicherheitskräfte des Landes. So wie diese Tendenz in den 1990er Jahren gegen die Linke und die kurdische Bewegung agierte, so richtet sie sich heute gegen islamische Einflüsse. Man schürte nicht nur den kurdisch-türkischen sondern auch andere Konflikte, wie den alevitisch-sunnitischen, den islamisch-laizistischen und natürlich ging mach gegen Kommunisten vor.

Im Ergenekon-Verfahren sind Militärangehörige bis hin zu Vier-Sterne-Generälen, Polizeibeamte, Juristen und sogar Gewerkschafter sowie Journalisten angeklagt. Im am 20. Oktober 2008 in Silivri begonnenen Prozess werden der Organisation ein Putschversuch gegen den Regierung, zahlreiche Attentate sowie Drogenhandel vorgeworfen.

Die Organisation wurde nach Angaben der Anklage durch CIA, Mossad und selbst von ehemaligen Nazi-Generälen ausgebildet. Ergenekon geht auf das Gladio-Netzwerk zurück, das in den 1950er Jahren durch die USA über die NATO-Staaten gesponnen wurde aber andernorts aufgehört hat zu existieren.

Die Ergenekon-Verschwörung stellt sich für die gegenwärtige Regierung als gefährlichere Bedrohung als die PKK dar. Die Organisation betätigt sich heute sehr aktiv in den kurdischen Gebieten. Zum Beispiel werden die Morde an zwei DTP-Mitgliedern vor einem Monat in Diyabakir ihr zugeschrieben. Sie bezwecken damit den kurdisch-türkischen Konflikt zu verschärfen und damit die AKP-Reformen und letztlich die ganze Regierung zu kippen.

Aus linkskemalistischer Ecke hört man oft das Argument, dass die USA und Deutschland grünes Licht für die Gegenoffensive der AKP gegeben hätte. Mag sein. Das heißt aber nicht, dass die AKP damit zum Handlanger Washingtons und Berlins würde. Sie verfolgt damit eigene Interessen, sei es die Verteidigung ihrer Ideologie, sei es die Absicherung ihrer Reformen - gegen ein Machtzentrum, das die Geschickte des Landes für Jahrzehnte zugunsten der USA lenkte.

Deutschland hat jedenfalls allen Grund der Regierung in Ankara grünes Licht gegen Ergenekon zu geben. Denn ihr Netzwerk ist mit Drogenhandel und anderen illegalen Geschäften auch auf deutschem Boden aktiv.

Raute

INTERNATIONAL

Das Ende der LTTE

Über Sri Lanka

Von Kurt Kolm

Im Mai vernichtete die Armee die Tamilischen Befreiungstiger. Damit endete der militärische Befreiungskampf gegen die Unterdrückung durch die Regierung.


Im Mai diesen Jahres vernichtete die Armee Sri Lankas nach eigenen Angaben die Guerilla der Tamilischen Befreiungstiger und tötete ihren Anführer. Damit endete der militärische Befreiungskampf der tamilischen Minderheit gegen ihre Unterdrückung durch die Regierung der singhalesischen Mehrheit in Sri Lanka. Begonnen hatte dieser Kampf vor Jahrzehnten, er forderte Tausende von Opfern. Tragödie dieses Kampfes war es, dass ihm die traditionsreiche singhalesische Linke weitgehend die Solidarität verweigerte. Die brutale militärische Vernichtung der Guerilla-Einheiten ohne Rücksicht auf hohe Verluste unter der tamilischen Zivilbevölkerung im April und Mai dieses Jahres waren den westlichen Medien kaum mehr wert, als den Kommentar, dass wieder eine Schlacht gegen den internationalen Terror gewonnen worden wäre.

Wir veröffentlichen im Folgenden eine Reportage über den tamilischen Befreiungskampf und die alltägliche Unterdrückung der Tamilen in Sri Lanka.Quelle: AG Friedensforschung an der Universität Kassel. (Red.)

Der 25-jährige Bürgerkrieg in Sri Lanka wurde am 20.5.2009 offiziell für beendet erklärt. Die Hoffnung auf eine wirkliche Versöhnung zwischen singhalesischer Mehrheit und tamilischer Minderheit ist jedoch gering, denn auch außerhalb des Kampfgebietes wurden Tamilen auf der Insel bisher verfolgt und diskriminiert. In den vergangenen zwei Monaten wurden durch militärischen Granatenbeschuss und Bombardements über dreitausend tamilische Zivilisten getötet und etwa siebentausend verletzt. In der Zeit von 2002 bis 2006 kontrollierte die LTTE mehr als 15.000 Quadratkilometer im Norden und Osten der Insel.

"Ich bin meines Lebens nicht mehr sicher. Sie werden mich töten, wenn ich nicht tue, was sie von mir verlangen", so die Aussage eines Tamilen mit Universitätsabschluss. Den ganzen Körper voller Foltermale, ist er froh, dass ihn seine Entführer am Leben gelassen haben. Viele seiner Schicksalgefährten werden nie mehr nach Hause zurückkehren. Und auch er ist gewarnt. Er müsse die srilankische Hauptstadt "innerhalb von Tagen" verlassen, hat man ihn gewarnt.

Nach Colombo war er 2005 gekommen. Damals hatte er Jaffna verlassen, die Halbinsel an der Nordspitze Sri Lankas. Viele seiner Freunde waren dort von Unbekannten erschossen worden. Seitdem arbeitete er in Colombo in einem Laden, der mit einer tamilischen Partei verbunden war, die paramilitärische Kräfte unterhält. Im April 2008 von der Polizei verhaftet, wurde er ohne Anklage zwei Monate lang festgehalten, mehrfach misshandelt, schließlich jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Polizei warnte ihn: "Du kannst uns nicht entkommen. Wir wissen, wo du arbeitest. Wir werden dich beobachten".

Sein Leidensweg war damit nicht zu Ende. Der Brief einer unbekannten Gruppe, der ihn trotz Wohnungswechsel erreichte, enthielt eine unmissverständliche Drohung: "Warum bist du nach Colombo gekommen? Verschwinde! Oder du wirst bestraft". Die Gruppe behauptete, sich um "Verräter" zu kümmern. Aber er nahm die Drohung zunächst nicht ernst, bis er Ende vergangenen Jahres einen zweiten Brief erhielt. Diesmal setzte man ihm eine letzte Frist für das Verlassen Colombos.

"Eines Tages im Februar kam ich gegen 21 Uhr vom Abendessen. Einige STF-Beamte (Spezialkräfte der Polizei) riefen mich zu sich, stießen mich in einen Wagen und stülpten mir eine Maske übers Gesicht". Er wurde zehn Stunden lang umhergefahren, zweimal musste er das Auto wechseln. Beim zweiten Mal übergab man ihn Leuten, die perfekt Tamilisch sprachen. Wohl werden in Sri Lanka zwei Sprachen gesprochen, doch nur wenige Einwohner beherrschen beide - Singhalesisch und Tamilisch. Die meisten sprechen ausschließlich ihre Muttersprache.

Der Entführte wurde mit Elektroschocks gefoltert, sein Körper überzog sich mit brennenden Narben. "Ich flehte sie an, mir noch eine Chance zu geben". Schließlich fuhren die Entführer ihr Opfer in einem Wagen in einen Außenbezirk Colombos und setzten ihn dort aus. Es war früh am Morgen, die Stadt lag noch im Dunkel, er hatte überlebt, doch Colombo sollte er unter Androhung schwerer Strafe verlassen.

Laut "Human Rights Watch" wurden zwischen 2005 und 2007 mehr als 1500 Menschen als vermisst gemeldet. "Viele Fälle werden nicht gemeldet - aus Angst vor Repressalien", heißt es. Die Schätzungen der Bürgerkommission gegen Entführungen liegen deshalb weit höher. Sie besagen, dass nur in Colombo und Vororten über vierhundert Menschen vermisst werden, seit die Regierung unter Präsident Mahinda Rajapakse im November 2005 ihr Amt übernahm. Vornehmlich im Norden und Osten seien im gleichen Zeitraum viertausend Menschen entführt worden, die große Mehrzahl waren Tamilen.

Während des Friedensprozesses bis 2005 war den "Befreiungstigern von Tamil Eelam" erlaubt worden, Büros in Gebieten unter Regierungskontrolle einzurichten. Die Guerillagruppe sollte sich in eine demokratische politische Partei umwandeln. Diese Büros organisierten verschiedene Veranstaltungen, was von der damaligen Regierung und der internationalen Gemeinschaft unterstützt wurde. Die Veranstaltungen wurden gefilmt oder mitgeschnitten. "Wir haben inzwischen festgestellt, dass viele Teilnehmer solcher Veranstaltungen verschwunden sind", berichtet der Abgeordnete Mario Ganeshan.

Als sich die Gewalt nach 2005 wieder ausbreitete, wurden die LTTE-Büros wieder geschlossen. Die Teilnehmer der Veranstaltungen blieben jedoch zum größten Teil in den von der Regierung kontrollierten Gebieten. Einige zogen nach Colombo, um der Gewalt zu entkommen und Arbeit zu suchen. Aber Colombo ist keine "sichere Zone", schon gar nicht für Tamilen. Unter dem Vorwand, eine Infiltration der LTTE zu verhindern, zwang die Regierung alle Tamilen in Colombo, egal wie lange sie dort schon ansässig waren, sich bei der Polizei zu melden und die Nummern ihrer Bankkonten preiszugeben. In einem Meldepapier, das an Straßensperren oder bei Razzien vorzuweisen war, wurden die "Gründe für den Aufenthalt", die "beabsichtigte Aufenthaltsdauer" und andere Informationen vermerkt. Anzunehmen ist, dass diese Angaben auch den "Entführungseinheiten" zur Verfügung stehen, die daher wissen, wo sich ihre Opfer aufhalten. Ebenso wird angenommen, dass die Entführer die Informationen benutzen, um von tamilischen Geschäftsleuten Lösegeld zu erpressen.

Jetzt, da die Regierung die LTTE militärisch besiegt hat, fürchten die Tamilen in Colombo und anderen Teilen des Landes, eine noch stärkere Unterdrückung.

Ob im Norden oder in den für "sicher" erklärten Gebieten, ob in den mit Stacheldraht umzäunten Flüchtlingslagern, den von Paramilitärs unsicher gemachten östlichen Provinzen oder in Colombo - nirgends scheint sich die tamilische Minderheit unter menschenwürdigen Bedingungen niederlassen zu können.

Jetzt, da die Regierung die LTTE militärisch besiegt hat, fürchten die Tamilen in Colombo und anderen Teilen des Landes, wo sie in der Minderheit sind, eine noch stärkere Unterdrückung als bisher. "Die Zerschlagung der LTTE bedeutet, dass die politische Lösung, die unbedingt benötigt wird, um den Konflikt zu beenden, in noch weitere Ferne rückt", erklärt ein Aktivist der Tamilen in Colombo. "Die LTTE ist etwa dreißig Jahre alt. Die Wurzeln des Konflikts auf der Insel reichen sechzig Jahre zurück. Der militärische Weg zur "Lösung" eines politischen Problems führt nicht zu diesen Wurzeln", betont ein anderer Aktivist, ein Singhalese. Doch nicht viele seiner Landsleute teilen derzeit seine Meinung. Der Befehlshaber der srilankischen Armee Sarath Fonseka schrieb im September 2008 im kanadischen Magazin "National Post" vom 23.9.2008 folgendes: "Ich bin fest davon überzeugt, dass unser Land den Singhalesen gehört. aber es gibt auch Minderheiten bei uns, welche wir genauso behandeln wie unsere Leute. Aber sie dürfen nicht versuchen, unter dem Vorwand eine Minderheit zu sein, unangemessene Dinge einzufordern."


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Der tamilische Tiger ist schwer angeschlagen. Weltweit regte sich Protest gegen das Massaker.

Raute

EUROPA

Alles wieder gut?

Wie die Krise schön geredet wird

Von Stefan Hirsch

In den Medien wird das Ende der Wirtschaftskrise gefeiert. Hatten wir es bloß mit einer kurzen Betriebsstörung zu tun? Einiges spricht gegen diese Annahme.


Der Boulevard feiert das Ende der Weltwirtschaftskrise. So titelt etwa die Wiener U-Bahn Zeitung "Heute": "Krise vorbei". Die Wirtschaftspresse ist etwas vorsichtiger, deren Leser hingegen weniger. Die internationalen Börsen haben seit März einen gewaltigen Kurssprung gemacht. Der deutsche Aktienindex liegt im August nur mehr etwa 30 Prozent unter seinem Höchststand vor der Krise (der auch aus damaliger Sicht ein bisschen verwegen war). In New York ist die Party der Investmentbanker-Parasiten wieder losgegangen - nach guten Quartalszahlen fließen die Boni wieder.

War es das? War die große Finanzkrise eine Art Unfall, getrieben durch zu viel Gier und etwas zu hohes Risiko im Bankengeschäft? Und jetzt geht alles weiter wie zuvor? Wir glauben das nicht.

Ein paar der Konjunkturzahlen und Unternehmensdaten, die im Augenblick die Finanzmärkte euphorisieren: Ein beachtliches chinesisches Wirtschaftswachstum von 8 Prozent geht einher mit dem Sinken des Stromverbrauches um sechs Prozent - die Fälschung der Wachstumsraten liegt auf der Hand. Die Zahlen zum BIP in den USA werden immer absurder. Und die guten Quartalszahlen der Banken liegen zu einem Teil an den Kommissionen, die sie für den Verkauf der gewaltigen Staatsschulden erhalten (welche ironischerweise in erster Linie zum Stützen der Banken verwendet werden). Zum anderen gibt es geänderte Buchhaltungsvorschriften, die das Verstecken von Verlusten erleichtern. Tatsächlich hat sich der Auftragseingang der deutschen Industrie erholt, liegt aber immer noch 25 Prozent unter dem Vorjahr. Es ist keine Steigerung des amerikanischen oder europäischen Privatkonsums zu beobachten, angesichts steigender Arbeitslosigkeit kann man im Gegenteil von einem nochmaligen Rückgang ausgehen.

Auf der anderen Seite ist die Stabilisierung der Weltwirtschaft durchaus real und kommt nicht unerwartet. Wenn ein Zusammenbruch privater Nachfrage (für Konsum und für Investitionen) die Wirtschaft in die Krise reißt, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der Staat schaut zu wie alles den Bach hinunter geht (das war das etwas idiotische Modell der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre), oder er macht Schulden und fängt so einen Teil des Nachfrageeinbruchs auf. Da vor allem in den USA die härtesten der ultraliberalen Ideologen seit Anfang des Jahrtausends aus der Wirtschaftspolitik hinausgedrängt wurden und durch eine Reihe von halbwegs pragmatischen Korruptionisten-Oligarchen ersetzt wurden (die ihren Geldbeutel nicht für ideologische Phrasen gefährden wollen), war das Modell der 1930er Jahre seit jeher unwahrscheinlich.

Unter diesen Voraussetzungen ist die Stabilisierung der Weltwirtschaft nichts Überraschendes. Wenn die Wirtschaftsleistung der Industriestaaten zwischen vier und sechs Prozent zurückgeht und der Staat die Neuverschuldung bis auf 10 Prozent dieser Wirtschaftsleistung (in den USA) erhöht, dann muss irgendwann der Punkt kommen, wo die staatliche Nachfrage in der Lage ist einen unkontrollierten Zusammenbruch zu stoppen. Für sich genommen bedeutet das allerdings noch nicht viel. Die staatliche Nachfrage beruht auf einer nicht nachhaltig finanzierbaren Verschuldung, die irgendwann auslaufen muss. Was aber geschieht, wenn die staatliche Stützung ausgesetzt wird, oder nur mehr um den Preis hoher Inflation aufrecht zu erhalten ist?

Wir wollen noch einmal das Krisenmodell erläutern, das wir seit etwa 2 Jahren immer wieder vorstellen: Die letzten Jahre waren durch Neoliberalismus und Globalisierung von steigender Ungleichverteilung geprägt, die zu einer grundlegenden Nachfragelücke geführt hat. In der Sprache des klassischen Marxismus wird dies als "Überproduktionskrise", bezeichnet. Geschlossen wurde die Konsumlücke durch die steigende Verschuldung der Privathaushalte - und notwendiges Gegenstück war eine Vermögenspreisblase, eine ständige Höherbewertung von Aktien und Immobilien, welche die Verschuldung als nicht gefährlich erscheinen und die Sparquote hat sinken lassen.

Die Weltwirtschaft hat damit ein Problem strukturellen Unterkonsums. Das kann auf die Dauer weder durch Staatsverschuldung noch durch eine Politik des billigen Geldes gelöst werden.

2007 haben die Konsumenten in einigen Schlüsselländern, vor allem in den USA, festgestellt, dass sie eigentlich überschuldet sind. Die Weltwirtschaft hat damit ein Problem strukturellen Unterkonsums. Das kann auf die Dauer nicht durch Staatsverschuldung gelöst werden, weil diese irgendwann zu hoch wird. Das kann auf die Dauer auch nicht durch eine Politik des billigen Geldes der Notenbanken gelöst werden. Wenn sich die Weltwirtschaft in einem Gleichgewicht befindet, indem durch die Schwäche des Konsums keine Vollbeschäftigung möglich ist, dann wird das Drucken von Geld irgendwann ausschließlich die Inflation anheizen.

Für ein wirkliches Ende der Krise gibt es eineinhalb Möglichkeiten. Zuerst die halbe: theoretisch könnte das neoliberale Wachstumsmodell als eine Art Zombie wiederauferstehen. Theoretisch könnten billiges Notenbankgeld und hohe Staatsschulden eine neue Finanzmarkteuphorie entfachen, eine neue Vermögenspreisblase ermöglichen und damit eine neue Schuldenblase der Privathaushalte anfachen. Tatsächlich ist das die zentrale Hoffnung des amerikanischen Establishments, des Notenbankvorsitzenden Bernanke und der wirtschaftspolitisch mittlerweile dominanten Spätkeynesianer. Man muss sich über diese Hoffnung nicht lustig machen, auch wir haben bis vor Ausbruch der Krise das neoliberale Akkumulationsmodell für relativ stabil gehalten (scheiße und mörderisch zwar, aber stabil). Es ist auch nicht auszuschließen, dass das funktioniert. Die Börsenkurse im August riechen schon gewaltig nach der nächsten Blase. Die Frage ist allerdings ob das praktisch insolvente Bankensystem eine neue Privatschuldenbonanza finanzieren kann oder will. Die Frage ist auch, ob nach den jüngsten Finanzmarktturbulenzen eine neue Welle extremer Risikoneigung einsetzen kann, üblicherweise dauert es etwa eine Generation bis solche Exzesse wiederholt werden - bei größerer Vorsicht platzt die nächste Blase viel schneller. Und letztlich: Die Verschuldung der amerikanischen Privathaushalte hat bisher etwa 150 Prozent des verfügbaren Einkommens erreicht. Wohin sollen noch mehr Schulden denn führen? 250 Prozent? Wenn dann die nächste Vermögenspreisblase platzt wird 2008 wie ein Spaziergang erscheinen.

Die zweite Möglichkeit wäre eine echte Zunahme der Nachfrage zumindest in einigen wichtigen Teilen der Welt. Wir wollen nicht behaupten, dass der Kapitalismus zu so etwas nicht im Stande wäre, aber es bedarf in jedem Fall einiger struktureller Brüche - und es benötigt auch Zeit. Ja, China ist in der Lage seinen Binnenmarkt zu stärken, aber höherer chinesischer Konsum braucht eine andere Industriestruktur. Es ist nicht davon auszugehen, dass man die Barbiepuppen aus den Exportproduktionszonen jetzt einfach für chinesische Kinder baut, weil sie die Amerikaner nicht mehr kaufen wollen.

Wenn man den Kapitalismus nicht abschafft wird er irgendwann aus dieser strukturellen Krise herausfinden. Aber sicher nicht so schnell.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Knock out: die Wirtschaft ist angeschlagen, doch alle sprechen von Erholung.

Raute

EUROPA

Europa - was jetzt?

Thesen zu einer Krise der europäischen Gesellschaften

Von Stefan Hirsch

Die Weltwirtschaftskrise legt in Europa eine gesellschaftliche Krise offen. An der Oberfläche ist diese gar nicht so leicht zu entdecken, doch der Verfall wird immer deutlicher.


An der Oberfläche ist die Krise gar nicht so leicht zu entdecken, denn in den meisten Staaten fehlt es an echter Opposition, was das Weiterwurschteln erleichtert. Dennoch treten einige Erosions- und Verfallserscheinungen ganz deutlich zu Tage. Das bedeutet übrigens nicht unbedingt eine revolutionäre Krise und auch keine automatische Tendenz zur Überwindung des Kapitalismus. Wir sind uns allerdings sicher, dass in den nächsten Jahren von breiten Teilen der Bevölkerung Antworten auf diese Krise gesucht und geschaffen werden. Es ist die Aufgabe einer antikapitalistischen Opposition, sich in dieses Spiel einzubringen.


1. Eine wirtschaftliche Strukturkrise

Die Europäische Wirtschaft befindet sich in strukturellen Schwierigkeiten, und das nicht erst seit Ausbruch der Krise. Spanien, Großbritannien und Osteuropa haben in den letzten Jahren eine starke Entwicklung des Privatkonsums aufgewiesen und auch Beschäftigung aufbauen können. Die Finanzkrise hat allerdings gezeigt, dass das nur über extrem hohe Kreditvergabe und in der Folge ein gehöriges Leistungsbilanzdefizit mit dem Ausland möglich war - Wachstum, aber nicht nachhaltig. Deutschland ist Exportweltmeister, aber seit Jahren nicht mehr in der Lage, Wachstum zu generieren. Die Weltwirtschaftskrise zeigt jetzt das Ende dieser Wachstumsmodelle: Den Schuldnerländern geht der Kredit aus, Deutschland wird seine Exporte nicht mehr los. Die einzigen Länder Europas, die weder völlig anämisches und außenabhängiges Wachstum, noch extreme Ungleichgewichte des Außenhandels aufgewiesen haben, sind Frankreich, die skandinavischen Staaten, sowie Österreich. Seit dem Beginn der 1990er Jahre bleibt aber das Wachstum der gesamten EU deutlich hinter jenem der USA zurück - von den aufsteigenden Volkswirtschaften Asiens gar nicht zu reden.

Die Schwierigkeiten gehen weiter. Die EU-Propaganda, aber auch viele Volkswirte, erzählen eine Geschichte wirtschaftlicher Konvergenz der EU - wegen Binnenmarkt, Währungsunion und der Versuche der Koordinierung der Wirtschaftspolitik würden die Volkswirtschaften Europas immer weiter zusammenwachsen, ihre wirtschaftlichen Strukturen sich angleichen. Das mag für eine ganze zeitlang richtig gewesen sein, seit der Jahrtausendwende ist es falsch. Auch und gerade innerhalb der Eurozone fallen Wachstum, Inflation und Produktivitätsentwicklung immer weiter auseinander, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Konkurrenzfähigkeit der jeweiligen industriellen Apparate. Während die Produktivität (Leistung eines Beschäftigten) in Deutschland und Skandinavien langsam, aber doch zugenommen hat, ist sie in den Anrainerstaaten des Mittelmeers schon vor der Finanzkrise sogar gesunken (angesichts des gegebenen technischen Fortschritts ein ungewöhnlicher Vorgang.) Seit Einführung des Euro bis 2007 ist die Konkurrenzfähigkeit etwa der italienischen Industrie (gerechnet in Lohnstückkosten) gegenüber der deutschen um 17 Prozent gefallen. Langfristig wird die Eurozone solchen Spannungen nicht standhalten können und auseinander brechen. Eine Verschärfung der Weltwirtschaftskrise könnte deren Ende relativ bald einläuten.

Tatsächlich gerät Europa (weniger die Oligarchie, wohl aber die Bewohner des Kontinents) zunehmend unter die Räder der Globalisierung.

Scheinbar handelt es sich in unterschiedlichen Ländern um unterschiedliche Probleme, die jedes einer eigenen Lösung bedürften, aber das stimmt nur zum Teil. Tatsächlich gerät Europa (weniger die Oligarchie, wohl aber die Bewohner des Kontinents) zunehmend unter die Räder der Globalisierung. Was in den letzten Jahren geschehen ist, ist sowohl der Verlust der Kapazität, selbstständig Wachstum zu erzeugen (die europäische Konjunktur verläuft seit Jahren synchron mit den USA, allerdings bei schwächerem Wachstum), als auch der zunehmende Verlust internationaler Konkurrenzfähigkeit. Während sich die USA über ein de facto Monopol der Kernbereiche der Informationstechnologien und neuer Dienstleistungen fest an die Spitze der internationalen Arbeitsteilung gesetzt haben, befindet sich Europa (auch Deutschland) zunehmend in einem Segment mittlerer Technologie. Und in diesem Bereich gibt es wenig, was man nicht auch in China oder Indien bauen könnte. Vielleicht symptomatisch ist der Bereich der Umwelttechnologie und der erneuerbaren Energie, die als Träger einer "grünen Revolution" und Hunderttausender neuer Arbeitsplätze fantasiert werden. Tatsächlich wurde der dänische Windturbinenbauer Vestas schon vor einiger Zeit durch einen indischen Konkurrenten übernommen, und die deutsche Solarindustrie wird im Augenblick von chinesischer Konkurrenz überrollt. Die Chinesen zahlen nicht nur geringere Löhne, sie haben auch mehr Erfahrung in Kostensenkung durch sehr hohe Stückzahlen und obendrein die robuste Unterstützung der Regierung. Und letzten Endes benötigt man keinen Nobelpreis, um Solarpanele zusammenzuschrauben.


2. Eine Krise der Perspektive

Der Abstieg (West-)Europas ist dabei kein unaufhaltsames Naturgesetz. Selbst der mittlerweile nur mehr halbliberale Mainstream legt wenigstens teilweise brauchbare Konzepte vor: enorme Anstrengungen müssten unternommen werden um den Technologiegehalt der europäischen Produktionsstruktur zu erhöhen und dessen Diffusion innerhalb der EU zu beschleunigen. Eine Koordinierung europäischer Wirtschaftspolitik in diesem Sinne müsste erfolgen. Die stärker linkskeynesianisch Orientierten fordern einen gewissen sozialen Ausgleich, um den privaten Konsum zu stärken. Und einige sind auch in der Lage, beide Elemente zusammenzusetzen - weil der über mehr Privatkonsum gestärkte Binnenmarkt tatsächlich eine Voraussetzung ist für die Verbreitung technologieintensiver Produktion und der begleitenden Dienstleistungen. In einem deflationären und von hohen Überkapazitäten gekennzeichneten Umfeld werden die notwendigen Investitionen einfach nicht unternommen werden, ein zu kleiner und zu wenig dynamischer Markt verhindert das Einsetzen von Effekten der Massenproduktion, was wiederum internationale Konkurrenzfähigkeit verhindert.

Alle Schwierigkeiten sind überwindbar, aber einiges spricht dafür, dass sie in diesem Fall eben nicht überwunden werden können. Warum? Eine neue Produktionsstruktur mit erhöhtem Technologiegehalt bräuchte gigantische Ressourcen. Angesichts der aktuellen staatlichen Überschuldung müsste man die Massensteuern massiv anheben und damit die Binnenkonjunktur abdrehen, um diese aufzustellen - eine Strategie, die sich selbst behindert, denn die Binnenkonjunktur ist essentiell für eine Höherentwicklung des Produktionsapparates. Andernfalls müsste man die Oligarchie zahlen lassen, über Kapital-Unternehmens und Vermögenssteuern. Die hat aber keine Lust zu zahlen. Genauso wenig ist bis dato auch nur der geringste Ansatz zu nachhaltigerer Umverteilung zu erkennen oder so etwas wie die Bereitschaft, auch nur ein Jota vom Regime des Freihandels abzurücken.

Stattdessen hört man aus den europäischen Zentren der Macht immer nur ein "weiter wie bisher", was letzten Endes auf eine Radikalisierung der neoliberalen Katastrophe hinausläuft. Deutschland hofft, dass die Welt in 2 Monaten wieder wie früher werde, dann könne man damit fortfahren, zu Hause Löhne zu kürzen, alles kaputt zu sparen, und die Industrieerzeugnisse im Ausland abzusetzen - eine wirklich verzweifelte Dummheit, das "deutsche Modell" hat ja auch vor der Finanzkrise nicht funktioniert. In Südeuropa schließlich möchte man Deutschland nacheifern, die Exportindustrie per Kostensenkung wieder flott bekommen, den Staatshaushalt durch Einsparungen sanieren. Eine fast noch größere Verzweiflung: Lohnkürzungen und staatliche Sparmaßnahmen entziehen der angeschlagenen Wirtschaft weitere Kaufkraft. Sollte solch ein Kurs gelingen, bricht der europäische Binnenmarkt völlig zusammen, weil gar niemand mehr irgendetwas kauft. Sollte diese Rosskur nicht gelingen, so ist das langfristig das Ende der Euro-Zone, weil zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit dann eine Währungsabwertung erfolgen muss - und die gibt es nur per Austritt aus der Währungsunion. Letztlich ist eine Auflösung der Euro-Zone (oder zumindest ihre Schrumpfung) auch aus kapitalistischer Perspektive wahrscheinlich das Vernünftigste, die einhergehenden Finanzmarkts- und Währungsturbulenzen wären allerdings gewaltig.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Probleme Europas damit viel tiefer gehen, als jene der USA. Natürlich: die USA sind immer noch das Zentrum der Wirtschaftskrise. Aber die Perspektiven sind dennoch besser. Die USA sind immer noch die Spitze der internationalen Arbeitsteilung. Und die amerikanischen Eliten scheinen durchaus zu einer inflationären Politik bereit: Höhere Konkurrenzfähigkeit durch Abwertung des Dollars und die Bereitschaft, so viel Geld zu drucken wie notwendig, um eine Spirale sinkender Preise zu durchbrechen (und damit auch gleich die Staatsschulden zu entwerten.) Auch die USA haben eine Führungskrise, aber diese ist nichts im Vergleich zur europäischen Perspektivlosigkeit.


3. Eine Krise der Eliten

Die Krise europäischer Wirtschaftsstruktur wird ergänzt durch eine Krise der europäischen Eliten. Kurz zusammengefasst: Der Oligarchie fehlt die Kraft, ihre eigene Gier ein wenig zu kontrollieren und ein wenig strategische Vision zu entwickeln, die über den Augenblick hinausgeht. Was soll denn aus der EU werden? Oder aus Deutschland? Natürlich, es gibt militaristisch-imperialistische Träume, die eine europäische Großmacht sehen, mit Truppen und Bomben in der ganzen Welt. Aber die Hauptströmung der europäischen Eliten ist damit zufrieden, der amerikanischen Außenpolitik zu sekundieren. Andere träumen vom "sozialen Europa" - mit noch weniger Durchsetzungsvermögen. Der österreichische Altbundeskanzler Schüssel hat vor einigen Jahren den denkwürdigen Ausspruch getätigt, seine Vision für Österreich sei es, in der EU überall zu den "ersten drei" zu gehören. Das ist wenigstens leicht verständlich, aber welches gesellschaftliche Ideal soll sich denn angesprochen fühlen, wenn der einzige Sinn der Politik es ist, konkurrenzfähiger zu sein als Dänemark, Ungarn oder Buxtehude?

Der Oligarchie fehlt die Kraft, ihre eigene Gier ein wenig zu kontrollieren und eine strategische Vision zu entwickeln, die über den Augenblick hinausgeht.

Unter solchen Voraussetzungen werden Wahlen immer lächerlicher. Es gibt nicht nur kaum echte Opposition zur Auswahl, der offizielle Einheitsbrei hat eigentlich auch gar nichts zu sagen - außer "wählt uns, wir wollen Macht und Posten". Dem Wähler erscheinen die Parteien im Zentrum der Macht, die tatsächlich eine Regierung bilden könnten, als klientelistische Netzwerke. Es geht nicht um unterschiedliche Visionen, wie die Welt zu gestalten sei. Ein Blick auf die österreichischen Großparteien, SPÖ und ÖVP: Beide sind für einen menschlichen und sozialen Kapitalismus, möchten diesen aber nicht durchsetzen. Beide wollen das Fremdenrecht verschärfen und folgen der üblichen Sicherheits-Paranoia bei der Kriminalitätsbekämpfung. Beide reden vom Klimaschutz und unternehmen nichts. Beide wollen die "große Verwaltungsreform" und können diese wegen Sonderinteressen in den eigenen Reihen nicht verwirklichen. Mit dem letzten Beispiel haben wir uns bereits auf eine ganz lächerliche Ebene begeben: In Österreich fällt nicht nur die Wahl zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen flach, man kann nicht einmal über idiotische Dinge wie eine Umgestaltung der Bürokratie abstimmen.


4. Enter the Clowns

Der sichtbarste Ausdruck der Krise der europäischen Eliten ist dabei das Abgleiten der Politik in das Grotesk-Komödiantische. Nachdem in den 1990er Jahren der "spin-doctor" die Bühne betreten hat (der Politik durch Werbung ersetzt hat), hat nun der Clown seinen großen Auftritt: Sarkozy, der seine Hochzeit mit einer Sängerin inszeniert, von der gleichzeitig Akt-Fotos versteigert werden. Ex-Finanzminister Grasser, dessen fachliche Inkompetenz nur durch seinen Selbstdarstellungstrieb und seine Gier geschlagen wird. Berlusconi, der sich möglicherweise für den Hauptdarsteller eines Porno-Filmes hält. Ein slowenischer Präsident, der ausschließlich sein selbst angebautes Bio-Gemüse isst, ein tschechischer, der glaubt, der Treibhauseffekt sei eine linke Verschwörung. Ein polnischer Ex-Präsident und jetziger Oppositionsführer, der bei seiner Mutter wohnt und einen Minister beschäftigt hatte, der die "Teletubbies" wegen Homosexualität verbieten wollte. Ein anderer polnischer Ex-Präsident (und seit Anfang der 1980er Star der westeuropäischen Fernsehkanäle, die aber seinen Namen immer noch nicht aussprechen können), der gleichzeitig eine Kampagne für die EU führt und eine dagegen - warum auch nicht, solange bezahlt wird.

Der politische Typus des Clown ist die logische Folge des politisch-ideologischen Einheitsbreis, sein verschrobenes "anders sein" hebt ihn ab. Wenn man inhaltlich schon wenig Wahl hat, dann kann man sich ruhig einen Premierminister nehmen, der wenigstens mit nackten Frauen in die Zeitung kommt.

Das dramatische an der Situation ist, dass man eigentlich Kaczynski, Klaus, Sarkozy und Berlusconi noch mehr strategische Vision zutraut als ihren politischen Gegenspielern, die sich ausschließlich auf die Verwaltung des EU-"common sense" beschränken.


5. Eine Krise der Ideologie

Die Krise der Ideologie ist natürlich eng mit der Perspektivkrise verbunden. Beide verstärken sich gegenseitig. Es ist klar, die großen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts sind praktisch verschwunden. Wer an Gott glaubt, ist ein Sonderling. Wer heute in Europa bereit ist, aus Nationalismus "für das Vaterland zu sterben" ist ein rechtsextremer Sonderling, im Übrigen aber sehr einsam. Wer für den Sozialismus ist, oder in der einen oder anderen Form den totalen Individualismus ablehnt, wird für eine Art Nazi gehalten. Der herrschende liberale Mainstream, der letzte Überlebende des Sterbens der "großen Erzählungen" ist dabei eine Anti-Ideologie und Anti-Politik. Die Gesellschaft wird durch den Markt organisiert, der ohne das Eingreifen der Menschen auskommt, der sogar nur dann optimal funktioniert, wenn nicht eingegriffen wird. Und er wird flankiert durch eine Philosophie der Postmoderne, die überhaupt alles auflöst und das gezielte Eingreifen des Menschen in die Gesellschaft als unmöglich darstellt. Der Glaube an den Markt ist mittlerweile hoffentlich auch kaputt, die Postmoderne wird in Probleme kommen, denn Zeiten der Krise fordern die konkrete Aktion der Menschen - was sie für den postmodernen Humbug weniger zugänglich macht.

Aber die Krise des Liberalismus bringt nicht automatisch wieder die alten Ideologien zum Vorschein. Zuerst erzeugt sie einmal Verwirrung - und Perspektivlosigkeit.


6. Opposition und Chaos

Wir haben in Europa eine politische, wirtschaftlich-soziale und ideologische Krise. Der aktuelle Kapitalismus ist von beachtlichem Beharrungsvermögen gekennzeichnet, aber es ist schlicht unmöglich, dass so etwas keine Folgen hat. Man muss allerdings aufpassen, sofort überall revolutionäre Krisen zu sehen. Wirtschaftliche Katastrophe und Abstieg müssen keineswegs eine Linksentwicklung auslösen. Die große Weltwirtschaftskrise etwa: diese hat keine einzige sozialistische Revolution gebracht, statt dessen einen Haufen faschistischer Diktaturen. Anderes Beispiel - der Abstieg Boliviens: Die unerhörte Krise der 1970er und 1980er Jahre, die praktisch die gesamte Produktionsstruktur des Landes zerlegt hat, hat auch der radikalen Linken das Genick gebrochen. Historische Parallelen sind immer mit Vorsicht zu genießen, aber dennoch: Bisher war der unmittelbarste Ausdruck der Krise der Ruin eines Teils der Mittelschicht. Kleine Hausbesitzer, deren Fremdwährungskredite in Turbulenzen geraten sind, Privatpensionisten, die versuchen, ihr Geld aus den Pensionsfonds herauszubekommen, damit es nicht vollständig verspekuliert wird. Eine Krise der "fleißigen Sparer" und der Erben und eine Krise überschuldeter amerikanischer Hausbesitzer. Es gibt keinen Grund, warum sich die politischen Reaktionen auf die Enteignung der kleinen Vermögen unbedingt links deklinieren sollten, und nicht in einer Hinwendung zu Chauvinismus und Autoritarismus.

Sichtbarster Ausdruck waren die Wahlen zum europäischen Parlament. Gerade in von der Krise hart getroffenen Ländern waren rechtsextreme Formationen die großen Wahlsieger: Die ungarischen Faschisten der Jobbik, sowie die griechischen Ausländerhasser der LAOS. Aber auch hier ist Vorsicht angebracht, auch die Darstellung dieser Tendenz darf nicht übertrieben werden. Einen einfachen Aufstieg einer radikalen Rechten vom Typus der 1930er Jahre wird es ebenso wenig spielen wie eine plötzliche Wiederbelebung des Kommunismus. Wenige werden sich einfach in die alten Kampflinien des 20. Jahrhunderts einordnen. Zwar sind die Impulse der Fremdenfeindlichkeit, die Mythen der eigenen Überlegenheit und der Hierarchie ebenso lebendig wie ein Bedürfnis nach Gleichheit und Gemeinschaft, die konkreten Traditionslinien der faschistischen Rechten und des sowjetisch inspirierten Kommunismus sind allerdings weitgehend tot.

Ein wesentliches Kennzeichen der jetzigen Krise ist es, dass sie auf Gesellschaften trifft, die keine echte Opposition kennen (sei sie aus einer Tradition der Rechten oder der Linken). Zur Perspektivlosigkeit der Oligarchie gesellt sich damit die Perspektivlosigkeit möglicher Alternativen. Das logische Ergebnis einer solchen Situation ist Chaos und Konfusion - und das hat bereits vor einiger Zeit begonnen: In den letzten Jahren erleben wir eine fortgesetzte Erosion der zentralen systemtragenden Parteien, bei der letzten Europawahl praktisch einen Zusammenbruch der Sozialdemokratie. Auf der anderen Seite gibt es wiederkehrende Erfolge verschiedenster meist rechts- und manchmal linkspopulistischer Formationen, die allerdings mit ziemlich geringer Halbwertszeit ausgestattet sind. Selbst die Erfolge echter Faschisten, wie der Deutschen NPD, sind bisher durch besondere Instabilität gekennzeichnet. Einmal im Parlament angekommen, haben ihre Kader die Tendenz sich schamlos zu bereichern und in Kinderporno-Skandale verwickelt zu werden. Dann gibt es natürlich die schon erwähnte Ankunft der Clowns. Chaos produziert Selbstdarsteller und man kann davon ausgehen, dass Berlusconi nicht der letzte ist. Oder es gibt ganz sonderbare Reflexe wie die Stimmen für die FDP. Die FDP ist zwar völlig ahnungslos, aber sie trägt das überholte Mantra vom freien Markt so laut vor sich her, dass sich die letzten Gläubigen recht gut angesprochen fühlen. Die FDP wird damit zu einer identitären Kirche, und auch das ist das Resultat einer Krise. Wer überhistorische Dogmen verkündet, kann eine ganze zeitlang in einem Paralleluniversum weiterrotieren und seinen Anhängern Halt geben. Schwierig wird es dann nur, wenn man tatsächlich an die Macht kommt. Im weiteren Verlauf der Krise werden wir noch mehr erleben: Den Bedeutungsgewinn eines echten Rechtsextremismus (wenn auch mit aller Wahrscheinlichkeit in neuem Gewand) und wahrscheinlich auch das Entstehen völlig neuer politischer Phänomene. Ab einem bestimmten Zeitpunkt werden echte Antworten auf die vorhandenen Probleme auf dem Tisch liegen (echte Antworten, die nicht unbedingt über den Kapitalismus hinausgehen müssen). Es ist nicht gesagt, welche Antwort sich durchsetzen wird.

Wir fassen zusammen: Eine Krise der Weltwirtschaft und im Besonderen eine Strukturkrise Europas. Ein drohender Abstieg des Kontinents, dazu eine soziale Katastrophe. Eine gesellschaftliche Krise, die Chaos produziert. Und das für die nächsten Jahre, sogar Jahrzehnte - der Abstieg in der internationalen Arbeitsteilung ist kein Prozess von heute auf morgen. Das bedeutet nicht automatisch den Aufstieg einer wirklichen Alternative, aber in den nächsten Jahren wird sich ein politisches Feld für antikapitalistische Opposition öffnen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Sackgasse: Die Perspektive der Gesellschaft hat einen Einbruch erlitten.

Weichenstellung für die Zukunft: die Gesellschaft befindet sich in der Krise.

Raute

EUROPA

Systemopposition in Ostdeutschland?

Anmerkungen zur deutschen Einheit

Von Jonas Feller

Die soziale Situation in Ostdeutschland entwickelt sich allmählich zu einem Pulverfass. Die politische Artikulation der Unzufriedenheit nimmt aber unterschiedliche Gestalt an.


Ein Bericht vom 10. Juni 2009 stellt für die soziale Lage in Ostdeutschland fest: "Laut ‹Sozialreport 2008‹ der Volkssolidarität [sehen] nur 40 Prozent der Ostdeutschen die Einheit bisher als Gewinn (...)

Wir [erleben] nach nun bald 20 Jahren deutscher Einheit eine tiefe soziale Spaltung unseres Landes zwischen arm und reich. Armut ist nahezu durchgängig in den neuen Ländern auf einem hohen Niveau zu verzeichnen. Die im Vergleich zu den alten Ländern doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, immer noch ungleiche Einkommen für gleiche Arbeit, die ausgebliebene Angleichung des Rentenwerts Ost sowie schlechtere Ausbildungs- und Berufschancen für junge Leute führen zu dem Gefühl vieler Ostdeutscher, ‹abgehängt‹ zu sein. (...)

Wenn [spürbare Taten und Ergebnisse ausbleiben], darf sich niemand wundern, wenn immer mehr Ostdeutsche sich an Politik und Demokratie uninteressiert zeigen." (1)

Die Unzufriedenheit vieler Menschen in Ostdeutschland macht sich in drei Punkten fest:

1. Ein überwiegend positives Bild von der DDR, das oft mit nostalgischer Verklärung einhergeht (2)

"Die DDR wird von einer Mehrheit der Ostdeutschen heute positiv beurteilt. Dies habe eine repräsentative Umfrage des Emnid-Institutes im Auftrag der Bundesregierung ergeben, berichtet die "Berliner Zeitung". 49 Prozent vertreten demnach die Auffassung, die DDR habe "mehr gute als schlechte Seiten" gehabt." (3)

2. Eine angeblich anti-amerikanische, anti-kapitalistische Bewegung "Nationaler Sozialisten" beansprucht gemeinsam mit rechten Kameradschaften und der NPD, die "einzig wahre Systemopposition" zu sein und gewinnt sichtlich an Stärke. Ihr "Protest" richtet sich gegen Gen-Mais, gegen die Schließung ländlicher Schulen, gegen die Reichen ("Den Bonzen auf die Finger hauen" - Wahlplakat der NPD) und die "USraelische Weltordnung" - vermischt mit der Hetze gegen "Asylbetrüger", "Zigeuner" und "Linke".

Gerade aber von Letzteren kopieren sie nicht nur Parolen - völlig ungeniert taucht auf den Aufklebern, den ihre Aktivisten in jeder zweiten Kleinstadt anbringen, auch Subcomandante Marcos von der EZLN auf mit dem Schriftzug "Nationaler Sozialismus oder Tod". Oder sie verwenden Zeichnungen des linken Karikaturisten Carlos Latuff, auf der ein Iraker siegreich über einem US-Soldaten zu sehen ist mit dem Aufruf "Freiheit für den Irak". Diese Versuche, linke Themen zu besetzen, sind sehr gefährlich, denn sie vermengen diese 1. mit einem menschenverachtenden, rassistischen Weltbild und 2. haben sie überhaupt nichts anzubieten außer das Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören und einen Sinn im Leben zu haben, welches sie orientierungslosen Jugendlichen vermitteln können.

Diese Versuche, linke Themen zu besetzen, sind sehr gefährlich, denn sie vermengen diese mit einem rassistischen Weltbild

Um das noch mal an ihren eigenen Worten zu verdeutlichen:

Auf ihrer bekanntesten Webseite, widerstand.info, gibt es Artikel wie "Zigeuner-Invasion auf die Dortmunder Nordstadt" oder "Multikulturelle Gesellschaft: Durch Integration zum Volkstod". Sodann analysieren sie den US-Imperialismus:

"Wir müssen die Aktionen verstärken und dürfen in der Anklage gegen eine zionistische USraelische Weltordnung, die für die Interessen des Kapitals bedenkenlos Kriege anzettelt, nicht nachlassen. Es ist schon heute sicher, dass weitere Kriege folgen werden - sei es gegen Syrien, den Iran, Nordkorea oder gegen andere Länder.

Als mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Westen den Kalten Krieg gewonnen hatte, wurde uns eine Welt des Friedens und des Wohlstandes in Aussicht gestellt. Heute dürfte offensichtlich sein, dass das Gegenteil eingetroffen ist. Der globalisierte Kapitalismus hat in den Industriestaaten die Axt an die sozialen Sicherungssysteme gelegt, hat Armut, Elend und Ausbeutung in den Ländern des Südens noch gesteigert. Und der globalisierte Kapitalismus geht einher mit immer neuen Kriegen, die von den Industriestaaten gegen unbotmäßige, sogenannte Terror-Regime weltweit geführt werden. (...)

Wir versuchen, für eine revolutionäre Haltung zu werben, die sich die Überwindung und Abschaffung des Kapitalismus zum Ziel setzt." (4)

Abgesehen davon, das selbiger Artikel Obama als "Neger" bezeichnet und Kriege zwischen "Kulturen und Rassen", welche die "Auslöschung der schwachen Völker" zum Ergebnis haben, als "sinnvolle Kriege" eingeordnet werden, sind sie auch mit ihrer Hetze gegen Minderheiten, Andersdenkende usw. und ihrer wiederholten Forderungen, ein paar "Hundertschaften" gegen Asylanten einzusetzen und "drastische Strafen" für jedes "unpatriotisches Verhalten" einzuführen vollständig unakzeptabel und verstärken den Eindruck: Diese Bewegung hat einfache Parolen und Feindbilder, ist aber zutiefst widersprüchlich und ihr Erstarken eine Gefahr.

3. Und die Linke?

Theoretisch müsste sie sowohl gegen die Neonazis als auch den Sozialabbau in die Offensive gehen und versuchen, die Enttäuschung im Osten für soziale Proteste zu nutzen.

Ihre zwei größten Sammelbecken sind (A) die Linkspartei und (B) diffuse linke Gruppen.

Die Linkspartei hat im Osten ihre größte Stammwählerschaft und hatte acht Jahre lang gemeinsam mit der SPD die Regierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommern inne. Dabei haben sie direkt geholfen, den G8 Gipfel mit all seinen Repressionen zu organisieren.

Die "linken Gruppen" definieren sich häufig über ihre Gegnerschaft zu Nazis ("Antifa") und haben selten weiterreichende Ziele; gerade in Städten wie Rostock macht sich bemerkbar, wie sie die "Trends" aus Berlin mit zweijähriger Verspätung übernehmen - was derzeit Solidarität mit Israel und Ablehnung von Muslimen und dem antiimperialistischen Kampf bedeutet - es ist nicht viel von diesen Kräften zu erwarten.

Die Aussichten auf Veränderungen sind also nicht gerade begeisternd. Gerade in den sozial schwachen Vierteln sind die Rechten sehr präsent, während die "Antifa" oft aus wohlhabenden, gelangweilten Gymnasiasten besteht. Der Anteil der alten Menschen liegt in Ostdeutschland überproportional hoch, die wenigsten jungen Menschen haben vor, hier zu bleiben.

Internet:

1) www.volkssolidaritaet.de/cms/Presse_Medien-p-4363/Presse_aktuell-p-1951/Soziale_Gerechtigkeit_ ist_der_Schlüssel_zur_sozialen_Gerechtigkeit.html
2) /www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,632751,00.html
3) www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,567907,00.html
4) www.widerstand.info/6007/wir-unterstuetzen-den-antikriegstag-2009

Raute

EUROPA

"Nationalen Antikriegstag" verhindern!

Neonazis mobilisieren in Dortmund

Von Dimitri Tsalos

Für den 5. September mobilisieren Neonazis zum so genannten. "nationalen Antikriegstag" in Dortmund. Eine Veranstaltung, die nicht ungestört über die Bühne gehen darf.


Zum 5. September 2009 mobilisieren Neonazis bundesweit zum so genannten. "nationalen Antikriegstag" in Dortmund. Im aktuellen Aufruf der so genannten "Autonomen Nationalen" werden nunmehr die US-amerikanischen Kriege verurteilt, die eine Verteidigung und Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise zum Ziel hätten - als ob das die Nazi-Deutschen nicht zum Ziel gehabt hätten.

Es ist bedenklich, dass Neonazis im Osten der BRD in der Lage sind, einzelne Kommunen regelrecht zu beherrschen. Die Situation im Westen ist qualitativ eine völlig andere, mit einer hochgradigen Ausnahme: Die Ruhr-Metropole Dortmund soll nach und nach zu einem Schwerpunkt der bundesweiten Neonazi-Szene ausgebaut werden. Zum 5. Mal in Folge wird europaweit zum "Nationalen Antikriegstag" nach Dortmund mobilisiert. Im vergangenen Jahr wurden erstmals 1.000 Teilnehmer erreicht.

Der Aufruf gibt sich antiimperialistisch, antiamerikanisch und anti-neoliberal. Die autonomistische Linke hat der Dortmunder Entwicklung nichts entgegensetzen können. Vielmehr konzentrierten sich antinationale und antideutsche Spektren, die bisher eine innerlinke Hegemonie in der Region hatten, auf das Bashing anderer Linker. So waren die Anti-Nazi-Demos der vergangenen Jahre in Dortmund von USA- und Israel-Fahnen geprägt. Die Agitation gegen die Kriege der USA wurde den Nazis überlassen.

Vor diesem Hintergrund ist erklärbar, dass die örtlichen Neonazis wachsen können und immer selbstbewusster werden. Mittlerweile wurden ganze Häuser in Beschlag genommen, der Stadtteil Dorstfeld droht okkupiert zu werden. 2005 wurde der Punk Thomas Schulz ermordet. Am 1. Mai 2009 griffen 400 Neonazis die traditionelle Mai-Demo an - politisch unklug, militärisch aber neu.

Im Folgenden ein Aufruf des Initiativ e.V., der sich gegen die beanspruchte deklamatorische Anti-Kriegs-Hoheit der Neonazis richtet:


DOKUMENTATION

"Nationalen Antikriegstag" verhindern!

Zum 5. September 2009 mobilisieren Neonazis bundesweit zum sog. "nationalen Antikriegstag" in Dortmund. Dabei wird der historische Anlass des Antikriegstages, der Beginn des 2. Weltkrieges am 1. September 1939, ohne weiteres umgedeutet in ein Ereignis, für das das nationalsozialistische Regime nicht verantwortlich gewesen wäre. So verteidigte Christian Worch im Vorfeld des "nationalen Antikriegstags" vor einem Jahr in Dortmund eine Publikation, in der es heißt, "das deutsche Reich ist unschuldig am Ausbruch des 2. Weltkrieges".

Im aktuellen Aufruf der "Autonomen Nationalen" zum 5. September 2009 werden nunmehr die US-amerikanischen Kriege verurteilt, die eine Verteidigung und Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise zum Ziel hätten. Zusammengefasst kann eine neonazistische Strategie festgehalten werden, die die Geschichte ausblendet oder verfälscht, um aktuelle weltpolitische Ereignisse propagandistisch vereinnahmen zu können.

Dabei wird die historische und programmatische Gemeinsamkeit der neonazistischen Ideologie mit imperialistischer Expansion und kapitalistischer Produktion einfach negiert. Vielmehr sollen "Antiimperialismus" und "Antikapitalismus" medial besetzt und als ureigene Aktionsfelder dargestellt werden. Mit der demagogischen Formel "Frieden und Freiheit für alle Völker" wird auf Stimmenfang gegangen.

Faschismus = Krieg

Faschistische Friedensbekundungen sind nichts Neues. Im März 1939 - nach der Besetzung der Tschechoslowakei - erklärte Hitler, "die letzten territorialen Forderungen Deutschlands sind erfüllt" und nun breche der Frieden an. Ein halbes Jahr später fand der Überfall auf Polen statt und im weiteren Kriegsverlauf die Besetzung fast komplett Europas, ein beispielloser Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion sowie die barbarische Massenermordung der Juden.

Alleine in der Sowjetunion wurden 17 Millionen Zivilisten getötet. Neonazis - siehe Christian Worch - relativieren diese Ereignisse, konstruieren Erklärungsmodelle und suchen nach ursächlichen Kräften außerhalb des "anständigen" Nazi-Deutschland, kurz: Sie legitimieren den Kriegs- und Rassenwahn.

Zur Frage der Glaubwürdigkeit, wenn Neonazis gegen imperialistische Kriege und US-"Internierungslager" wettern - wie sie es nun zum 5. September in Dortmund versuchen -, genügt der Hinweis: Hier wettern diejenigen, die Hitlers imperialistische Kriege und Konzentrationslager verteidigen.

"Freiheit der Völker"

Der Neonazismus strebt konform seiner ideologischen Wurzeln ein starkes, mächtiges Deutschland an. Entlang von Fragen wie "Böhmen und Mähren" oder der Oder-Neiße-Grenze kann sehr schnell herausgefunden werden, wie friedlich das gewünschte Deutschland sein soll. Das US-Imperium soll letztlich nur aus einem Grund verschwinden: damit ein deutsches Imperium hergestellt werden kann.

Und wie oft "Autonome Nationalisten" ihre Parole der "Freiheit der Völker" auch wiederholen mögen: Eine Gleichheit aller Ethnien, Konfessionen und Menschen ist damit nicht gemeint. "Autonome Nationalisten" sind radikale Rassisten. "Freiheit und Frieden" wollen die Kameradinnen und Kameraden weder nach außen noch nach innen herstellen.

Nazis contra Kapitalismus?

Die Legende eines historischen "antikapitalistischen" NSDAP-Flügels hält sich nach wie vor. Der moderne Nazismus versucht an diese Legende anzuknüpfen und von einem simulierten Antikapitalismus zu profitieren. Eine antikapitalistische Substanz ist indes nicht vorhanden. Es existiert kein Anspruch - geschweige denn ein Konzept -, die essenzielle Grundlage des Kapitalismus, das Privateigentum, abzuschaffen. Das ist auch gar nicht gewollt. Nicht soziale Gleichheit ist das Ziel, sondern eine hierarchisierte Gesellschaftsordnung, die Klassengegensätze bestenfalls kaschiert. Neonazis sind weder gegen die kapitalistische Produktionsweise noch antiimperialistisch.

Es gilt, die braune Propaganda zu demaskieren und herauszustellen, dass sowohl Faschisten als auch Imperialisten Freiheit predigen und Krieg meinen. Die rassistischen, islamfeindlichen und antisemitischen Aktionen der Neonazis sind ebenso zu bekämpfen wie die "aufklärerisch" legitimierte Kriegspolitik Deutschlands, der USA und der NATO.

Wir rufen dazu auf, sich am 5. September 2009 an der internationalistischen Demonstration des Bündnisses Dortmund stellt sich quer (dortmundquergestellt.wordpress.com/) zu beteiligen!

Nazis und Kriegstreiber bekämpfen!

Initiative e.V.

Raute

EUROPA

Rassismus und Kolonialismus

Die Durban-Review Konferenz

Von Urs Diethelm

Bei der Rassismuskonferenz 2001 kam es zum Eklat. Die Pro-Israel-Lobby boykottierte deshalb die Folgekonferenz (Durban II) Mitte April in Genf - ohne Erfolg.


Die UN-Konferenz gegen Rassismus 2001 in Durban anerkannte den Kolonialismus und damit verbundenen Massaker, die Versklavung und die bis heute andauerende Diskriminierung von indigenenen Völkern als eine Form des Rassismus. Diese Anerkennung bei der UN-Staatenkonferenz ist ein Erfolg der vom südafrikanischen Staat und vielen NGOs geförderten grossen Mobilisierung von Betroffenen, die parallel zu der UN-Konferenz in Durban ein NGO-Forum mit ca. 10.000 Teilnehmern abhielten. Die NGO-Konferenz verabschiedete eine Schlusserklärung, die nur teilweise Eingang in die Erklärung der Staatenkonferenz fand.

Ein Aspekt der Schlusserklärung, der von der Staatenkonferenz nur sehr begrenzt aufgenommen wurde, war die rassistische Diskriminierung der Palästinenser durch den israelischen Staat. Die Regierungsvertreter anerkannten zwar, dass die Palästinenser Opfer von Rassismus sind, aber nicht, dass die Ursache dieser Diskriminierung ein rassistisches staatliches Selbstverständnis Israels und ein System der Apartheid ist. Die Schlusserklärung der NGO-Konferenz verlangte auch, dass die zahlreichen UNO-Resolutionen und Empfehlungen der Gutachten endlich umgesetzt werden. Das betrifft insbesondere Resolution 242 für den sofortigen Rückzug Israel aus dem besetzten Westjordanland, Jerusalem, aus Gaza und vom Golan, und die UNO-Resolution 194, die die Rückkehr und Entschädigung der Vertriebenen palästinensischen Flüchtlinge fordert. Konsequenterweise wird auch die Wiederinkraftsetzung der UNO-Resolution 3379 verlangt, die den Zionismus als eine Form von Rassismus, von Imperialismus und Apartheid bezeichnet.


Institutionalisierte Diskriminierung

Bei uns sind meistens nur die Verstöße gegen das internationale Recht im besetzten Westjordanland und Gaza bekannt, wie das Urteil des internationalen Menschengerichtshofes zum Bau der Mauer/des Zaunes in der Westbank. Das Gericht verurteilt den Bau als Verstoß gegen die Genfer Konventionen und verlangt deren Abriss. Weniger bekannt ist die systematische Segregation und rassistisch motivierte Diskriminierung der arabisch-palästinensischen Bevölkerung in Israel selbst. Die "intern vertriebenen" Flüchtlinge von 1948 wurden vom Staat Israel ihres ehemaliges Besitz an Häusern und Land enteignet. Obwohl sie über das israelische Staatsbürgerrecht verfügen, sind sie von verschiedenen Leistungen der sozialen Sicherheit ausgeschlossen, dürfen kein Land und keine Häuser erwerben, und das Recht auf Familienzusammenzug ist weitgehend eingeschränkt. Eine spezielle Gruppe der arabischen Minderheit in Israel sind die Beduinen. Über 10.000 Beduinen mit israelischer Staatsbürgerschaft leben in "nicht anerkannten" Dörfern, die keinen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Wasser, Elektrizität oder Bildung haben. Der israelische Staat betreibt Zwangsumsiedlungen, durch die die Beduinen in "Konzentrationsgebiete" verlegt werden sollen. Die Behandlung der verschiedenen Teile der palästinensischen Bevölkerung (unter Besatzung, in Israel oder im Exil) erfüllen nach internationalen Rechtsnormen den Tatbestand des institutionalisierten Rassismus und der Apartheid.


BDS-Kampagne

Die palästinensische Leitung der BDS-Kampagne organisierte vor der offiziellen UN-Antirassismus-Konferenz eine internationale Fachtagung in Genf, um die Inhalte und Forderungen der NGO-Konferenz in Durban zu begründen und ihnen Nachdruck zu verleihen. Zur Konferenz mit 300 Teilnehmer waren zahlreiche Experten des internationalen Rechts angereist.

Ein Schwerpunkt war die Definition von Apartheid im internationalen Recht und die Einschätzung des israelischen Regimes und dessen Vorgehen gegenüber dem palästinensischen Volk als Apartheid-, Kolonial- und Besatzungsregime zu überprüfen und zu vertiefen. Die Politikwissenschafterin Virginia Tilley von der Universität Johannesburg und John Reynolds, Durban, stellten die Ergebnisse einer südafrikanischen Studiengruppe zu den Praktiken der israelischen Politik unter dem Aspekt der Apartheid vor. Karine MacAllister von der Universität in Montreal (Kanada) präsentierte die Anwendung des Begriffs der Apartheidpolitik auf das israelische Regime. Mascha Madörin, feministische Ökonomin und Aktivistin der Bewegung gegen das Apartheidregime in Südafrika (Schweiz) und Jackie Dugart, Johannesburg verglichen die israelische Apartheid mit dem Apartheidregime in Südafrika.

Ein Schwerpunkt war die Definition von Apartheid im internationalen Recht und die Einschätzung des israelischen Regimes.

Es ist unbestritten, dass die israelische Politik gegenüber den Palästinensern (Diskriminierungen in Israel, Bantustans in den besetzen Gebieten, andauernde Vertreibungen und Verweigerung der Rückkehr der Vertriebenen, usw.) der internationalen Definition von Apartheid entsprechen, wie sie von der UNO im Zusammenhang mit dem südafrikanischen Apartheidregime erstellt wurde.

Daniel Machover, Rechtsanwalt aus London, Susan Akram und Bill Bowring von den juristischen Fakultäten in Boston und London versuchten juristische Strategien zu beschreiben, wie diese völkerrechtliche Verantwortung auch besser politisch umgesetzt werden kann.

Die weltweite Kampagne für BDS möchte angesichts der Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft die Durchsetzung der anerkannten Menschenrechte nicht der Staatengemeinschaft überlassen, sondern hat 2005 den Aufruf für Boykott, Desinvestition und Sanktionen gegen den israelischen Apartheidstaat lanciert. Der zweite Tag war deshalb Arbeitsgruppen zur Umsetzung dieser Kampagne gewidmet. Hervorgehoben seien dabei die Kampagne des internationalen antizionistischen jüdischen Netzwerkes gegen die parastaatlichen zionistischen Organisationen Jüdischer Nationalfonds (JNF) und der World Zionist Organisation (WZO) und die Kampagne, mit der vor allem in England und Schottland, die Gewerkschaften für die Unterstützung der BDS-Kampagne gewonnen werden sollen.


Kolonialismus

In der innerlinken Diskussion beginnt die Geschichte der zionistischen Bewegung und Gründungsvorbeitungen von Israel mit der Shoah. Die Auseinandersetzung blendet gerne aus, dass die zionistische Bewegung mit der Absicht der Gründung einer jüdischen Heimstätte in Palästina schon lange vor der faschistischen Machtübernahme in Deutschland Verhandlungen geführt und "Verträge" mit den europäischen Kolonialmächten England und Frankreich geschlossen hatte. Die Kolonialmächte erhofften sich die Aufrechterhaltung ihrer Kontrolle des "Nahen Ostens" (wie es aus der Kolonialsprache heute noch heißt). Theodor Herzl und seine Nachfolger warben deshalb mit "der Errichtung eines Walles gegen das Barbarentum" um Unterstützung. Die massive militärische Aufrüstung und Gelder der USA, die technische Ausrüstung Frankreichs für den Bau von Atomwaffen und die grossen staatlichen Subventionen für den israelischen Staat (so genannte Wiedergutmachung) unterstreichen die geo-politische Rolle Israels für die imperialistischen Industriestaaten. Auch die Errichtung von eigenen Besatzungsregimes im Irak und Afghanistan hat die Bedeutung von Israel nicht abgeschwächt. Amerikanische Untersuchungen lassen auch den Schluss zu, dass die konstante Unterstützungsmehrheit in der Bevölker ung Amerikas für Israel in der rassistischen Idee begründet liegt, dass Israel ein westlicher Vorposten im dunklen Arabien ist. Die Bush-Kampagne gegen Terror hat dieses alte Kolonialdenken mit neuen Elementen angereichert und verstärkt.


Kampagne für Boykott der Konferenz in Genf

Pro-israelische Kreise versuchten mit einer hauptsächlich im Internet geführten Kampagne in den Monaten vor der UNO-Konferenz zu erreichen, dass die westlichen Staaten ihre Teilnahme an der Konferenz absagen. Dass in der Schlusserklärung der NGO-Konferenz Israel als rassistischer Apartheidstaat bezeichnet wird, mache deutlich, dass die UNO-Konferenz gegen Rassismus israelfeindlich oder gar antisemitisch ausgerichtet sei. Der Vorwurf des Antisemitismus hat für andere kritisierte Staaten eine billige Ausflucht geschaffen, um die Konferenzresultate zu negieren. So lehnten die ehemaligen europäischen Kolonialmächte bereits im Jahr 2001 eine Entschuldigung und Entschädigungen für die Opfer des Kolonialismus ab. Auch die mit dem Krieg gegen Terror geschürte Islamophobie oder die rassistische westliche Migrationspolitik ist so nicht mehr Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der Druck Israels und seiner unterstützenden NGOs hatte den Erfolg, dass die bei der UNO-Konferenz verabschiedete Schlusserklärung außer einer feierlichen Erklärung über Menschenrechte und einer Verurteilung von Rassismus keine konkret in der Politik der einzelnen Länder umzusetzenden Maßnahmen enthält. Das Ziel der Konferenz, der Verhinderung von Rassismus und Kolonialismus ein Stück näher zu kommen, wurde daher verpasst, und es bleibt Aufgabe der fortschrittlichen Basisbewegungen, diese Ziele weiter voranzutreiben.

Raute

EUROPA

Populismus und Hegemonie

Ambivalenzen eines Begriffs

Von Sebastian Baryli

Populismus gehört wohl zu den schillernsten Begriffen sowohl in der Forschung als auch im Feuilleton. Doch eine verbindliche Definition fehlt bis heute.


Der Populismus avancierte in den letzten Jahren zu einem der schillerndsten Begriffe, der seinen Siegeszug sowohl im Feuilleton als auch in der akademischen Debatte antrat. Doch trotz seiner massenhaften Verwendung konnte bisher keine verbindliche Definition erarbeitet werden. Zwar existiert ein alltagssprachlicher, intuitiver Gebrauch, doch dieser ist gekennzeichnet durch Grauzonen, Ambivalenzen und Widersprüchen. Und tatsächlich ist dies wohl der einzige Konsens, der in der Populismus-Forschung erzielt werden konnte, dass es nämlich diesbezüglich keine Einigung gibt. Die Erarbeitung einer brauchbaren Definition beziehungsweise die Explikation des Begriffs Populismus bleibt daher ein offenes Desiderat. Dieser Text soll einen Beitrag für die Entwicklung einer solchen Definition liefern.

In der Tat beginnt der Großteil der Literatur zu diesem Thema mit der Feststellung, dass eine genaue Abgrenzung des Begriffs fehle. Die Aufgabe wurde somit schon oft gestellt. Doch blieb die akademische Debatte meist auf einer empirischen, fast deskriptiven Ebene verhaftet. Auf einer theoretischen Ebene konnten in diesem Bereich kaum namhaft Fortschritte erzielt werden - mit wenigen Ausnahmen.

Die Frage, warum das Thema Populismus so massenhaft und gleichzeitig so wenig übereinstimmend diskutiert wird, deutet darauf hin, dass der Diskurs über dieses Thema selbst wieder gesellschaftlich tiefgreifende Widersprüche reflektiert. Wie ich in diesem Text entwickeln möchte, ist das Phänomen des Populismus zu analysieren unter den Aspekt des Kampfs um gesellschaftliche Hegemonie. In dieser Perspektive erhält der Populismus eine zentrale Rolle.

Das Problem der theoretischen Durchdringung des Phänomens Populismus ist eine Aufgabenstellung, die für linke Politik von strategischer Bedeutung ist. Das Verhältnis linker Bewegungen und Organisationen zu solchen Phänomenen ist äußerst komplex und immer noch geprägt von tiefgreifenden Missverständnissen. Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass eine theoretische Klarstellung eine politische Klarstellung notwendig nach sich zieht. Doch die theoretische Explikation liefert eine Begrifflichkeit, die eine Basis für eine politische Debatte liefern kann. Im Diskurs um den Populismus selbst können die Fronten klarer gezogen werden und die Kräfteverhältnisse deutlicher Kontur annehmen.

Damit ist schon angedeutet, dass die theoretische Vertiefung des Begriffs den widersprüchlichen Umgang mit dem Populismus nicht auflösen wird. Je nach gesellschaftspolitischer und weltanschaulicher Stellung variiert das Verhältnis zum Populismus. Damit äußern sich im politischen und akademischen Diskurs über den Populismus Frontlinien, die das politische Kräfteverhältnis abstecken.


1. Probleme der Definition

Bevor wir einen Beitrag zur positiven Entwicklung des Begriffs liefern, müssen die Probleme der früheren Definitionsversuche eingehender analysiert werden. Denn ausgehend von diesen Unklarheiten können die Bedingungen für eine positive Definition entwickelt werden.

Das wohl augenfälligste Problem der aktuellen Debatte, insbesondere im europäischen Kontext, liegt wohl darin, dass der Populismus in die begriffliche Nähe des Rechtsextremismus gerückt wird. Dies liegt sicherlich in der politischen Konjunktur der letzten Jahrzehnte begründet. Denn die FPÖ in Österreich, die Front National in Frankreich und die Alleanza Nazionale in Italien repräsentieren hier wohl die historisch gewichtigsten Beispiele für den Populismus in der jüngsten Zeit. Daher liegt die Versuchung nahe, dieser politischen Konjunktur Rechnung zu tragen, und dabei die strukturellen Elemente zu vernachlässigen. Damit erweist man dem Unterfangen einer theoretischen Klärung aber einen Bärendienst, da das Konzept einseitig in eine Richtung getrieben wird. Auch wenn auf einer theoretischen Ebene möglicherweise eine Differenzierung zwischen rechtem und linken Populismus stattfindet, so wird dies meist in der konkreten Analyse auf rechte Bewegungen beschränkt.

Betrachtet man die historischen Ursprünge und die Phasen in der Verwendung des Begriffs, dann zeigt sich recht deutlich, dass die undifferenzierte Verwendung des Populismus-Begriffs in Bezug auf den Rechtsextremismus nicht gerechtfertigt ist. Die Farmer-Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts in den USA bildete den eigentlichen Ausgangspunkt für den Begriff Populismus. Diese Protestbewegung vertrat die Interessen der kleinen und mittleren Farmer gegen die urbanen, großkapitalistischen Machtzentren. Aber auch die Bewegung der russischen Volkstümler wird dem Populismus zugerechnet. Diese Bewegung wiederum versuchte die Bauernschaft im zaristischen Reich gegen den sich ausbreitenden Kapitalismus zu mobilisieren. Lenin hatte sich damals intensiv mit den Positionen der Narodniki auseinander gesetzt.

In den siebziger Jahren entwickelte die Diskussion um den Populismus vollends widersprüchliche Züge. Denn auf der einen Seite verwendeten die Neokonservativen den Begriff, um gegen die Studentenbewegung zu wettern. Die politischen Forderungen der Bewegung wurden als "populistisch" denunziert. Andererseits wurde von neomarxistischer Seite die Regierung Thachter als "populistisch" kritisiert. Vollkommen entgegengesetzte Phänomene wurden damit mit dem gleichen Begriff besetzt.

Diese historischen Beispiele verdeutlichen recht klar, dass in der Definition des Begriffs Populismus keinesfalls der Fehler begangen werden darf, ihn auf eine politische Strömung zu verengen. Der Begriff muss breit genug sein, um die unterschiedlichen Phänomene fassen zu können.

Denn insbesondere der herrschende Block an der Macht artikuliert sich selbst als Verwaltung, die nahezu frei von parteipolitischen Interessen wäre.

Die moralische Konnotation des Begriffs ist die zweite Problemstellung, die man bei einer Explikation berücksichtigen muss. Denn mit der Verwendung des Begriffs Populismus will der Sprecher meist eine abwertende Haltung ausdrücken. Dies liegt unmittelbar in der jüngeren Geschichte dieses Konzepts begründet. Wie schon erwähnt wurde der Begriff in den siebziger und achtziger Jahren zu einem Kampfbegriff sowohl der Linken als auch der Rechten stilisiert. Dieser moralische Impetus wird auch heute übernommen, ohne inhaltlich genau auf diese historischen Vorläuferdebatten einzugehen. Wenn man sich die Vielfältigkeit des Populismus-Vorwurfs ansieht, dann demonstriert dies deutlich, wie sehr die moralische Konnotation die Denotation überdeckt und beeinflusst hat. So wirft die ÖVP der SPÖ genauso Populismus vor aufgrund ihrer Beziehungen zur Kronen-Zeitung, wie die SPÖ wiederum immer wieder moralische Vorwürfe gegen die FPÖ ob ihres Populismus erhebt. Aber auch auf der internationalen Ebene begegnet uns der Populismus-Vorwurf. Dieser wird von der US-Administration und den großen Medienagenturen auf so unterschiedliche, politische Phänomene wie Ahmadinedschad und Chávez angewandt.

Für eine brauchbare Definition des Begriffs muss also die moralische Aufladung kritisch hinterfragt werden. Wenn wir in der Analyse der Pragmatik des Begriffs allmählich fähig sind zu unterscheiden zwischen der tatsächlichen inhaltliche Bedeutung und der symbolischen Bedeutung, also der moralischen Konnotation, dann wäre dies ein erster, bedeutender Schritt in der Explikation.

Im Zuge der moralischen Aufladung ergibt sich das dritte Problem: Dem Populismus wird in vielen Analysen die politische Rationalität abgesprochen. Populistische Bewegungen werden damit in das Reich der Irrationalität verwiesen. Dies wird beispielsweise dadurch argumentiert, dass er reduzierte Freund-Feind-Schemata anbieten würden, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht entsprechen würden. Dieser Vorwurf ist bedeutsam, doch wie so oft sagt er weit mehr über den Sprecher als über das in Frage stehende Objekt aus. Denn den manichäischen Konzepten des Populismus wird ein Konzept der problemorientierten Verwaltung gegenübergestellt. Dass diese Form der Verwaltung bestimmten politischen Koordinaten folgt und sich bei Sachproblemen keine interessenslose Lösung aufdrängt, liegt aber auf der Hand.

Doch paradoxer Weise wird hier ein neues Freund-Feind-Schema entwickelt, das wiederum bestimmten, politischen Interessen folgt. Denn insbesondere der herrschende Block an der Macht artikuliert sich selbst als Verwaltung, die nahezu frei von parteipolitischen Interessen wäre. Auf der anderen Seite wird dem Populismus vorgeworfen, er verfolge irrationale, den Problemlagen nicht adäquate Konzepte. Interessanter Weise funktioniert der Vorwurf auch umgekehrt, da der Populismus dem herrschenden Block an der Macht selbst wieder Parteipolitik vorwirft. In Österreich wurde von Jörg Haider und seiner FPÖ der Proporz als Kampfbegriff auserkoren, um in diese Kerbe zu schlagen.


2. Populismus-Begriff

Nachdem wir nun die grundlegenden Probleme beschrieben haben, soll nun der Begriff selbst eingehender analysiert werden und ein positiver Vorschlag ausgearbeitet werden. Ausgangspunkt dafür dient die Definition von Dieter Nohlen, da sie den Stand der politikwissenschaftlichen Forschung reflektiert. Insgesamt liefert Nohlen drei Definitionen:

1. Populismus als eine allgemeine Bezeichnung für eine Politik, die sich demagogischer Mittel bedient, um die Zustimmung des Volkes zu erreichen.

2. Die zweite Definition bietet eine etwas umfassendere Annäherung. Dabei wird Populismus als eine soziopolitische Bewegung mit Massenbasis und einer Zentrierung auf politische Führungspersonen definiert. Für das Auftreten des Populismus macht Nohlen einen raschen, gesellschaftlichen Wandel bzw. das Auftreten einer Hegemoniekrise verantwortlich. Als soziale Basis des Populismus sieht Nohlen vor allem Angehörige unterer sozialer Schichten. Inhaltlich legt er die Bewegung auf Forderungen nach Nationalismus, wirtschaftlicher Entwicklung und angemessener politischer Beteiligung fest.

3. In seiner dritten Annäherung definiert er Populismus als Konsenssicherungsstrategie der politischen Eliten. (Nohlen 1998, 515)

Ein wesentlicher Mangel der vorgeschlagenen Definitionen liegt darin, dass die unterschiedlichen Begriffe, die jeweils verschiedene Phänomene und Problemstellungen reflektieren, ohne Bezug zueinander taxativ aufgezählt werden. Dies ist für eine erste Annäherung sicherlich sinnvoll, da man einen Überblick über auch widersprechende Verwendungen des Begriffs erhält. Dennoch sollte ein Beitrag zu dieser Debatte nicht bei der Beschreibung unterschiedlicher Positionen stehen bleiben. Insbesondere sollte danach gestrebt werden, die angesprochenen Phänomene der zweiten Definition (soziopolitische Bewegung) und der dritten (Konsenssicherungsstrategie) gemeinsam theoretisch zu verarbeiten. Der erste Definitionsversuch bleibt zu abstrakt und erscheint somit kaum ein fruchtbarer Ansatz.

Das erste inhaltliche Problem des Definitionsvorschlages besteht darin, dass der Populismus als soziopolitische Bewegung aufgefasst wird. Die Fragestellung wird in der Forschung zum Populismus immer wieder gestellt: Kann man ihn als bestimmte Form soziopolitischer Bewegungen interpretieren oder muss man ihn als Ideologie begreifen, die letztendlich nicht auf einzelne Bewegungen beschränkt werden kann?

Wenn man Populismus als ideologischen Komplex interpretiert, der von verschiedenen Bewegungen vereinnahmt werden kann, dann ist man mit dem Problem konfrontiert, dass der Populismus auf eine Beschreibung beschränkt bleibt, deren theoretischer Gehalt nicht sehr ergiebig ist. Zwar kann man den Begriff dadurch auf Elemente wie etwa der Referenz auf das Volk einschränken, doch wird dadurch kaum ein theoretischer Rahmen geboten, der erklären könnte, warum Populismus überhaupt auftritt. Insbesondere muss, um eine befriedigende Erklärung liefern zu können, das Phänomen Populismus in einem gesellschaftlichen und machtpolitischen Kontext interpretiert werden. In einer bloßen Fixierung auf einzelne ideologische Komplexe kann diese Aufgabe aber kaum gelöst werden.

Wenn man Populismus aber tatsächlich als eine bestimmte Form der politischen Bewegung betrachtet, so läuft man damit oft Gefahr, in starre sozialtheoretische Konzepte zu verfallen. So wurden in den siebziger Jahren Vorschläge gebracht, die zwar einen weitreichenden sozialtheoretischen Rahmen bieten konnten, doch gleichzeitig Probleme der damaligen Sozialwissenschaften in diesem Bereich reproduzierten. So gab es etwa modernisierungstheoretische Ansätze, die den Populismus als ein Übergangsphänomen in der Entwicklung von traditionellen zu modernen Gesellschaften sahen.

In der marxistischen Theorie wiederum wurde der Populismus als Ausdrucksform popularer Schichten interpretiert, in der sich keine autonome Klassenorganisation und Klassenideologie entwickeln konnte. So definiert beispielsweise George Labica den Begriff folgendermaßen: "Im weiteren Sinne versteht man unter ‹Populismus‹ alle Bewegungen oder Lehren, die sich ausschließlich oder vornehmlich an das ‹Volk‹ oder an die ‹Massen‹ als undifferenzierte Einheiten wenden. Dabei werden die Klassen, ihre Antagonismen und vor allem die Rolle des städtischen Proletariats als revolutionäre Avantgarde geleugnet oder heruntergespielt." (Labica 1987, 1028) Dabei liegt die Problematik vor allem in der essentialistischen Festlegung des Begriffs Proletariat und in der daraus folgenden Entwicklung der historischen Mission der Arbeiterklasse. Aus heutiger Perspektive scheint es aber kaum mehr möglich, das "städtische Proletariat" einfach als soziale Gegebenheit hinzunehmen. In der marxistischen Debatte rückte daher auch die politische Konstruktion des Proletariats als revolutionäres Subjekt immer mehr in den Vordergrund. Damit einhergehend können Ideologie und Politik nicht mehr als determinierter Ausdruck der Klassenzugehörigkeit verstanden werden. Damit verändert sich aber die gesamte Perspektive auf den Populismus. Denn nun geht es nicht mehr darum, die Unzulänglichkeiten des Populismus aufgrund seiner angeblichen Klassenindifferenz heraus zu arbeiten, sondern zu fragen, wie der Begriff des Volkes sich überhaupt im hegemonialen Kampf der Gesellschaft herausbildet und welche Rolle dabei subalterne Klassen spielen. Dennoch bleibt vor allem aus marxistischer Perspektive die Frage offen, wie man das Phänomen des Populismus in eine Theorie der Gesellschaftsformation einordnen kann.

Ausgehend von dieser Problemlage hatte Ernesto Laclau die Aufgabe in der Ausarbeitung eines Populismus-Begriffs folgendermaßen gestellt: Einerseits muss man die Bedeutung der ideologischen Elemente in der gesellschaftlichen Struktur suchen. Auf der anderen Seite jedoch geht die traditionelle, marxistische Theorie gerade davon aus, dass dieses strukturelle Element, das sich als Klassenwiderspruch darstellt, in einer klassenspezifischen Weise ideologisch ausdrückt. Der Populismus lässt also diese klassenspezifischen Elemente beiseite, obwohl man ihn auf einen Klassenantagonismus - zumindest im weitesten Sinne - zurückführen muss. (Laclau 1981, 138)

Ein Ansatz, um dieses Problem zu lösen, wäre, den Populismus als eine Form der Artikulation im Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie zu verstehen. Denn der Begriff der Hegemonie bettet das Phänomen des Populismus in einen gesellschaftlichen Horizont ein, ohne jedoch dem alten Determinismus in die Falle zu tappen. Gramsci führte eine Neubestimmung des Hegemonie-Begriffs ein, um gerade gegen den Ökonomismus innerhalb des Marxismus vorzugehen. Das hegemoniale System einer Gesellschaft kann dadurch nicht mehr als einfacher Ausdruck einer Klassenposition verstanden werden. Wir sprechen daher auch nicht mehr von Ausdruck, sondern von einer politischen Artikulation. Der Begriff Hegemonie eröffnet außerdem ein neues Terrain in der politischen Analyse: es geht um das Verhältnis zwischen dem herrschenden Block an der Macht und dem Volk als Kräfteparallelogramm aller Klassen und Schichten.

Aufgrund der bisher gebrachten Argumente möchte ich daher folgende Definition vorschlagen: Populismus bezeichnet jene Artikulationen des politisch-ideologischen Diskurses, die sich auf das Terrain des Gegensatzes von Volk und en Diskurses, die sich auf das Terrain des Gegensatzes von Volk und herrschenden Block an der Macht beziehen. Dieser Bezug ist jedoch weniger ein inhaltlicher, sondern vielmehr ein formaler. Populismus drückt sich nicht dadurch aus, indem er inhaltlich Elemente des ideologischen Diskurses bestimmt, sondern vielmehr indem er diesen Elementen eine ganz bestimmte Bedeutung verleiht. Es geht also nicht darum, in einem Modell des Determinismus ideologische Elemente einer bestimmten Klasse zuzuordnen. Sondern die Bedeutung der ideologischen Elemente und damit auch die Einordnung in das Verhältnis vom Machtblock und Volk ergibt sich erst im Prozess des Kampfes um Hegemonie.

Der Begriff Volk kann daher nicht mehr als soziale Gegebenheit aufgefasst werden, sondern er muss als eine umkämpfte Kategorie angesehen werden.

Zwar hat der Postmodernismus mit seiner Kritik am Essentialismus zwar weit über das Ziel hinaus geschossen, dennoch erscheint es sinnvoll, die Referenz auf eine zentrale Struktur der Objekte in Frage zu stellen. Es gilt, das Modell des Determinismus insofern zu entschärfen, dass wir etwa Politik und Ideologie nicht mehr als Ausdruck interpretieren, sondern als eine Artikulation, die sich sowohl im Verhältnis zu den Objekten als auch in einem System der Äquivalenzen von Zeichen bewähren muss. Der Begriff Volk kann daher nicht mehr als soziale Gegebenheit aufgefasst werden, sondern er muss als eine umkämpfte Kategorie angesehen werden, dessen Bedeutung nicht nur im Verhältnis zu den sozialen Bedingungen zu erschließen ist, sondern die auch Produkt hegemonialer Kämpfe um Zeichen ist.

Laclau hatte Populismus in diesem Sinne folgendermaßen definiert: "Unsere These ist, daß der Populismus die popular-demokratischen Anrufungen als synthetischen, der herrschenden Ideologie antagonistisch gegenüberstehenden Komplex präsentiert." (Laclau 1981, 151) Dabei hatte er aber vor allem populistische Bewegungen als Opposition zum herrschenden Machtblock, wie etwa in Lateinamerika, vor Augen. Gleichzeitig sind wir aber in zunehmendem Maße von populistischen Tendenzen auch innerhalb des herrschenden Machtblocks konfrontiert. Das formale Artikulationsprinzip des Populismus kann also nicht darauf beschränkt werden. Auch der herrschende Machtblock braucht - zumindest zeitweise - die Anrufung popularer Elemente, um seine Position im Kampf um die Hegemonie zu stützen.

Vor allem die dichotome Unterscheidung zwischen Machtblock und popularen Elementen kann nicht in dieser Weise aufrecht erhalten werden. So funktionieren westliche politische Systeme vor allem dadurch, dass sie fast alle relevanten Parteien in den herrschenden Machtblock integrieren. Es entsteht in der Regel keine antagonistische Opposition zwischen Volk und Machtblock, sondern es entwickeln sich wechselnde Grabenkämpfe innerhalb des herrschenden Machtblocks. In diesen Machtkämpfen spielt die populare Artikulation eine entscheidende Rolle. Sowohl die FPÖ als auch die Grünen sind im österreichischen politischen System am herrschenden Block, in geringem Maße aber doch, beteiligt. Dennoch agieren sie an dessen Rand und sie sind ständig bestrebt, die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verschieben. Diese Dynamik erzeugt Konflikte, die von allen politischen Fraktionen in wechselndem Ausmaß die Anrufung des Volkes notwendig macht. Dennoch kann das Volk in einem politischen Sinne keinesfalls als Antagonismus zum herrschenden Block wahrgenommen werden, wie dies Laclau in seiner Populismus-Definition eigentlich behauptet hatte.

Je nach Kräftekonstellation kann die populare Anrufung entweder dem Machterhalt des herrschenden Blocks dienen oder auch dem Angriff auf diesen. Beziehungsweise kann sich dies auch aus der Spannung zwischen den Fraktionen am Rand des herrschenden Blocks und jenen, die im Zentrum stehen, ergeben. Die diskursive Referenz auf das Volk steht dabei im Zentrum der popularen Artikulation.

Der Populismus kann somit sowohl im Kampf um den Erhalt der herrschenden Fraktionen innerhalb des Machtblocks auftreten als auch als Angriff auf eben jenes Zentrum. So ist das populistische Element sowohl oppositionellen als auch herrschenden Machtfraktionen potenziell eigen. Für den Machterhalt ist die populistische Artikulation dann entscheidend, wenn es kritische oder instabile Momente der gesellschaftlichen Hegemonie gibt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn größere Reformen oder Veränderungen vom herrschenden Block an der Macht vollzogen werden. So musste etwa die tendenzielle Auflösung der Sozialpartnerschaft und die Implementierung neoliberaler Politikmuster mit populistischen Zügen abgesichert werden. Paradebeispiel ist hier die Ära Thatcher, die mit den Angriff auf die Gewerkschaften den Umbau des britischen Staates mit populistischen Tendenzen umgesetzt hatte.

Für uns sind aber jene populistischen Bewegungen von besonderem Interesse, die außerhalb des herrschenden Blocks an der Macht stehen. Denn sie bereiten den Angriff auf das Machtzentrum durch die Referenz auf subalterne Klassen vor. Dies betrifft alle politischen Bewegungen, egal welcher Provenienz. Dies führt dazu, dass zum Teil klassische Forderungen der Arbeiterbewegung auch von Rechten aufgenommen werden.


3. Österreich: FPÖ und Populismus-Diskurs

Im Lichte dieser Erläuterungen verändert sich auch die Perspektive auf das konkrete Phänomen des Populismus in Österreich und insbesondere der FPÖ. Zunächst muss man eine fundamentale Unterscheidung in der Analyse treffen: Denn wenn wir vom Populismus als tatsächlichem Phänomen sprechen, so ist dies keinesfalls gleichzusetzen mit dem Diskurs über den Populismus. Insbesondere im Verhältnis zwischen dem herrschenden Block an der Macht und dem Populismus spielt der Diskurs über den Populismus eine wesentliche Rolle.

Der Populismus der FPÖ kann interpretiert werden als diskursive Strategie, um den herrschenden Block an der Macht zu erschüttern. Die Referenz auf das Volk ist das wesentliche Element im Kampf um gesellschaftliche Hegemonie. Der herrschende Block an der Macht hat sich in Österreich historisch und kulturell in der Zweiten Republik vor allem auf SPÖ und ÖVP beschränkt. Ausgehend vom "antifaschistischen Grundkonsens" nach 1945 wurden relativ flott kommunistische Kräfte aus den Machtpositionen entfernt, bis sie nach dem Ende der Besatzung vollends in der Bedeutungslosigkeit versanken. Damit verflocht der Staatsapparat zunehmend mit den Parteiapparaten von SPÖ und ÖVP. Selbst in Zeiten von Alleinregierungen konnte der Partner niemals aus den Institutionen gänzlich gedrängt werden, da wesentlich Positionen auf Länderebene weiterhin gesichert wurden. Insgesamt gab es ein relativ stabiles Gleichgewicht, sodass trotz etwaiger Wahlniederlagen die beiden Parteien niemals aus den herrschenden Block gedrängt werden konnte.

Die FPÖ hatte immer wieder versucht am "antifaschistischen Grundkonsens" der Zweiten Republik zu rütteln. Das war ein Versuch, den Machtblock zu erschüttern.

In dieses System war die FPÖ zunächst nicht integriert. Als deutschnationales Sammelbecken führte die Partei lange Zeit ein Schattendasein. Erst die Wende am Innsbrucker Parteitag 1986 machte aus ihr eine ernst zu nehmende Kraft. Der Ansturm auf den herrschenden Machtblock wurde immer vehementer geführt. Vor allem unter dem Banner der Kritik am sogenannten "Proporzsystem" konnte die FPÖ unter Jörg Haider beachtliche Erfolge erzielen.

Bezeichnend für die FPÖ ist wiederum, dass die Verwendung des Begriffs Proporz eigentlich irreführend war. Auf Bundesebene herrscht das Prinzip der Mehrheitsregierung und nicht jenes der Proporzregierung. Dennoch schafften es Haider, den Begriff zu einem Symbol des Kampfes gegen den rot-schwarzen Machtblock umzudeuten. Paradoxerweise würde das Proporzsystem ja bedeuten, dass alle Parteien - also auch die FPÖ - gemäß ihrem Stimmenanteil an den Machtpositionen beteiligt sein müssten. Doch die FPÖ stilisierte den Begriff zu einer Kritik an der Konzentration und Aufteilung der Machtpositionen zwischen SPÖ und ÖVP.

Im Laufe der Zeit konnte die FPÖ, vor allem auf Länderebene gewisse Machtpositionen einnehmen, doch bis ins Zentrum des Machtblocks konnte sie nie vordringen. Dies liegt weniger in den politisch-ideologischen Differenzen begründet als vielmehr in der vorherrschenden Machtkonstellation selbst, die auch eine kulturelle Entsprechung findet. Denn zwischen dem herrschenden Block an der Macht und den anderen Kräften existiert ein kultureller Graben. Das hat Jörg Haider in seiner Person am deutlichsten demonstriert: zwar konnte er sich in Kärnten eine Machtnische schaffen, doch auf Bundesebene wurde er kaum als seriöser Partner angesehen. Während bei SPÖ und ÖVP vor allem die Parteiinstitutionen als wesentliche Instanzen der politischen Sozialisation und Anerkennung dienten, werden die Parteimitglieder der FPÖ zumeist als Emporkömmlinge angesehen. Dies entspricht im Übrigen einem durchgehenden Phänomen, das auf die meisten Parteien zutrifft, die dem rechten Populismus zugeordnet werden. (Priester 2008, 24) Es besteht also eine ungemeine kulturelle Differenz zwischen einem Heinz-Christian Strache und einer Laura Rudas. Auch wenn die politische Qualifikation möglicherweise bei beiden ein ähnliches Niveau erreicht, so ist kaum vorstellbar, dass Herr Strache jemals eine staatstragende Aura umgeben könnte.

Denn der Diskurs über den Populismus zementiert die herrschenden Fraktionen im Machtzentrum durch eine moralische Desavouierung der Angreifer.

Die FPÖ hatte immer wieder versucht am "antifaschistischen Grundkonsens" der Zweiten Republik zu rütteln. In dieser Kräftekonstellation ist dies ebenfalls interpretierbar als ein Versuch, den herrschenden Machtblock zu erschüttern. Doch viel erfolgreicher war neben der Kritik am Proporz jedenfalls das Asylthema. Entscheidend für die Analyse ist jedoch, dass sich die Bedeutung und der Sinn dieser Elemente nicht selbst erschließt. Die ideologischen Elemente erhalten erst ihre Bedeutung durch die Einordnung in das Verhältnis herrschender Machtblock und Volk.

Dasselbe gilt für den Diskurs über den Populismus. Inhaltlich zeichnet sich dieser dadurch aus, dass er dem Populismus eine fehlende politische Rationalität unterstellt und ihn als moralisch bedenklich brandmarkt. Dies geschieht nicht zuletzt durch eine tendenzielle Gleichsetzung mit dem Rechtsextremismus. Nichts desto trotz erfüllt dieser Diskurs eine ganz klare Funktion, sofern man den Begriff Funktion verwenden will: Auch hier erschließt sich die Bedeutung durch den Kampf um gesellschaftliche Hegemonie. Denn der Diskurs über den Populismus zementiert die herrschenden Fraktionen im Machtzentrum durch eine moralische Desavouierung der Angreifer.

Der ständig drohende Populismus-Vorwurf, der in der politischen Debatte in den letzten Jahrzehnten eine immer bedeutendere Rolle gespielt hat, lässt sich wieder zuspitzen auf den Kampf um Hegemonie zwischen den Fraktionen im Zentrum und an der Peripherie des herrschenden Machtblocks. Eine linke Kritik muss sich dieser Problematik gewahr werden und sollte sich davor hüten, voreilig Positionen zu beziehen. Insbesondere die Kritik am Populismus muss aufgrund der Erwägungen neu überdacht werden. Denn die leichtfertige Parteinahme ordnet sich allzu schnell ein in eine diskursive Strategie, die den herrschenden Fraktionen im Machtblock nützt.


4. Schlussfolgerungen

Ausgehend von diesen vorläufigen Überlegungen können gewisse Schlussfolgerungen gezogen werden, die vor allem für die politische Praxis von entscheidender Bedeutung sind.

Der Populismus ist ein mehr oder weniger formales Prinzip, das sich auf dem Feld der Konfrontation zwischen dem herrschenden Machtblock und dem Volk entwickelt. Inhaltlich-ideologische Fragestellungen müssen daher auch in diesem Lichte betrachtet werden und können mitunter eine ganz neue Bedeutung erhalten. Tatsächlich können sich ganz unterschiedliche, ja sogar widersprüchliche Elemente in ein und derselben populistischen Bewegung äußern. Entscheidend dabei ist, dass diese Elemente ihre Bedeutung unter anderem durch den Kampf bestimmter Machtfraktionen oder sogar durch den Kampf des Volkes selbst erhalten. Die Kritik an Kräften wie der FPÖ, sie sei populistisch, trifft gerade jenes Element, das ihr am wenigsten vorzuwerfen wäre. Denn gerade das populistische Element der FPÖ gewährleistet eine gewisse Erschütterung - oder zumindest eine Veränderung - des herrschenden Machtblocks.

Auch in Bezug auf Venezuela erhellt dieser Populismus-Begriff einige Problemstellungen. Denn sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene toben dort harte Machtkämpfe. Mit der Referenz auf das Volk hat Chávez einige Positionen im Machtapparat für sich einnehmen können. Dennoch geht der Kampf gegen die alte Bürokratie weiter. In jenem Maße wird auch der Populismus ein notwendiges Element bleiben. Auch international muss sich Chávez gegen das imperalistische Machtzentrum verteidigen. Auch auf dieser Ebene spielt das populistische Moment eine entscheidende Rolle.

Die politischen Systeme in Westeuropa und den USA befinden sich in einer langanhaltenden, strukturellen Krise. Dies äußert sich unter anderem in einer Krise der Repräsentationsmechanismen. Colin Crouch prägte für diese Krise den Begriff der Postdemokratie. Diese Krise der Repräsentation ist keineswegs gleichbedeutend mit einer Hegemoniekrise. Denn gerade das politische System westlicher Prägung basiert auf einer freiwilligen Abstinenz von Politik. Dennoch liegt in der Krise der Repräsentation im Kern das Potenzial für eine Hegemoniekrise begründet. Falls sich diese Möglichkeit realisieren sollte, wird auch der Kampf zwischen Volk und herrschenden Block an der Macht ein neues Niveau erreichen. Dabei wird der Populismus in zunehmendem Maße an Bedeutung gewinnen. Dies wird aber keineswegs nur jene Fraktionen betreffen, die außerhalb oder am Randes des herrschenden Blocks angesiedelt sind, sondern auch jene Fraktionen, die im Machtblock selbst integriert sind.


Literatur

Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt am Main 2008. (= Edition Suhrkamp. 2540)

Dorna, Alexandre: Wer ist Populist. Annäherung an ein politisches Phänomen, in: Le Monde diplomatique (Deutsche Ausgabe), 2003, 9. Jg., Nr. 11, S. 5.

Labica, Georges: Populismus, in: Labica, Georges; Bensussan, Gérard: Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 6: Pariser Kommune bis Romantik, Berlin 1987, S. 1026-1029.

Laclau, Ernesto: On populist reason, London, New York 2005.

Laclau, Ernesto: Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus - Faschismus - Populismus, Berlin 1981.

Nohlen, Dieter: Populismus, in: Ders. (Hrsg.): Lexikon der Politik. Bd. 7: Politische Begriffe, München 1998, S. 514-515.

Priester, Karin: Populismus als Protestbewegung, in: Häusler, Alexander (Hrsg.): Rechtspopulismus als "Bürgerbewegung". Kampagnen gegen Islam und Moscheebau und kommunale Gegenstrategien, Wiesbaden 2008, S. 19-36.

Sottopietra, Doria: Phänomen Rechtspopulismus, Wien 1998.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Straches Politik in Österreich führt das Spiel des Populismus an die Spitze.

Straches Politik schafft in Österreich die Mobilisierung unterer Schichten.

Raute

THEORIE

Debatte um konkrete Utopie

Beiträge zum Sommerseminar 2009

Vom äußersten linken Flügel der kommunistischen Bewegung kommend, hatten wir nach 1989/91 schnell den Antiimperialismus als den Schwerpunkt des globalen gesellschaftlichen Konflikts erkannt - nicht nur gegen die Anhänger des "Endes der Geschichte", sondern auch gegen jene, die in rühriger Weise am Kampf für den "Kommunismus" festhielten, ohne die Frage nach den Ursachen seines Scheitern stellen zu wollen.

Nach dem Motto "Viel Feind, viel Ehr" haben wir mit dem Antiimperialismus auf das richtige Pferd gesetzt - nicht nur konjunkturell, sondern auch in größeren historischen Dimensionen gesprochen. Der permanente Krieg um das "American Empire", an dem auch Obama nichts ändern kann, selbst wenn er wollte, legt davon Zeugnis ab.

Zumindest seit dem sich abzeichnenden Scheitern des irakischen Widerstands einerseits und der sich intensivierenden Proklamation des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" durch den venezolanischen Präsidenten Chávez andererseits wurden wir uns einer "Leerstelle" bewusst. Der Antiimperialismus ist zunächst einmal ein negatives Programm ohne explizite gesellschaftliche Alternative.

Wir konstatierten im Westen, im vollen Delirium des Liberalismus, im "schwachen Denken" das Fehlen einer glaubwürdigen, umfassenden Alternative. Im Gegensatz dazu präsentieren die Widerstandsbewegungen der Peripherie durchaus "starkes Denken". Doch scheint dieses "starke Denken" in seinem Partikularismus nicht nur wenig Anziehungskraft auf eine mögliche entstehende Opposition im Westen auszuüben, sondern auch untereinander, zwischen den verschiedenen Widerstandszentren in der Peripherie, wenig Anschlusspunkte zu haben. Was fehlt ist ein Universalismus der Befreiung, der Emanzipation.

Um diesen kreist unsere Debatte, ebenso sowie um seine "Bedingungen der Möglichkeit", nun zusätzlich befeuert durch die Systemkrise.

Beiträge zu dieser Debatte finden sich im Folgenden. Wer weiter zurück gehen möchte, findet hier entsprechende Literatur:

Wilhelm Langthaler: Recht behalten heißt nicht zu siegen. Eine kritische Bilanz der antiimperialistischen Bewegung, in: intifada Nr. 25, 2008.

Gernot Bodner: Optionen für eine Opposition? Zum Linksprojekt in Österreich, in: intifada Nr. 26, 2008.

Sebastian Baryli: Antiimperialismus und gesellschaftliche Befreiung. Herausforderungen und Grenzen eines politischen Programms, in: intifada Nr. 27, 2008.

Wilhelm Langthaler: Im Angesicht der Krise. Achsen für das Projekt einer antikapitalistischen Opposition, in: intifada 28, 2009.

Raute

THEORIE

Kommune oder Cabrio

Skizzen eines alternativen Gesellschaftsmodells

Von Wilhelm Langthaler

Der Kapitalismus befindet sich in seiner tiefsten Krise seit 1945. Doch ist seine Überwindung heute noch oder wieder denkbar? Wie kann ein Alternative aussehen?


Die Schwierigkeiten der Beantwortung diese Frage sind angesichts des historischen Vermächtnisses, das auf ihr lastet, enorm. Um sich anzunähern, versuchen wir zunächst die Fragestellung selbst zu untersuchen, ohne in der darauf folgenden Abhandlung eine vollständige Antwort zu versprechen.


1. Welche gesellschaftliche Alternative?

Wir befinden uns nicht mehr am Ausgang des 19. Jahrhunderts, an dem der Sozialismus als einzige Alternative am Horizont leuchtete. Das "kurze 20. Jahrhundert" von 1917-1989/91, wie es der große britische Historiker Eric Hobsbawm nannte, war durch und durch geprägt vom Versuch der Etablierung eben dieses Sozialismus. Dementsprechend ist der Ausgang dieses kurzen 20. Jahrhunderts von dessen Scheitern geprägt. Dieses Faktum muss unweigerlich der Ausgangspunkt jeder Wiederaufnahme der Debatte sein.

Die Dekonstruktion nicht nur des Realsozialismus, sondern auch der diversen Stränge und Strömungen des Marxismus und selbst des Marxschen Werkes wurden nicht nur in feindlicher Absicht, sondern auch von jenen, die am Ziel der Überwindung des Kapitalismus festhalten, vielfach unternommen. Dabei haben sich Elemente des Neubeginns herauskristallisiert, die es nun in einem langen und notwendigerweise unabgeschlossenen Prozess zusammenzutragen gilt.


2. Status und Methode

Ganz entscheidend hierbei ist die alte Kantsche Frage nach den "Bedingungen der Möglichkeit" des Unternehmens. Auf der einen Seite wären da die Schärfe des Konflikts zwischen den globalen Eliten und dem Widerstand sowie die Aktualität der Krise, auf der anderen Seite die offensichtliche Inaktualität der Revolution im Weltmaßstab und insbesondere im Westen angesichts eines abwesenden Subjekts, dem die dafür notwendige Machtentfaltung zugedacht werden könnte.

So augenfällig notwendig die Konjunktion zwischen einer unmittelbaren Antwort auf diese Krise und einem alternativen Gesellschaftsmodell ist, so konstruiert und mechanisch erscheint die marxistische Lösung in Form eines "Übergangsprogramms". Ein Programm, das quasi automatisch von den Interessen der Unterklassen zum Sozialismus führt, hat sich als Wunschdenken erwiesen.

Eine ganz entscheidende Frage ist also, welche Rolle ein alternativer Gesellschaftsentwurf für eine unmittelbare und konkrete antikapitalistische Opposition spielt.

Die Kritik an der Spaltung in Minimal- und Maximalprogramm bleibt indes hochaktuell. Jede Diskussion um die Züge einer alternativen Gesellschaft, die sich nicht die Frage des Übergangs und der konkreten politischen Kräfte, die diese bewirken können, stellt, ist Zeitverschwendung, es sei den man will Wolkenkuckucksheime konstruieren.

Eine ganz entscheidende Frage ist also, welche Rolle ein alternativer Gesellschaftsentwurf für eine unmittelbare und konkrete antikapitalistische Opposition spielt. Und in welcher Weise können sie mit einander verbunden werden? Die vorgeschlagene Arbeitshypothese besteht jedenfalls darin, dass eine antagonistische Kraft verschiedene Gesellschaftsentwürfe zulassen muss und sich nicht auf einen einzigen festlegen kann und darf. Zu notwendig unabgeschlossen sind die Ideen, denn um auszugären, fehlt ihnen die Praxis. Die kollektive Erinnerung an die zerschmetternde Niederlage ist zu frisch. Der Weg zu einem neuen hegemonialen Projekt ist sehr weit und wir stehen erst ganz am Anfang.

Neben der angesprochenen Frage des Grades der Abgeschlossenheit stellt sich jene des Anspruchs auf Systematik, Wissenschaftlichkeit usw. All das sind nicht nur theoretische Erwägungen, sondern diese haben schwerwiegende politische Implikationen.


3. Name

Im Vergleich scheint die Frage banal, doch es bestätigt sich immer wieder, dass Form und Inhalt einen Zusammenhang aufweisen. Alles dreht sich dabei um die historische Referenz, die Beziehung zum historischen Sozialismus, Kommunismus, Marxismus und zur alten Arbeiterbewegung. Wenn es unbestritten bleibt, dass die Anläufe des 20. Jahrhunderts sich in die lange Reihe der historischen Emanzipationsversuche in der Zivilisationsgeschichte einreihen, so ist es eine politisch eminent wichtige Frage, ob man sich den alten Mantel umhängen will oder nicht. Die Frage bedarf keiner sofortigen Antwort. Ab einem gewissen Reifegrad wird die Bewegung lesbare Signale absetzen.

Ausgangspunkt jeder Überlegung über gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus muss das Scheitern des Realsozialismus sein. Der Versuch, sich stillschweigend dieses schmutzigen Hemdes zu entledigen und einen Neubeginn von Null, aus dem Nichts zu unternehmen, ist zum Scheitern verurteilt.

Denn der Realsozialismus und noch mehr die globale kommunistische Bewegung lassen sich nicht auf die Machinationen sowjetischer Eliten reduzieren, sondern sie repräsentieren den historischen Versuch der Emanzipation der Unterklassen im Weltmaßstab, wie er sich real vollzogen hat. Nicht nur, dass man vom Gegner immer wieder darauf hingewiesen wird, auch mögliche Unterstützer werden berechtigterweise Vergleiche anstellen.

Es gilt die Lehren aus der historischen Erfahrung zu ziehen, für die Millionen von Menschen ihr Leben opferten. Diese verflossenen Projekte muss man als unendlichen Reichtum betrachten und nicht nur als Last, denn an ihnen lassen sich die Vorstellungen einer alternativen Gesellschaft historisch konkret überprüfen. Darauf zu verzichten, heißt ein wenig brauchbares Abstraktum zu konstruieren.

Wir wollen hier allerdings keine Analyse dieser Geschichte durchführen. Ansätze dazu haben wir vielfach vorgelegt, im Gegensatz zu einem großen Teil derjenigen, die am Sozialismus als Ziel festhalten. Man muss sich vielmehr die Freiheit des Neuen nehmen, auf der Basis einer knappen Synthese der Schlussfolgerungen der Analyse.


4. Lehren des Realsozialismus

Der Realsozialismus stellte sich als schlechte Kopie des kapitalistischen Produktivismus heraus. Als höchstes Maß des Fortschritts galt der Massenkonsum, zu dessen Wachstum die Steigerung der Produktion und damit der Arbeitsproduktivität angestrebt wurde. Etwaige andere Kriterien der Emanzipation blieben dem Ziel des "Einholens und Überholens" des Kapitalismus untergeordnet.

Doch hinsichtlich der industriellen Ausgangsbasis, der unendlich kleineren Kapitalausstattung, war und blieb die Sowjetunion heillos unterlegen und ist auch zukünftig jeder neue Versuch der Emanzipation von der kapitalistischen Elite, so er nicht in ihrem Zentrum selbst beginnt, dazu verurteilt, unter diesem Problem zu leiden.

So sehr es die russischen Eliten auch versuchten, auf der Basis des mit dem Westen geteilten positivistischen Wertekanons (Ökonomismus) gelang es ihnen nicht einmal einen Abklatsch des kapitalistischen Systems von Antrieb und Anreiz zu etablieren. Mit dem Massenkonsum des Westen vermochten sie nie und nimmer mitzuhalten. (Allein schon der westliche Neokolonialismus und der damit verbundene Werttransfer in die Zentren reproduziert den Vorsprung beständig und macht ihn uneinholbar.)

Sinnbild dieses ungleichen Wettlaufs ist die Konkurrenz zwischen Sputnik und amerikanischem Weltraumprogramm. Letztlich zeigt diese, dass der Bluff des Igels gegenüber dem Hasen historisch nicht durchzugehen vermag.

Ursprünglich hatte der Sozialismus die Aufhebung von Unterdrückung und Entfremdung verheißen. Marx hatte analysiert, dass der soziale Prozess den Menschen, den Akteuren desselben Prozesses, fremd und undurchsichtig wird. In heutiger Terminologie könnte man vom Sachzwang des Marktes sprechen. Das Gegenprogramm dazu: die Masse der Subalternen zu den Herrschenden, zu den bewusst ihr Schicksal Bestimmenden zu machen. Selbstbestimmung der assoziierten Individuen also.

Tatsächlich erschuf der Realsozialismus jedoch ein noch viel schlimmeres Monster als das Diktat des Marktes. Die kurzzeitige revolutionäre Diktatur eines "Wohlfahrtsausschusses" wandelte sich in eine dauerhaft fremde Macht über die Arbeiterklasse. Diese Herrschaft war nicht mehr gedeckt durch den undurchsichtigen Sachzwang des Marktes, in dessen Schatten sich die kapitalistischen Eliten immer wieder als Hüter des Gemeinwohls darzustellen vermögen. Sondern sie erschien hart, direkt und manifest in Form der bürokratischen Eliten des Kremls. Trotz aller eingestandenen sozialen Unterschiede drängt sich in der Erscheinungsweise der Vergleich Stalinismus-Zarismus unweigerlich auf. Mit den entsprechenden sozialen und liberalen Reformen gelang es im Gegenzug dem imperialistischen Westen sich den Alleinvertretungsanspruch auf die "Demokratie" zu sichern. Damit war der Kampf um die Hegemonie für den Kommunismus endgültig verloren.

Die Arbeiterklasse hat sich zur Rolle des revolutionären Subjekts unfähig erwiesen. Je mehr soziales spezifisches Gewicht sie in der UdSSR erlangte, desto politisch bedeutungsloser wurde sie. Der Kommunismus regredierte in einen aufgeklärten, technokratischen Absolutismus. So kam es, dass die Arbeiterklasse die Rückumwandlung der bürokratischen Eliten in eine kapitalistische Oligarchie letztlich nicht nur nichts entgegensetzte, sondern sich tatsächlich den Kapitalismus zurück wünschte.


5. Impotenz abstrakter Kritik

Gegen den Stalinismus gab es aus der revolutionären Bewegung von Anfang an Kritik. Deren Schwäche bestand darin, dass sie der autoritären Entwicklung nur höchst abstrakte Konzepte von (Arbeiter)demokratie entgegensetzte. Nach den Möglichkeiten und potentiellen Trägern ihrer Umsetzung wurde weniger gefragt. Den Stalinismus reduzierte und denunzierte man als moralisch schlecht. Über die Tendenzen und Interessen, die ihn entstehen ließen, legte man sich indes zu wenig Rechnung ab. Dies wäre jedoch die Voraussetzung dafür gewesen, die demokratischen Forderungen auch einführen und durchsetzen zu können.

Es sei daran erinnert, dass Lenin selbst am Vorabend der Revolution noch ultrademokratische Konzepte vertrat. So sollte jede Köchin dazu befähigt werden, den Staat zu leiten. Somit sollte in Grunde der Staat selbst aufgehoben werden.

Als er dann nach dem gewonnenen Bürgerkrieg sich der Eigendynamik des neu geschaffenen und unter extremen Opfern verteidigten Staatsapparates gewahr wurde, war er der erste Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die von ihm angeregte Arbeiterkontrolle wurde jedoch genauso oder sogar noch mehr vom Moment der Bürokratisierung erfasst als die Partei.

Retrospektiv betrachtet, scheint es nach dem frühen Tod Lenins nur eine Lösung gegeben zu haben, die paradoxer Weise der Forderung nach direkter und unmittelbarer Demokratie diametral entgegenläuft. Ein Militärputsch und die eiserne Diktatur der revolutionären Elite, die den Aufstieg des Stalinismus als Interessensvertreter des Apparates anknüpfend an die ererbte Kultur des Zarismus hintanhalten hätten können. Die notwendigen und langwierigen Maßnahmen zur Demokratisierung hätten so von oben gegen die sich formierenden Eigeninteressen des Apparats durchgesetzt werden können, bis zu einem Punkt wo die revolutionäre Elite wieder genug direkte und aktive Unterstützung aus den Massen hätte schöpfen können. (Das führt uns zur Bedeutung der Gewalt, des Staates, der Repräsentanz sowie der Zentralisierung, die weiter unten behandelt werden.)

Ein weiteres Problem der antistalinistischen Opposition war, dass sie sich in vielerlei Hinsicht in gewissen Grundprämissen vom Stalinismus nicht unterschied, Prämissen die sie vom orthodoxen Marxismus ererbt hatte und die teilweise bis auf Marx selbst zurückgehen. Da ist einmal der bereits erwähnte Ökonomismus und Produktivismus. Nicht umsonst waren es die Kader der linken Opposition, die zu Stalin übergingen, als dieser die Große Kollektivierung und die anschließende Industrialisierung unternahm. Stalin plagiierte nur ihre Theorie und prägte ihr die extrem autoritäre Form auf.

Die Massendesertion der Opposition zu Stalin kann nicht ohne den Historismus, den Glauben in die selbstentfaltende Logik der Geschichte, der der Sozialismus als Ziel unterschoben wird, erklärt werden. Wenn schon in der altehrwürdigen deutschen Sozialdemokratie die Entwicklung der (kapitalistischen) Produktivkräfte als Schritt zum Sozialismus angesehen wurde und selbst Engels den Wechsel der Macht nur mehr als letzten Stein in der Kette ansah, um wie viel mehr musste das für die Sowjetunion gelten, in der die Macht der Bourgeoisie bereits gebrochen war? Selbst Isaac Deutscher, der große aus der trotzkistischen Opposition stammende Historiker, hoffte nach dem Tod Stalins auf die selbstheilende Dynamik des Systems, nachdem die "Drecksarbeit" der Industrialisierung endlich erledigt schien. Der Glaube an den unaufhaltbaren Fortschritt, insbesondere dessen materiellen Aspekt, war organischer Bestandteil des alten Sozialismus.


6. Kontingentes Ziel

Wie lässt sich nun auf der Basis der verarbeiteten historischen Erfahrung ein neues emanzipatorischer Projekt oder, weniger prätentiös: dessen Hauptmomente, positiv formulieren. Bevor wir das unternehmen, sei in Absetzung zum historischen Sozialismus jede Teleologie, jede Vorstellung von einer zielgerichteten Geschichte verworfen: In der Geschichte liegt kein Ziel beschlossen, sei es nun in den Produktivkräfte, im Widerspruch dieser mit ihrer gesellschaftlichen Organisationsform oder auch im Wesen des Menschen selbst. Der Sozialismus ist kein notwendiges Ergebnis der Geschichte, sondern, soviel hat die Geschichte gezeigt, maximal ein mögliches. Unser Gesellschaftsmodell ist bewusst als kontingentes konzipiert. Wir versuchen unser Ziel der Gesellschaft und Geschichte aufzuprägen, unter Berücksichtigung der konkreten Bedingungen und Möglichkeiten, dem was man mit großer Vorsicht als ihre Bewegungsgesetze fassen mag.


7. Entmachtung von der Peripherie aus

Wie für den historischen Kommunismus bleibt der Dreh- und Angelpunkt die Entmachtung und Enteignung der globalen Oligarchie. Diese blockiert die Emanzipation der Massen nicht aus schierer Boshaftigkeit und Schlechtigkeit, sondern aus den organischen Notwendigkeiten des Kapitalismus. Kapital will und muss sich verwerten, anhäufen und konzentrieren. Die Bedingung dafür ist und bleibt die exklusive Macht dieser winzigen Elite. Wir haben die unumgängliche Notwendigkeit einer Revolution im Sinne der Entmachtung dieser Eliten mehrfach argumentiert und wollen das hier nicht wiederholen.

Die Frage ist vielmehr, was man mit der errungenen Macht zu unternehmen gedenkt. Wie die Geschichte gezeigt hat, erfolgt die Entmachtung zuerst in der Peripherie, nicht im Zentrum. Das heißt, es ist wie im vergangenen Jahrhundert damit zu rechnen, dass es staatliche Konflikte mit den imperialistischen Staaten gibt. Tatsächlich ist die Welt wesentlich von diesen neokolonialen Kriegen geprägt, die alle Staaten und Kräfte der Botmäßigkeit des Westens unterwerfen sollen.

Ein Entwurf, eine Theorie einer alternativen Gesellschaft muss im Kern ein Modell jener Übergangsgesellschaften enthalten, die unweigerlich von der Peripherie ausgehen und entsprechend deren Bedingungen berücksichtigen müssen.

Das Modell für den Westen muss davon als Spezialfall abgeleitet werden und nicht wie bisher umgekehrt. Dabei müssen sich die revolutionären Kräfte auf die Position einer strukturellen Minderheit einstellen, die nur unter ganz außergewöhnlichen Bedingungen die Oligarchie, die historisch auf einer breiten Mittelschicht, einem die übergroße Mehrheit umfassenden sozialen Block ruht, stürzen wird können. Der Kampf um Hegemonie im Gramscischen Sinn kann also im Westen nicht den Kampf um die Mehrheit bedeuten, sondern die Schaffung einer überlebensfähigen antagonistischen Minderheit, die ihre Chance nur im Rahmen eines globalen Konfliktes oder Bürgerkrieges erhält - mit den antiimperialistischen Massen der kapitalistischen Peripherie im Rücken.

Im klassischen marxistischen Kanon wäre man an diesem Punkt zur Verwaltung der Wirtschaft übergegangen, als Kernstück des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft. Wir wollen allerdings einen Umweg wählen.


8. Selbstbestimmung und Diversität

Selbstbestimmung ist einer der Schlüsselbegriffe, wenn nicht das Zentrum der Emanzipation. Allerdings hat er den Nachteil, vorerst einmal völlig abstrakt zu sein. So kann jeder das in ihn hineininterpretieren, was ihm gerade gefällt.

Dass das Modell der "westlichen Demokratie" nichts mit Selbstbestimmung zu tun hat, ist jedem offensichtlich, der nicht das damit verbundene Wertesystem teilt. Es handelt sich um eine Inszenierung im Zusammenspiel mit dem alles durchdringenden Medien- und Kulturapparat, die die Macht exklusiv bei der winzigen kapitalistischen Elite hält - nicht ohne die passive Duldung des Mittelstandes, der dieses System trägt.

Wer ist nun das Subjekt, das sich selbst bestimmen soll? Der Einzelne, das Kollektiv, welches Kollektiv? Und wie geht man mit Konflikten zwischen verschiedenen kollektiven Subjekten um? Wem kommt da der Vorrang zu?

Bei Marx war das noch so abstrakt wie einfach. Der Kapitalismus erschafft in Form der Arbeiterklasse ein global homogenes Subjekt, das die Allgemeininteressen der gesamten Menschheit vertritt und in das die alten Klassen nach ssen der gesamten Menschheit vertritt und in das die alten Klassen nach Erringung der Staatsmacht Schritt für Schritt assimiliert werden. Eine globale Polis, global assoziierte Individuen also, die totale Homogenität unterstellt und differenzierte, konfligierende kollektive Interessen mit dem Schwinden der alten Klassen für denkunmöglich erklärt. Die Interessen des Individuums können demnach also mit jenen des einzigen Kollektivs in exakte Deckung gebracht werden.

Dass es diese Homogenität nicht gibt und auch nie geben wird, selbst wenn die Verfügungsgewalt der Oligarchie über die Welt, die den Kern aller Konflikte konstituiert, gebrochen ist, ist nach Durchleben des 20. Jahrhunderts offensichtlich.

Kulturen, Nationen, Geschlechter, Menschen sind unterschiedlich, auch wenn diese Unterschiede nicht naturgegeben sind, veränderlich bleiben und sich historisch auch verändert haben. In ihrer Historizität und Dynamik hängt ihnen aber ein irreduzibles, selbständiges, nicht weiter zurückführbares Moment an. Diese Inhomogenität gilt nicht nur jeweils nach außen, sondern immer auch im Inneren der kollektiven Subjekte oder Kategorien. Ziel der Emanzipation ist es nicht die Unterschiede gänzlich aufzuheben oder zu nivellieren, sondern die daraus resultierenden Konflikte zu regulieren und zu minimieren, ihnen jedenfalls ihren antagonistischen Charakter zu nehmen und für möglichst viele Selbstbestimmung zu ermöglichen und zu verwirklichen. Das Recht auf Differenz und Andersartigkeit ist ein anderer Ausdruck für Selbstbestimmung.

Alles dreht sich also um die Art der Konstituierung der kollektiven Subjekte und ihre Beziehungen zu einander. Dabei gehen wir davon aus, dass die Organisationsform der kollektiven Produktion und die damit verbundene Aneignung - in Wechselwirkung und Überformung mit kulturellen Aspekten - diese Subjektkonstituierung bestimmt.

Dabei hat die kleine Gemeinschaft, die räumlich beisammen bleibt, die gemeinsam produziert oder zumindest ihr tägliches Leben gemeinsam reproduziert, in der man sich persönlich kennt, einen gewaltigen Vorteil. Sie kommt am ehesten dem Modell der Polis gleich, ist stark partizipativ und kommt mit einem Minimum an Repräsentation aus. Der Interessensausgleich ist auf unmittelbarer und täglicher Basis möglich. Was immer sich an wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und sonstigen gesellschaftlichen Tätigkeiten auf diese unterste Ebene verlagern lässt, muss dorthin abgegeben, dezentralisiert werden. Diese Gemeinschaften können als die untersten Bausteine einer emanzipierten Gesellschaft gedacht werden.

Doch eine industrielle Gesellschaft produziert unweigerlich nicht nur lokal, sondern weist als eines ihrer grundlegenden Charakteristika Spezialisierung und Arbeitsteilung bis auf die globale Ebene auf. Natürlich ist das Delirium der Globalisierung der kapitalistischen Form geschuldet mit all den bekannten Auswüchsen. Doch es bleibt ein Rest an übergeordneten industriellen Strukturen, der unvermeidlich ist, will man ein gewisses, historisch erreichtes Niveau an Produktivität halten. (Die Konsequenzen, diese nicht zu halten oder gar nicht halten zu wollen, sind enorm - siehe weiter unten.) Diese übergeordneten Strukturen erfordern unweigerlich Repräsentation, auch berufsmäßige.

Die so konstituierten Kollektive verbinden und verschachteln sich zu größeren Einheiten entlang wirtschaftlicher Kooperation, sowie politischen und kulturellen Traditionen, möglichst so, dass die Interessen der Mehrheiten durchgesetzt werden, ohne jene der Minderheiten zu beeinträchtigen.

Bisher blieben die Ausführungen noch sehr abstrakt. Nun geht es darum, diese allgemeinen Vorstellungen historisch konkret zu machen. Die den Kapitalismus bestimmende und nach wie vor bedeutendste kollektive Organisation ist die Nation, weil sie staatsbildend ist, das heißt den Staat als Organ der Politik hervorbringt.


9. Nation und Staat

Die emanzipatorisch motivierte Kritik am Konzept der Nation und des Nationalstaates war und ist massiv, insbesondere nach 1989/91 - und vielfach berechtigt.

Der Nationalismus wird attackiert, weil er die Konflikte vor allem zwischen den europäischen Nationen entfacht und den ideologischen Überbau dafür geliefert hat. Oft genug von diesen Kritikern vergessen, ist da natürlich der mit den westlichen Nationen verbundene Kolonialismus und seine zivilisatorische Mission, die bis heute andauert (Stichwort: Demokratieexport). Aber auch in der Dritten Welt haben sich schon vor geraumer Zeit Stimmen erhoben, die das Konzept der Nation für ihre Verhältnisse als ungeeignet ansahen. Zu sehr wirkte es homogenisierend und damit unterdrückend, denn Nationen im europäischen Sinn gab es oftmals nicht einmal im Ansatz. So weit so gut.

Nun setzte nach 1989/91 die Kampagne der Eliten zur Globalisierung ein. Wie mit einem Bulldozer sollte der Widerstand der Staaten und Nationen gegen den Siegeszug des freien Marktes niedergewalzt werden. Der Westen vereint hinter den USA gegen den Rest der Welt. Der Nationalismus hatte als Legitimationsideologie ausgedient. Dabei bedienten sich die Neoliberalen nicht ungern auch Versatzstücke linker Ideologie. Nicht umsonst nannten sie sich ab und an sogar "Internationalisten". (In einer Reihe von zahlreichen anderen Begriffen, die sie in ihr Gegenteil verkehrten.) Sie versuchten durchzuführen, was Marx im Kommunistischen Manifest als die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie bezeichnete: alle sich dem Weltmarkt entgegenstellende Hindernisse mit Gewalt aus dem Weg zu räumen, alle Subjekte aus ihren althergebrachten Bindungen zu befreien und über den Weltmarkt direkt zu assoziieren. Die Nationen und Nationalstaaten konnten dabei nur stören.

Das reflektiert sich übrigens auch im Weltrechtsprinzip, ebenfalls so ein Recyclingprodukt linker Versatzstücke, betrieben vom herrschenden Linksliberalismus. Das auf der nationalen Souveränität beruhende System des Völkerrechts, das als Subjekte nur Staaten kennt, soll zugunsten eines Prinzips ersetzt werden, wo das einzelne Subjekt einem Weltgericht gegenübersteht. Wenig erstaunlich, dass als Richter die globale Oligarchie selbst posiert. Bezeichnend ist dabei die Tatsache, dass die USA nicht einmal das akzeptieren, denn für sie ist es undenkbar, dass Nichtamerikaner über sie richten.

Ziel ist, Politik überhaupt im Markt aufzulösen. Markt und Demokratie werden zu Synonymen. Dem Staat soll die Prärogative, das Vorrecht der Politik, die zumindest formal mit der Souveränität des Volkes legitimiert werden, gänzlich entzogen werden. Seine Aufgabe bleibt einzig die Verteidigung der Oligarchie - durch Repression und neuerdings durch Geldgeschenke.

Erschüttert nicht die gegenwärtige kapitalistische Wirtschaftskrise die antistaatliche Verve der Eliten? Könnte sie nicht letztlich zur offiziellen Rehabilitierung des Staates führen? Sicher, die Marktreligion hat viel Glaubwürdigkeit verloren. Wenn die Eliten sich Billionen vom Staat holen, warum müssen dann die Subalternen darben? Tatsächlich wird der Druck zu keynesianistischer Staatsintervention größer. (Die bisherigen Bankenrettungen haben mit Keynes jedoch denkbar wenig zu tun.) Dennoch wird das globale Freihandelsregime bisher noch nicht angezweifelt. Aber das kann noch kommen.

In diesem Kontext wird der zumindest ambivalente Charakter der Konzepte, die Politik jenseits von Staat und Nation konzipieren, augenfällig. Die Krise muss die Zweifel sogar noch verstärken. Nicht um die Macht im Staat zu kämpfen bedeutet, sie schlicht der Oligarchie zu überlassen, denn ignorieren kann man getrost die Machtlosen, die wirklich Mächtigen jedoch nicht.

Zuerst einmal das Offensichtliche: Insbesondere an der Peripherie ist die Entfernung der Oligarchie von den Schalthebeln des Staates die einzige Möglichkeit sich vor dem ständigen Zugriff des Imperialismus zu schützen. Nicht umsonst beantwortet dieser jeden bedeutenderen derartigen Versuch mit militärischer Gewalt. Politik, die nicht darauf abzielt letztlich den Staat in die Hand zu bekommen, ist im besten Fall impotent und illusionär. Ausgangspunkt sind dabei notwendigerweise die gegebenen Territorialstaaten und (mit Einschränkungen) auch die Nationen.

Gerade in der Peripherie gibt es kaum Nationen, die mit den europäischen vergleichbar wären. Nicht nur, dass deren Grenzen von den Kolonialisten auf dem Reißbrett gezogen wurden, ohne Berücksichtigung bestehender Entitäten. Das ist nur der offensichtlichste Ausdruck dessen, dass die Staats- und Nationsbildung vor allem unter den Bedingungen äußerer Intervention stattfindet.

Selbstbestimmung heißt heute zu allererst das Selbstbestimmungsrecht der Völker (auch jener, die keine Nationen sind) gegen den Imperialismus zu verwirklichen. Das ist der wichtigste Hebel zur Entmachtung der globalen Oligarchie. Das schließt sowohl die Verteidigung jener Staaten mit ein, die sich gegen den Imperialismus auflehnen, als auch das Recht der Völker und Nationen sich zu neuen Staaten zu konstituieren.

Hier kann wieder eine berechtigte Kritik einsetzen: Die Durchsetzung der Selbstbestimmung kann zu einer zunehmenden Zersplitterung größerer Staaten führen, die dementsprechend weniger Widerstand gegen den Imperialismus zu leisten vermögen. Nach dem Motto Teile-und-Herrsche fördert der Westen sogar Sezessionen.

Die Antwort darauf ist jene, deren Grundprinzip schon Lenin formuliert hat. Was wirklich zählt, ist letztlich die Völkerverständigung, die nur auf der Basis der Selbstbestimmung möglich ist. Ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis ist nur ohne systematische Unterdrückung möglich. Daraus kann sich dann ein größerer und festerer Zusammenschluss auf höherer Ebene ergeben.

Dazu muss aber das homogenisierende Konzept von Nation verworfen und durch ein einschließendes, Diversität und Differenz zulassendes ersetzt werden. In einem Staat müssen mehrere Nationen, Nationalitäten oder andere kollektive Identitäten und Entitäten Platz finden.

Das scheint auch ein Weg zu sein, alte kollektive Lebensformen wie beispielsweise bei den indigenen Gemeinschaften in Amerika oder Indien, viel mehr noch in Afrika zu erhalten und für die moderne Gesellschaft zu adaptieren. Es gibt natürlich auch Stimmen von außerhalb dieser Gemeinschaften, die dafür plädieren, diese Gemeinschaften überhaupt isoliert zu halten und die ihnen von der Anpassung abzuraten. Doch auch das ist eine Illusion, denn diese vollbringt bereits die blinde, zerstörerische, alles durchdringende Quasinaturgewalt des Weltmarktes. Es kann nur darum gegen die Integration in die Welt anders zu gestalten, sie aufzuhalten ist unmöglich.

In einer Nation können eventuell auch mehrere Nationen Platz haben, ohne sich aufzulösen. Das alte sozialistische Jugoslawien war dafür vielleicht das fortgeschrittenste Experiment. Erwachende Nationen wurden ohne sie aufzulösen eine Zeit lang in einer höheren, gesamt-jugoslawischen vereinigt. Die Gründe für das Scheitern liegen nicht vor allem in der Nationalitätenpolitik, sondern sind jenen, die auch die Sowjetunion zur Fall brachten, ähnlich. Dass sich das eine vom anderen nicht ganz trennen lässt, ist indes selbstverständlich. Das größte Problem der titoistischen Politik lag meines Erachtens darin, dass Selbstbestimmung an Territorium geknüpft wurde, trotz der Tatsache, dass die Nationalitäten vermischt lebten bzw. die Einsprengselungen historische Ursachen hatten, die noch nachwirkten und teilweise im kollektiven Bewusstsein noch Präsenz aufwiesen. Der Fehler geht bereits auf Lenin zurück, der Selbstbestimmung nur territorial konzipierte (und das gegen Otto Bauer aus gutem Grund, aber das würde hier zu weit führen).

Doch was bleibt von der alten marxistischen Idee der Aufhebung des Staates zumindest nachdem der Kapitalismus auch in seinen Zentren überwunden werden konnte?

Eins scheint klar: Wenn es den Imperialismus nicht mehr geben sollte, wenn also die Hauptquelle der globalen Konflikte endlich beseitigt sein wird, dann kann die Tendenz zur Zentralisierung, die die Konfrontation mit dem Imperialismus organisch erzwingt, zurückgenommen werden. Das Prinzip der Subsidiarität, der möglichst lokalen Selbstverwaltung, selbst des Rückbaus globaler ökonomischer Strukturen, kann sich nun voll entfalten. Der Zentralstaat muss einem verschachtelten System von Selbstverwaltungsorganen unterhalb der Nationsebene, aber auch oberhalb Platz machen. Damit muss wohl auch die Bedeutung der Nationen selbst zurückgehen. (Das darf nicht heißen, dass es nicht schon vorher in diese Richtung gehen darf. Es muss sogar. Aber im Hintergrund wird immer das aus dem Konflikt mit dem Imperialismus resultierende zentralisierende Moment wirksam bleiben.)

Marxistisch gesprochen, soll sich der Staat als Instrument des Klassenkonfliktes intern und vor allem extern überlebt haben. Das bedeutet aber nicht, dass sich damit Politik als bewusste Gestaltung der Gesellschaft aufhört. Im Gegenteil, die emanzipierte Gesellschaft kann nur als eine auf das äußerste politisierte Gesellschaft gedacht werden. Marx hatte sich den allseitigen Menschen nur als jenen vorstellen können, der seine eigene Gesellschaft ständig bewusst selbst produziert.

Da es die globale Polis nicht geben kann, bleibt Repräsentation in der Politik eine unumgängliche Notwendigkeit. Im Rahmen der spezialisierten Arbeitsteilung ist ein System ohne professionelle, berufsmäßige Politik nicht denkbar. Wenn man den Staat als Ausdruck dieser Form der Politik versteht, dann bleibt er eine anthropologische Konstante.


10. Gemeinschaft, Ethik und Neuer Mensch

"Homo homini lupus est". Der Mensch ist des Menschen Wolf, sagt Thomas Hobbes im "Leviathan" und begründet damit eine grundlegende ethische Prämisse des Liberalismus. Nach dieser überwiegen immer die Interessen des Einzelnen und gegenüber dem Anderen ist der Mensch moralisch schlecht. Dieses Theorem blieb bis zuletzt einer der Kernargumente des alten Bürgertums gegen den Kommunismus.

Dem könnte man eine einfach invertierte, ins Positive gekehrte Anthropologie entgegensetzen, was vielfach auch getan wurde. Marx selbst sieht in seinen Frühschriften die Gemeinschaftlichkeit im Wesen des Menschen begründet, der sich allerdings noch seiner Entfremdung entledigen müsse.

Wir wollen da vorsichtiger vorgehen. Wir behaupten lediglich, dass der Mensch zur Gemeinschaft fähig sein kann, wenn er die dafür notwendigen Rahmenbedingungen vorfindet. Wenn er erlebt, als Mitglied der Gemeinschaft anerkannt zu werden, dann hat er alles Motiv, sich gegenüber anderen reziprok zu verhalten. Bedingungen und Verhaltensweisen stehen jedenfalls in einer Wechselwirkung zu einander. Die Gemeinschaftlichkeit stellt sich als bewusste, kontingente Kulturleistung dar, zu der eine dazugehörige Ethik entwickelt und verbreitet werden muss. Eine emanzipierte, selbstbestimmte Gesellschaft ist also nur mit einem veränderten, neuen Menschen möglich, der einer gemeinschaftlichen Ethik verpflichtet ist. Selbstbestimmung und Gemeinschaft sind nur zwei Aspekte ein und derselben Sache, die bedeutet, individuelle Interessen mit kollektiven in Einklang zu bringen.

Wie wir gesehen haben, gibt es aber nicht nur ein globales Kollektiv Menschheit, sondern zahllose Untergliederungen in unterschiedliche kollektive Subjekte, die sich immer auch gegenüberstehen können. Emanzipation bedeutet, dass die legitime Selbstaffirmation den anderen ebenfalls zukommt. Gemeinschaftlichkeit kann nicht bedeuten, die jeweils eigene Gemeinschaft anderen über- oder unterzuordnen, sondern dem Anderen die gleichen Rechte zuzugestehen. Gemeinschaftlichkeit funktioniert letztlich nur, wenn sie universell konzipiert wird, also allen Menschen zukommt, auch ohne die globale Polis.


11. Verfügung über produktiven Apparat

Nach einem weiten Bogen über die Konzepte der der politischen Organisation kehren wir unter einem neuen Blickwinkel zur Frage der Wirtschaft zurück.

Es ist offensichtlich, dass der produktive Apparat des Kapitalismus nicht so ohne weiteres in ein emanzipatorisches System übernommen werden kann. Zu sehr ist er von der spezifisch kapitalistischen Form der Jagd nach Profit geprägt. Umbauten im Sinne der Interessen der Mehrheit sind auf vielen Ebenen notwendig.

Schon lange thematisiert ist die drohende ökologische Katastrophe. Eigentlich hat diese schon längst begonnen und es geht vielmehr um die Minimierung der Schäden oder gar nur die Abwendung der Selbstvernichtung.

Wenn nun die Oligarchie entmachtet wird (wenn vorerst nur in Teilbereichen), dann wechselt das treibende Prinzip der Produktion. Die Verteilung der Ressourcen erfolgt dann entsprechend politisch festgelegten Kriterien. Eines davon muss sein, dass Produktion und entsprechende Aneignung sowie Konsum auf der möglichst untersten, lokalen Ebene erfolgt und damit einer weitestgehenden direkten Kontrolle und Steuerung durch die Produzentenkonsumenten selbst unterworfen werden kann. Diese unmittelbare Selbstverwaltung, die die gesellschaftliche Arbeit in direkte Deckung mit dem eigenen Interesse bringt, gibt auch ohne neue Ethik und Moral ein sehr starkes Motiv für Engagement ab. Dafür kann durchaus auch in gewissen Maßen ein Absinken der Produktivität in Kauf genommen werden.

Insgesamt bedarf es der Dämpfung der Globalisierung, des Zurückfahrens der Großstrukturen, der Einschränkung der internationalen Arbeitsteilung auf das möglichst geringste Maß, denn je kleiner desto direkter die Kontrolle. Ganz verzichtet kann auf die Großindustrie jedoch nicht werden, denn es ist nicht anzunehmen, dass die bereits geschaffenen Bedürfnisse der gegenwärtigen Zivilisation gänzlich zurückgeschraubt werden können. Wünschenswert wäre es vielmehr, sie in eine vernünftige Richtung zu lenken. Der Charakter der Gesellschaft als globaler, als eine Welt, ist zum unverrückbaren Faktum geworden.

Der Konsumismus ist zwar ein globales Muster, dem auch die Ärmsten folgen, doch das darf darüber nicht hinwegtäuschen, dass die Mehrheit der Menschen Mangel leidet. Wie geht man mit der Tatsache um, dass es im Slum oft statt der Reis- die Satellitenschüssel gibt? Ist es zu verurteilen, dass die, die nichts haben, zumindest Drogen konsumieren wollen? Nur dort, wo offensichtlicher Überfluss herrscht, lässt sich der Konsumismus frontal angreifen. Anderswo ist die Grenze zwischen Konsum und konsumistischem Auswuchs nur schwer zu ziehen, um so mehr als sie nicht verordenbar, sondern von den Menschen selbst zu wählen ist.

Insgesamt bedarf es der Dämpfung der Globalisierung auf das möglichst geringste Maß, denn je kleiner desto direkter die Kontrolle.

Jede Revolution an der Peripherie (und vermutlich nicht nur dort) wird zuerst einmal (zum größten Teil legitimer Weise) mit einem schier unstillbaren Konsumhunger konfrontiert sein. Klar, die Bedürfnisse müssen umgebaut werden, ein neues Wertesystem geschaffen werden. Soziale Anerkennung kann nicht mehr zuerst über materielle Symbole vermittelt werden. Doch all das braucht Zeit und darf nicht von oben dekretiert werden. Der Traum vom Mercedes Cabrio hat sich als hartnäckig erwiesen, auch ganz unten. Man darf unterstellen, dass selbst die Aktivisten von al Quaida trotz all der Verheißungen des Paradieses gegen diese irdischen Verlockungen nicht immun sind.

Das Problem der Arbeitsproduktivität, unter dem auch der Realsozialismus litt, bleibt also eminent wichtig. Der Produktivität kann und darf nicht alles andere untergeordnet werden, die politische Beteiligung, Selbstbestimmung, ja Selbstverwirklichung der Massen hat unbedingten Vorrang. Das um so mehr als die politische Motivation gleichzeitig Motor der Produktion ist. Aber wenn die materiellen Bedürfnisse der Massen auf Dauer nicht gestillt werden können, dann kann das ebenfalls zu einer politisch gefährlichen Abwendung führen.

Zudem ist die Produktivität ein wesentlicher Faktor dafür, die notwendige Arbeitszeit zu reduzieren. Kürzere Arbeitszeiten geben einer der wesentlichen Maßstäbe der Emanzipation und Freiheit ab. Sie stoßen den Weg zur Bildung und Politik für die Massen auf. Es stimmt, dass es ein Ziel sein muss, die kapitalistische Trennung von Arbeit und Freizeit aufzuheben, doch das ist der Endpunkt eines langen Weges. Die Verkürzung der Arbeitszeit liegt hingegen ganz am Beginn dieses Weges.


12. Aufhebung der Arbeitsteilung

Ein ganz prominentes von Marx proklamiertes Ziel ist die Aufhebung der Arbeitsteilung, weil diese letztlich die Wurzel der sozialen Stratifizierung bildet. Marxens Ausspruch, dass er am "Vormittag jagen, am Nachmittag fischen und am Abend kritisieren" wolle, tendiert zu einer Fehlinterpretation dahingehend, dass die funktionelle Arbeitsteilung überhaupt aufgehoben werden solle. Das würde das Ende der Industriegesellschaft überhaupt bedeuten, was niemals in Marxens Sinn gelegen wäre.

Vielmehr muss es darum gehen, dass jeder Mensch über sein Leben hinweg eine Vielzahl von Professionen erwerben und Tätigkeiten ausüben kann, so dass letztlich die hierarchisierten Kasten Arzt und Putzfrau verschwinden. Insbesondere soll sich jeder in der professionellen Politik versuchen können. Zudem sollen die notwendigen Tätigkeiten, die heute das geringste Sozialprestige aufweisen, auf alle verteilt werden. In einer armen, unproduktiven Gesellschaft käme das einer unzulässigen Verschwendung von Reichtum gleich. Für eine produktive Gesellschaft stellt das die Freiheit dar, die erst Gleichheit der Möglichkeiten und damit die Gemeinschaft herstellen kann - eine Freiheit, die ihrerseits wieder zu mehr Produktivität anspornt.

Die Arbeit soll so weitgehend als möglich vom Zwang der Notwendigkeit befreit zu einer Form der Selbstverwirklichung, der freien Lebensäußerung, der Selbstbestimmung werden.

Erst mit dieser Aufhebung der lebenslangen Arbeitsteilung kann auch die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern hergestellt werden. Denn erst wenn die Kindererziehung beiden Geschlechtern gleichermaßen obliegt, kann das Unterdrückungsverhältnis aufgehoben werden.


13. Übergang und Dissens

Bei der bisherigen Darstellung sind wir überall auf das Problem des Übergangs von den gegenwärtigen Verhältnissen inklusive der kulturellen und psychologischen Konstitution der Individuen selbst hin zur angestrebten neuen Ordnung gestoßen. Das ist notwendigerweise so. Jede Theorie einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus muss als Kernstück die Möglichkeiten und Schwierigkeiten dieses Übergangs behandeln. Alles andere ist politisch wertlose Träumerei.

Ein Problem bisheriger Übergangsgesellschaften war, dass Maßnahmen meist von oben verordnet wurden und nicht auf Freiwilligkeit beruhten. Das war vielfach der Zwangslagen geschuldet, in denen sie sich befanden. Allerdings wurde aus dem Ausnahmezustand Normalität. Hat man zu einer gewissen Stabilität gefunden und scheint die Existenz des Systems nicht tagtäglich akut bedroht, dann muss man der breiten Bevölkerung zunehmend Raum geben, sich demokratisch auszudrücken. Dazu gehört es unbedingt auch Dissens zuzulassen. Konflikt zu erlauben und damit zu absorbieren, zeigt nicht die Schwäche, sondern im Gegenteil die Stärke eines Systems an.

Damit müssen von den revolutionären Kräften für notwendig oder wünschenswert gehaltene Maßnahmen nicht mehr vom Staat für alle angeordnet werden, sondern man kann sie als freiwilliges Experiment vorantreiben, das mit seinem Beispiel wirkt. Das gilt insbesondere dann, wenn es sich um kulturrevolutionäre Unternehmen handelt, die das alte Wertesystem in Frage stellen.

Ein Problem bisheriger Übergangsgesellschaften war, dass Maßnahmen meist von oben verordnet wurden und nicht auf Freiwilligkeit beruhten.

Hält man die Aufspreizung der Löhne als Motivation für eine Mehrheit oder zumindest gewisse Gruppe für notwendig, können andere Sektoren zu einem weniger materiell geprägten System der Anreize übergehen. Oder man bietet kürzere Arbeitszeiten, dafür aber auch weniger Anteil am Gesamtprodukt.

So können die verschiedenen Sektoren in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und über unterschiedliche Wege in Richtung einer neuen Gesellschaft gehen. Entscheidend ist dabei, dass sie selbst entscheiden, selbst über sich bestimmen. So können Unterschiede, kann Differenzierung letztlich zu mehr und nicht zu weniger Konsens beitragen.

Zu guter Letzt: Ein entscheidendes Problem der Vergangenheit war die exklusive Macht der revolutionären Partei über den Staat. Der Staat, bedroht durch den äußeren Feind des Imperialismus und durch enorme innere Konflikte, wurde zum Bonaparte, der von oben den Kompromiss vermittelte. Opfer davon war die revolutionäre Partei selbst, deren Legitimität sich der verselbständigte Staatsapparat bediente. Auch so lässt sich der Stalinismus erklären.

Nach den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts scheint der postkapitalistische Staat als Resultante verschiedenster Interessen, nicht nur der revolutionär-kollektivistischen, eine unumgängliche Notwendigkeit. Wenn also die revolutionäre Partei vom Staat verschlungen zu werden droht, dann drängt sich die Idee auf, die Partei vom Staat zu differenzieren. Das heißt nicht, dass die Partei nicht entscheidenden Einfluss auf diesen ausüben soll. Doch sie muss darstellen, dass auch andere Kräfte wirken, diesen auch Artikulationsmöglichkeiten einräumen, um sich von ihnen auch entsprechend distanzieren glichkeiten einräumen, um sich von ihnen auch entsprechend distanzieren zu können. Anderenfalls wird die Partei, im Versuch die anderen zu unterdrücken, ein vermitteltes Organ jener vermeintlich ausgeschalteten Interessen. Es wäre nicht zum ersten Mal in der Geschichte, dass schließlich die Sieger das Programm der Besiegten auszuführen gezwungen sind.

Eine Übergangsgesellschaft hin zur Emanzipation muss auf die Dauer artikulierten Dissens, das heißt Parteien zulassen. Das erste Opfer der vorgeblich konfliktlosen Gesellschaft, wie sie Stalin mittels des Gulags zu etablieren versuchte, ist die revolutionäre Partei selbst. Diese braucht zu ihrer Existenz selbst das manifeste Gegenüber, von dem sie sich abgrenzen kann, gegen das sie mit den probaten Mitteln kämpfen kann. Andernfalls geht sie unweigerlich ihres revolutionären Charakters verlustig.

Die Revolution ist immer ein gewaltsamer diktatorischer Akt, zumindest gegenüber der alten Herrschaft. Sie erfordert per se höchste Zentralisation, sei es Einparteienherrschaft oder gar Militärdiktatur. Doch die demokratisierenden Maßnahmen müssen halbwegs schnell folgen, sonst ist die Revolution zum Tode verurteilt. Ohne Pluralismus, ohne die Artikulation verschiedener Ideen, ohne letztlich die Zulassung ihrer Organisation in Parteien kann es keinen Übergang zu einer emanzipierten Gesellschaft geben.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Der sozialistische Arbeitsethos hat Patina angesetzt, eine moderne Alternative fehlt.

Raute

AKTIVISMUS

Solidarität statt Almosen

Aufbauarbeit in einem Flüchtlingslager im Libanon

Von SUMUD

Die internationale Organisation SUMUD hat im palästinensischen Flüchtlingslager Ein el-Hilweh ein Zentrum aufgebaut. Ein Beispiel für gelebte Solidarität.


Von Mitte August bis Anfang September führte die antiimperialistische Hilfsorganisation SUMUD einen Volontariats-Einsatz im südlibanesischen Flüchtlingslager Ein el-Hilweh durch. Im Gegensatz zum Vorgehen herkömmlicher Entwicklungshilfeorganisationen und NGOs ging es dabei jedoch nicht darum, auf paternalistische Art und Weise Almosen zu verteilen und die westlichen Werte zu verbreiten, sondern darum, gemeinsam mit den Verlierern dieser imperialistischen Weltordnung für eine Überwindung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu kämpfen.

Konkret ging es bei dem Arbeitseinsatz um den Aufbau eines Jugend- und Kulturzentrums im palästinensischen Flüchtlingslager Ein el-Hilweh in der südlibanesischen Stadt Saida - ein Projekt das von den Organisatoren nicht zufällig ausgewählt worden war, machen die Flüchtlinge im Libanon doch eine der am stärksten diskriminierten Gruppen der palästinensischen Diaspora überhaupt aus.

Offiziell leben rund 400.000 registrierte palästinensische Flüchtlinge im Libanon - die tatsächliche Zahl ist wesentlich größer. Die meisten leben in zwölf Flüchtlingslagern. Sie leiden unter Bedingungen, die noch schlimmer sind als die Situation für die Flüchtlinge in vielen anderen Ländern, viele von ihnen leben unter der Armutsgrenze, und die libanesische Regierung begrenzt ihre Rechte massiv. So ist es zum Beispiel verboten, einer Vielzahl an Berufen nachzugehen, und es ist nicht erlaubt, eigenen Immobilienbesitz zu erwerben. Am schlimmsten steht es um die Bildung junger Palästinenser/innen: Seit den Oslo-Abkommen ist die Hilfe durch die UNRWA (die UN-Einrichtung für die palästinensischen Flüchtlinge) stetig gefallen, es gibt immer weniger Lehrer, die Infrastruktur verfällt und der Universitätsbesuch wird für die meisten Menschen zu einem unerreichbaren Traum.

Das Flüchtlingscamp Ein el-Hilweh liegt nahe Saida und ist das größte Lager im Libanon. Offiziell leben hier 45.000 Flüchtlinge, inoffiziell bis zu 100.000. Die libanesischen Behörden erzwingen eine wirtschaftliche, soziale und politische Blockade um das Lager, verbunden mit einer Politik der Entvölkerung. Die Einwohner leiden zusätzlich unter Konflikten, die von Zeit zu Zeit zwischen verschiedenen politischen und religiösen Gruppen des Lagers entstehen.

Die Jugend des Lagers sieht sich isoliert, kriminalisiert und jeder Zukunft beraubt: Ihre Hoffnung auf eine gerechte Lösung der Flüchtlingsfrage (das Recht auf Rückkehr) schwindet mehr und mehr. Die Bedeutung eines Jugendzentrums, das diesem Zerfallsprozess etwas entgegensetzen kann liegt somit auf der Hand.

Gelebte Solidarität ...

Das Gebäude in dem das Zentrum entstehen sollte ist ein ehemaliges Büro der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), das von israelischen Raketen halb zerstört worden war. Die diesjährige Arbeitsbrigade hatte daher vor allem die Aufgabe, das Gebäude zu renovieren, was durch die gute Zusammenarbeit mit der libanesisch-palästinensischen Jugendorganisation Nashet auch weitgehend gelang. Im Laufe der zwei Wochen wurden unter anderem alle Wände neu verputzt und gestrichen, die Elektrik wieder in Stand gebracht, ein neues Badezimmer eingerichtet, sämtliche Türen und Fensterrahmen neu gestrichen sowie eine Überdachung für den Hof errichtet. Abgesehen von einigen Kleinigkeiten kann die Renovierung somit als abgeschlossen betrachtet werden. Nun geht es darum, die Räume zu möblieren, sodass so bald wie möglich mit dem Unterricht begonnen werden kann. Geplant sind Kurse für Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren, die teils von lokal ausgebildeten Lehrern auf Arabisch und teils von europäischen Freiwilligen auf Englisch gehalten werden sollen. Außerdem sind für die Sommermonate Arabischkurse für europäische Volontäre sowie eine Vielzahl an sozialen und kulturellen Aktivitäten geplant.

... und mehr

Für die 18 Volontäre, die Mitte August aus Italien, Österreich, Deutschland und England in den Libanon kamen war die praktische Arbeit am Gebäude jedoch nur ein Teil ihrer Mission. Ebenso wichtig waren die Treffen mit Vertretern politischer Parteien und anderer Organisationen, um sie der Solidarität der antiimperialistischen Bewegung in Europa zu versichern und von ihnen mehr über die Situation vor Ort zu erfahren. Das Spektrum der Gesprächspartner reichte hierbei von libanesischen Parteien, wie der Volksdemokratischen Partei und der Nasseristischen Volkspartei, über NGOs wie die "Youth Advocacy Policy", die einen Workshop über die Situation der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon abhielt, bis hin zu den palästinensischen Organisationen PFLP, Fatah, Hamas und Islamischer Dschihad. Ergänzt wurden die politischen Gespräche durch weitere Aktivitäten wie die Teilnahme an einer Gedenkfeier für Abu Ali Mustafa, den ehemaligen Generalsekretär der PFLP, der 2001 von den Zionisten ermordet wurde, und einem Tagesausflug in den von Israel 2006 (erneut) zerstörten Südlibanon.

Mehr Infos: www.sumud.org

Raute

REZENSIONEN

Muslimgauze: Der gefallene Kämpfer

Die Künstler-Szene der Gegenwart zeichnet sich heute oft dadurch aus, dass sie betont, wie unpolitisch sie sei. Sänger und Musiker distanzieren sich von jeglichen mutigen politischen Aussagen und predigen den "Mittelweg", um negative Berichterstattung zu vermeiden. Das genaue Gegenteil davon war Muslimgauze.

Muslimgauze zählte nicht zur Mainstream-Musikindustrie - er galt und gilt vielmehr als Geheimtipp. Besonders politisch engagierte Menschen und Aktivisten wünschten sich, öfter derartige Musik hören zu dürfen. Verkörpert wurde Muslimgauze durch den in Manchester ansässigen Musiker und DJ Bryn Jones. Selbst wenn man elektronische Musik nicht mag, lohnt sich ein kurzer Blick auf Muslimgauze, einen der kompromisslosesten pro-arabischen Musiker unserer Zeit:

"Das Musikprojekt wurde lanciert, als Israel den Libanon besetzte. Die Weltgemeinschaft reagierte nicht wie in den Fällen, als China Tibet, Russland Afghanistan oder Irak Kuwait besetzte. Der Haupteinfluss von Muslimgauze sind die politischen Fakten des mittleren Osten, die kompromisslose Unterstützung der PLO/Hamas bildet das Rückgrat - direkte Aktionen aller Formen sind gerechtfertigt." (1)

Jedes veröffentlichte Album ist von einem bestimmten Ereignis inspiriert, die Albumtitel sind klare politischen Statements - 1983: Kabul, 1987: Jazirat-Ul-Arab, 1988: The Rape of Palestine, 1990: Intifada, 1991: United States of Islam, 1993: Vote Hezbollah, 1997: Gulf Between US, 1998: Vampire of Tehran. Alle beinhalten starke und provokative Lieder und Coverbilder. Seine Kompositionen bauen hauptsächlich auf Klangfragmenten, rhythmischen Spiralen und auf viel Perkussion auf, ziemlich lo-fi.

Ein interessanter Aspekt des Projektes Muslimgauze ist, dass Bryn Jones meinte, keine musikalischen Vorbilder zu haben, sondern nur durch politische Fakten und Persönlichkeiten, wie Arafat, Gadaffi, Bhutto, Khaled, Saddam etc. inspiriert worden zu sein. Und er war sich seiner ungünstigen Position bewusst: "Sobald man eine pro-arabische Position einnimmt, schließen sich die Türen. Die Medien sind vollkommen anti-arabisch." (2)

Bryan Jones äußert seine Meinung in einer selten gewagten und mutigen Art: "Die Zukunft der Weltpolitik hängt davon ab, ob die Menschen in Palästina befreit werden oder die israelische Unterdrückung fortgesetzt wird. Alle so genannten "Friedensgespräche" werden scheitern, solange die besetzten Gebiete nicht aufgegeben werden, um den Prozess des totalen israelischen Rückzugs zu starten. Dieses Regime hat alle Menschenrechte gebrochen." Und weiter: "Die PLO und die Hamas sind keine Terroristen. Sie kämpfen um Land, das ihnen genommen wurde. Sogar der engstirnige Zionist-Fanatiker weiß, dass sie das Land nur für eine gewisse Zeit ausgeliehen haben." (3)

Bryan Jones starb 1999 im Alter von 37 Jahren. Er war nie in Palästina, weil er meinte: "Ich würde nie in ein besetztes Land gehen, wie das auch andere nicht tun sollten. Zionisten, die auf arabischem Land und Wasser leben, sind keine Touristenattraktion. An einem Ort gewesen zu sein, ist nicht wichtig. Oder kann man nicht gegen die Apartheid sein, ohne in Südafrika gewesen zu sein? Kann man gegen Serben sein, welche bosnische Muslims töten, ohne dort gewesen zu sein? Ich denke schon." (4)

Charlotte Malterre


Anmerkungen

1) Interview von Erik Bennedorf und Annibale Picicci. Das Interview ist erschienen in Artefakt #2 (Februar 1997)
2) idem
3) Interview von Rena. Das Interview ist erschienen in Industrial Nation, Issue 9, Summer 1994
4) Marc Urselli-Schaerer. "Chain D.L.K. Interview". Chain D.L.K. (5).


*


Civikov, Germinal: Srebrenica. Der Kronzeuge,
Wien: Promedia Verlag, 2009 (184 S., br., 15,90 Euro, ISBN 978-3-85371-292-4)

Am 5. März 1998 wurde der bosnische Kroate Drazen Erdemovic vom Jugoslawien-Tribunal zu fünf Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, er saß davon dreieinhalb Jahre ab und lebt heute als freier Mann. Erdemovic bekannte sich des Verbrechens schuldig, am 16. Juli 1995 im Rahmen eines Massakers an 1200 muslimischen Zivilisten auf der Branjevo-Farm unweit von Zvornik 70 bis 100 gefangene Bosnier getötet zu haben. Dabei sei ihm als einfachem Mitglied der 10. Sabotageeinheit der bosnisch-serbischen Armee (VRS) keine Wahl geblieben als zu töten, um nicht selbst getötet zu werden, sagte Erdemovic. Die Richter zeigten Verständnis, viel Verständnis und Nachsicht, denn sie hatten in Erdemovic den Kronzeugen gefunden, den ihr Tribunal brauchte, um diejenigen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu verurteilen, die für sie die Kriegsverbrecher im Jugoslawien-Krieg waren.

Die Geschichte von Erdemovic begründete den internationalen Haftbefehl gegen Karadzic und Mladic und Erdemovic war Zeuge der Anklage in vier Prozessen: "Am 5. Mai 1996 gegen Radovan Karadzic und General Ratko Mladic, am 22. Mai 2000 gegen den bosnisch-serbischen General Radislav Krstic, der wegen Völkermords bei Srebrenica zu 46 Jahren verurteilt wurde, am 25. August 2003 gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic und am 7. bis 8. Mai 2007 gegen Vujadin Popovic und sieben weitere Offiziere der bosnisch-serbischen Armee." (S. 33)

Was veranstaltet wurde, um einen für die politischen Zwecke des Tribunals brauchbaren Kronzeugen zu fabrizieren, könnte man kaum glauben, hätte es der Autor Civikov nicht akribisch recherchiert und mit Quellenangaben belegt. Was als eines der mutmaßlich grausamsten Kriegsverbrechen in Europa nach 1945 in die bisherige Geschichte einging und wer dafür verantwortlich zu machen war, wurde von einem Kronzeugen erzählt und definiert.

Laut Civikovs Recherchen ist diese Erzählung und Definition so widersprüchlich und die Vorgangsweise der Richter des Tribunals so fahrlässig - gemessen an den herkömmlichen Standards bürgerlichen Rechts -, dass die Geschichte Menschen, die noch an eine Form von Gerechtigkeit des Tribunals glauben, zutiefst erschüttern könnte, sollten sie sich in die Lektüre des Buches vertiefen. Für diejenigen, die nicht daran glauben, ist es nicht minder spannend zu lesen, was an Gerichtsbarkeit und Urteilssprüchen in Zeiten wie diesen durchgeht.

Ein paar Beispiele für die Vorgangsweise des Tribunals seien hier angeführt: Als Datum für das Massaker auf der Branjevo-Farm wird von Erdemovic immer wieder der 20. Juli 1995 angegeben, dann wird es der 16. Juli 1995, wie es in der Anklageschrift steht. Der plötzlichen Verschiebung wird nicht nachgegangen, obwohl es der Tag der Erschießung von 1200 Gefangenen war. (vgl. S. 35)

Die genaue Schilderung der Erschießung von 1200 Menschen in fünf Stunden bleibt konstant und widerspruchsfrei, doch laut Autor ist das Hauptproblem die Glaubwürdigkeit. Rein rechnerisch und "technisch" scheint es fast unmöglich, in der von Erdemovic beschriebenen Art und Weise 1200 Menschen - in Bussen hingebracht, in kleinen Gruppen abgeführt, mit Pausen dazwischen - in fünf Stunden zu erschießen. (vgl. S. 44, S. 58) Diese Überlegungen zu Massenmorden überhaupt anzustellen scheint verwerflich. Sie werden angestellt und auch hier wiedergegeben, um auch bei dieser Kernaussage das Vorgehen des Tribunals zu zeigen. Es werden keine Fragen gestellt, weil es anscheinend nicht um Aufklärung sondern um die politischen Ziele des Tribunals geht. Da werden auch 1200 ermordete muslimische Zivilisten Mittel zum Zweck.

Unklar bleibt, wer jetzt wirklich als letztes Glied das Kommando der Einheit hatte, die die Exekutionen auf Befehl des Generalstabs der bosnisch-serbischen Armee durchführte. Ein einfacher Soldat? Welchen Rang hatte Erdemovic selbst? Auch darüber macht er widersprüchliche Angaben. Auch hier übergehen die Richter die offenen Fragen. Erdemovic nennt die Namen der anderen Mitglieder der Einheit. Warum wird keiner von diesen befragt?

Braucht ein politischer Prozess nicht einmal mehr den Anschein von Versuchen der Wahrheitsfindung?

Um diese Fragen geht es Civikov. Er stellt nicht die Massenmorde in Frage, sondern die Vorgangsweise des Jugoslawien-Tribunals, das politische Prozesse veranstaltet, wo jedes Mittel recht ist, das zu den Verurteilungen führt, die gewünscht werden.

Schlussbemerkung: Ramush Haradinaj, ehemaliger Kommandant der kosovarischen Untergrundarmee UCK wurde für Morde an Serben und Albanern in den Jahren 1989 und 1999 im Kosovo angeklagt; 25 Jahre Haft wurden gefordert. 34 Zeugen sagten unter besonderem Schutz aus, aber letztlich war die Beweisführung nicht ausreichend. Haradinaj verließ das Internationale Kriegsverbrechertribunal als freier Mann (vgl. Profil 15, 7. April 2008). Es wäre interessant, sich auch diesen Prozess genauer anzusehen und sich die Fragen zu stellen: Wann sind Beweise Beweise, wann sind Zeugen glaubwürdig und wann nicht?

Elisabeth Lindner-Riegler

Raute

Autoren der Intifada Nr. 29

Mohammad Aburous - geboren 1976 in Palästina. Lebt derzeit in Österreich. Studierte technische Chemie an der TU-Wien und dissertierte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Aktivist des Arabischen Palästina-Clubs (APC) und des Österreichisch-Arabischen Kulturzentrums (OKAZ) in Wien.

Sebastian Baryli - geboren 1979 in Wien, studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, Aktivist der Antiimperialistischen Koordination (AIK).

Urs Diethelm - geboren 1960, gelernter Zimmermann, Bauführer, Journalist, aktiv in der SoAL, Palästina-Solidarität Region Basel und Behindertenselbstbestimmungsbewegung

Jonas Feller - geboren 1990 in Berlin, verbringt derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr an der Ostsee.

Stefan Hirsch - geboren 1976 in Wien, studierte Geschichte und Geografie an der Universität Wien, arbeitet im Bildungsbereich.

Mustafa Ilhan - geboren 1982 in der Türkei/Kurdistan, Mitglied bei Initiativ e.V. Duisburg, journalistisch tätig bei der türkisch- und kurdischsprachigen politische Tageszeitung Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik).

Kurt Kolm - geboren 1944 Znaim/Tschechien, Aktivist der Antiimperialistischen Koordination (AIK), der Lateinamerikanischen Solidaritätsbewegung und der Österreichischen Friedensbewegung.

Wilhelm Langthaler - geboren 1969, arbeitet als technischer Angestellter in Wien, Aktivist der Antiimperialistischen Koordination. Zahlreiche Reisen zu den Zentren des Widerstands, insbesondere am Balkan, in den Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent, Koautor des Buches Ami go home, erschienen im Verlag Pro-Media.

Charlotte Malterre - geboren 1977 in Frankreich, studierte in Marseille und Wien Architektur, arbeitet in Zürich als Architektin und Künstlerin. Aktivistin der Antiimperialistischen Koordination (AIK).

Elisabeth Lindner-Riegler - geboren 1952 in Kärnten, arbeitet als Professorin an einem Gymnasium in Wien.

Dimitri Tsalos - geboren 1972, Ausbildung zum Buchhändler in Stuttgart, derzeit kaufmännischer Angestellter in Köln. Ehemals Mitglied und Mandatsträger der PDS, heute aktiv in der Bewegung gegen Neoliberalismus und Krieg. Mitherausgeber von "Naher und Mittlerer Osten - Krieg, Besatzung, Widerstand", Pahl Rugenstein Verlag, 2007.

Raute

Die Zeitschrift Intifada ist ein Forum für Information und Diskussion und will damit einen Beitrag zur Zusammenarbeit der mit der palästinensischen Bewegung solidarischen Kräfte im deutschsprachigen Raum leisten.


*


Impressum

AIK
www.antiimperialista.org

Medieninhaber, Herausgeber und Verleger:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien, Österreich;
Verlags- und Herstellungsort: Wien; Druck: Printfactory, Wien
Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz der Republik Österreich:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien
Grundlegende Richtung: Für einen gerechten Frieden im Nahen Osten.

Redaktion
Margarete Berger, Gernot Bodner, Stefan Hirsch, Wilhelm Langthaler

Kontakt
www.intifada.at

Antiimperialistische Koordination
Postfach 23, 1040 Wien, Österreich

Bank: BAWAG
Konto-Nr.: 02510080702
Bankleitzahl: 14000
BIC: BAWAATWW
IBAN: AT 38 14000 02510080702

Beiträge
Die nächste Ausgabe der Intifada erscheint im Winter 2009. Wir freuen uns über die zeitgerechte Zusendung von Texten.

Anzeigen
Wir sind sowohl an bezahlten als auch an Austauschanzeigen oder Gegengeschäften interessiert. Preise und Konditionen sind verhandelbar.

Abo
Intifada-Abonnement: 5 Zusendungen - 15 Euro
Förderabo: 5 Zusendungen - 20 Euro
Institutionen: 5 Zusendungen - 25 Euro
www.intifada.at/abo

Verkauf
Wir sind auf jene angewiesen, die aus politischer Sympathie die Zeitschrift in ihrer Stadt oder Region dem interessierten Publikum anbieten und weiterverkaufen.


*


Quelle:
Intifada Nummer 29 - Sommer 2009
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand
Internet: www.antiimperalista.org/intifada.htm


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2009