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INTIFADA/008: Zeitschrift für antiimperialistischen Widerstand Nr. 32/Winter 2010


Intifada Nummer 32 - Winter 2010
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand



INHALT
Editorial
ARABISCHER RAUM
Widerstand, trotz alledem
Zehn Jahren Intifada - eine politische Bilanz des Aufstands
Linker Journalismus im Libanon
Die Zeitung Al Akhbar - ein mediales und politisches Phänomen
"Nationale Einheit wiederherstellen"
Hamas-Führer Ismael Haniye spricht über seine politischen Perspektiven
Halbe-halbe
Über Obamas Abzug aus dem Irak, der keiner ist
INTERNATIONAL
Bolivarianischer Prozess in der Ebbe
Eine politische Analyse der jüngsten Parlamentswahlen in Venezuela
Schlag gegen Putschisten
Zum Ergebnis des Verfassungsreferendums in der Türkei
Höchstrichter und Generäle
Interview mit Ridvan Kaya von der islamischen "Özgür Der"
Seismische Bewegungen
Der Aufstieg Chinas und das kapitalistische Weltsystem
EUROPA
Rotes Debakel
Eine Analyse der Gemeinderatswahl in Wien
Sarrazins Integrationsdebatte
Die Hetze gegen Muslime erreicht in Deutschland eine neue Stufe
AKTIVISMUS
Sumud 2010
Aufenthalt in einem Quadratkilometer Widerstand
THEORIE
Relativer Universalismus
Widersprüche und Strukturen der linken Theoriedebatte
Die Konstruktion der mexikanischen Nation
Zweihundert Jahre Kampf um die Interpretation der Unabhängigkeit
KULTUR
Ein Verlust für die arabische Kultur
Ein Nachruf auf den algerischen Schriftsteller Tahir Wattar
Widerstand in kleinen Geschichten
Ein Interview mit der libanesischen Filmemacherin Arab Loutfi

Raute

EDITORIAL

Zehn Jahre zweite Intifada

Zehn Jahre sind seit dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Herbst 2000 vergangen. Seine brutale Niederschlagung durch die israelische Armee hat die Solidaritätsbewegung in Europa auf den Plan gerufen. Die erste Nummer der Zeitschrift intifada erschien Ende des Jahres 2000. Ihr Ziel war es, der palästinensischen Sache im deutschsprachigen Raum eine Stimme zu geben.

Die 32. Nummer unserer Zeitschrift widmet sich schwerpunktmäßig einer Bilanz von zehn Jahren Aufstand der Palästinenser/innen. Die Situation der Widerstandsbewegung ist heute komplexer denn je, an der Notwendigkeit des Widerstandes hat sich jedoch nichts geändert. Diese Botschaft sollte der Solidaritätsbewegung im Westen als Maßstab gereichen.

In dieser Nummer bilanziert Mohammad Aburous zehn Jahre palästinensische Aufstandsbewegung. Ismael Haniye, Premierminister in Gaza, spricht im Interview über die aktuelle Situation und die Perspektiven der Hamas. Aus dem Libanon berichten wir über das linke Medien-Projekt Al Akhbar. Redakteur Khaled Saghyeh erklärt die Linie der erfolgreichen Tageszeitung, die den Widerstand unterstützt und sich gegen das US-Projekt im Nahen Osten richtet. Wilhelm Langthaler analysiert den Abzug der US-Truppen aus dem Irak, der keiner war, vor dem Hintergrund der Wahlen und der Entwicklung des Widerstandes. Er berichtet zudem über das Referendum in der Türkei. Wahlen gab es auch in Venezuela. Gernot Bodner untersucht ihre Bedeutung für den bolivarianischen Prozess, während Sebastian Baryli das Ergebnis der Gemeinderatswahlen in Wien interpretiert. 200 Jahre mexikanische Unabhängigkeit geben Anlass zu einer Reflexion über die Konstruktion der mexikanischen Nation, die Oralba Castillo Nájera anstellt, während Albert F. Reitterer über die Krise und ihre Hintergründe und Stefan Hirsch über den Aufstieg Chinas nachdenken.

Margarethe Berger

Raute

ARABISCHER RAUM

Widerstand, trotz alledem

Zehn Jahren Intifada - eine politische Bilanz des Aufstandes

Von Mohammad Aburous

Am 28. September war der zehnte Jahrestag der Zweiten Intifada. Welche Bilanz kann gezogen werden und an welchem Punkt steht die palästinensische Befreiungsbewegung?


Selbst durch den dünnen Jordan ist seit dem 28. September 2000 viel Wasser hinuntergeflossen. Die palästinensische Intifada kennzeichnete das Ende der Clintonschen Phase des amerikanischen Friedens und den Beginn einer neuen Offensive eines US-Imperialismus, der sich ohne ernst zu nehmenden Gegner auf der Weltkarte sah. Für die Palästinenser/innen bedeutete dies eine neue offene Konfrontation, bei der sie bald nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit standen und somit wehrlos einer zügellosen israelischen Offensive ausgesetzt waren.

Die Intifada war die Reaktion der Palästinenser/innen auf das Scheitern der siebenjährigen Verhandlungen im Rahmen des Oslo-Prozesses.

Die Intifada war die Reaktion der Palästinenser/innen auf das Scheitern der siebenjährigen Verhandlungen über eine permanente Lösung im Rahmen des Oslo-Prozesses. Israel weigerte sich nach wie vor, auf die palästinensischen Hauptforderungen bezüglich Land, Wasser, Jerusalem, Grenzen und Flüchtlinge einzugehen und entleerte damit die Zweistaatenlösung jeden Inhalts. Das war praktisch das Ende des Oslo-Prozesses. Kurz darauf endeten auch die Präsidentschaften von Clinton und Barak und die Palästinenser/innen waren mit den rechtsextremen Regierungen von Bush und Sharon konfrontiert.


Innere Widersprüche

Die Intifada begann auf ähnliche Weise, wie Aufstände in Palästina immer begonnen haben: eine israelische Provokation, die eine Reaktion herbeiführt, der mit Brutalität begegnet wird. Diese Kettenreaktion von Protest und Repression wird unter bestimmten Umständen zu einem Daueraufstand. Die Intifada wies auch die typische Morphologie der palästinensischen Bewegung in ihren beiden Teilen, dem Militarismus und der Massenbewegung, auf.

Die Welle von Massenprotesten wurde von den palästinensischen Organisationen aufgenommen und relativ früh bezeichnete man sie offiziell als "Intifada", was auf den Willen zu einem dauerhaften Aufstand hindeutet. Allerdings beinhaltete dieser Aufstand gleich von Beginn an fatale innere Widersprüche, die auch die Grenzen seines möglichen Erfolges kennzeichneten:


1. Bürokratisierung und Entfremdung:

Während die erste Intifada von 1987 die Frucht einer Akkumulation war, in deren Rahmen in den besetzten Gebieten innerhalb von zwanzig Jahren eine Massenbewegung ausreifte, entstand diese zweite Intifada in der Phase starker Bürokratisierung der politischen Bewegung. In den Jahren nach dem Oslo-Abkommen zog die ohnehin bürokratisierte PLO in die besetzten Gebiete ein und übernahm von der israelischen Besatzung die Verwaltungs- und Sicherheitsaufgaben. Die Kader der einheimischen Massenorganisationen wurden ebenfalls in den Verwaltungs- und Sicherheitsapparat der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) integriert und somit aufgelöst. Die islamischen Massenorganisationen litten unter Repression und zogen sich verstärkt zurück. Die jüngere Generation, die den neuen Aufstand trug, stand in keiner Kontinuität mit der früheren Massenbewegung. Sie zeichnete sich zwar durch tapferen Einsatz aus, litt aber verstärkt an mangelnder Politisierung.


2. Fehlen eines politischen Programms:

Bis zum Oslo-Abkommen orientierte sich die Massenbewegung am politischen Programm der PLO. Die Anerkennung der PLO als politische Vertretung der Palästinenser/innen galt selbst als eine Forderung der Bewegung. Das Oslo-Abkommen lag weit unterhalb der Forderungen der Bewegung. Die daraus geborene PNA liquidierte systematisch die PLO als politische Vertretung aller Palästinenser/innen. Es gelang ihr jedoch nicht, wie das der Oslo-Prozess vorsah, zum Staat im Westjordanland und in Gaza zu werden. Die wachsende islamische Bewegung opponierte zwar gegen das Oslo-Abkommen, da es eine Kapitulation darstelle, und lehnte die Zweistaatenlösung ab; sie bot jedoch kein alternatives politisches Programm an. Arafat und seine Führungsriege waren vollkommen auf die Zweistaatenlösung eingestellt und hatten kein Alternativ- oder Notstandsprogramm. Hingegen trainierte die israelische Armee während der 1990er Jahre, um exakt dem Szenario einer neuen Intifada zu begegnen.

Dieser Aufstand beinhaltete gleich von Beginn an fatale innere Widersprüche, die auch die Grenzen seines möglichen Erfolges kennzeichneten.

Die Intifada war daher ein Ausdruck der Wut der Palästinenser/innen, artikulierte sich jedoch in keinem neuen Programm. Dies war spätestens im Februar 2001 zu sehen, als die neue Verhandlungsrunde in der ägyptischen Stadt Taba ebenfalls scheiterte. Dort bot Israel eine bessere Version als jene von Camp David an. Diese ignorierte zwar das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge und trug auch sonst nicht den palästinensischen Forderungen Rechnung. Sie war dennoch das Äußerste, was die Palästinenser unter der damaligen Kräftekonstellation von Israel bekommen konnten. Dies abzulehnen bedeutete die offene Konfrontation, deren Ziel es nur hätte sein können, eine neue Balance zu schaffen. Doch dafür gab es kein politisches Programm. Bald verhandelte die PNA wieder unter schlechteren Bedingungen als in Camp David und Taba, um den Status vor dem 28. September 2000 wiederherzustellen.


3. Fehlen einer politischen Führung:

Das Fehlen eines politischen Programms hatte eine Führungskrise zur Folge. Die aus dem Oslo-Abkommen resultierende PNA wurde nicht aufgelöst. Arafats Führung wurde nicht in Frage gestellt und der Polarisierung zwischen Fatah und Hamas wurde kein Ende gesetzt. Die Konkurrenz der Organisationen um Popularität verhinderte nicht nur die Einigung auf das Programm und die Führung, sondern auch auf die Kampfmethoden. PLO-nahe Intellektuelle verurteilten öffentlich die Selbstmordanschläge und lieferten dadurch israelischen Racheaktionen indirekt politische Hilfe. Andererseits wurden die Aktionen der Hamas zum Selbstzweck. Ihre Popularität und Effizienz zwangen andere Organisationen zu ähnlichen Handlungen. Dies hatte eine Militarisierung zur Folge, bei der die Massen einerseits zu passiven Opfern israelischer Racheaktionen und andererseits politisch nur mehr zu Zuschauern wurden. Unkonkret waren sowohl Arafat auf seinem kompromiss-suchenden Kurs als auch Hamas in ihrem Widerstandsprogramm. Konkret waren jedoch die Pläne Sharons, die palästinensische Autonomie völlig zu zerstören und die Städte in geschlossene Reservate umzuwandeln.


4. Keine Wirtschaft des Standhaltens:

Die 1990er Jahre waren weltweit die Jahre der Globalisierung. Israel und die palästinensischen Gebiete bildeten hier keine Ausnahme. Während Israel die Marktöffnung durch die Umstellung der Produktion auf Spezial- und Militärexportprodukte, durch die amerikanische Unterstützung und durch die Öffnung asiatischer Märkte überstand, kamen für die palästinensische Wirtschaft schwere Zeiten. Die Wirtschaft war nach der Besatzung weitgehend in eine Abhängigkeit von Israel gezwungen worden und wurde dadurch in den Jahren nach Oslo in doppeltem Sinne zermürbt: Das Wirtschaftsabkommen von Paris institutionalisierte diese Abhängigkeit und raubte den palästinensischen Gebieten die Perspektive einer souveränen Entwicklung. Die lokale Kleinindustrie unterlag einerseits den israelischen Schikanen, andererseits der starken Korruption der PNA, deren Regenten auch über die Importlizenzen verfügten und selbst zur Konkurrenz wurden. Auch die Landwirtschaft litt unter zunehmendem Landraub durch die Siedlungspolitik Israels und unter Wassermangel, da das Grundwasser des Westjordanlands in israelischer Hand blieb. Bald war die nur in eine Richtung offene palästinensische Wirtschaft nicht mehr konkurrenzfähig und wies ein großes Defizit auf. Die in israelischen Einrichtungen arbeitenden 200.000 Palästinenser/innen wurden nach der Grenzschließung allmählich durch asiatische und osteuropäische Gastarbeiter ersetzt. Diese und 70.000 zugezogene PLO-Kader fanden Beschäftigung im Apparat der PNA und bildeten eine neue soziale Schicht, die existenziell von der Autonomiebehörde abhängig wurde. Bei fehlender produktiver Wirtschaft war diese auf ausländische Hilfe in Form von Finanzierung aus der EU, USA und den arabischen Staaten angewiesen. Eine andere Geldquelle waren die Privatüberweisungen von Angehörigen, die im Ausland arbeiteten.

Die Ausgangsbedingungen für eine offene und dauerhafte Konfrontation waren insgesamt schlecht. Die palästinensischen Gebiete sind in Sachen Energie, Wasser, Nahrung und Geldfluss fast vollkommen von Israel abhängig. Die Kollaboration basiert daher nicht nur auf einer dünnen Schicht von korrupten PLO-Geschäftsmännern, sondern wird von einer breiten Mittelschicht getragen, die der Kollaboration eine soziale Basis anbietet. Die Opposition hing ebenso in den Finanznetzwerken der islamischen Bewegung bzw. an den EU-finanzierten NGOs, die sich schnell vermehrten und einen wesentlichen Teil der Linken absorbierten.


5. Ungünstige internationale Konjunktur

Die Intifada selbst war eine Reaktion auf eine ungünstige internationale Situation. In einer monopolaren Welt fühlten sich die USA nicht mehr verpflichtet, die Rechnungen der Clintonschen Appeasement-Politik zu begleichen. International kapitulierten in den 1990er Jahren die meisten Widerstandsbewegungen oder wurden stark geschwächt. Im Westen trocknete die Linke, die einst die Trägerin der internationalen Solidarität war, aus oder wurde zu einem Teil des Establishments. Die Palästinenser/innen, deren eigene zivile Organisationen im Ausland in den 1990er Jahren ebenfalls schwanden, vermissten stark das Netzwerk internationaler Solidarität, das sie einst gehabt hatten. Die anfangs beeindruckenden weltweiten Massenproteste verwandelten sich nicht in effiziente Druck- oder Hilfsmittel. Die israelische mediale Gegenoffensive war bald in der Lage, mindestens eine Gleichstellung von Opfern und Tätern zu schaffen, bald sogar auch die Umkehrung dieses Verhältnisses. Der Anschlag von New York und der daraus resultierende "Krieg gegen den Terror" bedeutete für die Palästinenser/innen eine weitere ungünstige Entwicklung: Einerseits passten sie perfekt in das neue Feindbild Islam, andererseits richtete sich die Aufmerksamkeit der Welt auf andere Schauplätze. Israel hatte somit freie Hand für die Repression, die unter Sharons Regierung stattfand.


Exzessive Gewalt

Während in den Jahren vor Oslo die israelische Armee für die Sicherheit in den palästinensischen Städten sorgen musste und somit für das Leben der Menschen verantwortlich war, behandelte sie nach Oslo die Städte offiziell als feindliches Gebiet. Sie setzte erstmalig Maschinengewehre gegen Demonstrant/innen ein. Hunderte Palästinenser/innen starben in den ersten Wochen der Intifada. Extralegale Hinrichtungen standen ganz oben auf der Tagesordnung. Israelische Spezialtruppen, Agenten und Luftwaffe ermordeten mit auffallender Effizienz palästinensische Aktivisten sowie politische und militärische Führungen. Über zehntausend Palästinenser/innen saßen in israelischen Gefängnissen und Lagern.

Die brutale Reaktion der israelischen Armee auf die Massendemonstrationen führte zu einer hohen Zahl an Opfern. Änderungen der Taktiken waren bald nötig, um den hohen Verlust an Menschenleben zu beantworten und eine entsprechende Demoralisierung der Massen zu vermeiden. Palästinensische Organisationen waren zu militaristischen Aktionen gezwungen, um auch der anderen Seite Verluste beizubringen und somit in diesem ungleichen Kampf nicht vollkommen unterzugehen. Vor diesem Hintergrund der extrem ungleichen Kräftekonstellation entwickelten sich die Selbstmordanschläge, die bald die Massenproteste ersetzten. Da aber das politische Gesamtprogramm fehlte, lieferten diese schlussendlich nur einen Vorwand für immer stärkere Repression.

Im Dezember 2001 lenkte Arafat ein und kündigte einen einseitigen Waffenstillstand an. Er rief den "Ausnahmezustand" aus, was auch die Bereitschaft zu interner Repression bedeutete. Mehrere Aktivisten der Hamas wurden verhaftet. Diese Wende Arafats wurde zwar sowohl von den Israelis als auch von den palästinensischen Organisationen ignoriert, war jedoch die Botschaft an Sharon, er sei mit seiner Politik der exzessiven Gewalt auf dem richtigen Weg. Im Frühling 2002 stürmten israelische Panzer die Autonomiestädte und zerstörten die Infrastruktur der PNA. Dies geschah mit Ausnahme von wenigen Orten wie etwa dem Flüchtlingslager Jenin mit erstaunlicher Leichtigkeit. PNA-Polizisten ergaben sich meistens widerstandslos und die israelische Armee entführte die verhafteten Aktivisten aus den palästinensischen Gefängnissen. Arafats Residenz selbst wurde auf sein Büro reduziert, nachdem israelische Bulldozer das große PNA-Kombinat in Ramallah dem Erdboden gleich gemacht hatten. Ab diesem Zeitpunkt war Arafat ein Gefangener in seinem Büro.

Doch auch diese Eskalation zog keinen Wechsel in den palästinensischen politischen Verhältnissen nach sich. Die restlichen Jahre der Intifada bestanden nunmehr aus israelischer Repression und zunehmender Kollaboration seitens der PNA. Der israelische Mauer- und Siedlungsbau vervollständigte die Zerstückelung der palästinensischen Gebiete und die Isolierung Jerusalems.

Arafats Tod Ende 2004 hinterließ ein bedeutendes Vakuum in der palästinensischen Politik, da es keine andere Konsensfigur gab. Unter Arafat besaß die PNA einen Doppelcharakter: Einerseits wurde aus realpolitischen Gründen kollaboriert; andererseits dosierter Widerstand im Dienste der politischen Taktik geduldet und manchmal unterstützt. Hamas, die seine symbolische Stellung nicht in Frage stellte und seine Autorität bevorzugt aus den Reihen der Opposition heraus gefördert hatte, sah nach seinem Tod eine Chance, ihren Anteil an der Führung zu beanspruchen. Dadurch bewegte sie sich einen Schritt in Richtung Realpolitik und nahm erstmalig an den Parlamentswahlen der PNA 2006 teil. Sie gewann diese mit deutlicher Mehrheit und beanspruchte die Regierung.

Fatah hingegen entfernte sich unter Abbas von Arafats Mittelweg zwischen Kollaboration und Widerstand, deklarierte offiziell das Ende der Intifada und steuerte nunmehr in Richtung offene Kollaboration.


Dünne Luft im Westjordanland, dicke Luft um Gaza

Nach zehn Jahren Intifada steht die palästinensische Gesellschaft im Westjordanland erschöpft, demoralisiert und ohne politische Orientierung da. Oppositionskräfte sind liquidiert oder haben sich in den Hintergrund zurückgezogen. Das erklärt die Leichtigkeit, mit der die PNA unter Abbas/Fayyad "Ordnung" in die palästinensischen Städte brachten. Die Menschen sehnen sich nach einer Form von Normalität.

Nur in Gaza, wo dreitausend Siedler ein Drittel der Fläche des Streifens besetzten, waren die palästinensischen Organisationen in der Lage, dauerhaften Druck auf die israelischen Siedlungen auszuüben. Dadurch war der Widerstand in der Lage, 2005 den israelischen Abzug aus Gaza zu erzwingen. Israel musste auch erstmalig Siedlungen zerlegen und räumen. Jedoch relativierte sich gerade dieser kleine Sieg durch die Komplexität der inneren palästinensischen Verhältnisse.

Die Tatsache, dass der Abzug durch den Druck des Widerstands und nicht durch die jahrelangen Verhandlungen erreicht wurde, schlug den Erfolg der Hamas zu (auch wenn die Militärflügel der anderen Organisationen, inklusive der Fatah, hier einen wichtigen Beitrag leisteten). Hamas erntete die Früchte dieses Erfolges bei den PNA-Parlamentswahlen, wo sie mit ihrem Programm von "Reform und Veränderung" einen klaren Wahlsieg gegen die von Korruption, Kollaboration und inneren Streitereien zerrüttete Fatah verzeichnete.


Hamas in der Falle

Da Hamas keine radikale Änderung der Verhältnisse anstrebte, sondern eine ihr zustehende Machtbeteiligung, ist Hamas durch diesen Sieg in eine Falle geraten: Das Reformprogramm der Hamas war kein politisches und bezog sich nur auf die PNA. Es verlangte sofortige Änderungen, die baldige spürbare Verbesserung im Alltag der Palästinenser/innen bringen sollten. Diese Reformen setzten jedoch eine demokratische Zusammenarbeit seitens der PNA voraus. Die Fatah hingegen, die seit mehr als vierzig Jahren die Zügel der palästinensischen politischen Institution lenkt, war keinesfalls zu einer Übergabe bzw. Teilung der Macht bereit.

Der internationale Druck auf Hamas, Israel bedingungslos anzuerkennen, und die daraus resultierende Blockade und Sperre der Finanzmittel lenkten Wind in die Segel der Fatah. Der aufgeblähte PNA-Apparat konnte durch das Entfallen der Auslandsgelder nicht bezahlt werden und wurde zu einem Druckmittel gegen die Hamas-Regierung, an der sich keine der PLO-Organisationen beteiligen wollte. Während der Geldzufluss der Hamas durch eine unerwartete Bankenblockade unterbunden wurde, wurde die Fatah aus mehreren Quellen bestens versorgt, um Anhänger zu rekrutieren und Beamte bezahlen zu können. In ihrem verzweifelten Ringen um internationale Anerkennung musste sich Hamas möglichst moderat zeigen und konnte auf ihre politische Reserve als "Widerstandskraft" nicht zugreifen. Hingegen bezog sich Fatah auf den Realismus, der nötig ist, um Auslandsgelder zu bekommen, und konnte einen wichtigen Teil der PNA-Beamten für Streiks mobilisieren. Hamas konnte darauf nur mit einer Umbesetzung der Beamtenkaders kontern, wobei Hamas-Anhänger lediglich das Tagesgeschäft erledigten.

Bald meuterten die mehrheitlich mit Fatah-Anhängern belegten Sicherheitsapparate und weigerten sich, dem von Hamas gestellten Innenminister zu folgen. PNA-Präsident Abbas entzog der Regierung vielerlei Kompetenzen und unterstellte die Sicherheitsapparate seiner Macht. Dies zwang das Innenministerium, eine eigene Exekutivtruppe zu gründen, die großteils aus Hamas-Anhangern zusammengestellt wurde. Der Sturz der Hamas-Regierung wurde zum deklarierten Ziel des Westens und Israels, mit dem auch die Fatah offen kooperierte. Dutzende Palästinenser/innen starben in den täglichen Auseinandersetzungen der Sicherheitsapparate, bis im Juni 2007 die Exekutive von Hamas die Machtfrage in Gaza entschied. In Ramallah putschten die Fatah-nahen Apparate: Abbas entließ die Regierung und bildete eine neue prowestliche Regierung unter Salam Fayyad. Die israelische Armee half der Fatah dabei, Hamasnahe Politiker und Aktivisten zu verhaften. Hamas behielt Gaza und unterließ offene Konfrontationen im Westjordanland, wo die israelische Armee jede Machtübernahme der Hamas rückgängig machen konnte.


Zersplitterung und Orientierungslosigkeit

Ironischerweise entschied sich in Gaza der Kampf zwischen Fatah und Hamas nicht im Kontext des Kampfes Widerstand gegen Kollaboration, sondern im Zusammenhang des Machtkampfes innerhalb der PNA nach dem Wahlsieg von Hamas. Beide Seiten bezogen sich auf Paragraphen des Grundgesetzes der PNA und rechtfertigten ihre Repression oppositioneller Kräfte mit Begriffen wie "Ruhe und Ordnung". Als tragende Kraft des Widerstands übersetzte Hamas ihre Erfolge nicht in ein politisches Alternativprogramm, sondern versuchte sich als die bessere PNA zu behaupten. Sie stellte sich als Reformkraft für den Apparat der Autonomiebehörde mit dem Ziel dar, diesen weg von der offenen Kollaboration hin zu einer Kombination von dosiertem Widerstand und realpolitischer Alltagskollaboration zu entwickeln. Das entspräche einer Re-Arafatisierung der PNA. Aussagen des Politbüro-Sprechers Khalid Mishaal, der bei einem Abzug der Israelis aus dem Westjordanland und Gaza den Widerstand als beendet betrachten wollte, sind in diesem Kontext zu verstehen. Viel direkter war das Angebot eines zehnjährigen Waffenstillstands, das auch von Israel abgelehnt wurde.

Eine politische Versöhnung zwischen der Fatah und Hamas wäre nur unter der Voraussetzung einer totalen Kapitulation der Hamas möglich.

Dieser moderate Diskurs der Hamas war zum Scheitern verurteilt, weil Israel den Palästinensern auch keine "ehrenhafte Kapitulation" gönnen würde. Die Führung von Ramallah ist organisch an dieses Kollaborationsregime gebunden und steht jedem Kompromiss im Wege. Auch die Fatah-Basis wurde liquidiert und weitgehend in die neuen Apparate absorbiert. Beim israelischen Angriff auf Gaza Ende 2008 fanden die Politiker von Ramallah kaum verurteilende Worte, während ihre Sicherheitsapparate die Protestkundgebungen auf brutale Weise niederknüppelten, wie das nur von klassischen arabischen Diktaturen bekannt ist. Daher ist es kein Wunder, dass eine palästinensische Versöhnung nur unter der Voraussetzung einer totalen Kapitulation der Hamas möglich wäre. Das ist der Grund, warum Verhandlungen zwischen Abbas und Haniyyeh schwieriger und viel unwahrscheinlicher sind als Verhandlungen zwischen Abbas und Netanjahu.

Auf der anderen Seite ist Gaza, als befreites, aber belagertes Gebiet, das einzige Territorium, wo die Palästinenser/innen eine selbstständige Regierung ohne Abkommen mit Israel haben. Diese Situation trotz Blockade und israelische Angriffe aufrechtzuerhalten ist an sich ein Erfolg des palästinensischen Widerstands. Palästina ist dadurch im zentralen Blickfeld der Weltpolitik geblieben. Ob dieser Erfolg ausgebaut und zu einer neuen politischen Offensive entwickelt werden kann, das steht noch offen und hängt vor allem vom Widerstandswillen und von der politischen Kreativität der Hamas ab.


Zukunftsperspektive

Die Dynamiken und das Scheitern der palästinensischen Intifada ähneln im Allgemeinen anderen palästinensischen Experimenten, wie etwa dem Aufstand von 1936-1939, der Fedayin-Phase von Amman 1967-1970 und im Libanon 1969-1982 und schließlich der ersten Intifada von 1987-1993.

Auf der einen Seite waren die Palästinenser/innen mit hohem Aufwand und großer Opferzahl dabei erfolgreich, die Palästina-Frage auf der aktuellen Tagesordnung der Weltpolitik zu halten und eine palästinensische Identität als Antithese zum zionistischen Projekt zu schaffen. Auf der anderen Seite zeigt es sich heute mehr denn je, dass getrennt von einer regionalen (arabischen, islamischen) Bewegung eine palästinensische Bewegung nicht in der Lage ist, Israel zu besiegen. Allerdings machen die gescheiterten israelischen Angriffe auf den Libanon 2006 und den Gazastreifen 2008/09 deutlich, dass Israel und die USA nicht in der Lage sind, den Widerstand in der Region komplett auszurotten und eine Totalkapitulation zu erzwingen. Nachdem sich herausgestellt hat, dass die Zerschlagung einer Widerstandsbewegung durch die USA oder Israel nicht unbedingt das Entstehen eines fähigen Kollaborationsregimes bedeutet, stockt das US-amerikanische Projekt in der Region. Widerstandsinseln haben sich als lebensfähig erwiesen, da ihre Beseitigung sowohl teuer als auch von kurzer Dauer ist. Was für das US-Projekt regional gilt, gilt für Israel gegenüber den Palästinensern. Ein israelischer Einmarsch in Gaza wäre nicht nur verlustreich, sondern würde auch eine dauerhafte israelische Präsenz nach sich ziehen. Die Pattsituation bleibt daher auch für Israel das kleinere Übel.

Ein demokratischer Staat im gesamten Palästina ist die einzig propressive und humane Antithese zu einem exklusiv jüdischen Staat.

In der jetzigen widrigen Konjunktur können die Palästinenser/innen nur ihre Kräfte nur so optimieren, dass sie mit minimalen Verlusten die Aufmerksamkeit für die Palästina-Frage aufrechterhalten. Auf programmatischer Ebene sollte das Scheitern der Zweistaatenlösung der Anlass sein, die historische Forderung nach einem demokratischen Staat im gesamten Palästina wiederzubeleben. Dieser ist die einzige progressive und humane Antithese zum exklusiv jüdischen Staat, der nur ein Apartheidstaat sein kann. In Erwägung der Tatsache, dass diese Lösung eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Region benötigt, muss dieses Programm mit einer neuen Bewegung in der Region verknüpft werden, die nicht nur die herrschenden Regime in Frage stellt, sondern auch über die jetzigen Staaten und Staatsgrenzen hinweg eine neue Ordnung anstrebt.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Die Märtyrer der Widerstandsbewegung sind immer gegenwärtig.
- Der Jihad zählt heute zu den aktivsten Gruppen des palästinensischen Widerstands.
- Nach zehn Jahren steht die Aufstandsbewegung vor den selben Fragen wie am Anfang.
- Mit Steinen gegen israelische Panzer: Der Kampf der Palästinenser geht weiter

Raute

ARABISCHER RAUM

Linker Journalismus im Libanon

Die Zeitung Al-Akhbar - ein mediales und politisches Phänomen

Khaled Saghyeh ist Redakteur der wichtigsten linken Tageszeitung im Libanon. Er spricht über die Hizbollah, die Linke, den Konfessionalismus und das US-Projekt in Nahost.


intifada: Was macht das Spezifische an Ihrer Zeitung aus? Wie hoch ist die Auflage und wieviele Mitarbeiter hat sie?

Khaled Saghyeh: Wir haben eine Auflage von etwa 15.000 Exemplaren täglich. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung im Libanon liest überhaupt Zeitungen. Das ist vor allem auf den Bürgerkrieg zurückzuführen. Vor dem Krieg erreichte eine einzige Zeitung eine Auflage von über 60.000, heute erreichen alle Tageszeitungen zusammen kaum eine ähnliche Auflage. Wir beschäftigen ungefähr sechzig Journalisten. Wir haben viele Korrespondenten im Libanon und einige Auslandskorrespondenten.

Was uns von den anderen Zeitungen unterscheidet, ist die journalistische Arbeit. Die meisten Zeitungen hier konzentrieren sich auf Nachrichten im engeren Sinn und übernehmen Meldungen von libanesischen und internationalen Presseagenturen. Sie machen keine Reportagen, keine eigenen Recherchen und keine politischen Analysen. Das ist jedoch genau das, was Al-Akhbar hauptsächlich tut. Nur wenige Seiten sind für Agenturmeldungen reserviert. Der Rest sind unsere eigenen Berichte und Analysen, und die interessieren die Leser mehr als die bloßen Nachrichten, die sie schon am Vortag im Radio oder Fernsehen gehört haben. Auch bei Auslandsthemen versuchen wir, unsere eigenen Nachforschungen zum Thema anzustellen und kopieren nicht einfach die Meldungen der Nachrichtenagenturen.

Wir sehen es nicht als Aufgabe der Zeitung, eine bestimmte linke Linie zu vertreten. Alle Ansichten der Linken kommen zum Ausdruck. Einige Linke lehnen nach wie vor jede Zusammenarbeit mit Islamisten ab; andere definieren Sozialismus nur im wirtschaftlichen Sinne und wollen mit Tradition und Religion nicht brechen. Die Zeitung bietet ein Forum für den Dialog innerhalb der linken Kräfte.

Wir sind aber nicht einfach nur eine linke Zeitung. Unter den jetzigen politischen Umständen gibt es hier Linke, Islamisten, Panarabisten und andere Strömungen, die zusammenarbeiten. Wir tolerieren viele Positionen innerhalb einer allgemeinen politischen Linie. Die Zeitung wurde gleich nach dem Krieg 2006 gegründet, als das US-amerikanische Projekt in der Region sehr aggressiv war. Wir waren hier eine der radikalsten Stimmen gegen dieses Projekt.

intifada: Ihre Zeitung tritt gegen die Regierung und für den Widerstand ein. Was ist Ihre Beziehung zu den politischen Parteien? Beeinflussen diese Ihre Redaktionslinie?

Saghyeh: Die Situation hier ist anders als in westlichen Staaten. Die linken Parteien sind nicht so groß und es gibt hier zwei Lager, die durch eine große Kluft getrennt sind. Auf der einen Seite stehen die Hizbollah ("Partei Gottes") und die anderen Parteien für den Widerstand, darunter besonders die Partei von General Michel Aoun; auf der anderen Seite stehen Sa'ad Hariris Partei Mustaqbal ("Zukunft") und ihre Verbündeten. Das Land ist gespalten. Die meisten Kollegen hier sehen sich als linke Journalisten, die dem Widerstand verbunden sind. Wir sind für den Widerstand. Unser Bündnis mit einer islamischen Kraft mag für andere Linke nicht nachvollziehbar sein. Für uns ist jedoch nicht die Ideologie des Widerstands ausschlaggebend; es geht darum, ob man für oder gegen diesen Widerstand ist. In den 1980er Jahren waren es die Kommunisten und andere linke Parteien, die den Widerstand gegen Israel begannen. Später setzten die Islamisten ihn fort. Für mich geht es um die Menschen, vor allem die Bewohner des Südlibanons, egal ob sie Linke, Islamisten oder was auch immer sind.

Andererseits sind weder die Hizbollah noch Aoun linke Kräfte. Wie viele andere Drittweltländer verfolgt der libanesische Staat ein neoliberales Programm, das aufgrund des Bürgerkriegs in den 1980er Jahren erst in den 1990cm eingesetzt hat. Wir als Linke sind gegen dieses Programm. Die Partei, die es in der Regierung durchsetzte, war die Mustaqbal. Das bedeutet nicht, dass die Hizbollah frontal dagegen ist, aber sie hat diese Pläne jedenfalls nicht eingebracht. Als eine Kraft, die für den Widerstand und gegen diese neoliberalen Pläne ist, stehen wir im Moment der Hizbollah näher als der Mustaqbal.

Aus europäischer Sicht reduzieren sich die Probleme des Libanons auf die Existenz einer bewaffneten Partei - das ist jedoch zu einfach gedacht.

Es ist jedoch wichtig, zu betonen, dass wir nicht von der Hizbollah abhängig sind. Die Partei begrüßt zwar unsere Haltung für den Widerstand, sieht jedoch die politischen Differenzen zu ihr und zur Partei von Aoun. Uns bleibt daher oft nur ein recht schmaler Pfad: Wir würden beispielsweise niemals Forderungen nach Bürgerrechten für die Palästinenser im Libanon aufgeben. Genau diese sind Aoun aber ein Dorn im Auge; er kann sie aus konfessionellen Gründen nicht akzeptieren.(1)

Gleichzeitig tragen wir zur Radikalisierung des oppositionellen Diskurses zu Wirtschaftsthemen bei. Viele ökonomische Debatten wurden von Al-Akhbar angeregt, besonders als alle Großparteien an einer Regierung der nationalen Einheit beteiligt waren. Um einen landesweiten Konsens für eine Einheitsregierung herzustellen, wird der Wirtschaftspolitik eine geringere Priorität eingeräumt. Zum Beispiel spricht die Hizbollah wirtschaftliche Themen schlicht nicht an, solange die Mustaqbal im Gegenzug die Bewaffnung der Hizbollah nicht in Frage stellt.

intifada: Ein wichtiges Thema Ihrer Zeitung ist die konfessionelle Gliederung des politischen Systems im Libanon, das in Europa kaum bekannt ist. Welche Folgen hat dieses konfessionelle System?

Saghyeh: Im Libanon gibt es viele religiöse Bekenntnisse und politisch ist alles nach der Religionszugehörigkeit aufgeteilt. Fast jeder politische Streit verwandelt sich in einen konfessionellen Konflikt und umgekehrt. Es hängt immer vom Ausgangspunkt der Analyse ab. Einige Analytiker wollen nur die religiösen Konflikte sehen und interpretieren die Politik dementsprechend. Oder sie gehen von einem anderen Standpunkt aus und betrachten Personen und Parteien danach, ob sie mit dem Widerstand gegen Israel sind oder mit Israel zusammenarbeiten. Und weil das Land religiös zersplittert ist, nimmt diese Differenz eine konfessionelle Form an. Ab diesem Punkt wird es schwierig, jemanden aus einer anderen religiösen Gemeinschaft von einem politischen Standpunkt zu überzeugen. Es geht dann nicht mehr um Argumente, sondern um ein Stammesdenken, wo jeder an der Identität seiner Konfession und der entsprechenden politischen Identität festhält.

In der Zeit nach dem Bürgerkrieg bis 2005, als die syrische Armee im Libanon war, haben die Syrer die konfessionellen Probleme im Land geregelt. Aufgaben wurden je nach dem Religionsbekenntnis verteilt: Die Schiiten trugen den Widerstand gegen die israelische Besatzung im Süden und die Sunniten kontrollierten die Wirtschaft. So durfte der damalige Premierminister Rafiq Hariri sein neoliberales Wirtschaftsprogramm durchziehen, sich aber nicht gegen den Widerstand der Hizbollah äußern. Umgekehrt durfte sich die Hizbollah nicht in die Wirtschaftspolitik der Regierung einmischen. Die Christen waren als Verlierer des Bürgerkriegs marginalisiert. Der eine ihrer Führer war im Gefängnis und der andere im Exil. Für die Syrer war es ein konfessionelles Spiel, in dem sie die Jobs aufteilten.

"Eines der Hauptmerkmale der Hizbollah als islamische Kraft ist die Tatsache, dass sie nie versucht hat, ein islamisches Programm durchzusetzen."

Als die Syrer das Land verließen, begannen die Konflikte. Einerseits wollte jede Gruppe ihren Anteil vergrößern und andererseits fehlte nun der Schiedsrichter. So forderte die Mustaqbal damals mehr oder weniger offen die Entwaffnung der Hizbollah und argumentierte mit einem staatlichen Gewaltmonopol. Die Hizbollah wollte ihrerseits ihre Position als Widerstandskraft verteidigen und begann, sich in die Wirtschaftspolitik einzumischen. Außerdem wollten die unter der syrischen Vorherrschaft marginalisierten Christen nun auch ihren Anteil. Von einem anderen Gesichtspunkt aus steht im Vordergrund, dass wir hier im Libanon einen Widerstand haben, der im Stande war, das Land zu befreien, und den wir brauchen, um das Land zu verteidigen. Im anderen Lager sind Verbündete der USA, welche das US-amerikanische Programm im Nahen Osten umsetzen und auf dieses Programm setzen, um im Libanon einen größeren Anteil an der Macht zu erhalten. Dieser Kampf geht weiter und nimmt unterschiedliche Formen an. Derzeit geht es um das internationale Tribunal über die Ermordung von Premierminister Rafiq Hariri.

intifada: Die komplexe Realität des Libanon ist in Europa nur bruchstückhaft bekannt. Dadurch entsteht oft ein falsches Bild. Wie könnte man das ändern?

Saghyeh: Ich weiß nicht, was gut für Europa wäre, aber ich sehe, dass die meisten westlichen Medien sich vor allem mit der Hizbollah beschäftigen: Die Probleme des Libanon werden auf die Existenz einer bewaffneten Partei reduziert. In den westlichen Medien wird die Hizbollah als Hindernis für die Bildung eines modernen Staates dargestellt. Hier wäre ein Perspektivenwechsel wichtig. Es sollte dargestellt werden, was die Israelis im Libanon machen, warum die Hizbollah existiert, und dass die Hizbollah eine libanesische und nicht etwa eine iranische Partei ist. Außerdem sind hier noch palästinensische Flüchtlingslager. Im Moment ist es in Mode, Hilfsgüter in den Gazastreifen zu schicken, als ob die Welt erst jetzt von der Existenz palästinensischer Flüchtlinge erfahren hätte. Die Flüchtlinge gibt es seit mehr als sechzig Jahren, und ihre Lage hat sich keineswegs verbessert.

intifada: Wie gehen Sie als Linke mit dem Dilemma um, einerseits die Hizbollah als Widerstandskraft zu unterstützen und sie andererseits als Teil des konfessionellen Systems und der liberalen Wirtschaftspolitik zu kritisieren?

Saghyeh: Eines der Hauptmerkmale der Hizbollah als islamische Kraft im Libanon ist die Tatsache, dass sie nie versucht hat, ein islamisches Programm durchzusetzen. Im Gegensatz zu anderen islamischen Kräften in der Region versucht sie nicht, das Land zu islamisieren oder die Macht zu übernehmen. Sie verbreitet ihre Ideologie innerhalb ihrer Gemeinde, versucht aber nicht, sie in Gesetze zu gießen.

Die Hizbollah hat auch das neoliberale Programm nicht mitgetragen, weil sie nicht an der Regierung beteiligt war. Man kann sie dafür kritisieren, dass sie sich nicht dagegen gestellt hat. Was wir als Linke versuchen, ist, sie in ihrem Wirtschaftsprogramm nach links zu bewegen. Unter der jetzigen Aufteilung im Land ist die Hizbollah einerseits die Partei des Widerstands und andererseits die größte Partei der Schiiten. Als Vertretung eines religiösen Bekenntnisses kann sie kaum ein gesellschaftliches Programm haben, da sie die Interessen aller Klassen innerhalb ihrer Religionsgemeinschaft verteidigen muss.

Was wir in dieser Zeitung an der Hizbollah oft bemängelt haben, ist ihre Haltung zum Irak. Im Irak, wo ebenfalls eine konfessionelle Aufspaltung herrscht, waren es die Sunniten, die den Widerstand gegen die US-Besatzung trugen. Hizbollah vermied es aufgrund ihrer Verbindung zu den Schiiten im Irak, die Haltung der schiitischen Parteien dort zu kritisieren.


Das Interview führten Anna Maria Steiner und Mohammad Aburous im Rahmen des Freiwilligen-Einsatzes der europäischen Vereinigung SUMUD im August 2010 in Beirut.


Anmerkung:

(1) Da die Palästinenser fast ausschließlich sunnitische Muslime sind, fürchten v. a. die libanesischen Christen, dass sich das politische System im Libanon durch die Gewährung von Bürgerrechten für die Palästinenser zuungunsten der Muslime verschieben könnte.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Khaled Saghyeh ist Redakteur einer linken Tageszeitung im Libanon.
- Khaled Saghyeh will die Hizbollah wirtschaftspolitisch nach links rücken.

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ARABISCHER RAUM

"Nationale Einheit wiederherstellen"

Hamas-Führer Ismael Haniye spricht über seine politischen Perspektiven

Das politische Programm der Hamas und ihre Haltung zu den anderen Fraktionen der palästinensischen Nationalbewegung erläutert Haniye im intifada-Interview.


intifada: Was ist das politische Programm der Hamas?

Haniye: Hamas ist eine allumfassende Volksbewegung, die auf allen Ebenen des Lebens der Palästinenser tätig ist. Auf politischer Ebene arbeitet Hamas an der Beendigung der zionistischen Besatzung unseres Landes. Unsere Ziele sind Unabhängigkeit, Rückkehr und Selbstbestimmungsrecht. Hamas akzeptierte das Minimalprogramm des nationalen Konsenses. Das ist der palästinensische Staat in den Grenzen vom 5. Juni 1967, Jerusalem als Hauptstadt, das Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge und die Freilassung aller Gefangenen und Verhafteten.

intifada: Würde Hamas unter gewissen Umständen den Staat Israel anerkennen?

Haniye: Die israelische Besatzungsregierung erkennt kein einziges Recht des palästinensischen Volks an und lehnt sogar das kurze Einfrieren des Siedlungsbaus in unserem Land ab. Gleichzeitig fordert sie Anerkennung und stellt Israel als Opfer dar. In der Realität sind wir das Volk, das unter Israels Besatzung, Terror und Dauerkrieg leidet. Daher ist diese Frage verkehrt. Nicht die Opfer sollten nach Anerkennung der Besatzung gefragt werden. Es ist die Besatzung, die nach der Anerkennung unserer Rechte oder unserer Existenz in unserem Land zu fragen ist. Unsere Position ist klar: Wir können die Besatzung in unserem Land nicht anerkennen und noch weniger ihr Recht, unser Land zu besetzen.

"Nicht die Opfer sollten nach der Anerkennung der Besatzung gefragt werden. Es ist die Besatzung, die nach der Anerkennung unserer Existenz zu fragen ist."

intifada: Was ist Ihre Position zum "demokratischen säkularen Staat" in ganz Palästina?

Haniye: Es gibt mehrere Ansichten über die Beendigung des Konflikts und die Natur einer Lösung, wie z.B. "der Staat aller seiner Bürger" oder der "binationale Staat". Dies alles blieb nur Theorie und erreichte nicht das Stadium der politischen Praxis. Die einzige Praxis ist heute die der Besatzung, die täglich mehr arabisches Land verschlingt. Die Besatzung erkennt nicht einmal die Existenz unseres Volkes in seinem Land an. Auch in den Gebieten von 1948, dem Staatsgebiet Israels, leiden die Palästinenser unter dem Rassismus des Besatzungsstaats und seiner Gesetze. Das macht Diskussionen um Ein- oder Zweistaatenlösung zu einer bloßen theoretischen oder gar medialen Debatte, durch welche die Besatzung nur Zeit gewinnt, um das real Existierende fortzuführen: die rassistische und terroristische Kolonialexpansion.

intifada: Warum ist die palästinensische Opposition bislang darin gescheitert, eine alternative Führung zu Arafat und Abbas zu schaffen?

Haniye: Wer hat behauptet, dass die Opposition (falls diese Bezeichnung überhaupt korrekt ist) je angestrebt hätte, eine alternative Führung zu bilden? Wir haben innerhalb des palästinensischen politischen Systems gearbeitet und die Wahlen auf demokratischen Wegen gewonnen. Wir sind keine Opposition mehr, sondern eine Mehrheit - Ausdruck des Willens der palästinensischen Wähler. Die jetzige Spaltung ist eine Ausnahmesituation in der Geschichte unseres Volkes und wir arbeiten daran, diese zu beenden. Wir glauben, dass Palästina und die nationale Befreiungsbewegung das Zusammenwirken aller Kräfte benötigen, um unsere Ziele zu erreichen und den wahren Feind, die Besatzung, zu besiegen.

intifada: Wie bewerten Sie die Beziehung zu den anderen Widerstandsorganisationen, wie dem Islamischen Jihad und der PLFP?

Haniye: Die Beziehung zum Islamischen Jihad ist stark und fest und es gibt eine permanente Koordination. Auch mit der PFLP herrscht gegenseitiger Respekt. Im Handeln gegenüber der Besatzung herrscht zwischen uns und beiden Organisationen Konsens in der Ablehnung der sinnlosen Verhandlungen und des Verzichts auf die Rechte unseres Volkes.

intifada: Im siebten israelischen TV-Kanal wurde behauptet, dass Hamas eine Machtübernahme im Westjordanland vorbereitet.

Haniye: Es ist offensichtlich, dass die feindlichen Medien die Spaltung innerhalb der Palästinenser vertiefen und eine Feindschaft innerhalb des Volkes schaffen wollen. Wir haben oft betont, dass Dialog und Versöhnung der einzige Weg zur Lösung von internen Differenzen sind. Wir sind nicht von dieser Position abgewichen. Wir halten an der Notwendigkeit des Wiederherstellens der Einheit fest.

intifada: Was sind die wahren Gründe der fortlaufenden Blockade von Gaza? Wie sehen Sie die Rolle des ägyptischen Regimes?

Haniye: Die Blockade ist keine neue Methode, sondern ein weiterer Versuch des Besatzungsstaates, den Palästinensern seinen Willen zu diktieren. Diese Methode wird seit der Intifada im Jahr 2000 verwendet und wurde nach den Wahlen von 2006 verschärft, als Hamas die Wahlen gewann. Ziel dieser Blockade ist es, die Regierung von Hamas zu stürzen und eine Regierung zu bilden, die den US-amerikanischen Kriterien entspricht, die israelischen Sicherheitsforderungen erfüllt und bereit für weitere Verzichte auf unsere Rechte ist.

"Israel belagert nicht nur den Gazastreifen, sondern auch die palästinensischen Städte und Dörfer im Westjordanland - dort spricht man aber von Normalität."

Die ägyptische Regierung hat ihre eigenen politischen Ansichten, denen wir je nach dem Interesse unseres Volks zustimmen oder widersprechen. Dies geschieht jedoch im Rahmen von brüderlichen Differenzen, denn wir achten auf die enge Verbindung mit Ägypten auf allen Ebenen. Manchmal sind wir enttäuscht, manchmal sind wir einig, doch das belastet die Beziehungen mit Ägypten oder anderen arabischen Regierungen nicht. Die [arabisch-islamische] Nation bleibt unsere Reserve und unser strategischer Rückhalt.

intifada: Was wäre der politische Preis, den Hamas für die Aufhebung der Blockade gegen den Gazastreifen zu bezahlen hätte? Was sind die jetzigen Forderungen von Hamas?

Haniye: Israel belagert nicht allein Hamas in Gaza, sondern auch die palästinensischen Städte, Dörfer und Flüchtlingslager im Westjordanland. Dort spricht das politische Regime jedoch nicht davon und versucht, durch Verhandlungen den Eindruck von Normalität zu vermitteln. Es gibt jedoch keine Normalität. Die israelischen Sperren zermürben die Bürger. Die täglichen Angriffe und Stürmungen palästinensischer Häuser gehen weiter. Sie setzen die palästinensische Bevölkerung unter Druck. Sie soll mit der Bewältigung des Alltags so beschäftigt sein, dass kein Raum mehr für die großen politischen Fragen bleibt. Sie wollen, dass wir auf alle unsere Rechte und Ansprüche verzichten. Wer das akzeptiert, bekommt nichts. Die PLO hat die Besatzung anerkannt, verhandelt seit achtzehn Jahren und koordiniert mit ihr in Sachen Sicherheit. Das alles hat nichts gebracht und die Besatzung schraubt nur ihre Forderungen in die Höhe. Israel fand in Kollektivstrafe und Blockade eine neue Erpressungsmethode, um den politischen Preis permanent zu erhöben. Daher lehnen wir jeden politischen Preis zur Aufhebung der Blockade ab und rufen alle freien Menschen der Welt auf, sich zwischen dem Faustrecht und Menschenrechtskriterien zu entscheiden. Wir fordern alle auf, auf allen Ebenen zu arbeiten, um die Blockade zu beenden.

intifada: Wie schätzen Sie die politischen Entwicklungen nach dem israelischen Angriff auf die Freiheitsflottille ein?

Haniye: Die Besatzung beging mit dem Angriff auf die Freiheitsflottille und dem Mord an den türkischen Aktivisten einen großen politischen Fehler. Was geschah, ist zudem ein Verbrechen in jeder Hinsicht. Die Opfer wurden in internationalem Gewässer angegriffen, was eindeutig Piraterie ist. Wut über die zionistischen Exzesse war die Hauptreaktion und eine weltweite Protestwelle die Folge. Sogar Israel-nahe Regierungen waren nicht in der Lage, diesen Vorfall zu rechtfertigen. Israel hat mit diesem Verbrechen der Welt sein wahres Gesicht gezeigt und dadurch politisch und medial viel verloren.


Das Interview führte Mustafa Ilhan.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ismael Haniye: "Wir akzeptieren das Minimalprogramm des nationalen Konsens."

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ARABISCHER RAUM

Halbe-halbe

Über Obamas Abzug aus dem Irak, der keiner ist

Von Wilhelm Langthaler

Triumphierend verkündete Präsident Obama den Abzug der US-Truppen aus dem Irak. Doch was ist das für ein Abzug, bei dem über 50.000 Soldaten im Land verbleiben?


Für Triumphschreie gibt es wenig Anlass. Die Einigung auf den Regierungschef dauerte über ein halbes Jahr und die Bildung der Regierung selbst könnte an der Jahresmarke kratzen. Die zugrunde liegenden Konflikte sind nur babylonisch gekittet und können jederzeit erneut aufbrechen. Einzig sicher ist der iranische Einfluss. Washingtons deklarierter Erzfeind steht gestärkt da, während sowohl die USA als auch der Widerstand halbe Niederlagen zu verbuchen haben.

Am Höhepunkt des Besatzungskrieges befanden sich rd. 170.000 US-Soldaten im Land. Bereits unter Bush wurde ihre Zahl schrittweise heruntergefahren. Im Rahmen eines der berüchtigten Status of Forces Agreements mit der irakischen Regierung verbleiben bis auf Weiteres 50.000 Mann. Mehr befinden sich außerhalb der USA nur in Afghanistan und in Deutschland. Es gibt zwar die vage Versprechung einer weiteren Reduktion doch man kann davon ausgehen, dass Washington die Stützpunkte in dem strategisch so wichtigen Land dauerhaft behalten wird wollen. Das ist nicht nur zur Kontrolle der Region, sondern auch gegen den Iran zweckdienlich. Wie die Geschichte gezeigt hat, besteht für die USA keinerlei Problem, Jahrzehnte, ja Jahrhunderte lang militärische Stützpunkte im Ausland zu unterhalten.

Derzeit sind auch keinerlei Maßnahmen gegen die Militärbasen realistisch. Der bewaffnete Widerstand gegen die Besatzer, die versuchen territoriale Kontrolle auszuüben, ist schwer genug. Gegen in Stützpunkten verschanzte Truppen ist er noch ungleich schwerer.


Strategiewechsel

Obama und die europäischen Medien stellen den halben Abzug gern als Folge des demokratischen Entscheids des amerikanischen Wahlvolkes dar. Tatsächlich wurde der Strategiewechsel schon unter Bush eingeleitet. Er weicht von der imperialen Logik nicht ab. Obama setzte den Teilabzug nur fort und brachte ihn zu einem vorläufigen Abschluss. Die Kontinuitäten treten natürlich gegenüber Afghanistan und Palästina noch viel deutlicher hervor. Folgende Faktoren spielten dabei für den pragmatischeren Kurs der Weltmacht eine Rolle: Der Widerstand hatte sich gespalten, was zum konfessionellen Bürgerkrieg führte. Obwohl die US-Präsenz mit dem Bürgerkrieg 2007 ihren Höhepunkt erreichte, verlor der Widerstand an Perspektive und brach in der Folge massiv ein.

Seitens der USA verwarf man mangels Erfolg den Versuch, ein vollständig abhängiges Regime zu errichten. Man musste schlicht hinnehmen, dass der Gegner Iran erheblichen Einfluss erlangte. Washington gibt sich damit zufrieden, Gegenkräfte in Stellung zu bringen, möglichst für Stabilität zu sorgen und eben gewaltige Stützpunkte zu unterhalten. Zudem sind die Gegensätze im schiitisch-proiranischen politischen Bereich so groß, dass Manöverspielraum für die USA erwartet werden kann.

Der Iran steht als einzige Partei im Kräftemessen gestärkt da, während sowohl die USA als auch der Widerstand halbe Niederlagen zu verbuchen haben.

Das Ziel der Stabilität hatte nicht immer diesen Stellenwert. Anfangs ging es vielmehr darum, das alte Regime gründlich auszumerzen und der Welt zu zeigen, wie mit Opponenten verfahren wird. Die Neocons sprachen gar vom kreativen Chaos. Der Bürgerkrieg diente schließlich dazu, den unerwartet starken Widerstand zur Selbstzerfleischung zu führen und eventuell ein konfessionalistisches System nach libanesischem Muster zu etablieren. Erweisen sich schon im Libanon die Schwierigkeiten zur westlichen Kontrolle des Systems als erheblich, funktioniert das Modell im Irak noch weniger. Ab einem gewissen Zeitpunkt wurde der konfessionelle Zwist als dysfunktional angesehen. Global begann man nach einigen Jahren des Krieges, den USA das Chaos als Schwäche auszulegen.

In dem Maße, in dem der Krieg in Afghanistan eskalierte und die Kraftprobe mit dem Iran ins Zentrum der Weltpolitik rückte, musste man im Irak pragmatisch eine halbe Niederlage hinnehmen und versuchen, das Beste daraus zu machen: einerseits die Militärbasen, andererseits einen gewissen Einfluss auf die Regierung und vor allem auf den Militärapparat beizubehalten. Die wirtschaftlichen Interessen liegen auf der Hand und bedürfen hier keiner weiteren Analyse. Die neuralgischen Punkte im Weltsystem haben sich verlagert. Der Irak selbst bleibt eher unter dem antiiranischen Blickpunkt interessant.


Regierungsbildung unter Widersprüchen

Die Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung legen Zeugnis darüber ab, wie tief und gleichzeitig unübersichtlich und vielgestaltig die Widersprüche sind. Die Elite bleibt über die Ausrichtung des Staates zutiefst gespalten.

Die Liste Allawis (Iraqiyya) verfügt als stärkste einzelne Kraft über rund ein Viertel der Mandate (91 von insgesamt 325). Ihr fliegt die Sympathie der USA zu und sie ist als einzige offen antiiranisch. Sie konnte daher unter den Sunniten erhebliche Unterstützung finden, die sich im Gegensatz zu den ersten Wahlen diesmal viel stärker beteiligten. Ihre wirkliche Stärke ist es, trotz der sunnitischen Unterstützung überkonfessionell zu sein. Allawis Begehrlichkeiten auf den Posten des Regierungschefs wurden jedoch enttäuscht, denn sowohl die parlamentarische als auch die Mehrheit des Volkes wünscht kein pro-amerikanisches Regime. Das hat auch Washington schon verstanden und bereitet sich auf die Fortsetzung der Regierung Maliki vor.

Der schiitisch-proiranische Block hatte sich vor den Wahlen gespalten. Deren drei Kraftpole sind um die Führer Maliki, Hakim und Sadr gruppiert. Natürlich geht es auch um persönliche Machtansprüche, Konflikte und Eitelkeiten. Doch kann man den Gruppen durchaus politische Eigenschaften zuordnen, wobei die Demarkationslinien oft verschwimmen.

Da der Krieg in Afghanistan eskalierte und der Iran ins Zentrum der Weltpolitik rückte, mussten die USA im Irak pragmatisch eine halbe Niederlage hinnehmen.

Der alte und neue Premier Maliki mit seiner "Allianz für den Rechtsstaat" (89 Mandate) steht für die Balance zwischen Teheran und Washington sowie gegen einen allzu starken ethno-konfessionellen Föderalismus. Er hatte sich dem iranischen Wunsch auf Fortsetzung eines all-schiitischen Blocks erfolgreich widersetzt und gewonnen.

Sadr ist stärker antiamerikanisch, moderat proiranisch, gegen konfessionalistischen Föderalismus, aber trotzdem konfessionell. Man könnte ihn als die proletarische Version des schiitischen Islamismus bezeichnen. Der Gegensatz zwischen den beiden besteht im Versuch Malikis, Sadr und seine Mahdi-Milizen militärisch auszuschalten. Das Übereinkommen zwischen ihnen beruht daher nicht auf Konsens, sondern auf dem intensiven Druck Teherans. Teile der Madhi-Armee verweigern, Maliki zu unterstützen, und haben Sadr de facto die Loyalität aufgekündigt. Ausdruck dieser Tendenz ist die Gruppe Asaib Ahl al Haq (Bund der Rechtgeleiteten), die immer wieder (symbolische) Anschläge auf amerikanische Interessen und insbesondere die Grüne Zone verübt. Seitens Washingtons wurde die Bewegung immer wieder als Beleg dafür ins Treffen geführt, dass Teheran irakische "Terroristen" unterstützen würde. Ihre Ablehnung Malikis zeigt indes deutlich, welch liebe Not Teheran mit dem schiitischen Islamismus im Irak hat - genauso wie die Tatsache, dass Teheran Maliki unterstützen muss, obwohl er gar nicht der Wunschkandidat ist.

Die dritte schiitisch-islamische Kraft um Hakims ISCI (Oberster Islamischer Rat) und die mit ihm eng zusammenarbeitenden Badr-Brigaden repräsentieren offen und direkt den Arm Teherans, insbesondere auch weil die Badr-Miliz in einem sehr engen Verhältnis zu den iranischen Revolutionsgarden steht. Sie verfechten die föderale Teilung des Landes mit einem möglichst großen schiitischen Anteil. Dennoch bildeten sie gemeinsam mit Sadr für die Wahl die "Irakische Nationalallianz", die über siebzig Sitze verfügt. Vierzig davon werden Sadr zugeordnet. Einst die dominante Macht unter dem schiitischen Islamismus, sind sie mit den vergangenen Wahlen zu den großen Verlierern geworden und auf dem besten Weg in die Bedeutungslosigkeit.

Nach einer halben Ewigkeit des Hin und Her machte schließlich doch Maliki das Rennen. Sowohl für Teheran als auch für Washington stellte er das kleinste Übel und den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, der dabei in der Lage scheint, den mühsam zusammengezimmerten Staatsapparat nicht zu sprengen. Die Verrenkungen, die dafür unternommen werden mussten, sind enorm und der nicht abgemachte Preis kann noch für Überraschungen gut sein. Allawi kaufte man mit zwei Maßnahmen ein. Einerseits erhielt der aus dem nationalistischen Milieu stammende Osama Nujayfi den Posten des Parlamentssprechers - übrigens das einzige handfeste Ergebnis für Iraqiyya. Für Allawi selbst wurde ein "Rat für strategische Politik" geschaffen, gänzlich abseits der Verfassung, dafür mit einem großen Hofstaat. Ob es sich um ein goldenes Abstellgleis handelt, lässt sich noch nicht sagen, jedoch soll Allawi keinen Zugriff auf die diversen bewaffneten Kräfte erlangen. Konflikte um die reale, machtpolitische Auslegung der Vereinbarungen sind also unvermeidlich, genauso wie über die Zusammensetzung der Regierung, die ihrer Ernennung noch harrt. Maliki hatte Sadr mit Ministerposten gelockt, deren Umfang er nun wohl zu minimieren bemüht sein wird.

Abgesehen von den nur notdürftig übertünchten Bruchlinien bleibt die wichtige Frage, ob Maliki in letzter Konsequenz Teheran oder doch Washington verpflichtet ist. Es ist klar, dass ein amerikanisches Vorgehen gegen den Tran über den Irak (in welcher Form auch immer) die konfessionelle Karte vermeiden wird müssen. Denn mobilisierten die USA die Sunniten gegen die Schiiten, dann würde Maliki als Retter der Schiiten auf die iranische Seite gedrängt. Konzipiert man aber einen Konflikt arabischer Irak gegen den persischen Iran, könnte man eventuell einen beträchtlichen Teil auch des schiitischen politischen Islam unter der Führung Malikis an sich ziehen.


Widerstand?

Der sprunghafte Anstieg des (bewaffneten) Widerstands nach der Invasion forderte nicht nur die Weltmacht USA heraus, sondern zog die Welt in seinen Bann. Kein Staat der Erde gewährte ihm Unterstützung und dennoch gelang es ihm, Bushs Worte von der "mission accomplished" lächerlich zu machen. Als sich 2004 sogar die politische Vereinigung der sunnitischen und schiitischen Komponenten abzuzeichnen schien, gelang einer isolierten Volksbewegung, was Großmächte wie China und Russland weder wollten noch konnten: nichts weniger als das American Empire in Frage zu stellen.

Das vereinigende Moment reichte jedoch nicht aus und die zentrifugalen Tendenzen überwogen schließlich. Die USA förderten eine lange Zeit die ethno-konfessionelle Spaltung, die in ihrem Interesse war. Sie glaubten den Tiger mit der Dreiteilung des Landes in Schiiten, Sunniten und Kurden zähmen zu können. Doch die zerstörerische Kraft des Konflikts, der sich exponentiell aufschaukelte, entglitt den Möchtegern-Nationbuilders. Hatten sie seit dem Scheitern der "direct rule" unmittelbar nach der Invasion auf die Schiiten gesetzt, gewannen diese nun zunehmend die Oberhand. Damit erstarkte v.a. der Iran, der inzwischen von den USA zum Hauptgegner erklärt wurde. Man zog die Notbremse, stoppte die Debaathisierung, die einen antisunnitischen Einschlag hatte, und nahm den Widerstand in Form der Sahwa-Milizen (Arabisch für "Erwachen") in seinen Sold. Dies wurde auch möglich, weil dieser sich in einem Dreifrontenkrieg gegen die USA, den Iran und die militanten Takfiris (in den westlichen Medien unter al Qaida subsumiert) befand.

Es wäre jedoch eine sträfliche Vereinfachung (die man bei den Sympathisanten des Widerstands leider allzu oft vernehmen muss) allein die CIA für den Bruderzwist verantwortlich zu machen. Es gibt in der Geschichte des Zweistromlandes unzweifelhaft die Konfession als identitäres Moment. Es ist weder das einzige Moment, noch notwendigerweise das wichtigste. Je nach Umständen kann es in den Vordergrund rücken oder zurücktreten. Es zu leugnen wäre jedoch Selbstbetrug. Damit verbunden ist das Verhältnis zum größeren Nachbarn Iran, der von den Sunniten als Erzfeind, schlimmer als die USA, oder aber von den Schiiten als natürlicher Verbündeter angesehen wird - ohne darüber notwendigerweise die arabische Identität zu vergessen.

Auch wenn der Widerstand nicht siegen konnte, so hat er für den globalen Befreiungskampf dennoch einen bahnbrechenden Beitrag geleistet.

Weder der dem sunnitischen noch jener dem schiitischen Milieu entspringende Widerstand ist sich des Problems in vollem Ausmaß bewusst, geschweige denn verfügen sie über eine Strategie zur Überwindung der Spaltung. Bekenntnisse zur formalen Gleichheit französischen Typs sind billig und lösen doch nichts. Vielmehr bedarf die Versöhnung tatsächlicher demokratischer Partizipation und sozialen Ausgleichs als Beweis dafür, dass die konfessionell konnotierten Unterdrückungsverhältnisse nicht nur unter Saddam, sondern vor allem auch unter der britischen Herrschaft davor, nicht zurückkehren.

Hinzu kommt, dass heute der Iran im Visier des Westens steht. Das darf auch der Widerstand, unter dem es Strömungen gibt, die den Iran als den Hauptfeind ansehen, nicht leugnen. Zumindest müsste er die Rangordnung der Feindschaft verkehren und die USA an erste Stelle reihen, womit ein taktischer Ausgleich mit Teheran möglich würde.

Radikalere schiitische Gruppen, die gegen die US-Präsenz stehen, haben wiederum das Problem, dass sie nicht gegen die Regierung vorgehen können und wollen, die trotz zahlreicher Mängel als schiitische, als eigene, angesehen wird. Solange vom sunnitischen Widerstand kein ernsthaftes Angebot kommt, bleibt die Regierung das kleinere Übel. So beteiligte sich Sadr trotz aller großen Worte immer am neuen Regime.

Es würde nicht verwundern, wenn dieses Angebot schließlich von proamerikanischer Seite gemacht würde. In gewissem Sinn ist Allawi bereits ein Vorbote dessen. Wenn es opportun erscheint, werden die USA urplötzlich zu Verkündern des Säkularismus, eines multikonfessionellen und multiethnischen Staates und der sunnitisch-schiitischen Versöhnung, so als wäre nichts gewesen. Damit würden sie dem Widerstand seine potenziell stärkste politische Waffe entreißen, die er im Moment nicht zu nutzen weiß. Pragmatisch genug dafür ist man in Washington allemal. Die Pirouette von der Unterstützung der sunnitischen über die schiitische Herrschaft könnte durchaus zu einem säkularen Irak zu Ende gedreht werden. Man erinnere sich nur an Afghanistan, wo Washington Jahrzehnte den islamischen Fundamentalismus gegen das säkulare, linke Regime unterstützte und nun gegen die Taliban wiederum den Säkularismus beschwört.


Fazit: Ist der Widerstand gescheitert?

Ist nun aber der Widerstand gescheitert und waren all die Opfer umsonst? Ganz und gar nicht. Auch wenn der Widerstand nicht siegen konnte und sich gegenwärtig in strategischen Schwierigkeiten befindet, so hat er für den globalen Befreiungskampf der Unterdrückten dennoch einen bahnbrechenden Beitrag geleistet:

1.) Er hat gezeigt, dass Widerstand David gegen Goliath möglich ist.

2.) Es war dieser irakische Widerstand, der das American Empire in die Schranken gewiesen bat und seine Expansion anhielt.

3.) Er hat den Tendenzen hin zur multipolaren Welt einen kräftigen Anstoß verliehen, den die USA nur mehr mit größten Anstrengungen zu stoppen versuchen können.

4.) Und schließlich hat er nicht nur viele andere Widerstandsbewegungen in der Welt angespornt, sondern in kurzen Momenten die vereinigende Kraft gezeigt, im Land wie weltweit. Der Volkswiderstand als Motor der Weltpolitik!

All das lässt eine Vorahnung zu, welche Kraft ein politisches Projekt des Widerstands zu entfalten vermag, das eine universale globale Perspektive gegen den Imperialismus-Kapitalismus entwickeln kann.


INFO

Sahwa am Ende: Rekomposition des Widerstands

Der Doppelschlag konfessioneller Bürgerkrieg und amerikanische Sahwa-Miliz versetzte dem Widerstand einen schweren Schlag. Innerhalb kurzer Zeit ging die militärische Aktivität rapide zurück. Nicht nur politisch war das eine Katastrophe, sondern auf einmal waren Zehntausende ehemalige Kampfgefährten zu potenziellen Informanten des Feindes geworden. Doch war Sahwa mit der Versprechung verbunden, den Sunniten wieder zu einer signifikanten Vertretung im Staatsapparat und vor allem in den bewaffneten Kräften zu verhelfen - was kläglich scheiterte. Die Maliki-Regierung verweigerte ihnen die Aufnahme und übernahm von den USA die Zahlungsverpflichtung an die Milizionäre, die militärisch kaum noch eine Funktion haben. Viele ihrer Anführer wurden von Al Qaida und anderen Widerstandsgruppen getötet. Folge ist, dass heute der Widerstand keine Massenbewegung mehr wie 2004/5 ist, sondern stark professionalisiert und klandestin arbeitet. Politisch profitiert hat einerseits die Baath, die (gestützt auf den Sufi-Orden der Naqschbandiya des Oberkommandierenden und ehemaligen irakischen Vizepräsidenten Izzat al Durri) die Isolation überstehen konnte und von Sahwa nur wenig betroffen war. Viele säkularen Kräfte bewegten sich mangels Alternative wieder auf sie zu. Andererseits gibt es Berichte, dass sich auch Al Qaida halten konnte, die mit ihrer unversöhnlichen Haltung Kämpfer aus den durch das Sahwa-Phänomen zerrissenen Widerstandsgruppen anzöge. Die Versuche, eine politische Front des Widerstands unter Einschluss schiitischer Repräsentanten (aber ohne Al Qaida) zu bilden, dauern an. Es ist durchaus möglich, dass sie angesichts der gemachten Erfahrungen auf fruchtbareren Baden fallen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Der Abzug der amerikanischen Truppen droht zu einer Farce auszuarten.
- Die US-Einsätze wurden reduziert - irakische Soldaten sollen nun übernehmen.
- Nicht nur die US-Soldaten, auch der Widerstand konnte Erfolge verbuchen.

Raute

INTERNATIONAL

Bolivarianischer Prozess in der Ebbe

Eine politische Analyse der jüngsten Parlamentswahlen in Venezuela

Von Gernot Bodner

Am 26. September 2010 fanden in Venezuela Wahlen statt. Nach einem innenpolitisch schwierigen Jahr musste die Parteienallianz von Hugo Chávez mit einem Rückschlag rechnen.


Die rechte Opposition wiederholte ihren Fehler des Wahlboykotts von 2005 nicht, sondern trat mit einem kompakten Block an. Die äußerst knappe Mehrheit für das bolivarianische Lager wirft wieder einmal die Frage auf: Wie weiter mit der "Revolution ohne Revolution"? Das rasante Wirtschaftswachstum in Venezuela mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate des BNP zwischen 2004 und 2008 von 8,8 Prozent war durch die hohen Weltmarktpreise für Erdöl finanziert. Als Erfolg kann die Regierung Chávez verbuchen, durch staatliche Investitionspolitik sowie einen durch ihre Sozialpolitik gestiegenen Konsum das Wachstum auch auf die Sektoren jenseits des Erdöls ausgedehnt zu haben. Diese erreichten sogar höhere Wachstumsraten. 2009 schrumpfte die venezolanische Wirtschaft jedoch mit 2,9 Prozent stärker als erwartet. Durch die geringeren Öleinnahmen musste die Regierung ihre Ausgaben um 6 Prozent kürzen, wobei jedoch die Sozialprogramme von diesem Sparpaket ausgenommen waren. Da der Staat besonders unter der bolivarianischen Regierung ein wichtiger wirtschaftlicher Motor in Venezuela ist und gegenüber den sinkenden Auslandsinvestitionen stark an Bedeutung gewonnen hat, wirkten sich die Kürzungen in der Rezession besonders negativ aus.


Oligarchie nutzt Probleme

Die Binnenproduktion litt zudem auch unter dem fixen Wechselkurs der hoch bewerteten Nationalwährung gegenüber dem Dollar. Damit kam sowohl die venezolanische Exportwirtschaft am Weltmarkt in eine nachteilige Situation als auch die inländische Produktion gegenüber den Importen, die für Konsumgüter immer noch bei 60 Prozent liegen. Im Januar 2010 wertete die Regierung die Währung ab, um die Wirtschaft anzukurbeln. Für dringende Importe von Gütern für den Massenkonsum gilt dabei jedoch weiterhin ein höherer Wechselkurs als für Luxusgüter.

Die Schwierigkeiten Venezuelas wurden von der Oligarchiewie schon in vergangenen Jahren genutzt, um durch Drosselung der Produktion, Hortung von Waren und Preistreiberei die Versorgungslage weiter anzuspannen. Für Skandale sorgten aber nicht nur oppositionelle Unternehmer, sondern auch die neureichen Regierungsgünstlinge, die "Bolibourgeoisie". Im November 2009 verstaatliche die Regierung vier Privatbanken, deren Direktoren der Unterschlagung von Bankvermögen überführt worden waren. Einer von ihnen war der Bruder des langjährigen Chávez-Vertrauten und Wissenschaftsministers Jesse Chacón, der in Folge seinen Rücktritt einreichen musste.

Die Stärkung der Opposition liegt vor allem darin begründet, dass sie die politische Handlungsfähigkeit auch institutionell wiedererlangt hat.

Zu all dem kam dann noch eine ausgeprägte Dürre. Da Venezuelas Energieversorgung zu 70 Prozent aus Wasserkraft gespeist wird und der Konsum im letzten Jahrzehnt stärker gestiegen war als die Produktion, führte die Dürre zu einer Elektrizitätskrise mit Stromabschaltungen in der Hauptstadt.

Zuletzt bediente sich die Opposition noch eines Lieblingsthemas: der Kriminalität, die unter der bolivarischen Regierung angestiegen ist. Dass Chávez mit einer umfassenden Polizeireform einen neuerlichen Versuch gestartet hat, das Problem bei der Wurzel zu packen, spielte für die Propagandaschlacht der Rechten wenig Rolle.


Die Opposition formiert sich neu

Nach der Niederlage der Rechten im Abwahlreferendum 2004 und der fulminanten Wiederwahl von Hugo Chávez für eine dritte Amtsperiode im Dezember 2006 mit 63 Prozent der Stimmen, war die rechte Opposition zerrieben. Dazu kam ihre tiefe innere Spaltung, was die Strategie betraf. Der radikalen außerparlamentarischen Linie, die sich 2005 mit dem Boykott der Parlamentswahlen durchgesetzt hatte, war es nicht gelungen, die bolivarianische Macht zum Wanken zu bringen.

Mit Manuel Rosales, dem Gouverneur des Erdölstaates Zulia - einer oppositionellen Hochburg mit separatistischen Anwandlungen - war es der heterogenen antichavistischen Parteienlandschaft dennoch gelungen, sich 2006 um einen gemeinsamen Kandidaten zu formieren. Als aktivistische Kraft wirkte die studentische Oberschicht von Caracas für die rachitischen Altparteien als Schrittmacher in den Zeiten der institutionellen Marginalisierung. Die Niederlage von Chávez im Referendum um die Verfassungsänderung vom Dezember 2007 war der erste Etappensieg der Opposition nach Jahren der Wahlniederlagen auch wenn dieses Ergebnis eher dem Auslassen der chavistischen Wählerbasis, denn der numerischen Stärkung der Rechten zuzurechnen war.

Im Juni 2009 einigten sich elf Oppositionsgruppen auf ein gemeinsames Antreten gegen den bolivarianischen Block bei den Parlamentswahlen. Die Allianz (MUD, Tisch der demokratischen Einheit) reicht von der traditionellen Elite von COPEI und AD, über die konstant antichavistischen "Links"parteien MAS, Causa R und Bandera Roja, bis zu der aus der bolivarianischen Koalition 2007 ausgeschiedenen Partei PODEMOS.

Neben der MUD hatte sich im Vorfeld der Wahlen Anfang des Jahres auch die Partei "Vaterland für Alle" (PPT) aus dem Regierungslager zurückgezogen und trat nun eigenständig als "dritte Kraft" an. Somit verblieben in der bolivarianischen Koalition nur noch die Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV) von Hugo Chávez, die Kommunistische Partei (PCV) und die Partei UPV (Volkseinheit Venezuelas) von Lina Ron.


Ein knappes Ergebnis

Die Wahlen endeten mit einem knappen Sieg für den bolivarianischen Block. Er erreichte mit 98 Sitzen eine relative Mehrheit gegenüber der MUD (65 Sitze) und der PPT (2 Sitze). Viel wurde über die absolute Zahl an Stimmen spekuliert, da Venezuela seit einer Wahlrechtsreform 2009 eine Kombination von Mehrheits- und Proportionalwahlrecht eingeführt hat. Die Opposition warf Chávez vor, das Wahlrecht und die Wahldistrikte zugunsten des Regierungslagers geändert zu haben. Tatsächlich konnte das bolivarianische Lager mit geringem Stimmenvorsprung über die nach dem Mehrheitsprinzip direkt gewählten Distriktkandidaten einen deutlichen Vorsprung an Sitzen gewinnen. Als Indikator für die absolute Stimmenzahl können die parallel abgehaltenen Wahlen zum lateinamerikanischen Parlament genommen werden, die ausschließlich als proportionale Listenwahl abgehalten wurden. Dort gewann das bolivarianische Lager mit 5.268.939 (46,7 Prozent) gegenüber 5.077.043 Stimmen (45,0 Prozent) für die MUD. Die Wahlbeteiligung lag bei 66,5 Prozent. Der Abstand zwischen den beiden Polen in der venezolanischen Gesellschaft ist also äußerst knapp. Allgemein stimmen Analysten überein, dass Venezuela eine dreigeteilte Gesellschaft ist: ein Drittel sind aktive Unterstützer der bolivarianischen Revolution, ein Drittel eingeschworene Anhänger der Opposition und ein Drittel steht indifferent in der Mitte. Dieses letzte Drittel (im Volksmund "ni-ni", "weder-noch" genannt) konnte jedoch auch von der PPT nicht mobilisiert werden, die hoffte mit einem gemäßigten "Chavismus ohne Chávez" ein hauptsächlich der Mittelschicht zuzurechnendes Segment anzusprechen, das die politische Polarisierung ablehnt.


Offener Ausgang

Die Parlamentswahlen brachten hinsichtlich der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse keine wesentliche Verschiebung. Die Stärkung der Opposition liegt darin, dass sie die politische Handlungsfähigkeit auch institutionell wiedererlangt hat. Damit kann sie die bolivarianische Revolution insofern bremsen, als diese den demokratischen Weg der Gesetzestreue gewählt hat. Selbst wenn die Figur des Präsidenten ein initiativer politischer Motor ist, braucht es die Zustimmung der Legislative. Für tiefer greifende Veränderungen ist in der kommenden Legislaturperiode keine Zweidrittelmehrheit mehr vorhanden. Geplante Maßnahmen wie die Ausweitung der Entscheidungskompetenz der Kommunalräte auf Provinzebene können so von der Opposition blockiert werden.

Was bleibt, ist die Kräfteakkumulation von unten: Der Moment des revolutionären Bruches behält auch in Venezuela seine unkalkulierbare Offenheit.

Soll oder muss Hugo Chávez also den demokratischen Weg verlassen, um die Revolution zu vertiefen und ihre sozialistischen Elemente auszuweiten? Kann er einen ausreichenden gesellschaftlichen Konsens erhalten, wenn er seine Anhängerschaft aus den Unterschichten auf die Straße ruft, um die potentielle Blockade von Rechts durch die direkte Aktion des Volkes zu brechen? Bleibt für den sozialistischen Weg nur die revolutionäre Methode der "Diktatur des Proletariats" jenseits der parlamentarischen Demokratie? Theoretisch und mittelfristig ist dies wahrscheinlich, unmittelbar aber kaum denkbar. Nicht nur die unentschlossene Mittelschicht würde vor einer Radikalisierung zurückschrecken. Auch Chávez' Regierungs- und Parteiapparat, in dem die "Bolibourgeoisie" eine signifikante Kraft darstellt, könnte an einem solchen revolutionären Protagonismus des Volkes zerbrechen. Ganz zu schweigen vom sicheren Eingreifen des US-Imperialismus, der einen derartigen Vorwand zur Isolation Venezuelas sehnlich herbeiwünscht. Was bleibt ist die Kräfteakkumulation von unten, der Kampf um Positionen in der PSUV und den Institutionen durch die linken Volksorganisationen. Der Moment des revolutionären Bruches behält auch in Venezuela seine unkalkulierbare Offenheit.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Hugo Chávez bleibt weiterhin Kristallisationspunkt des bolivianischen Prozesses.

Raute

INTERNATIONAL

Schlag gegen Putschisten

Zum Ergebnis des Verfassungsreferendums in der Türkei

Von Wilhelm Langthaler

Auf den Tag genau dreißig Jahre nach dem Militärputsch setzte der türkische Premier Erdogan seine Volksabstimmung über Verfassungsänderungen an.


Mit einer Wahlbeteiligung von mehr als siebzig Prozent und knapp sechzig Prozent Ja-Stimmen wird der Ausgang des Urnengangs berechtigterweise als Erfolg der regierenden AKP gewertet. Sie konnte weit über ihre islamische Klientel hinaus liberale, linke und auch kurdische Kreise ansprechen. So beteiligte sich der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk an einer Plattform mit dem Namen "Nicht genug, aber Ja". Man müsste den Putschisten einen Denkzettel verpassen, meinte er, ohne dabei jedoch die islamische Regierung zu unterstützen.

Die zur Wahl stehenden Verfassungsänderungen sind nicht sehr weitgehend, umso größer fällt ihre symbolische Bedeutung und die sie anzeigende Marschrichtung aus. Die Straffreiheit der Putschisten hat ein Ende - eine Forderung, die stark an den lateinamerikanischen Kampf gegen die Impundidad der dortigen Generäle erinnert und die auch dort noch nicht allerorts durchgesetzt wurde. Ein Ende des kemalistischen Inzests in der Justiz, die sich selbst zu perpetuieren pflegte. Nun sollen die Regierung und das Parlament bei den Besetzungen mitreden. Im Falle eines Parteienverbotes, welches die Justiz in den letzten Jahren immer wieder sowohl gegen kurdische als auch islamische Parteien aussprach, verlieren die gewählten Abgeordneten nicht automatisch ihre Mandate. Und Staatsbedienstete erhalten mehr gewerkschaftliche Rechte, einschließlich jenes auf Streik.


Putschistenstaat: zunehmend dysfunktional

Während die westlichen Medien keine eindeutige Position zum Referendum transportierten, unterschlugen sie jedoch wesentliche Hintergründe. Dass es gegen die Putschisten von damals ging, konnte man nicht verschweigen. Doch dass der engere Staatsapparat noch immer vom soziopolitischen Block von damals kontrolliert wird und vor allem, dass der Westen, die NATO und Europa die Putschisten mit allen Kräften unterstützten, hört man kaum. Gerade der letzte Staatsstreich von 1980 war der blutigste und brutalste. Er richtete sich gegen die erstarkende Linke, die die Macht der durch die globale Mobilisierung im Kalten Krieg gepanzerte kapitalistische Elite schwächen oder gar brechen wollte. Diese Junta stürzte das Land in den bis heute andauernden Krieg gegen die Kurden, in dem sich die Militärs nach wie vor auf die Unterstützung des Westens inklusive seiner Medien verlassen können.

Mit dem Coup verlor auch der Kemalismus den letzten Funken an Fortschrittlichkeit. Er diente jedenfalls zur Etablierung eines starken Nationalstaates, der zu einer gründlichen kapitalistischen Modernisierung von oben in der Lage war. Leistungen, die nur wenige andere Eliten an der Peripherie vorweisen können und die ihm über lange Zeit die Hegemonie verschafften. Obwohl der Kemalismus diese mit dem Putsch, dem Ende des Kalten Krieges, dem islamischen Revival in der Region und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den 1990er Jahren unzweifelhaft verlor, bleibt ein harter, zäher Kern erhalten. Zumindest ein Drittel des türkischen Wahlvolks kann er noch für sich verbuchen. Dass es sich dabei nicht allein um Mitglieder und Entourage der Oligarchie handeln kann, liegt auf der Hand.

Das Verfassungsreferendum in der Türkei kann als Schritt zur Demokratisierung und Absetzbewegung vom Westen interpretiert werden.

Erst mit der islamischen Wahlbewegung konnte die Militäroligarchie Schritt für Schritt zurückgedrängt werden. Zwar wehrten sich die kemalistischen Generäle heftig, ließen ihre Richter Verbote aussprechen und setzten ihren Mafiastaat gegen jegliche Opposition ein - nicht nur gegen die islamische, sondern auch gegen die linke und die kurdische. Nicht, dass sie nicht schon zuvor ihren schmutzigen Krieg geführt hätten, aber den moderaten Islamisten gelang, was der Linken verwehrt geblieben war: den Krieg an das Licht der Öffentlichkeit zu ziehen und die Mehrheit dagegen aufzubringen. Die Wende war der Fall Ergenekon. Wie sehr die Behauptungen der Generalsverschwörung im Einzelnen wahr sind, lässt sich schwer beurteilen. Sicher ist ein gerüttelt Maß an Gegenangriff des Regierungsmilieus enthalten. In der Substanz gab und gibt es diesen nun endlich angeklagten "tiefen Staat" aber. Er ist einfach die Fortsetzung des Putschregimes und des Gladio-Netzwerkes im Kampf gegen die Linke und die kurdische Bewegung, die dann auch gegen die islamischen Kräfte in Stellung gebracht wurden. Bis Mitte der 1990er Jahre hatte man noch versucht nach dem Muster des Kalten Krieges islamistische Gruppen ("türkische Hizbollah") gegen die PKK zu instrumentalisieren.

Diese schrittweise Verschiebung war nur deswegen möglich, weil der Westen keinen Einspruch erhob. Die Militäroligarchie hatte im Kalten Krieg ihre Schuldigkeit getan. Nach dessen Ende wurde sie zunehmend anachronistisch und schließlich sogar zur Bürde. Die Zeichen standen mit Clinton auf Demokratie nach dem Zuschnitt der lateinamerikanischen "transición", also ein Facelifting ohne substanzielle soziopolitische Veränderungen. Doch die kemalistische Ideologie erwies sich als zu starrköpfig im antikurdischen Chauvinismus und Säkularismus festgebissen. Der Wunsch der breiten Massen nach einer demokratischen Normalisierung weg von der De-facto-Militärdiktatur nahm auch angesichts des übergeordneten Trends in der gesamten Region islamische Formen an - ein rotes Tuch für den spätkemalistischen herrschenden Block. So wurde dieser zum Hindernis bei der Annäherung an die EU, allem voran in der Zypernfrage, wo sich die AKP als kompromissbereit zeigte, während die Armee am Status ihrer Eroberungen nicht rütteln wollte. Auch bei den Kurden und der formalen Demokratie verlangten die EU-Eliten Lockerungen, nicht der Kurden oder der Massen wegen, sondern für die Stabilität des Regimes und seine Kompatibilität mit dem EU-Herrschaftssystem.

Es geht nicht an, dass die antikapitalistischen Kräfte des Landes im gegenwärtigen Konflikt die reaktionärsten Kräfte um das Militär unterstützen.

Einige Linkskemalisten und auch Teile der antiimperialistischen Linken argumentieren daher, dass die AKP und ihr Block zur Hauptstütze des Westens und insbesondere der EU avanciert sei. Erstere unterfüttern damit ihre abgenutzte Unterstützung für den säkularen Militärstaat. Zweitere leiten daraus ihre Neutralität zwischen den Blöcken ab. Für den Westen ist sein alter Verbündeter einfach nicht mehr zweckdienlich, weil er offensichtlich die Fähigkeit zum Herrschen verloren hat. Setzten sie weiter auf ihn, würden sie Gefahr laufen, dass ihnen die Türkei um die Ohren flöge. Das heißt aber keineswegs, dass sie ihn fallen gelassen hätten, denn die Armee und die zentralen Hebeln der staatlichen und wirtschaftlichen Macht befinden sich immer noch in den Händen der Altkemalisten.

Eine Demokratisierung erweist sich für den Fortbestand des kapitalistischen Systems als unerlässlich. Das kann aber nicht heißen, dass antikapitalistische und antiimperialistische Kräfte im gegenwärtigen Konflikt wegsehen oder gar die reaktionärsten Kräfte um das Militär unterstützen, weil sie die offensichtliche Operation der globalen Eliten durchkreuzen wollen. Vielmehr muss es darum gehen, den Übergang so anzutreiben, dass er sich in Richtung einer echten Demokratisierung im Sinn der Herrschaft des Volkes und der sozialen Gleichheit entfalten kann. Die Unzulänglichkeit und Schüchternheit der Reformen muss angeklagt, ihre Fortsetzung insbesondere in der sozialen Dimension und die kurdische Selbstbestimmung betreffend, eingefordert werden. So kann aus dem potenziellen Widerspruch zwischen der neuen konservativen islamischen Elite, die das kapitalistische System ohne Bruch mit dem Imperialismus fortschreiben will, auf der einen Seite, und den einfachen Volksmassen auf der anderen Seite, eine reale politische Differenzierung entwickelt werden. Diesen Keil in den islamischen Block zu treiben wird nicht leicht sein, denn nicht alle Widersprüche verlaufen zwischen oben und unten. So ist beispielsweise der antikurdische Chauvinismus auch unter den einfachen Massen weit verbreitet, um nur ein Beispiel zu geben. Stellt man sich aber gegen den islamischen Block, erscheint man nicht nur als Feind der Demokratisierung, sondern stärkt die islamische Einheit zwischen Elite und Volk weiter.


Weiße gegen schwarze Türkei

Es reicht, einen schnellen Blick auf die regionale Differenzierung der Abstimmungsergebnisse zu werfen, um die soziale und kulturelle Spaltung des Landes zu erfassen. Die westlichen Küstenregionen und die europäische Türkei stimmten mehrheitlich mit Nein. Sie sind traditionell reicher, entwickelter, westlicher und soziokulturell nach wie vor unter der Hegemonie des Kemalismus - treffend die weiße Türkei genannt. Dem gegenüber steht das tiefe Zentralanatolien, das nicht nur arm und rückständig ist, sondern wo auch der Islam als Identität und Hoffnungsträger fungiert. Die zwei größten Städte Istanbul und Ankara, mit ihren Millionen Flüchtlingen aus Anatolien, sind entsprechend nach Stadtvierteln gespalten, stimmten aber mehrheitlich mit Ja, denn trotz des Glitzerns der Metropolen überwiegt dort die schwarze Türkei.

Die Metapher hat den Vorteil, vor ökonomistischem Reduktionismus zu schützen. Die positive Reaktion der Börsen auf den Ausgang des Referendums gemahnt dazu. Es gibt eben auch eine neue islamische Elite und die "Märkte" wünschen sich Stabilität, die ihnen die AKP eher bieten kann als das alte Eisen CHP & Co.

Es gibt aber noch andere Anomalien in dem eben gezeichneten Bild. Nicht um Izmir oder Mersin, alte kemalistische Hochburgen, sondern mitten im armen Herzen Anatoliens befindet sich jene Provinz, die mit über achtzig Prozent den höchsten Nein-Anteil aufweist, namentlich Tunceli, von seinen Bewohnern allerdings in kurdischer Sprache Dersim genannt. Selbst wenn man die Wahlbeteiligung kontrolliert, lässt sich nichts Auffälliges feststellen. Sie liegt nur unwesentlich unter dem nationalen Schnitt. Dersim ist als einzige Provinz mehrheitlich alevitisch, eine häretische islamische Strömung, die je nach Umständen sozialrevolutionäre oder auch liberale Positionen annehmen kann. Hier befand sich schon unter den Osmanen der Kern der Opposition und hier schlug in der Folge die revolutionäre Linke ihre Wurzeln. Selbst die PKK wurde hier geboren, bevor sie weiter östlich unter die sunnitischen Kurden vorstoßen konnte. Es sei daran erinnert, dass die sunnitischen Kurden seinerzeit den Genozid an den Armeniern unterstützten, währen die alevitischen Kurden auch damals auf der Seite der Unterdrückten standen.

Dersim ist bitterarm. Es ist Opfer des schmutzigen Krieges, in dem Felder, Wälder und Dörfer von der Armee niedergebrannt wurden und Hunderttausende in die Städte oder nach Europa flüchten mussten. Und dennoch überwiegt dort die Angst vor dem sunnitischen Islam. Die Jahrhunderte der blutigen Unterdrückung durch die sunnitische Herrschaft haben sich scheinbar tiefer ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben, als die Gräueltaten des kemalistischen Militärapparates der letzten Jahrzehnte.

Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich die Position der unter den Aleviten nach wie vor sehr einflussreichen radikalen Linken, die durchgängig zum Boykott aufgerufen hat. Es ist dieselbe Linke, die den Unterschied zwischen den zwei Blöcken nicht sehen will, beide als faschistisch bezeichnet und sogar am bewaffneten Kampf festhält. Hinter diesem ultralinken Radikalismus versteckt sich eine impotente Äquidistanz zwischen der alten Putschistenelite und dem Wunsch des Volkes nach mehr Demokratie, die sich allerdings sunnitisch-islamisch einkleidet und daher von den Aleviten nicht dechiffriert werden kann.

Selbst wenn einige Kader der Linken zu unseren Schlussfolgerungen kämen, sie würden sich unter ihrer eigenen Klientel furchtbar isolieren ... und so schließt sich der Kreis des Kulturkampfes auch im linken Gewand.


Sektiererische Fehler der PKK

Auch die PKK und ihre Vorfeldorganisationen riefen zum Boykott auf. So drohte der Bürgermeister der inoffiziellen kurdischen Hauptstadt Diyarbakir Osman Baydemir von der "Partei für Frieden und Demokratie" (BDP) mit Rücktritt, sollten sich mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung am Referendum beteiligen.

Das kurdische Argument ist prima vista verständlich: Erdogan hat in das zur Abstimmung gestellte Paket nicht einmal die elementarsten kurdischen Forderungen aufgenommen, wie zum Beispiel die Abschaffung der Zehn-Prozent-Hürde. Diese hat formal nichts mit der kurdischen Frage zu tun und böte sich als Zugeständnis geradezu an. Die AKP ist dazu nicht bereit, vermutlich auch aus Angst vor dem antikurdischen Chauvinismus unter ihrer eigenen Klientel. Die emotional verständliche Reaktion der PKK auf die Verweigerungshaltung der AKP ist aber nicht notwendigerweise der politischen Weisheit letzter Schluss.

Der Boykott hat nur in den Gebieten unter weitgehender Kontrolle der PKK gehalten, wie beispielsweise in der südöstlichsten Provinz Hakkari, wo unter zehn Prozent ihre Stimme abgaben. In der weiteren kurdischen Region folgte man ihm indes nicht lückenlos. Die Beteiligung lag zwischen zwanzig und fünfzig Prozent, meist bei einer Zustimmungsrate von über neunzig Prozent, der höchsten im Land überhaupt. Selbst Ahmet Türk, ein führender kurdischer Politiker, der mit einem Betätigungsverbot belegt wurde, musste nach bohrenden Journalistenfragen einräumen: "Von einem gewissen, von einem ethischen Standpunkt, bevorzuge ich das ,Ja', wenn nur ,Ja' und ,Nein' zur Wahl stünden."(1)

Eine Beteiligung der PKK am Referendum wäre ein symbolisches Zugehen auf die Regierung gewesen, ohne irgendein prinzipielles Zugeständnis.

Im Allgemeinen hat sich die PKK zu vielen, ja viel zu vielen Kompromissen bereit gezeigt. Sie hat sogar auf das elementare Recht auf Selbstbestimmung verzichtet, das immer auch die Möglichkeit der Abspaltung mit einschließt. Sie kooperiert mit der kurdischen Verwaltung im Nordirak, die mit den USA und Israel unter einer Decke steckt. Eine Beteiligung am Referendum wäre ein symbolisches Zugehen, ja sogar eine Form der von der Regierung vermutlich unerwünschten Umarmung gewesen, ohne irgend ein prinzipielles Zugeständnis, wie es oben beschrieben wurde. "Wir als Kurden unterstützen jeden Schritt gegen die Militäroligarchie, aber wir wollen gleichzeitig mehr." Das hätte nichts gekostet und wäre ein gewaltiger Schritt auf die türkische Mehrheit zu gewesen, eine Mehrheit, die es noch zu gewinnen gilt und die in der AKP repräsentiert ist. Diese ausgestreckte Hand hätte ein Teil des politischen Keils zwischen islamischer Elite und Volksmassen sein können, viel mehr als der Verzicht auf das Selbstbestimmungsrecht, der nur als Schwäche ausgelegt werden kann. So erhält Erdogan allein die Lorbeeren und zwar zu Recht.


Türkische Absetzbewegung

Die Türkei befindet sich in einem wichtigen Transformationsprozess, den es international einzuordnen gilt. Es handelt sich mit der Brücke zum Iran und zu Syrien, mit den Initiativen zu Gaza, um eine eindeutige Absetzbewegung von den imperialistischen Zentren, ohne antiimperialistisch geschweige denn antikapitalistisch zu sein. Diese Bewegung findet auf breiter Front von Brasilien über Afrika und Sri Lanka bis nach China statt, deren Speerspitze die offen antiimperialistischen Regierungen wie jene Venezuelas sind. Die USA und noch mehr Europa verlieren zunehmend an Macht und Einfluss, zumal diese nicht mehr in der Lage zu sein scheinen auf den Tisch zu hauen. Die globale Kraftprobe wird gegenwärtig über den Iran ausgetragen. Der Einsatz ist nichts weniger als die multipolare Weltordnung. Gegenwärtig kann nur schwer vorausgesagt werden, in welcher Form der sich aufstauende Konflikt ausgetragen werden wird und noch weniger, wie er ausgehen mag. Umgangen können die krisenhaften Momente jedenfalls nicht werden.

Während wir keinen Anlass haben, die Teheraner Führung politisch zu unterstützen, und noch weniger jene in Ankara und schon gar nicht jene eigenartigen kommunistischen Neokapitalisten in Peking, so stehen wir unbedingt auf der Seite der Multipolarität. Diese Regime werden im Konflikt mit dem Westen wohl oder übel die Unterstützung der Volksmassen brauchen und auf die eine oder andere Art versuchen müssen, sie zu mobilisieren. Zudem sind wir der Überzeugung, dass der Peripheriekapitalismus à la China keine dauerhafte Perspektive auf Entwicklung bieten kann, so wie es heute vielleicht sogar der globalen Mehrheit erscheinen mag. Unter den vielen neuen Polen wird sich auch ein universaler Pol wieder artikulieren können, nämlich der sozialrevolutionär-kollektivistische, besonders beim Auftreten von Krisenerscheinungen am chinesischen Modell. Er kann als einziger eine gemeinsame Identität jenseits der kulturalistischen bieten, deren Parteigänger sich nur allzu leicht gegenseitig in die Haare kriegen, egal wie antiimperialistisch sie auch sein mögen (siehe die Selbstzerstörung des irakischen Widerstands).

Will diese neokommunistische Kraft wachsen, dann muss sie die neuen Spielräume zu nutzen wissen und neue Blöcke und Bündnisse bilden. Der Weg ist weit und schnelle Erfolge können nicht versprochen werden. Sicher ist jedoch: Wer wie die türkische Linke die alten Pfade nicht verlässt, der ist zum Scheitern verurteilt.


Anmerkung

(1) http://kurdistancommentary.wordpress.com/2010/09/08/interview-with-ahmet-turk/


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Kemalismus und Moderne: Das Referendum hat die Macht des Militärs nun eingeschränkt
- Die Einschätzung der Position Recep Tayyip Erdogans fällt vielen Linken schwer.
- Das Ergebnis: In drei Vierteln der 81 Provinzen wurden die Änderungen angenommen.

Raute

INTERNATIONAL

Höchstrichter und Generäle

Interview mit Ridvan Kaya von der islamischen "Özgür Der"

Ridvan Kaya ist führendes Mitglied der linksislamistischen Gruppierung "Özgür Der" (Freier Gedanke) in der Türkei.


intifada: Was sagen Sie zum Ausgang des Referendums?

Ridvan Kaya: Wir sind mit dem Ergebnis durchaus zufrieden. Es ist ein deutlicher Schlag gegen die kemalistische bürokratische Oligarchie. Aber die Sache hat auch einen persönlichen Aspekt. Mein Name befand sich auf einer Liste der überführten Putschisten. Da kann ich nur jedes Interesse an der Unterminierung des Militarismus haben.

intifada: Welche realen Veränderungen wird das Ja bringen?

Kaya: Der wichtigste Punkt ist die Änderung des Modus der Postenvergabe bei den Richtern. In den letzten Jahren nahmen die Höchstrichter zunehmend die Rolle der faschistischen Generäle ein. Für sie ist die Politik der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) konterrevolutionär und muss gestoppt werden. Sie werden von Tag zu Tag intoleranter. Vergangenen Monat wurde unsere Vereinigung von sechs Höchstrichtern wegen einer politischen Erklärung angezeigt. Bald stehen also auch wir vor Gericht.

intifada: Steht die islamische Bewegung geschlossen hinter der AKP?

Kaya: In den islamischen Kreisen gab es heftige Diskussionen. Einige meinten, dass wir als Moslems niemals Verfassungsänderungen unterstützen könnten, selbst wenn sie zu unseren Gunsten wären. Es wäre eine Falle, mit der die AKP uns auf lange Sicht in das System integrieren würde. Daher boykottierten sie die Abstimmung. Aber die meisten Islamisten stimmten mit Ja, leider ohne irgendeine politische Erklärung oder weiterführende Ideen.

Unter dem Strich bleiben die AKP und die politische Positionierung ihr gegenüber die zentrale Frage für alle radikalen Kräfte in der Türkei.

Wir hingegen machten klar, dass wir die Verfassungsänderung als Schritt in die richtige Richtung betrachten. Aber wir fügten hinzu, dass wir gegen die Verfassung als ganze, gegen das System sind. Angesichts der Bedrohung durch die Nein-Front der Oligarchie riefen wir jedoch zur aktiven Unterstützung des Prozesses auf. Leider beteiligten sich einige linke Parteien am kemalistischen Chor. Ihre Feindschaft gegen die AKP übertönt die linken Positionen und sie stellen sich damit in die Nähe der Kemalisten.

intifada: Was halten die vom Boykott durch die PKK?

Kaya: Ich glaube, dass war sektiererisch und tat den Völkern der Türkei nichts Gutes. Sie hätten das Referendum gegen die Militärs unterstützen müssen und hätten in der Folge ihre Forderungen gegenüber der Regierung lauter und effektiver erheben können. Der Boykott funktionierte zwar in ihrem Einflussbereich. Aber es gelang ihnen nicht, ihre Basis zu erweitern. Jene, die dennoch stimmten, sagen mit überwiegender Mehrheit Ja. Unter dem Strich bleibt die AKP und die Positionierung ihr gegenüber die zentrale Frage für alle radikalen Kräfte. Wir sind jedoch für die Zukunft optimistisch.

Das Interview führte Wilhelm Langthaler.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Ridvan Kaya (l.) spricht auf einer Veranstaltung von "Özgür Der".
- Solidaritätskundgebung für den palästinensischen Kampf von "Özgür Der".

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INTERNATIONAL

Seismische Bewegungen

Der Aufstieg Chinas und das kapitalistische Weltsystem

Von Stefan Hirsch

Mittlerweile scheint ein Punkt erreicht, an dem der Aufstieg Chinas die Stabilität des Weltsystems in Frage stellt. Das bedeutet nicht automatisch ein asiatisches Zeitalter.


Zuerst muss man sich die Frage stellen, ob der chinesische Aufstieg tatsächlich dauerhaft ist oder nur eine vorübergehende Episode darstellt. Wachstumszahlen des Bruttoinlandsprodukts sind nicht alles - obwohl das chinesische Wachstum tatsächlich beeindruckend ist und die chinesische Wirtschaft nach einigen Maßzahlen mittlerweile die größte der Welt ist.

Die Karibik war eine der reichsten Regionen des 18. Jahrhunderts (davon merkten die afrikanischen Sklaven, die den Reichtum schufen, allerdings nichts). Argentinien zog Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche verarmte Einwanderer aus ganz Europa an. Gemessen am BIP pro Kopf ist der Golfstaat Qatar im Augenblick sogar das reichste Land der Welt. Das ändert aber nichts an Strukturen der politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Zentren der Weltwirtschaft: Als in den Napoleonischen Kriegen der Bedarf an karibischem Zucker fiel, versank die Karibik in einem Elend, aus dem sie bis heute nicht herausgefunden hat. Der Fall der Rohstoffpreise in den 1930er Jahren erledigte das argentinische Wirtschaftswunder, das auf den Export von Agrarprodukten gebaut war. Und sollte die Welt einmal das Öl des Golfes nicht mehr benötigen, dann bleibt dort gar nichts zurück.

Lange Zeit hatte es den Anschein, als sei das chinesische Wirtschaftswunder ähnlich gestrickt. Seit in den 1980er und 1990er Jahren die Exportorientierung begonnen hat, ist China zum Lieferanten für billige und arbeitsintensive Industrieprodukte geworden: Plastikdinosaurier, Nike-Sportschuhe, Ikea-Möbel oder das Zusammenstecken von Handys für den amerikanischen und europäischen Markt. Der Technologiegehalt dieser Produkte ist relativ niedrig, oder zumindest aus dem Ausland kontrolliert. Apple lässt seine iPhones in China zusammenschrauben, aber das bedeutet nicht, dass die Zulieferer jetzt diese Technologie kontrollieren oder die gleichen Profitmargen wie Apple aufweisen können. Eine solche Lohnfertigungsindustrie ist in jedem Fall der Rohstoffabhängigkeit vorzuziehen, bricht aber nicht aus den Strukturen der Abhängigkeit aus. Mit ein bisschen Mühe kann sich Apple einen Zulieferer in Indonesien sichern und mit weit weniger Mühe kann Nike seine Schuhe in Vietnam produzieren (was teilweise geschieht, weil China zu teuer geworden ist). Apple und Nike müssen aber gar nicht wirklich umziehen, die Drohung allein ist ausreichend, um die Preise für die bezogenen Leistungen niedrig zu halten.

Wenn man sich den Handel Chinas mit Europa ansieht, bleiben noch viele Merkmale einer relativ untergeordneten Stellung von Chinas Wirtschaft.

Nur trifft diese Problemlage auf China nur mehr teilweise zu. Tatsächlich ist die chinesische Wirtschaft der reinen Lohnfertigung seit den 1990er Jahren entwachsen. Unter staatlicher Planung und Leitung wurde ein strategischer Industriezweig nach dem anderen entwickelt. Neben der militärisch wichtigen Raketen- und Atomtechnologie war die Autoindustrie einer der ersten Schritte. Mit dem Köder des Zugangs zum chinesischen Markt zwang man ausländische Autokonzerne zum Technologietransfer an chinesische Partner. Heute ist China der wichtigste Automarkt der Welt und wenn sich bis dato auch noch keine Exporterfolge eingestellt haben, gibt es auch heimische Produzenten und vor allem eine leistungsfähige Zulieferindustrie. Der Markt für Hochgeschwindigkeitszüge und Ausrüstung befindet sich sogar zu mehr als der Hälfte in China - und eigene Produzenten halten einen Marktanteil von siebzig bis achtzig Prozent. Das wesentliche Zugsmodell hat man Kawasakis "bullet train" nachempfunden (oder geklaut), aber man kann billiger bauen als die Japaner. Um Aufträge in China zu erhalten, haben die großen westlichen Anbieter von Hochgeschwindigkeitszügen umfangreichem Technologietransfer zugestimmt; jetzt sind sie in einer unangenehmen Position: Chinesische Firmen bieten für die Strecke Los Angeles-San Francisco, bieten in Brasilien und in Saudi-Arabien. In Saudi-Arabien hat Siemens sein eigenes Gebot zurückgezogen und sich dem chinesischen Konsortium angeschlossen. Ein weiteres Beispiel: Unter den vier größten Telekomausrüstern ("network equipment") sind mittlerweile zwei chinesische Unternehmen. Die beiden anderen kämpfen mit Problemen durch sinkende Margen ob des Preisdrucks. Chinesische Unternehmen haben den Markt für Solarzellen aufgerollt - von großer symbolischer Bedeutung. Die alternativen Energieträger werden oft als Zukunft der europäischen Industrie gepriesen, und nun sieht es so aus, als könnte sich diese in China abspielen.

Die chinesische Technologie ist wahrscheinlich schlechter. Wenn wir bei den behandelten Sektoren bleiben: Über chinesische Dieselloks, die nach Afrika geliefert wurden, gibt es haufenweise Beschwerden. Genauso wie der erste Versuch, ein rein chinesisches Auto in Europa zu verkaufen, daran gescheitert ist, dass das Ding in der Kurve umfiel. Und bei chinesischen Solarzellen gibt es Probleme mit der Korrosion von Kontakten durch eindringendes Wasser. Solche Dinge muss man aber nicht überbewerten: Französische Hochgeschwindigkeitszüge bekommen Probleme bei Kälte (und sind dieses Jahr im Ärmelkanaltunnel stecken geblieben) und der deutsche ICE grillt seine Passagiere durch Klimaanlagen, die bei höheren Temperaturen ausfallen - wenn nicht gerade eine Achse bricht. Entscheidend sind diese möglichen Qualitätsunterschiede nicht, vor allem, wenn sie durch niedrigere Preise wettgemacht werden. Entscheidend ist, dass chinesische Unternehmen mittlerweile praktisch alles bauen können und mit diesen Produkten am Weltmarkt auch wettbewerbsfähig sind. China baut keine Verkehrsflugzeuge - aber das tut Japan auch nicht. Wer konkurrenzfähig Schaufelbagger, Containerschiffe und Atomkraftwerke (an Pakistan) verkaufen kann, der befindet sich auf keiner abhängigen, untergeordneten Position in der internationalen Arbeitsteilung.

Wenn man sich den Handel Chinas mit Europa ansieht, dann bleiben natürlich noch viele Merkmale einer relativ untergeordneten Stellung Chinas: das Spielzeug, die Textilien und die Elektronikartikel der Lohnfertigung auf der einen Seite, die deutschen Werkzeugmaschinen auf der anderen. Aber es gibt mittlerweile keinen automatischen wirtschaftlichen Mechanismus mehr, warum das immer so bleiben sollte. Der bereits stattgefundene Technologietransfer, die erreichten Erfahrungen chinesischer Unternehmen in standardisierter Massenproduktion, die Netzwerke von Zulieferern und der größte Binnenmarkt der Erde - es sind nicht nur niedrige Löhne, welche die Konkurrenzfähigkeit des chinesischen Kapitals ausmachen. So man nach Bereichen sucht, in denen westliche Konzerne tatsächlich noch unter sich sind, dann findet man einige Bereiche absoluter Hochtechnologie, vor allem aber Sektoren, die sich durch besondere Nähe zur westlichen Konsumgesellschaft auszeichnen. Die erfolgreichsten Unternehmen in diesen Bereichen kommen praktisch alle aus den USA, dem Land mit der wohl ausgeprägtesten Konsumkultur. Es gibt weder ein chinesisches noch ein indisches (aber auch kein deutsches) Starbucks oder McDonalds, kein Facebook und kein iPad. Der Erfolg eines Konzerns wie Apple besteht nicht in technologischer Innovation. Apple verkauft Lebensgefühl und Freude am Konsum als Selbstzweck. Ob ein Telefon, das man schütteln kann, um ein anderes Lied abzuspielen, oder die Genialität in der Vermarktung von Hamburgern ein wirklicher langfristiger Vorteil sind, bleibt abzuwarten. Defizite in diesen Bereichen bedeuten noch keine untergeordnete Stellung in der internationalen Produktion.


Neue Abhängigkeiten

Tatsächlich bilden sich eine Reihe neuer wirtschaftlicher Abhängigkeiten heraus, die auf China zentriert sind. China ist zum größten Handelspartner Australiens aufgestiegen, bezieht aber vor allem Rohstoffe: Kohle, Eisenerz und Kupfer. Neuseeland liefert Agrarrohstoffe. Chinesische Investitionen in Afrika steigen seit Jahren, größte Einzelinvestition war dabei die Übernahme von zwanzig Prozent der südafrikanischen Standard Bank durch die Industrial and Commercial Bank of China um 5 Mrd. Dollar. Und Chinas Exporte nach Afrika sind höher als jene der USA, Großbritanniens oder Frankreichs. Investitionsgüter wie Maschinen stellen dabei den größten Posten dar, während im Austausch Rohstoffe bezogen werden. China ist auch der größte Handelspartner von Ländern wie Japan, Indonesien oder Brasilien.

Das chinesische Engagement in Afrika ist auch schon in den westlichen Medien angekommen, üblicherweise als dumme Propagandageschichte. Etwa jene von der guten Weltbank, die der angolanischen Regierung Kredite nur gemeinsam mit einem Programm zur Korruptionsbekämpfung geben wollte, und den Chinesen, die dann eingesprungen sind und ohne Auflagen Geld geborgt haben. (Was dabei unter den Tisch fällt, ist, dass Angola im selben Zeitraum Geld von einer ganzen Reihe westlicher Banken erhalten hat, ohne Korruptionsauflagen - allerdings zu höheren Zinsen.) Der Vorwurf, die chinesische Regierung kaufe sich korrupte Regierungen, um die Rohstoffversorgung ihres Landes zu sichern, ist sicherlich vereinfacht - und wirkt sehr scheinheilig, wenn er von EU oder USA erhoben wird. Dennoch bilden sich eindeutig Formen einer ungleichen Arbeitsteilung heraus, die einer imperialistischen Wirtschaftsordnung entsprechen: Rohstoffe gegen Investitionsgüter. Wobei zu bemerken ist, dass im Gegensatz zu den westlichen Konzernen, die in Afrika tatsächlich in erster Linie die Rohstoffextraktion interessiert, die chinesischen Investitionen viel breiter gefächert sind und genauso Telekommunikation, Infrastruktur und Industrie (etwa in Ägypten) betreffen.

Tatsächlich bilden sich im Weltsystem eine Reihe neuer wirtschaftlicher Abhängigkeiten heraus, die auf Chinas Wirtschaft zentriert sind.

Dabei scheint es so, als würden westliche Konzerne in einem Spiel zurückgedrängt, das sie selbst erfunden haben: Der staatsmonopolitische Kapitalismus, der Staat als Organisator der großen Kapitalgruppen. In einem gewissen Sinn funktioniert China wie Frankreich in den 1960er Jahren. Der Staat trifft strategische Entscheidungen, er weist Banken zur Kreditvergabe an bestimmte Sektoren an, er kontrolliert den Marktzugang ausländischer Konkurrenz und organisiert den Technologietransfer. Und er lässt die Polizei ausfahren, wenn die Beschäftigten zu viel Lohn wollen oder eine eigene Gewerkschaft gründen - China ist autoritärer als Frankreich unter De Gaulle. Das tägliche Management wird den privaten oder halbstaatlichen Unternehmen selbst überlassen, die sich dann auch die Gewinne einstecken dürfen.


Eine Erschütterung des Weltsystems

Es ist keineswegs so, dass ein solcher Aufstieg in der internationalen Arbeitsteilung und Wertschöpfungskette bisher unvorstellbar war. Korea ist er gelungen, oder Taiwan, im Wesentlichen mit Methoden, die den chinesischen recht weitgehend entsprechen. Aber die Ankunft eines Giganten wie Chinas stellt durch ihre pure Masse eine Herausforderung für die Zentren des Weltsystems dar. Es ist die Frage, ob diese Erschütterung wirklich im Interesse der chinesischen Eliten liegt. Bis jetzt war man sehr zufrieden, in einer amerikanisch geführten Globalisierung mitzuschwimmen und langsam zur "Fabrik der Welt" aufzusteigen. Mit ein paar kleinen Ausnahmen hat die chinesische Außenpolitik jede Provokation der USA vermieden und erscheint im Allgemeinen sehr pragmatisch, solange niemand mit dem Dalai Lama spricht oder Taiwan anerkennt. Aber in gewissem Sinn ist man Gefangener der eigenen Größe.

1. Das rasche chinesische Wachstum hat einen Rohstoff-"Superzyklus" ausgelöst, der nach zwanzig Jahren des Preisverfalls in den letzten zehn Jahren für steigende Notierungen gesorgt hat. Ohne dass dadurch Strukturen nachhaltiger Entwicklung entstehen würden (eher im Gegenteil), führt das zu einem Bedeutungsgewinn von Staaten wie Russland, Südafrika, der gesamten Golfregion und des Irans sowie Brasiliens und Venezuelas. Wenn heute von der "multipolaren Welt" und den aufsteigenden Schwellenländern gesprochen wird, sind davon die meisten (mit Ausnahme von Indien und der Türkei, deren Wachstum aber viel störungsanfälliger ist) entweder China selbst oder jene, die von Chinas Aufstieg mitgerissen werden.

2. Das chinesische exportorientierte Wirtschaftsmodell ist nichts Neues. Der Versuch, Handelsbilanzüberschüsse zu erreichen, die Löhne niedrig zu halten und per staatlicher Intervention eine Unterbewertung der eigenen Währung zu erreichen, gehört zu den Strategien neoliberaler Entwicklung. Aber Chinas Größe macht Probleme: In einem gewissen Sinn hat China den Höhepunkt und das Fanal der Globalisierung eingeläutet. Das chinesische Beharren auf einer sehr niedrig bewerteten Währung und in der Folge großen Handelsbilanzüberschüssen bringt die Handelspartner (vor allem die USA) in die Schwierigkeit, diese chinesischen Überschüsse aufnehmen zu müssen. Und dass China das Gewicht seiner 1,3 Milliarden Menschen zählenden Bevölkerung voll hinter die Globalisierung geworfen hat, hat diese enorm beschleunigt und auch ihre Widersprüche zugespitzt. Ganz kurz zusammengefasst: Die Verschärfung der internationalen Standortkonkurrenz hat in immer mehr Bereichen die Löhne purzeln und die Kapitalsteuern verschwinden lassen. Tatsächlich gibt es den Kaufkraftverlust der Beschäftigten vor allem in den Industriestaaten - in China etwa sind die Löhne gestiegen. Aber weil die Mechanismen der Standortkonkurrenz für Shanghai genauso gelten wie für Detroit, und Unternehmen nach Vietnam oder in das chinesische Hinterland weiterziehen können, sind sie weniger stark gestiegen als etwa die Wirtschaftsleistung im Ganzen. In der Folge gibt es in Industriestaaten genauso wie in den Schwellenländern steigende Ungleichheit und einen abnehmenden Anteil der Löhne und Gehälter an den Einkommen. Da aus diesem Grund die unterliegende Konsumnachfrage weltweit relativ schwach bleibt, werden die im Gegenzug steigenden Gewinne und Kapitaleinkommen nicht (oder zu wenig) in Sachinvestitionen gesteckt. Wenig Lohnsumme, wenig Investitionen: Das ist die explosive Mischung, die in die Finanzkrise geführt hat.


China und die USA

Bis vor Kurzem waren sie Haupttriebkräfte und ihre Oligarchien Hauptgewinner der Globalisierung. Aber der jetzige Zustand ist langfristig nicht haltbar; vor allem den USA geht die Luft aus: Die einzige Weltmacht ist heute ein Land, in dem die Arbeitslosenrate (in weitester Abgrenzung) Richtung zwanzig Prozent geht, vierzig Millionen Menschen von Lebensmittelmarken leben und die Regierung nur mehr ein Drittel ihrer Ausgaben durch Steuereinnahmen finanziert. Mittelfristig ist es unmöglich, dass gleichzeitig ein Handelsbilanzdefizit von 250 Milliarden Dollar mit der Volksrepublik akzeptiert wird.

Es gibt die Möglichkeit, dass die USA China zu einer deutlichen Aufwertung seiner Währung zwingen und damit das exportorientierte Wachstumsmodell abschießen. Einiges spricht dafür, dass chinesische Unternehmen nicht immun gegen einen Wechselkursschock sind. Als der Euro ob der Griechenlandkrise auf 1,25 Dollar fiel, war die chinesische Solarindustrie sofort in Schwierigkeiten. (Ihr wichtigster Absatzmarkt ist Deutschland.) Und als Foxconn (Elektronik) die Löhne auf Grund einer Selbstmordwelle um vierzig Prozent erhöhen musste, wurde über Fabriken in den USA nachgedacht. Kann sein, dass China darob nicht nachgibt; kann sein, dass die USA daraufhin die Handelsschranken hochfahren: das Ende der Globalisierung. In jedem Fall ist China über kurz oder lang gezwungen, ein Wirtschaftsmodell zu verlassen, das den Export in die USA als Basis hat und über tausende Fäden mit den USA verbunden ist. Heute ist es tatsächlich so, dass jeder liberale Ökonom eine solche Vorgangsweise vorschlägt. Vielleicht sind sich die meisten nicht im Klaren, welche gewaltige Verschiebung das darstellen würde. China als unabhängiger Wachstumspol, der auch ein neues soziales Arrangement verlangt: Weniger Exportabhängigkeit heißt höherer Privatkonsum, heißt höhere Löhne. Um so etwas durchzusetzen, muss auch der Widerstand der chinesischen Oligarchen gebrochen werden, die bisher hervorragend verdient haben.

Der Aufstieg der chinesischen Wirtschaft im Rahmen und unter den Spielregeln der amerikanischen Globalisierung geht nicht mehr lange gut.

Es scheint durchaus möglich, dass China sein Wachstumsmodell nicht verlässt, aber zu einer Aufwertung gezwungen wird (oder auf Grund einer neuen Kontraktion der Weltwirtschaft die Exportmöglichkeiten ohnehin verliert), die dann entstehenden Probleme durch hemmungslose Kreditvergabe kompensiert und nach dem Platzen der entstehenden Vermögenspreisblase in eine lange Phase der Stagnation übergeht. Das hatte man schon in Japan, und in Ansätzen war das auch der "chinesische Weg" in der Finanzkrise bisher.

Es scheint genauso möglich, dass China tatsächlich aus dem Schatten der USA heraustritt und eigenständiges Wachstum erreicht. Im Augenblick wollen das die US-Ökonomen - aber ein weiter wachsendes China, das nicht mehr in eine amerikanisch dominierte Arbeitsteilung eingebunden bleibt, stellt langfristig eine echte Herausforderung dar.

Die unwahrscheinlichste Variante ist die Fortdauer des Status quo. Der Aufstieg Chinas im Rahmen und unter den Spielregeln der amerikanischen Globalisierung geht nicht mehr lange gut.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Die Angst vor einem asiatischen Sturmangriff ist unberechtigt.
- Wirtschaftspolitisch setzte China vor allem auf Transfer von Know-How.
- Die Kernschicht der Arbeiterschaft hat sich von Europa nach Asien verlagert.

Raute

EUROPA

Rotes Debakel

Eine Analyse der Gemeinderatswahl in Wien

Von Sebastian Baryli

Bei den Gemeinderatswahlen in Wien musste sich die Sozialdemokratie von der absoluten Mehrheit verabschieden. Die Freiheitlichen knüpfen an alte Erfolge an.


Der erwartete Wahlerfolg der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) bei den Wiener Gemeinderatswahlen am 10. Oktober wurde vom tatsächlichen Ergebnis deutlich übertroffen. Mit einem Plus von 10,94 Prozentpunkten errangen die Freiheitlichen insgesamt 27 der 100 Mandate im Wiener Gemeinderat. Der Urnengang besiegelt somit die Rückkehr der Blauen auf ihr früheres Niveau, nachdem die Regierungsbeteiligung das dritte Lager in eine langanhaltende Krise gestürzt hatte.

Ausgehend von dem Wahlergebnis entspann sich hierzulande wieder eine Debatte über Ursachen und Gefahren der aufstrebenden FPÖ. Bestimmt wurde diese Diskussion vom moralischen Diktum, man habe nun das Schlimmste zu befürchten und die Freiheitlichen würden antidemokratische und rassistische Tendenzen in Österreich fördern. Ein betretenes Kopfschütteln ging durch das Land, die Frage nach der Ursache war auch schnell gefunden: Die Wähler/innen seien durch die Parolen der FPÖ verhetzt worden, Gegenaufklärung und bessere Information könnten demnach Schlimmeres verhindern.

Diese Herangehensweise leidet vor allem an zwei Mängeln: Erstens wird die populistische Artikulation des Protestes weitgehend unterschätzt und missgedeutet. Die Begrifflichkeit der Verhetzung kann keinesfalls den Erfolg der Freiheitlichen angemessen interpretieren. Zweitens wird gerade das Problemfeld des Antiislamismus durch eine moralisierende Rassismuskritik kaum adäquat analysiert.


Wahlerfolg durch Protestwähler

Kurz zur Erinnerung: Bei den Gemeinderatswahlen erreichte die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) mit einem Stimmenverlust von 4,75 Prozentpunkten 44,34 Prozent - damit büßt sie die absolute Mehrheit ein. Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) musste ein Minus von 4,78 Prozentpunkten verkraften und landete auf 13,99 Prozent. Die Freiheitlichen schafften mit 25,77 Prozent Platz zwei, die Grünen fuhren ein Minus von 1,99 Prozentpunkten ein und erreichten 12,64 Prozentpunkte. Sowohl die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) als auch die Sozialistische Linkspartei (SLP) konnten kaum einen nennenswerten Erfolg aufweisen.

Von besonderem Interesse sind die Wählerströme. Hier zeigt sich deutlich, dass die SPÖ vor allem durch die FPÖ in Bedrängnis geraten ist: "Die SPÖ hat 45.000 ihrer Wähler/innen von 2005 an die FPÖ, 5.000 an die Grünen und 4.000 an die ÖVP verloren. 32.000 ihrer Wähler/innen von 2005 blieben diesmal zu Hause, 50.000 Nichtwähler/innen von 2005 konnte sie mobilisieren", heißt es dazu in der SORA-Wahlanalyse.

Der Ausgang des hochstilisierten Kampfs um den Gemeindebau wird nicht eindeutig interpretiert. Dabei handelt es sich um eine politische Dynamik, die wahrscheinlich außerhalb von Wien kaum nachvollzogen werden kann. Tatsächlich leben in der Bundeshauptstadt eine halbe Millionen Menschen im sozialen Wohnbau, obwohl der Ausbau in den 1980er Jahren gestoppt wurde. Für die politische Meinungsbildung in den subalternen Klassen hat dieser Ort immer noch eine Schlüsselstellung eingenommen.

Es kann in der Analyse nicht mehr um die alte Frage gehen, wer welche Interessen vertritt, sondern wie sich ein Wir im politischen Prozess konstituiert.

Doch wer diesen Kampf tatsächlich gewonnen hat, ist umstritten. In der SORA-Analyse heißt es dazu: "Den Wettbewerb um Wählerstimmen im Gemeindebau hat die SPÖ mit 57 Prozent für sich entschieden. Die FPÖ kam hier auf 29 Prozent, die ÖVP auf 6 Prozent und die Grünen auf 5 Prozent." Dennoch verstecken sich in der wienweiten Zahl unterschiedliche regionale Dynamiken, in der die FPÖ teilweise die SPÖ überrunden konnte. Die Freiheitlichen konnten somit einiges an Terrain gut machen.

Entscheidend ist natürlich auch die Frage, warum Wähler/innen sich für die FPÖ entschieden hatten. Auch hier gibt es widersprüchliche Befunde. So behauptet SORA, dass die Betroffenheit durch die Wirtschaftskrise - durch Jobverlust oder Kurzarbeit bei der Wiener Gemeinderatswahl keine besondere Rolle gespielt habe. Dennoch meint Günther Ogris, Leiter des Instituts, im Kurier: "Es geht um Fragen rund um Lebensqualität und die Wirtschaftskrise. Die Ärmeren in unserer Gesellschaft profitieren nicht von den Wohlstandsgewinnen. Das ist der Hauptauslöser für den Protest."


Symptom und Katalysator

Abseits, oder besser aufbauend auf den empirischen Befunden stellt sich die Frage, wie der neuerliche Aufstieg der FPÖ gedeutet werden kann. Dabei muss man vor allem zwei Elemente näher betrachten: erstens jenes des Populismus und zweitens jenes der Islamophobie.

Der Populismus als gesellschaftliches Phänomen war in der Vergangenheit immer wieder Gegenstand verschiedener Analysen und Darstellungen. Entscheidend bei der Herangehensweise an dieses Thema ist die Verschiebung des Feldes der Problematik. Es kann nicht mehr um die alte Frage gehen, wer welche Interessen repräsentiert, sondern das Hauptaugenmerk muss auf die Frage gelegt werden, wie sich der Begriff des Volkes, eines kollektiven Wir, in den hegemonialen Kämpfen herausbildet und welche Position subalterne Klassen in diesem Konstituierungs- und Reproduktionsprozess einnehmen. Es ist daher sinnvoller, von Artikulation als von Repräsentation zu sprechen. Damit sind eben jene Verbindungen unterschiedlicher Strukturebenen gemeint, bei denen die eine Ebene - wie etwa das Politische - nicht auf eine andere - wie zum Beispiel das Ökonomische reduziert werden kann.

Bezogen auf den Aufstieg der FPÖ kann man dies als Symptom und Katalysator einer Krise alter Formen der Artikulation deuten. Die Verbindung zwischen dem, was von der Arbeiterbewegung in Westeuropa übrig geblieben ist, sowie anderen subalternen Klassen und Schichten mit dem Parteiensystem hat einen Einschnitt erlitten. Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbewegung repräsentierten in gewissen Teilen noch Aspekte der historischen Arbeiterbewegung, doch die Verbindung zu den tatsächlichen sozialen Akteuren ist brüchig geworden.

Dies betrifft das Parteiensystem insgesamt, das aufgrund der Tendenzen und Entwicklungsdynamiken des autoritären Etatismus immer mehr den Zusammenhang mit dem Volk verliert. In diese Krise ist die FPÖ seit der Wende am Innsbrucker Parteitag im Jahre 1986 gezielt eingedrungen. Geschickt hat sie sich immer als außerhalb des Parteiensystems stehend präsentiert, sodass das Misstrauen gegen die herrschenden Parteien kanalisiert werden konnte. Den Freiheitlichen gelingt es daher, eine tatsächliche Artikulation mit Teilen des Volkes zustande zu bekommen. Diese Fähigkeit wird perfider Weise vom herrschenden Parteiensystem als "Populismus" denunziert.

Der Erfolg der FPÖ hängt somit eng mit der Krise des herrschenden Parteiensystems zusammen. Die konkrete politische Ausgestaltung dieser Krise deutet eher auf eine weitere Verschärfung als auf eine Kalmierung hin, da ein "Cordon sanitaire" gegen die Freiheitlichen errichtet wurde, der nur einmal mit der Regierungsbeteiligung durch Wolfgang Schüssel (ÖVP) ausgesetzt wurde. Die Isolationspolitik wirkt jedoch insofern verschärfend, da sie den Graben zwischen dem herrschenden Parteiensystem und der FPÖ weiter vertieft und den Blauen im Volk noch mehr Glaubwürdigkeit verleiht. Das Argument der Unglaubwürdigkeit, mit dem die Isolationspolitik auch gerechtfertigt wird, verkehrt sich damit zu seinem Gegenteil.

Der Rechtsextremismus-Vorwurf gegen die FPÖ trägt zu dieser paradoxen Situation ebenso bei. Aufgrund ihrer Geschichte und aufgrund des von ihr abgedeckten Themenspektrums - von der Migrations- bis zur Sicherheitspolitik - muss die Partei sicherlich dem rechten politischen Spektrum zugeordnet werden. Doch der Hinweis darauf erschüttert keinesfalls die Verbindung der Partei mit Teilen des Volkes, sondern trägt vielmehr zum Gegenteil bei, da dieser im öffentlichen Diskurs viel zu offensichtlich als Moralkeule gegen politisch unliebsame Gegner verwendet wird. Eine klassisch antifaschistische und antirassistische Politik droht hier in einem politischen Backfire zu enden.


Problem Islamophobie

Dies trifft insbesondere auf das Paradethema der FPÖ, die Migrationsfrage, und dabei vor allem die Mobilisierung gegen den Islam zu. Denn auch hier entfaltet die klassisch antirassistische Litanei politisch keine Wirksamkeit.

Der Rassismus verweist auf das viel tieferliegende Problem der kulturellen und politischen Identität sozialer Kollektive. Die FPÖ hat es in ihrer politischen Agitation geschafft, den Antiislamismus als politisches Symbol zur Produktion einer bestimmten politischen Identität zu kreieren. So verschwommen, fragmentiert und widersprüchlich dieses Projekt auch sein mag, die relativ einfache Gruppierung anderer Themen um dieses politische Symbol hat sich als erfolgreich erwiesen. Der Antiislamismus avancierte so zum ausschlaggebenden Faktor, der ein Wir konstituieren soll.

Das wesentliche Problem ist, dass die alten Symbole der Arbeiterbewegung, die geeignet waren, eine politische Identität herzustellen, heute eben nicht mehr wirksam sind. Dem antiislamischen Thema einen proletarischen Internationalismus entgegen zu halten verkommt so zu einer historischen Karikatur.

Der Rassismus verweist auf das viel tieferliegende Problem der Krise kultureller und politischer Identitäten sozialer Kollektive in der Gesellschaft.

Aus einer revolutionären, antiimperialistischen Perspektive muss man sich der widersprüchlichen Situation bewusst sein: Die Verteidigung des politischen Islam gehört in Westeuropa aufgrund der globalen politischen Verhältnisse zu den wichtigsten Aufgaben der Bewegung, doch gleichzeitig muss man sich darüber im Klaren sein, dass dieser in Westeuropa nicht die Lücke der politischen Identitätsbildung schließen kann. Ein Dilemma, das dazu führt, dass man dem Antiislamismus kaum etwas Passendes entgegensetzen kann. Somit bleibt die Verteidigung des politischen Islam ein doppelt notwendiges Nischenprogramm: Es ist notwendig zur Marginalie verurteilt und gleichzeitig aufgrund der internationalen Lage des Imperialismus eine notwendige Form der Politik.

Man kann in diesem Bereich nur insofern versuchen, das Optimum herauszuholen, in dem man sich von einem abstrakten Antirassismus abhebt. Es geht nicht darum, Rassisten zu verurteilen und ihnen ihre Sündhaftigkeit oder politisches Unwissen vorzuwerfen. Vielmehr würde es darum gehen eine Bedeutungsproduktion für ein neues politisches Subjekt zu entwerfen, das die Fähigkeit besitzt, sich mit dem Volk zu verbinden. Auf internationaler Ebene müsste das Bündnis mit den antiimperialistischen Kämpfen, von denen viele unter einer islamischen Symbolik stattfinden, ein wesentlicher Bestandteil bleiben.


Rot-Grüne Zukunft

Die neu gebildete rot-grüne Koalition in der Wiener Stadtregierung bedarf ebenfalls einer Interpretation. Denn mit der Wiener Regierung kommt ein neues politisches Modell zum Zuge. Die SPÖ befand sich letztendlich in einem Dilemma, da eine rot-schwarze Koalition das Image des Althergebrachten gehabt hätte, eine rot-grüne Koalition aber auf keine breite Zustimmung in der Bevölkerung stößt. Trotzdem haben sich die zuständigen Gremien der Partei für letztere Variante entschieden.

Diese Konstellation ist in Österreich nicht erprobt und stellt somit eine Premiere im politischen System dar. Interessanterweise gab es in Österreich bisher zwar eine Zusammenarbeit zwischen Grünen und ÖVP, aber nicht mit den Sozialdemokraten.

Eine solche Konstellation könnte die allgemeine Repräsentationskrise des Parteiensystems konkret für die Grünen zur Realität werden lassen. Denn als Juniorpartner im rot dominierten Rathaus werden sie zwischen ihren politischen Forderungen und den machtpolitischen Gegebenheiten im Gemeinderat zermahlen. Damit könnte aber jener Kompromiss, der das Wesen der Grünen Partei ausmacht, ins Wanken geraten. Denn aus ihrer Geschichte kommt die Grüne Partei aus jenen Strömungen der Neuen Linken, die mit der Arbeiterbewegung gebrochen hatten. Im Verlauf der 1990er Jahre schaffte sie es, eine Artikulation zum urbanen Mittelstand aufzubauen, die bis heutige aufrecht ist. Dieser Widerspruch wird vereinfacht immer wieder als Konflikt zwischen Pragmatikern und Fundamentalisten interpretiert.

Dieser Kompromiss könnte jetzt in Bedrängnis geraten. Denn die Artikulation mit den städtischen Mittelschichten drängt zu einer verantwortungsvollen Position im Machtapparat, die Ausläufer der Neuen Linken, von der in der Partei kaum mehr etwas übrig geblieben ist, bevorzugt weiterhin eine Oppositionsrolle. Dieser Konflikt könnte nun in der jetzigen Legislaturperiode zum Tragen kommen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Stirnrunzeln bei der SPÖ: Bürgermeister Michael Häupl war wohl wenig zufrieden.
- Bei der Gemeinderatswahl konnte vor allem Heinz-Christian Strache punkten.

Raute

EUROPA

Sarrazins Integrationsdebatte

Die Hetze gegen Muslime erreicht in Deutschland eine neue Stufe

Von Jonas Feller

Mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" hat der SPD-Politiker die Diskussion um Muslime in Europa angeheizt - mit einer neuen Qualität des Rassismus.


Anfang September ist Thilo Sarrazin, ehemaliger Finanzsenator für Berlin (SPD) und Bundesbankvorstandsmitglied, in aller Munde. Er hat ein Buch geschrieben - "Deutschland schafft sich ab" - und vertritt darin zusammengefasst die These, dass zugewanderte Muslime integrationsunwillig, dumm und viel zu fortpflanzungsfreudig seien. Da sie "Deutschland auf der Tasche lägen", müsse man sich endlich härter gegen sie wehren. Seitdem ist das Buch in den Bestsellerlisten auf Platz Eins. Damit hat die Hetze gegen Muslime, diesmal als "Integrationsdebatte" getarnt, eine neue Qualität bekommen. Angesichts der Krise eine gefährliche Entwicklung.


Feindbild Moslem

Die Stimmungsmache gegen Muslime, die seit dem 11. September den geistigen Überbau für die Kolonialabenteuer des Westens liefert, nutzt Sarrazin dabei gleich doppelt. Erst stellt er sich als denjenigen dar, der "endlich ausspricht, was alle denken" - dass Muslime böse, dumm, fanatisch sind und irgendwie nicht nach Europa passen. Und dann präsentiert er diese These pünktlich zur Krise, die der Westen durchlebt: im Wirtschaftssystem, in seiner militärischen Dominanz, in seiner Identität und nicht zuletzt den sozialen Verschiebungen.

Die schwarzgelbe Koalition in Berlin hat so wenig Rückhalt in der politikverdrossenen Bevölkerung wie keine Regierung zuvor. Die Angst vor dem sozialen Abstieg sitzt den meisten Bürgern im Nacken.(1) Da ist es ein nahe liegender Reflex, nach unten zu treten, und wen könnte man besser angreifen als die "Anderen"?

Indem ein SPD-Politiker einen Bestseller unter das Volk bringt, kommt eine ursprünglich geächtete Position nun offiziell in die Wohnzimmer Deutschlands.

Bisher war es das Monopol der NPD, gegen die Ausländer zu hetzen, die wahlweise "Arbeitsplätze wegnehmen" oder "sich auf Sozialhilfe ausruhen" und in jedem Fall "überall Moscheen bauen". Indem aber ein SPD-Politiker einen Bestseller unter das Volk bringt, kommt eine ursprünglich gesellschaftlich geächtete Position nun offiziell in die Wohnzimmer Deutschlands, eine Entwicklung, auf die Springers BILD und WELT seit Jahren hingearbeitet haben.

Dass seine Thesen Schwachsinn sind, kann nachlesen, wer sich für die Fakten interessiert.(2) Doch es geht bei dieser Diskussion nicht um Tatsachen, sondern um Emotionen.


Eine neue Rechte in Deutschland

Es geht in Wirklichkeit darum, dass die Klassengesellschaft dank Abbau des Sozialstaates nach Europa und Deutschland zurückkehrt und dass damit eine Ideologie herhalten muss, um Unzufriedenheit zu bündeln und zugleich die Elite zu schützen. Zu dieser Elite gehört Sarrazin, der seit Jahren parallel in Wirtschaft und Politik tätig ist. In Berlin, wo er so einen Brennpunkt seines "Ausländerproblems" feststellt, hat er als SPD-Finanzsenator massiv im öffentlichen Bereich gekürzt und eingespart.(3)

Verschiedentlich wurden nach Vorstellung seines Buches Stimmen laut, die jetzt eine neue Rechte Partei für Deutschland andenken. Sarrazins Thesen, denen ganze 37 Prozent der Deutschen zustimmen (gegenüber 42 Prozent Ablehnung), sind nicht so platt wie NPD-Parolen und kommen aus der "gesellschaftlichen Mitte". Sollte diese Partei gegründet werden, wird sie die CDU (hier stimmt jeder Zweite Sarrazin zu) noch weiter nach rechts ziehen. Ausländerhass, insbesondere die Islamophobie, wird offiziell salonfähig. Zehn Jahre Hetze gegen den Islam tragen ihre Früchte. In der Folge wäre denkbar: eine große Polarisierung zwischen Islamhassern und Demokraten, weiterer Abbau von Sozialleistungen (das fordert Sarrazin für die Ausländer), drastischere Strafen für "kriminelle Jugendliche", noch größere soziale Ungleichheit, noch weniger Chancen für Kinder von Migranten, noch mehr Überwachung und der Ruf nach einem autoritären Staat.

Die Sarrazin-Anhänger weisen beleidigt jeden Vergleich mit Nazis zurück: Doch die Parallelen zu den 20er Jahren liegen klar auf der Hand. Der unerschütterliche Glaube an den Stammtischen, über den Islam Bescheid zu wissen, oder die Überzeugung, dass die islamische Minderheit in Deutschland eines der größten Probleme für die Bundesrepublik darstellten, ist inzwischen über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg fest in Millionen Köpfen und Herzen verankert. Die berüchtigte Webseite PI (Politically Incorrect) mit ihren täglichen hunderten Besuchern spricht Bände.


Die neue Unterschicht

Zurück zu "Deutschland schafft sich ab": Es ist richtig, dass in Deutschland etwas abgeschafft wurde. Die Schere zwischen arm und reich wächst selbst im Vergleich mit anderen EU-Ländern recht schnell. Man muss von einer wachsenden Unterschicht sprechen, die in ihrer Form neu für den Sozialstaat ist. Sie besteht aber nicht aus Muslimen, sondern setzt sich aus Deutschen und Ausländern zusammen, die sich teilweise gegenseitig hassen, weil sie wenig übereinander wissen und Schuldige für ihre aussichtslose Lage suchen. Es geht allerdings völlig am Thema vorbei, den Ausländer deshalb als "integrationsunfähig" und den Deutschen als "Nazi" zu bezeichnen (Massenmedien). Beide sind Opfer in einem System, aus dem sie sich am besten gemeinsam befreien könnten. Denn die SPD machte es sich schön einfach: Sarrazin wurde rausgeworfen - jeder Politiker distanzierte sich schnell von seinen Thesen - und damit war das indirekt angesprochene, tatsächliche Problem vom Tisch. Aber der SPD bleibt auch nichts anderes übrig: Sonst müsste sie für ihre Politik Rechenschaft ablegen, in deren Rahmen sie Millionen für das US-Abenteuer in Afghanistan zur Verfügung hatte, aber wenig für Bildung, Sozialarbeit und Chancen von Migranten.

Es geht völlig am Thema vorbei, den Ausländer als "integrationsunfähig" und den Deutschen als "Nazi" zu bezeichnen, wie es in den Medien geschieht.

Eigentlich müsste eine starke Linke im Aufwind sein. Der Zusammenhang zwischen Aufrüstung, Krieg, Islamhetze, Überwachung und Ausbeutung ist schnell verstanden. Doch gerade die sozial unteren Schichten sind völlig narkotisiert je nachdem, von westlichen Konsumgütern, den unbelassenen Traditionen ihrer Heimat (die Sarrazin als Essenz des Islam begreift) oder nihilistischer Kriminalität. Vom Kulturkrieg zum Klassenkampf ist es ein weiter Weg. Muslime, Antirassisten und Demokraten müssen gemeinsam gegen die übermächtige Gewalt von Klischees und ununterbrochener Medienpropaganda ankämpfen. Denn wenn es einer "Sarrazin-Partei" gelingen sollte, die wachsende soziale Unzufriedenheit mit der vorhandenen Furcht vor dem Islam zu verbinden (etwas, woran die NPD bisher gescheitert ist), würde sie von "linken" wie "rechten" Wählern Zuwachs bekommen und nicht nur eine verheerende Politik betreiben, sondern auch die Möglichkeit eines Neuaufbruchs fortschrittlicher Kräfte zunichte machen. Nichts wäre fataler als das.


Quellen

(1) http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,700687,00.html
(2) http://www.tagesschau.de/inland/sarrazin154.html
(3) http://www.wsws.org/de/2009/mar2009/sarr-m04.shtml


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Thilo Sarrazin schafft es mit seiner Hetzschrift auf die Bestseller-Listen.
- Die Stellung der Muslime in europäischen Gesellschaften sorgt weiter für Debatten.

Raute

AKTIVISMUS

Sumud 2010

Ein Aufenthalt in einem Quadratkilometer Widerstand

Von Mohammad Aburous

Zwischen 24. Juli und 5. August 2010 hielt sich die internationale Delegation Sumud im palästinensischen Flüchtlingslager Ein-El-Hilweh im Südlibanon auf.


Im Vergleich mit dem Einsatz von Sumud 2009, bei dem gemeinsam mit der lokalen Organisation "Naschet" (Aktivist) im Lager ein zerstörtes Haus renoviert und als Kulturzentrum eröffnet wurde, hatte die Delegation dieses Jahr eine vielschichtige Aufgabe. Unter dem Motto "Solidarität ist politisch, konstruktiv und kreativ" hatte die Delegation drei Ziele: politische Treffen mit den palästinensischen und libanesischen Widerstandskräften abzuhalten; die Möblierung des Kulturzentrums fortzusetzen sowie einen Kurzfilmworkshop für Jugendliche aus dem Lager abzuhalten und eine Filmdokumentation über das Lager zu erstellen. Siebzehn Freiwillige aus Österreich, Italien, Deutschland und Ägypten nahmen an der Delegation teil.

Beim Verlassen des libanesischen Militärschrankens am Ostrand der Stadt Saida betritt man eine andere Weit, in der der libanesische Staat, die Weltordnung und die Gegenwart aufhören und ein fiktives Palästina beginnt. Zuerst stößt der "Eindringling" auf die Sperre der PLO, wo unter von der Sonne gebleichten Arafat-Bildern fünfzigjährige Veteranen des "Bewaffneten Kampfes" die Bewegungen beim Lagereingang uninteressiert beobachten. Über der Straße proklamiert ein verrostetes Metallgestell "Jerusalem ist unser" und "Wir kehren zurück". Darüber weht neben der Palästina-Fahne eine türkische Fahne, die offensichtlich seit dem israelischen Überfall auf den türkischen Frachter Mavi Marmara im Mai 2010 dort hängt.

Die kaum asphaltierte Hauptstraße des Lagers führt in das fiktive Palästina: Auf den Mauern hängen die Bilder der Märtyrer der unterschiedlichen Organisationen. Flaggen, Wappen und Logos aller Gruppen sind zu sehen. Auch Gruppen, die in den Geschichtsbüchern als verschollen gelten, kommen wieder zum Vorschein. Unterschiedliche Kampfparolen schmücken die Wände, wobei im Zentrum das Rückkehrrecht steht. Vor den offiziellen Büros der Organisationen sitzen bewaffnete Männer im mittleren Alter. Das waren die Kämpfer der 1970er Jahre. Junge Kämpfer sind nur in den von Fatah kontrollierten Vierteln zu sichten. Die Fatah ist durch ihre angestrebte Lagerpolizeitruppe zum größten Arbeitgeber im Lager geworden. Junge Kämpfer gibt es auch rechts vom Lagereingang im "Taware'"-Viertel, das von der salafitischen Gruppe "Usbat al Ansar" kontrolliert wird. Diese zeigen sich jedoch nicht.

Derzeit ist im Lager vor allem der politische Widerspruch zwischen der salafitischen Usbat al Ansar und den Kräften der Fatah sichtbar.

Das Alltagsbild ähnelt allen anderen palästinensischen Flüchtlingslagern: eine hohe Menschendichte, Kinderscharen mit neugierigen Blicken, lebhafter Markt und lärmende Autos, die sich ihren Weg durch die engen überfüllten Straßen erkämpfen.

Nach dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1992) mussten die Palästinenser im Libanon die Waffen abgeben. Die meisten Flüchtlingslager wurden entwaffnet und unterstanden den syrischen und danach den libanesischen Sicherheitskräften. Ein-El-Hilweh, das größte Lager mit 90.000 Einwohnern, war die letzte Hochburg der PLO im Libanon. Das Lager musste zwar die schweren Waffen abgeben, behielt jedoch seine Autonomie, da die libanesische Armee kein Interesse hatte, es zu stürmen. Es wurde von der libanesischen Armee umzingelt, welche die Bewegung von Menschen und Waren streng kontrollierte. Im Lager setzte sich das palästinensische politische Alltagsieben fort: Blockade durch die Armee und prekäre Lage der zivilen Infrastruktur, innere Kämpfe der Fraktionen und steigender Einfluss der islamischen Gruppen, Arbeitslosigkeit und Migrationsdruck sowie das Beharren auf das Rückkehrrecht nach Palästina.

Derzeit zeigt sich der größte Widerspruch zwischen der salafitischen Usbat al Ansar, die im Lager einen Fluchtort gefunden hat, und der Fatah, die mit "Ruhe und Ordnung" nach einer PNA-ähnlichen Rolle strebt. Die letzte heftige Auseinandersetzung zwischen beiden Gruppen fand im Mai statt. Danach scheint Ruhe eingekehrt zu sein. Beide Seiten tendieren zur Deeskalation, denn keiner will ein zweites Nahr el Bared.(2)

Fernab von den Entwicklungen im Libanon ist das Lager eine Miniatur der palästinensischen Gesellschaft und Politik unter Besatzung und Belagerung wie im Westjordanland und im Gazastreifen.


Willkommen im Sumud-Zentrum!

Zurück zum Lagereingang. Hundert Meter nach dem Schranken, noch vor der UNRWA-Schule, steht auf der rechten Seite das Kulturzentrum "Sumud", das als Frucht der Zusammenarbeit von Sumud und Naschet im Sommer 2009 entstanden ist. Kaum angekommen, schritten die Internationalen zur Tat: Die für das Computernetzwerk nötigen Teil: wurden eingekauft und die Installationsarbeiten begannen. Ein Plan von politischen Treffen mit den verschiedenen Organisationen wurde erstellt. In den nächsten Tagen fanden im Lager Treffen mit der PFLP, Fatah, Hamas, Islamischer Jihad und Salafiten statt. Die Teilnehmer/innen bekamen erste Eindrücke vom Lager und nahmen das erste Bildmaterial auf.

Bald traf aus Kairo die libanesische Regisseurin und politische Aktivistin Arab Loutfi ein. In Saida geboren und aufgewachsen, ist Arab als alte Kampfgenossin bekannt. Die Tatsache, dass sie den Kurzfilmworkshop leitete, verlieh dem Anti-NGO-Charakter von Sumud Nachdruck. Ein weiteres Highlight war der Besuch von Leila Khaled, der palästinensischen Legende aus den Zeiten der "Außenoperationen". Die Sumud-Teilnehmer/innen lernten die Palästina-Frage hautnah kennen. Reisen nach Beirut und in den Süden erweiterten den Blick hinter die Kulissen des palästinensischen und libanesischen Widerstands durch Besuche der Gedenkstätte der Märtyrer in Beirut sowie der Kriegsaustellung der Hezbollah im Süden. Ergänzt wurde die Erfahrung durch weitere Treffen mit libanesischen progressiven Kräften, darunter Hezbollah und einige Organisationen der libanesischen Linken.

Unter dem Titel "Show me your Camp" startete Sumud eine Filmdokumentation, in der Ibrahim, ein junger Teilnehmer des Kurzfilmworkshops, die Kamera auf eine Reise durch das Flüchtlingslager mitnimmt.

Die Vielzahl an Interessenten hat gezeigt, dass es in der hiesigen Gesellschaft noch Raum für Solidarität gibt, die über Wohltätigkeit hinausgeht.

Am Ende des Aufenthalts stand das Netzwerk im geplanten Medienzentrum bereit. Beim Abschlussfest präsentierten die palästinensischen Jugendliche den anwesenden Verwandten, Interessierten aus dem Lager und Vertretern politischer Organisationen ihre Kurzfilme, die sie im Rahmen des Workshops unter Anleitung von Arab Loutfi produziert hatten. Mit dem erworbenen Know-how und den von Sumud zur Verfügung gestellten Videokameras sind weitere Workshops und Dokumentationen geplant.


Wie geht es weiter?

Mit Sumud 2010 wurde das Konzept von Sumud als einer politischen Initiative mit Volontärs- und künstlerischem Charakter bestätigt. Die Vielzahl an Interessenten aus unterschiedlichen Milieus und Ländern (Italien, Österreich, Deutschland, Ägypten) hat gezeigt, dass in der hiesigen Gesellschaft noch Raum für Solidarität ist, die über bloße Wohltätigkeit hinausgeht. Es ist möglich, eindeutigere politische Positionen zu ergreifen als das, was im Rahmen der typischen NGOs erlaubt ist. Finanziert durch Spenden im Rahmen politischer und kultureller Aktionen und kombiniert mit freiwilligem Einsatz, künstlerischer Betätigung und Erfahrungsaustausch scheint dieses Konzept der politischen Solidarität durchaus attraktiv zu sein.

Der internationalistische Charakter von Sumud drückt sich nicht nur durch die Herkunft der Teilnehmer aus, sondern auch durch die Vielfältigkeit der Zielländer und der Arbeitskonzepte. Im Februar bringt eine Delegation von Sumud eine Ladung an Medikamenten ins umkämpfte Adivasi-Gebiet in Indien. Dieser Besuch hat unter anderem das Ziel, Möglichkeiten von künftigen Sumud-Projekten in der Region zu erörtern.

Weitere Ziele von Sumud-Initiativen sind Venezuela, Ägypten, Nepal und Palästina (Gaza), wo in den kommenden Jahren verstärkt mit lokalen Organisationen Arbeitskonzepte von Freiwilligenbrigaden erstellt werden sollen.

In Europa arbeiten währenddessen Sumud-Lokalgruppen am Ausbau ihrer lokalen Kommunikationskanäle und finanziellen Ressourcen, um künftige Aktionen materiell und personell decken zu können. Eine vielversprechende neue Form antiimperialistischer Solidarität ist im Entstehen, die im Sinne des alten Ziel des Aufbaus einer antiimperialistischen Front der Widerstandskräfte betrachtet werden kann.


Anmerkungen

(1) "Bewaffneter Kampf" ist die Bezeichnung für die PLO-Militärpolizei in den palästinensischen Flüchtlingslagern.

(2) 2007 kam es im palästinensischen Flüchtlingslager Nahr el Bared im Norden des Libanon zu Auseinandersetzung zwischen salafitischen Gruppen und der libanesischen Armee, wobei das Lager vollkommen zerstört wurde.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Gespräche mit den politischen Kräften im Lager waren Teil der Sumud-Reise.

Raute

THEORIE

Relativer Universalismus

Widersprüche und Strukturen der linken Theoriedebatte

Von Albert F. Reiterer

Wir stehen in der Linken vor einem teils politischen, teils epistemologischen Problem. Mit dem Zerfall des Realsozialismus stellt sich die Notwendigkeit eines Neuanfangs.


Wir können nicht ab ovo beginnen. Wir müssen es auch nicht, jedenfalls nicht die, welche sich nicht an das Sowjet-Modell geklammert haben. Doch trotzdem bietet sich uns einerseits die Tradition der Arbeiterbewegung und des Sozialismus als eine Belastung dar. Diese Tradition hat die analytische Begrifflichkeit in einer Weise dogmatisiert und die Denkabläufe in Geleise eingefahren, dass es ganz außerordentlich schwierig ist, die alten Formeln zu vermeiden. Das aber würde innovatives Zugehen verhindern. Andererseits ist die marxistische Tradition absolut unentbehrlich, will man nicht ständig das Rad neu erfinden. Und schließlich ist diese Tradition und die Parteinahme für sie auch eine politische Erklärung. Die neoliberale Dominanz und Hegemonie ebenso wie manche Dritte-Welt-Fundamentalismen bekämpfen sie ja gerade deswegen mit tödlichem Hass und durchaus dem Willen, auch die Menschen zu vernichten, die sie denken.

Die Begrifflichkeit im Denken über Gesellschaft entwickelt sich ständig weiter. Da ist viel an Mode dabei: Ein neuer Jargon, gegenwärtig der postmaterialistische, der postmoderne, gehört zum guten Ton. Und trotzdem ist es eine strategische intellektuelle Notwendigkeit, sich in gewissem Ausmaß an die aktuelle Begrifflichkeit zu halten. Es ist eine Frage der Haltung: Ein relativer Universalismus muss immer versuchen, den Blick auf neue Erkenntnisse und neue Perspektiven zu richten. Denn relativer Universalismus bedeutet, sich bewusst zu sein, dass man immer historisch beschränkt bleibt, nie an irgend eine absolute Erkenntnis heran kommt. Gleichzeitig muss man aber auch festhalten, dass es Unterschiede in den unterschiedlichen Weltsichten gibt: Nicht jede erklärt gleichviel. Dieser Versuch, die aktuellen Entwicklungen zu beobachten und aufzunehmen ist gewiss nicht ohne Gefahr: Er verleitet zur intellektuellen Kurzatmigkeit, zum Nachhecheln hinter oft belanglosen Modeströmungen und zur Oberflächlichkeit. Aber die gegenteilige Haltung stammt aus einem fundamentalistischen Dogmatismus. Bestimmte Formen des Marxismus sind verbunden mit solchen Unerfreulichkeiten wie Scholastik und irrationale Apotheisierung von jeweils zwei oder drei Theoretikern - neben Marx und Lenin meist irgendein Sektenvater; und manchmal ist es auch schlicht Trägheit.

Die Themen eines Protests sind vorhanden, aber Protest allein bringt noch keinen Schritt nach vorn und führt zu keiner Transformation.

Eine Lösung für dieses Dilemma könnte sein: Wir müssen die wesentlichen gültigen Inhalte in eine neue Sprache übersetzen und damit das Denken zumindest konzeptuell deklarieren. Teils ist dies eine rein terminologische Sache: Ob wir die "organische Zusammensetzung des Kapitals" sagen oder aber "Kapitalintensität", ist für die meisten Zusammenhänge bedeutungslos. Oft genug ist es damit aber keineswegs getan. Tatsächlich ist eine ständige Auseinandersetzung mit der Tradition nötig, nicht zuletzt, um ihre Fehler zu vermeiden. Damit ist natürlich die Gefahr gegeben, dass man inhaltlich und stilistisch zum Scholastiker wird.

Die Bankenkrise seit 2008 hat in den hoch entwickelten Ländern zu einer neuen sozialen und politischen Situation geführt. Nicht dass das Bild wirklich neu ist: Aber es tritt nun deutlich stärker akzentuiert hervor. Zwar ist eine starke Mehrheit der Menschen in Österreich mit den eigenen Lebensumständen einigermaßen zufrieden und schätzt das Lebensniveau als nicht schlecht ein. Aber ein erheblicher Teil derselben Menschen ist mit der politischen Struktur und vor allem mit der politischen Klasse ziemlich unzufrieden. Gegen letztere baut sich ein regelrechtes Ressentiment auf. Dieses macht sich nun seit vielen Jahrzehnten erstmals erkennbar, diffus auch gegen die wirtschaftlichen Eliten geltend. Die Themen eines Protests sind also vorhanden; aber Protest allein bringt noch keinen Schritt nach vorn und führt zu keiner Transformation. Denn gleichzeitig wenden sich die Verlierer vor allem jenen Kräften zu, welche diese Strukturen nicht nur stabilisieren, sondern auch programmatisch verstärken wollen: In Österreich ist auf Parteienebene die politische Gewinnerin die FPÖ, die z. B. eine Flat-Tax einführen möchte und damit das symbolische Schlachtross der US- und der osteuropäischen Neokonservativen aufzäumt.

Dieser Widerspruch an der politischen Oberfläche deckt eine Reihe von Widersprüchen zu, die teils struktureller Art sind, teils auf strategischen Kuppel-Punkten zur Zivilgesellschaft und zur Politik ansetzen. Versuchen wir, ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige der wichtigsten davon zu identifizieren.


Nation - Internationalismus

Die Nation bleibt das bevorzugte Referenzsystem des Protests und seine Handlungsebene. Doch zum Einen verlagern sich die politischen Entscheidungsebenen hin zu übernationalen unkontrollierbaren Bürokratien. Zum Anderen sind praktisch alle Angehörigen der hochentwickelten Welt die Nutznießer der Zentrum-Peripherie-Struktur das alte Problem, das vor einem Jahrhundert etwas verkürzt als "Arbeiteraristokratie" beschrieben wurde. Zum Dritten fördert aber innerhalb der Metropolen die aktive Politik, die politische Klasse an der Macht, die Übernationalisierung des politischen Systems, den Abbau der Handlungskapazität des Nationalstaats sowohl gegenüber übernationalen Bürokratien als auch gegenüber dem Großkapital. Die Internationalisierung (Globalisierung) des sozioökonomischen Systems soll die Entstehung einer Eindrittel-Gesellschaft herbei führen.

Eine Identifizierung der großen Mehrzahl der europäischen Bevölkerungen mit den hegemonialen Kräften des Zentrums bleibt kulturell - aus der großregionalen Identität her - und politisch - über die dominanten Interessen - "natürlich". Gleichzeitig regt sich eine Ahnung, dass doch ein erheblicher Teil dieser Bevölkerung selbst auch bald zu den Verlierern zählen könnte. Die Bankenkrise bzw. die politische Reaktion darauf hat diese Bewusstwerdung durchaus gefördert.

Eine Identifizierung der großen Mehrzahl der europäischen Bevölkerungen mit den hegemonialen Kräften des Zentrums bleibt kulturell und politisch "natürlich".

Dies ist tatsächlich ein oder vielleicht sogar der Hauptwiderspruch, der sich in einer Reihe von Erscheinungsformen äußert, nämlich als:

Xenophobie der Zu-Kurz-Gekommen: Die Dritte Welt, zu der man keinesfalls gehören will, steht vor der Tür und erinnert unangenehm an den möglichen eigenen Absturz. Die Herausforderung ist gleichzeitig symbolisch und real. Denn dass Einwanderer Lohndrücker sind, steht ja wohl außer Frage. Aber noch mehr sind sie eine symbolische Bedrohung.

Nationaler Protest gegen Übernationalisierung (EU) hindert nicht den gleichzeitigen häufigen Appell an die eigentlich verabscheuten Organisationen zum Handeln, das nur noch stärker zum Verlust jeder nationalen Kontrollmöglichkeit führen müsste. Das lässt erkennen, dass dieser Widerspruch nur die spezifische Ausformung eines weiteren ist, nämlich: gesellschaftliche bzw. politische Planung versus bürokratischen Autoritarismus.

Dieses Problem stellt sich gleich doppelt: Politische Kontrolle insbesondere der ökonomischen Abläufe ist eine Notwendigkeit. Das wir gegenwärtig sogar von den herrschenden Kräften konzediert, wenn sie es auch eilends auf die "Missbräuche" im Finanzsystem einschränken wollen. Gleichzeitig ist aber ein hohes Maß an persönlicher und organisatorischer Autonomie erforderlich, um das ständige soziale und ökonomische Trial & Error zu gewährleisten. Die seinerzeitige Debatte um Plan und Markt im Sozialismus - und ihr Scheitern - hat gezeigt, dass dies kein technisches Problem ist. Bürokraten sind Techniker und Machtträger. Beides ist für die gesellschaftliche Entwicklung gefährlich. Was die Macht betrifft, braucht dies nicht näher erläutert zu werden. Aber es gibt nicht zufällig auch den Witz: Hätte man die Entwicklung der Beleuchtung den Technikern anvertraut, dann säßen wir jetzt bei der vollkommenen Öllampe beisammen.

Vor allem aber ist politische Kontrolle Machtausübung. Macht aber akkumuliert und verselbständigt sich. Der anarchische Impuls ist als politischer Grundaffekt sympathisch und eine Notwendigkeit. Wer aber hohe Produktivität und damit eine Großgesellschaft will, muss organisatorische, d. h. "bürokratische" Strukturen entwickeln und akzeptieren. Mit dem postmodernen antibürokratischen ("grünen"? "alternativen"?) Affekt ist es nicht getan.

Der Anti-Islamismus wird zur Abwehr der eigenen Ängste vor der gerade überwundenen Vergangenheit in Armut. Nahezu alles, was man heute bei uns dem Islam vorwirft, hat bis vor wenigen Jahrzehnten mental auch den österreichischen Katholizismus geprägt. Die gegenwärtige Missbrauchs-Debatte ist ein spätes Aufbrechen jener Einnistung ins politische System, die den Katholizismus und jede Religion an der Macht stets gekennzeichnet hat.


Massen contra Intellektuelle

Auf der Handlungsebene, der organisatorischen und politischen, bleibt der Massenprotest unformuliert und oft inkohärent, weil es zu einer Ausformulierung intellektuellen Einsatzes bedürfte. Ohne eine Formulierung und Faconnierung durch Intellektuelle ist ein politisches Projekt neuer Art unmöglich. (Auch das ist ein altes Thema, das vor einem Jahrhundert leider in verquer Lenin'scher Art über die Vokabel "tradeunionistisches Bewusstsein" und "Hineintragen des Sozialismus in die Arbeiter-Bewegung" abgehandelt wurde.) Anti-Intellektualismus ist historisch wohlbegründet, da Intellektuelle - in Pareto'scher Art(1) - in ihrer Mehrzahl stets zu den Gewinnern der Entwicklung gezählt haben. Ihr Theorie- und Politik-Angebot wird daher mit tiefem Misstrauen betrachtet, zumal gerade die emanzipativen Bewegungen meist sehr schnell ihren ursprünglich egalitären Impuls und Anspruch vergaßen - sowohl der Leninismus als auch der Reformismus, der bald ohne wenn und aber zum Transformismus wurde. Aber ohne (Gegen-) Intellektuelle ist auch Gegen-Politik nicht möglich. Ergebnis ist eine gewisse Lähmung. In der Politik setzen die Träger des populären Protests eindeutig auf Personen, welche vom Habitus her das Gegenteil von Intellektuellen sind - in Österreich z. B. Strache. Auch wenn hier plebeischer Protest mitspielt, so ist dieser Protest weitgehend Affekt und ohne Potenzial. Damit hängt ein weiterer Widerspruch eng zusammen.


Androzentrierte Grundordnung versus feministische Vulgär-Ideologie

Der Patriarchalismus traditionaler und traditionalistischer Verhältnisse hat auch die okzidentale Gesellschaft und Kultur völlig geprägt. Im europäischen Modernisierungsprozess begann sodann vor gut einem Jahrhundert, die ideologische Grundhaltung aufzubrechen. Das war damals Teil eines Kultur-Kampfes progressiv versus konservativ. Die sozialen Strukturen änderten sich wesentlich langsamer als die intellektuell-hegemonialen Mentalitäten. In den 1980er und 1990er Jahren wurde ein gewisser Wendepunkt erreicht. Gleichberechtigung wurde im Westen zu einem nicht mehr in Frage gestellten Ziel. Vor allem aber realisierte man zur selben Zeit: Dies könnte ein prächtiges Differenzierungskriterium sein. Damit konnte man die kulturelle Differenz zur Dritten Welt betonen. Plötzlich wurden die rückwärts gewandtesten Gruppen zu Beinahe-Feministen. Stockkonservative und reaktionäre Schichten werden, wie auch ihre politischen Sprecher, zu Vertretern der Frauen in der Dritten Welt, und gerade in der Provinz gehört "Nicht ohne meine Tochter!" zum Pflichtinhalt von Bücherregalen. Während also die vor allem in der Einheit der traditionalen Familie (klassische Ehe) fest gegossenen Geschlechterverhältnisse sich nur langsam und gegen große Widerstände - von Männern und Frauen, von Institutionen, von überlieferten Strukturen - wandeln, wurde die Ikone "Gleichberechtigung" (nicht Gleichbehandlung) zur Standarte im Kreuzzug gegen die Unterentwickelten. Diese Tendenzen werden dann besonders widersprüchlich, wenn sie aufgegriffen werden, um sich gegen die Untermenschen der Dritten Welt zu wenden.

Damit wird der Vulgär-Feminismus der politischen Öffentlichkeit zu einem rassistischen und kulturalistischen Instrument, das einen neuen Klassismus legitimiert.

Die ungleiche Entwicklung prägt aber auch die Struktur der Metropolen selbst. Zwar ist die Gleichstellung der Geschlechter auch in den hegemonialen Schichten unserer Gesellschaft noch nicht volle Wirklichkeit. Doch das ist eine Frage nicht allzu langer Zeit. In den Unterschichten sieht die Wirklichkeit aber ganz anders aus. Dort sind nicht zuletzt die Mentalitäten noch ganz anders. Damit wird der Vulgär-Feminismus der politischen Öffentlichkeit zu einem rassistischen und kulturalistischen Instrument. Gleichzeitig wird er zu einem Legitimierungs-Instrument eines neuen Klassismus. Die Folge ist: Jene stehen dem Feminismus besonders misstrauisch gegenüber, die feministischer Impulse am meisten bedürften.


Szientismus versus Esoterik

Welterklärung aus dem säkularisierten Blick auf die entzauberte Welt war schon vor drei Jahrhunderten das Hauptanliegen der europäischen Aufklärung. Es waren vorerst nur winzige Gruppen, ja Einzelpersonen und zwar gewöhnlich mit höchst elitären Einstellungen, die dieses Anliegen betrieben. Der erste mächtige Schritt in die Massen hinein fand mit der Entstehung der Arbeiterbewegung statt. Sie trachtete auch in diesem Bereich die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Klientel ging mit den intellektuellen Führern mit. Das war plausibel, weil sie wahrnahm, dass die damaligen Hauptgegner, das Ancien Regime, sich vorerst auf ein altmythisches Weltbild abstützten.

Aber das säkulare Welt- und Geschichtsbild konnte den Herrschenden gut, ja viel besser dienen als die alte Mystik. An Anekdoten wird dies schon klar. Marx wollte sein "Kapital" Darwin widmen, der aber lehnte ab. Denn dieser und seine authentischen Jünger, von Galton über Haeckel und Bölsche bis zu Lombroso, waren ganz bewusst Pfeiler einer hierarchischen und möglichst ungleichen Gesellschaft. Diese darwinistische Strömung errang innerhalb einiger Jahrzehnte auch die intellektuelle Dominanz in Europa. Somit war es wenig überraschend, dass sich bald auch ein backlash gegen die Rationalität vorbereitete. Esoterik wurde zu einer Gedankenströmung "alternativer" Gruppen aus dem Umfeld der Mittelschichten.

Gegenwärtig ist dieses Feld unübersichtlich. Es ist aber jedenfalls sehr widersprüchlich. Auch der Szientismus ist sehr gut gegen die Zurückgebliebenen der Dritten Welt einsetzbar. Esoterik hat in den Metropolen ein gewisses, wahrscheinlich kurzfristiges Potenzial der Subversion. Es ist kaum zufällig, dass sich nicht wenige Vertreter des Vorgestrigen drauf setzen: In manchen katholischen Pfarrhäusern gibt es heute Meditationsräume für Zen-Buddhismus.

Eine spezifische Situation findet sich offenbar in den USA, also der militärisch-politisch dominanten Kraft der Metropolen. Die religiöse Rechte ist immerhin eine Massenbewegung und hat Kultur-Reaktion (Kreationismus) als ihr Hauptprogramm. Sie versucht dies mit Konformismuszwang und Gewaltbereitschaft durchzusetzen. Mit ihr vereint sich nun eine kleine, elitäre Gruppe der Leo Strauss-Adepten. Talibanisierte Strömungen koalieren mit outrierten Machiavellisten; George Bush fand seine Stütze in Dick Cheney. Die von den Konservativen gefürchtete und bekämpfte Einwanderung aus Lateinamerika kommt ihnen aber zugute: Sie hält mit ihrer katholischen Verwurzelung die Retro-Mentalität aufrecht. Die erfolgreichen Aufsteiger unter dieser Gruppe liefern einen erheblichen Teil des reaktionären Nachwuchses: Der Rechtsberater und Justizminister der Bush-Regierung Alberto Gonzalez, dessen katholische Großeltern offenbar illegal eingewandert waren, der aber selbst schon in Texas geboren ist, ist ein hübsches Beispiel.


Konservative Erlebenswelt versus eigenes Interesse an einem Wandel

Die kulturelle Identität der Massen war und ist seit je konservativ und definiert sich über althergebrachte Lebensformen. Während jedoch im Prozess des Nationenaufbaus und der Demokratisierung sowie beim Aufbau des Wohlfahrtsstaats diese Interessen politisch deutlich genug waren und auch noch ein gewisses Vertrauen in die politischen Führer und ein Optimismus seitens Intellektuellen der Gegen-Kultur ("mit uns zieht die neue Zeit") gegeben war, ist seit dem permanenten Angriff auf den Wohlfahrtsstaat ("Reformen") nur mehr Defensive angesagt. Diese Defensive nimmt die Kleidung des Sozial- und Kultur-Konservatismus an. Kulturelle Innovation kam weiters wegen einer weit verbreiteten Scharlatanerie ihrer Protagonisten und der entsprechenden Ansprüche auf Genie in Verruf. Neue ästhetische Ausdrucksweisen sind nicht einfach Versuch und Irrtum oder Vorschläge; sie gehen stets mit Denk-, Fühl- und Gefall-Verboten gegenüber den alten Formen einher; sie stoßen nicht zuletzt deswegen auf Misstrauen, weil sie wieder mit dem unbegründeten Anspruch verbunden sind, dass die Protagonisten von der Gesellschaft, d. h. den Arbeitenden, erhalten werden wollen. Es geht schlicht auch um Geld und seine Verteilung. Während aber die Bundestheater-Subventionen - auch eine drastische Umverteilung von unten nach oben - nicht in Frage gestellt werden (weil man kein "Banause sein will"), kann man sich viel plausibler gegen andere Ausdrucksweisen wenden, die keine Handwerklichkeit erfordern.

Die EU-Länder wollten einerseits die Ausgaben im Eliten-Interesse nicht kürzen, scheuten andererseits aber auch tiefe Einschnitte im sozialen Netz.

Ein Beispiel aus Österreich macht dies deutlicher. Der Aktionismus der 1960er Jahre war eine überfällige Provokation gegen die konservative Provinzkultur und ihre Denkgewohnheiten. Er wurde aber sofort elitär und reaktionär, als er sich zur "Kunst" erklärte. Schon der Begriff mit seinem pseudo-religiösen Inhalt ist ein Rückgriff auf die schlechtesten Traditionen des 19. Jahrhunderts. Anstelle ihn zu dekonstruieren - als Anspruch bestimmter kleinbürgerlicher Intellektueller auf Teilhabe an bisherigen Eliten-Privilegien machten sich erst die Aktionisten und sodann die gesamte angeblich progressive Kulturszene in diesem Begriff bequem. Man konnte damit ja Ansprüche stellen und Gelder lukrieren. Den Privilegien- und Ausbeutungscharakter des Kunstbegriffs wollte man nicht benennen, sondern ihn vielmehr für die eigenen Interessen nutzbar machen: Man hoffte, selbst in diese Kaste aufzusteigen. In der breiten Bevölkerung verband sich in der Haltung dagegen der alte Konservativismus mit dem sehr realen Gefühl, nicht nur zum besten gehalten, sondern schlicht wieder einmal übervorteilt zu werden - und ein Großteil reagierte allergisch darauf.

Mir scheint gerade im Kulturbereich der Widerspruch besonders ausgeprägt, der sich aus der Rolle der Intellektuellen und ihrer sozialen Einbettung ergibt. Aus den plebeischen Schichten ist kulturell bisher kaum eine Neuerung gekommen, die nicht einfach wieder ein Neuaufwärmen abgestandener, vor allem religiöser Opiate darstellt. Die unverzichtbaren Innovationen der Intellektuellen hingegen dienen diesen aber immer dazu, ihre Privilegierung aufs Neue zu begründen und zu verlängern. In diesem Sinn ist die faschistoide Pareto-These von der Zirkulation der Eliten durchaus realistisch.

Ein für das Funktionieren einer postrevolutionären Gesellschaft (?) praktisch äußerst wesentlicher Widerspruch war und bleibt auch jener zwischen hochgesteckten materiellen politischen und moralischen Erwartungen und der frustrierenden Realität eines in seinen Möglichkeiten überaus eingeschränkten Alltags. Ein sozio-ökonomischer und politischer Prozess, der nicht erfahrbare Verbesserungen sowohl in der materiellen Bedürfnisbefriedigung als auch in den Partizipations- und Kontrollmöglichkeiten und schließlich auch in einem langsamen Mentalitätswandel bringt, ist schon gescheitert. Sicher kann es da unterschiedliche "Gleichgewichte" (Grade des Fortschritts) geben. Eine Preobrazhenski-Politik jahrzehntelanger Überakkumulation einerseits und des Konsummangels andererseits ist der direkte Weg in eine Nomenklatura-Gesellschaft.


Und die Strukturen?

All diese Widersprüche sind in der Struktur des Weltsystems zu Grunde gelegt, wie es sich vor allem in den letzten drei Jahrhunderten, im Prozess der "Großen Wegscheide" entwickelt hat. Aber in ihren Äußerungen gehören sie alle der kulturellen und politischen Sphäre an. Das ist nicht anders möglich. Der Mensch als kulturelles Wesen macht sich sein jeweiliges Bild von der Welt und der Gesellschaft. Es war ein fundamentaler Fehlgriff der vulgärmarxistisch geschulten Arbeiterbewegung der Zweiten und Dritten Internationale, ständig einen Kurzschluss zwischen den Strukturen und ihnen entsprechenden (möglichen!) Interessen und dem Bewusstsein bzw. dem politischen Handeln voraus zu setzen. Nichtsdestoweniger bleibt die Struktur die Grundlage.

Eine theoretische Bemühung um Handlungsmöglichkeiten und politische Perspektiven ohne eine umfassende und gründliche Strukturanalyse wird zur kurzfristigen Taktiererei. Die Struktur bestimmt nun einmal die Handlungsspielräume der Menschen, je nachdem, wo sie stehen. Das ist übrigens nur die alte Wahrheit, dass "die Basis den Überbau" bestimmt - aber vielleicht weniger deterministisch und neu begründbar in einer uns heute geläufigeren Sprache. Die Verfügung über materielle Ressourcen ist jenes Potenzial, das Einwirkung auf andere Menschen ermöglicht oder behindert.


Krisen und "Krisen"

Neoliberale Ideologen beschreiben die derzeitige Depression als "Staatsschuldenkrise". Das ist im Wesentlichen Propaganda. Als die Bankenkrise zur Wirtschaftskrise wurde, entstand diese "Schuldenkrise" erst. Schließlich ist sie auch tatsächlich eine Euro-Krise: "Während Deutschland selbst mit einem Euro-Kurs von 1,80 Dollar wettbewerbsfähig wäre, benötige Griechenland einen Kurs von 0,34 Dollar" zitiert die NZZ (14.6.2010) einen skeptischen konservativen Experten. Aber in einem Punkt ist das Gerede von der Schuldenkrise richtig: Die EU-Länder wollten einerseits die Ausgaben im Eliten-Interesse nicht kürzen, scheuten andererseits aber auch tiefe Einschnitte im sozialen Netz. Das könnte zur Unruhe in der Bevölkerung führen. Nun haben sie den erwünschten Vorwand dafür und ein ganz erheblicher Teil der Bevölkerung geht trotz aller Missstimmung mit dem "Sparen" mit.

Die gegenwärtige Krise des Finanzmarkts, die in den hoch entwickelten Ländern auch zu einer realwirtschaftlichen Krise geführt hat, muss somit in ihren Konsequenzen eingeschätzt werden. Dabei muss man sich aber vor jeder Illusion hüten. Wir erinnern uns zu gut noch daran, wie z. B. Ernest Mandel und Genossen in den 1960er und 1970er Jahren jede Wachstumsverlangsamung und jeden kleinen Streik zum Beginn der revolutionären Krise ausrief. Aber die meisten Krisen bisher waren keine revolutionären Krisen - sie waren Transformationskrisen: Die politischen Eliten konnten sie nutzen, um sich auf neue Umstände einzustellen.

Konjunkturen und Krisen gehören essentiell zum Gesamtprozess kapitalistischer Produktion und Akkumulation. Die Regelhaftigkeit ihres Ablaufs hat einzelne frühe Ökonomen so verwirrt, dass sie ihnen, in einem wörtlichen Sinn, als Naturnotwendigkeit erschienen. W. St. Jevons führte in den 1870er Jahren Konjunkturen auf den Sonnenfleckenzyklus zurück. Über diesen Extremfall von Naturalisierung gesellschaftlicher Prozesse - immer eine Tendenz unter Ökonomen - lächeln heute sogar diese.

Wesentlich ist: Konjunkturen und Krisen waren immer wieder ein Problem auch der Hauptstrom-Ökonomie, die aber gleichzeitig immer wieder in Versuchung war, sie zu leugnen, wenn sie nicht gerade sehr aktuell waren.

Bei der Einschätzung der Krise muss man sich vor Illusionen hüten: die meisten Krisen waren keine revolutionären, sondern Transformationskrisen.

Die Banken- und Finanzkrise ab 2007 ist eine für die gegenwärtige Ausformung des Finanzkapitalismus spezifische Form, die der Konjunktur-Krisen-Zyklus annimmt. "The business-cycle is" keineswegs "obsolete" (Bronfenbrenner). In diesem Sinn ist der Hinweis nicht unnütz, dass diese neueste Krise nicht so ganz verschieden ist von den vielen anderen auch (Reinhart / Rogoff). Über Jahre hinweg lief die Finanzspekulation sozusagen leer, weil sie sich von der Realwirtschaft abgekoppelt hatte. Die Verbindung ist nun wieder hergestellt. Sie läuft über mehrere Kupplungen: Geschäftsbanken greifen auf durch Ketten von Ansprüchen stark mediatisiertes Realvermögen zu, das durch (Beinahe-)Zusammenbrüche disponibel wird.

Der Staat erstellt "Auffangkonstruktionen" und übernimmt Haftungen, die Geld in das Wirtschafts- und Finanzsystem pumpen. Damit wird eine neuerliche Umverteilung teils bereits eingeleitet, teils für die nächsten Jahre vorbereitet. Die "Konsolidierung der Staatsfinanzen" wird über den Abbau staatlicher, insbesondere sozialer Leistungen und Garantien (z. B. für Pensionen) stattfinden.

Ein übergroßer Teil der Realwirtschaft beruht auf Krediten. Der sogenannte Leverage-Effekt hat im Aufschwung für die Unternehmen gespielt, jetzt dreht sich die Geschichte um. In diesem Sinn ist das ständige Jammern um die geringe "Eigenkapital-Ausstattung" der Unternehmen berechtigt, wenn auch die Maßzahlen (z. B. Prozentsatz an Umsatz) undurchsichtig und im Vergleich nichtssagend ist. Aber Phänomene wie stark steigende Immobilien- und erst recht Effekten-Preise sind immerhin gute Frühwarnsysteme, die belegen, dass sich wieder eine Blase aufbaut, die irgend einmal platzen wird. Die wirtschaftliche Regulierung über den Markt mit seinen Entwicklungs-, Allokations- und Effizienzfunktionen spielt sich in Zyklen ab; altmarxistisch: Das Wertgesetz setzt sich in Krisen durch. Die Folge der Leverage-Struktur müssen also Finanzkrisen sein.

Sieht man dies so, dann wäre die Finanzkrise eine Folge realwirtschaftlicher Entwicklungen. Kann dies stimmen? Ist dies nicht hauptsächlich eine Finanzspekulationen-Krise?

Möglicherweise haben wir zwei Phänomene zu unterscheiden. Die Finanzblasen betrafen eine Zeitlang nur ein sehr eingeschränktes Segment, das mit dem Rest der Menschheit nur über Luxus-Konsum eine Verbindung hatte. Über eine Reihe von Links könnte dieses Segment aber an die Realwirtschaft wieder angekoppelt haben und verstärkt nun mit dem Platzen ihrer Blasen die krisenhafte Entwicklung der Realwirtschaft.

Beispiel US-subprime Krise: Es gibt einen Bau- und Immobilien-Zyklus in beherrschbarem Ausmaß, der ähnlich funktioniert wie der "Schweinezyklus", d.h. über Verzögerungen nach dem cobweb-Mechanismus. Aus diesem Zyklus entsteht eine Blase, wenn Bankangestellte, getrieben von eigenen Einkommensgelüsten und von ihren Verkaufsleitern gehetzt, die Menschen mit allen Mitteln in Kredite hineinlocken ("Ninja-Kredite"), unter der Voraussetzung, dass die Preise ständig steigen. Diese Blase platzte Sommer 2007. Damit setzte eine Spirale nach unten ein: Zuerst kamen Millionen von Menschen dran, die ihr Kleinstvermögen verloren. Das wieder brachte die Banken in Schwierigkeiten. Dann warf der Staat gutes Geld dem schlechten nach und erzeugt damit auf Jahre hinaus eine offene und vermutlich noch länger schleichende Krise des nationalen und sodann internationalen Finanzsystems überhaupt. Schließlich nimmt dies in vielen Ländern den Konsum überhaupt zurück und mündet in den klassischen Krisenfall.

Konjunkturen und Krisen waren ein Problem auch der Hauptstrom-Ökonomie, die aber gleichzeitig immer wieder in Versuchung war, sie zu leugnen.

Die hoch entwickelten Länder erleben einen neuerlichen Schub der Tertiärisierung, u. a. weil einige Länder (China, Indien, sonstige) sie in einem rasanten Prozess der Industrialisierung bei ihren eigenen Unterschichten auskonkurrenzieren. Das wäre wieder ein typisch realwirtschaftlicher Ablauf. Wie hängt er mit dem Finanzsystem zusammen? Offenbar über den Aufbau von Leistungsbilanzdefiziten (USA) und -überschüssen (China). Man kann dies durchaus auch als einen neuerlichen Kondratieff-Zyklus(2) interpretieren. Der Systemcharakter der Weltwirtschaft erhält einen neuerlichen Schub. Ein wichtiger Teil der gesamten materiellen Produktion wird in die aufstrebenden Länder verlagert; nolens und volens verstärkt sich der Tertiär-Charakter der Metropolen, weil sie einerseits (volens) zusätzliche Leitungsfunktionen übernehmen, andererseits (nolens) die persönlichen Dienste ein größeres Gewicht erhalten. In zwei bis drei Jahrzehnten wird der Netto-Effekt auch eine starke Verlagerung des in BIP gemessenen Wirtschaftsgewichts nach Ost- und Südasien sein, falls dazwischen nicht in China und Indien eine Revolution ausbricht. Dabei könnte ein lang andauernder schleichender Aufstand (wie jener der neuen Naxaliten in Chatisgarh) diesen Prozess zumindest verlangsamen.

Aber diese Form der Krisen hat es ständig gegeben und als Automatismen werden sie keinen Emanzipationsschub bewirken, eher im Gegenteil. Warum?

Krisen wurden von den herrschenden Kräften stets zum Herrschaftsausbau genutzt. Kamen sie, etwa als Wirtschaftskrisen, nicht von selbst, so hat man sie gemacht. Denn Krisen sind nicht zuletzt eine Form der Wirklichkeitswahrnehmung und die Wahrnehmung eines Prozesses oder eines Zustands als Krise seitens der Bevölkerung erlaubt es, außerordentliche Vollmachten anzustreben und außerordentliche Mittel einzusetzen. Es ist dasselbe wie mit dem Begriff der "nationalen Sicherheit", vielleicht etwas weniger drastisch. Tatsächlich ist der Krisenbegriff der gängigen Politik engst mit dem Sicherheitsbegriff verwandt und die sogenannte Neue Sicherheitspolitik versucht aktiv, beides in ein Konzept zu gießen.

Vorderhand können Linke in Europa mangels an Masse fast nichts anderes tun als Analyse zu betreiben und ein Minimum an Gegenbewegung aufzubauen.

Heute kann die Elite, zumindest in Kontinentaleuropa, nicht mehr (oder noch nicht?) Kriege vom Zaun brechen, wenn sie glaubt, mehr Zustimmung oder weniger Kritik zu brauchen. Wie wir wissen, ist dies jenseits des Atlantiks und vielleicht auch in anderen Ländern anders. Eine Finanzkrise kommt also gerade recht und man nutzt sie auch nach Kräften. So griff auch die österreichische Regierung im Herbst 2008 mit beiden Händen nach der Bankenkrise, die es in Österreich kaum gab - selbst Frau Schmidt als Finanz-Chefin der Kommunalkredit und die Herren Verzetnitsch und Hundsdorfer bei der BAWAG hatten keine veritable Krise zustande gebracht. Aber man brauchte einen Vorwand und den hatte man in den Geschehnissen in den USA und sonstwo. Es war von vorneherein klar, dass dies schließlich dazu benützt würde, um Sozialabbau und Umverteilung zu betreiben. Einige wenige Gewerkschafter (Katzian), sonst ja immer die letzten, haben dies damals auch begriffen - und stimmten trotzdem zu.

Die Brutalität der Sozialdemokraten in Griechenland, Portugal und Spanien kam aber doch überraschend - die Richtung nicht. Und wenn etwas an der frechen Offenheit, mit der die EU-Kommission jetzt versucht, den Abbau von nationalem Parlamentarismus voran zu treiben, überrascht, dann allenfalls die Plumpheit. Aber sie weiß sich in Akkord mit den nationalen Regierungen. Diese haben am 8. Juni 2010 den Wahnsinn abgesegnet, dass Estland auch noch der sowieso kontraproduktiven Währungsunion beitritt (und einige angeblich linke Sozialdemokraten applaudieren - Schulmeister - mit dem grotesken Argument, man dürfe dem Land jetzt nicht die versprochene Belohnung des schädlichen Beitritts nehmen). Überraschend ist vielleicht, dass es einige - eher konservative - Regierungen gibt, die gegen den Zugriff der Kommission auf das nationale Budget ein wenig murren. Sie fürchten Machtverlust. Vom Volk kommt kein Widerstand. Es ist, wie in Zeiten angeblicher Krisen gang und gäbe, der Meinung, die EU solle etwas gegen die Krise unternehmen.


Was ist zu tun?

Vorderhand können Linke in Europa mangels an Masse fast nichts anderes tun als Analyse zu betreiben, sie möglichst effizient in ihren Kreisen zu debattieren und damit ein Minimum an Gegenbewegung aufzubauen. Sie können, mit wenig Hoffnung auf Echo, versuchen, linksreformistische Vorschläge anzubringen (etwa die Steuerprogression zu verstärken u. ä.). Schließlich können und müssen sie aufmerksam die Entwicklung in den Peripherien beobachten und kritische Solidarität üben.


Anmerkungen

(1) Der italienische Soziologe Vilfredo Pareto gilt als Vorläufer des Faschismus. Er beschreibt u.a. den Wechsel von Eliten als einen Austausch zwischen alten und neuen Eliten, niemals jedoch als Prozess, an dem die Massen teilhaben.

(2) Die Kondratieff-Zyklen beschreiben den Kern einer von dem russischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratieff entwickelten Theorie zur zyklischen Wirtschaftsentwicklung, die Theorie der langen Wellen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Das 1971 errichtete Marx-Monument in Chemnitz: Seine Philosophie bleibt unentbehrlich
- Eine ausgemusterte Leninstatue in der dänischen Stadt Herning.
- Eine Lenin-Statue in Seattle, Washington: Für die Linke eine historische Referenz.

Raute

THEORIE

Konstruktion der mexikanischen Nation

Zweihundert Jahre Kampf um die Interpretation der Unabhängigkeit

Von Oralba Castillo Nájera

Mexiko feiert die Unabhängigkeit von 1810 und die Revolution von 1910. Dies bringt die Debatte über die Nation aufs Tapet, die der Neoliberalismus aus dem kollektiven Gedächtnis löschen will.


1810 und 1910 sind zwei Gründungsmomente der mexikanischen Nation. Gegen ihren Willen war die Regierung gezwungen, der beiden Ereignisse offiziell zu gedenken. Wie werden die Feierlichkeiten begangen? Welche Nation feiern wir heute und welche Nation feiern die Neoliberalen an der Macht?

Im 18. Jahrhundert begann sich die Vorstellung von einer mexikanischen Nation herauszubilden, die sich vom Vizekönigreich Neuspanien unterschied. Urheber der neuen Identität waren die Jesuiten, die 1767 aus Mexiko vertrieben wurden. Francisco Xavier Clavijero schrieb von seinem Exil aus die "Geschichte des Jesuitenordens in Neuspanien", in der er Zeugnis von der prähispanischen Geschichte, die er bewunderte, ablegte. Der Baron Alexander von Humboldt präsentiert mit seinem "Politischen Essay über Neuspanien" von 1808 zum ersten Mal die Größe unseres Landes und hielt damit den gebildeten Nachfahren der spanischen Eroberer, den Kreolen, den Spiegel ihrer Einzigartigkeit gegenüber Spanien vor.

Die Nation schuf sich im Kampf der Aufständischen für die Emanzipation von Spanien. Im Namen der entstehenden Nation wuchs die Identität, die nach ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Regierung, ihren Gesetze und ihrer Verfassung verlangte.


Feiern zur Unabhängigkeit

1813 schrieb José Maria Morelos y Pavón "Die Gefühle der Nation", ein zentrales Werk um das Nationsprojekt zu verstehen, von dem die Aufständischen träumten. Das Dokument wurde auf dem Kongress von Chilpancingo verlesen und war die Grundlage für die "Amerikanische Verfassung". 1813 waren Hidalgo, Allende und Aldama, drei andere wichtige Führungspersönlichkeiten des Unabhängigkeitskampfes, bereits gestorben. Morelos war der herausragende militärische und politische Führer der aufständischen Bewegung. Das Dokument stattete die Nation mit ihr eigenen Helden aus. Morelos erinnerte an die Indigenen, die gegen die Eroberung gekämpft hatten, die er mit den Führern der Unabhängigkeit verschmelzen ließ. Er verband die nach Freiheit strebende Gegenwart mit den Wurzeln der Vorfahren.

Er schrieb: "Auf den 12. August 1512 (Fall der Aztekenhauptstadt Tenochtitlán) folgte der 14. September 1813 (Eröffnung des Unabhängigkeitskongresses in Chilpancingo). An jenem wurden Mexiko in Tenochtitlán die Ketten der Sklaverei angelegt; an diesem zerbrechen sie für immer im glückseligen Dorf von Chilpancingo.

Ich möchte, dass der Tag des 16. September jedes Jahr gefeiert wird, als Jahrestag, an dem sich die Stimme der Unabhängigkeit erhob und unsere heilige Freiheit begann (...).

Ich möchte, dass (die Nation) eine Regierung hat, die vom Volk ausgeht. (...) Ich möchte, dass wir die Deklaration aussprechen, dass es keinen anderen Adel gibt als die Tugend, die Weisheit, den Patriotismus und die Wohltätigkeit; dass wir alle gleich sind, denn wir stammen vom gleichen Ursprung ab; dass es keine Privilegien gibt; dass es weder vernünftig noch menschlich noch richtig ist, dass es Sklaven gibt, denn die Farbe des Gesichtes ändert nicht jene des Herzens oder des Gedankens; dass die Kinder des Bauern wie jene des reichsten Gutsbesitzers erzogen werden; dass jeder, der mit Recht zu klagen hat, ein Gericht findet, das ihn anhört, ihn schützt und ihn gegen den Starken und Willkürlichen verteidigt."(1)

Wir sind nicht mehr die hybriden Geschöpfe Neuspaniens, Wesen ohne Heimat, ohne Identität - die prähispanische Geschichte als Teil unseres Seins.

Wir sind nicht mehr die hybriden Geschöpfe Neuspaniens, Wesen ohne Heimat, ohne Identität. Heute erkennen wir die prähispanische Geschichte als Teil unseres Seins an. Wir sind im Besitz der freien Vergangenheit einer ganz anderen Nation. Ein neues historisches Subjekt entsteht: die mexikanische Nation mit einem Territorium - ein Projekt, das sich auf die prähispanische Geschichte stützt, ausgestattet mit eigenen Vorfahren, Gebräuchen, Mythen und Symbolen. Zu ihnen zählt die Jungfrau von Guadalupe. Sie repräsentiert die Einheit der Indigenen, Mestizen und Kreolen. Es entsteht eine von der Aufklärung, dem Liberalismus und dem Guadalupismus inspirierte Nation.

Die Nation von Miguel Hidalgo und José Maria Morelos ist - so paradox es sein mag - religiös und liberal. Hidalgo und Morelos sind Priester. Die Unabhängigkeit enthält Elemente des heiligen Krieges. Hidalgo verwendete die Standarte der Jungfrau von Guadelupe um eine Einheit für den Volkskrieg zu schaffen. Die Werke von Voltaire, Rousseau, Montesquieu tragen ebenfalls zum Aufstand bei. Hidalgo und Morelos befinden, dass die Souveränität dem Volk zusteht, prangern die Sklaverei, die Klassen- und Kastenunterschiede an, fordern das Ende von Tributzahlungen und ordnen die Aufteilung von Großgrundbesitz an.

General Morelos wurde vom Kongress des militärischen Oberbefehls enthoben. Die gebildeten Kreolen fürchteten die Konzentration der politischen und militärischen Macht in der Person Morelos'. Seine radikalen sozialen Forderungen zielten darauf ab, die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Grundlagen Neuspaniens zu zerstören, während sie gleichzeitig das soziale Programm und die Regierungsstruktur skizzierten, die aus der Volksmacht erwachsen sollte.

Seit beginn der Unabhängigkeit zeichneten sich zwei Nationsprojekte ab: eine Unabhängigkeit ohne Bruch mit dem Kolonialismus oder eine Volksnation

Seit Beginn der Unabhängigkeitsbewegung zeichnen sich zwei Nationsprojekte ab: Die gebildeten Kreolen wünschten die Unabhängigkeit, ohne notwendigerweise mit der kolonialen Struktur zu brechen. Das radikale Projekt wurde von Hidalgo, Morelos und Vicente Guerrero repräsentiert. 1815 wurde Morelos gefangen genommen und hingerichtet. Damit war das Projekt einer "Volksnation", einer "Nation von unten" demoralisiert. Obwohl im Gebirge von Tixtla Vicente Guerrero den Kampf in Form eines Guerrillakrieges mit doppelter Kraft weiterführte, konnte er das Stadium des Stellungskrieges nicht erreichen, wie das Morelos gelungen war. Guerrero war, wie Hidalgo und Morelos, ein Mann der politischen Ideen. Er unterstützte die von der royalistischen Armee verfolgten Kongressmitglieder, konnte jedoch die Desertion aus den Reihen der Aufständischen nach der Hinrichtung von Morelos nicht verhindern. Der Vizekönig Juan Ruiz de Apodaca bot den Aufständischen Amnestie an. Hunderttausende akzeptierten die Rückkehr zum "Frieden" in Sklaverei.

Die "Volksnation" begann zu zerbröckeln.


Konterrevolutionäre Nation

1814 kehrte der spanische König Fernando VII an die Macht zurück, von der ihn Napoleon vertrieben hatte. Er fühlte sich von den liberalen Cortes von Cádiz, der Ständeversammlung, bedroht. Die Inquisition war abgeschafft worden und ohne ihren "bewaffneten Arm" hatte die Kirche an Macht verloren. Die Cortes von Cádiz waren eine mächtige Waffe für die Unabhängigkeit. Der König verlangte Absolutismus, doch der Aufstand des Generals Rafael Riego zwang ihn dazu, die Cortes von Cádiz anzuerkennen.

In Neuspanien fand sich eine Gruppe von Spaniern, Händlern, Priestern und Mitgliedern der Heiligen Inquisition zusammen um zu konspirieren. Die Gruppe wurde, nach der Kirche, in der sie sich versammelten, "Profesa" benannt. Sie akzeptierten die Gesetze von Cádiz nicht, die ihren Interessen zuwiderliefen. Ihr Konzept von Unabhängigkeit verfolgte das Motto "lösen ohne zu brechen". Dazu mussten sie Vicente Guerrero besiegen, womit sie den blutigen General Agustín de Iturbe beauftragten.

Iturbe wurde mehrfach besiegt und es war klar, dass er auf dem militärischen Weg den Guerillero nicht unterwerfen können würde. Da Vicente Guerrero weiteres Blutvergießen verhindern wollte, entsandte er einen Emissär zu Iturbe. Schließlich wurden drei Garantien ausgehandelt: Unabhängigkeit, Religion und Einheit. Die Armee Trigarante ersetzte sowohl das Volksheer als auch die königliche Armee. Der letzte Vizekönig, der aus Spanien gekommen war, Juan de O Donojú, sah keine andere Möglichkeit als die Verträge von Iguala und das Mexikanische Imperium anzuerkennen. Die Unabhängigkeit wurde am 27. September 1821 zur Realität, Iturbe hielt triumphierend in Mexiko Stadt Einzug.

Die Verträge von Iguala und Córdoba beseitigten die Fahnen des Volkes. Ein Mexikanisches Imperium mit moderater Monarchie und Verfassung entstand. In den Verträgen von Iguala wurde Fernando VII oder seinen Nachfahren die Krone angeboten, jene von Córdoba sahen vor, dass der Thron mit einem Mexikaner besetzt werden konnte. Dies wurde schließlich Agustín de Iturbe zuteil. Die Volksnation war militärisch besiegt worden.


Hidalgo oder Iturbe

Im 19. Jahrhundert währte der politische Kampf noch lange Zeit. Er nahm die Form eines Bürgerkrieges zwischen Konservativen und Liberalen, Republik oder Monarchie, Zentralismus oder Föderalismus an. Jede Seite hatte eine andere Vorstellung der Nation. Die Liberalen verfolgten die Ideale von Hidalgo und Morelos weiter, zu denen die republikanische Form und die Gewaltenteilung hinzukamen. Der erste republikanische Präsident Guadelupe Victoria folgte Iturbe nach, der ins italienische Exil floh. Vicente Guerrero wurde 1829 Präsident, jedoch nur für wenige Monate. Die Bedrohung durch eine spanische Invasion machte es notwendig, zu den Waffen zu greifen. Der Vizepräsident Anastacio Bustamente zettelte eine Verschwörung an, um ihn umzubringen. Guerrero wurde am 14. Februar 1831 hingerichtet.

Während des Bürgerkrieges ging aufgrund der nordamerikanischen Invasion mehr als die Hälfte des mexikanischen Territoriums verloren. Der General Antonio López de Santa Ana hatte elfmal das Amt des Präsidenten inne, einige Male als Liberaler, andere Male als Konservativer. Wir wurden von einem weiteren Imperium heimgesucht, als Maximilian von Habsburg 1864 in Mexiko ankam. Benito Juárez und eine Handvoll Liberaler flüchteten aus der Hauptstadt, nachdem sie dem feindlichen Eindringling den Kampf angesagt hatten. Die Juaristen triumphierten im Jahr 1867. In jenen Jahren wurde die Unabhängigkeit am 16. oder am 27. September gefeiert und jeweils Hidalgo oder Iturbe gedacht. Mit der endgültigen Niederlage von Santa Ana 1855 wurde das iturbistische Gedenken beseitigt. Die liberale Version der Geschichte hatte sich durchgesetzt. Die Genealogie ihrer Helden war: Cuauhtémoc, Miguel Hidalgo, José María Morelos, Ignacio Allende, Benito Juárez und Melchor Ocampo.


Mexikanische Liberale

Der Liberalismus begleitete die Bourgeoisie auf ihrem Weg zur Macht. Die Verankerung des Kapitalismus in Mexiko war ein, nach Trotzki, ungleicher und kombinierter Prozess. Unter Benito Juárez entstand eine antiimperialistische, laizistische und republikanische Nation. Andererseits förderten die Reformgesetze (Leyes de la Reforma), die sich stark an die nordamerikanische Verfassung anlehnen, den Freihandel und das Privateigentum.

Benito Juárez verhandelte seine Reformen auch mit den Konservativen, was einer Gruppe von Generälen missfiel. Es folgten Aufstandstätigkeiten, unter denen der Aufstand von Julio López Chávez aufgrund seiner von sozialistischen Ideen inspirierten Ziele hervorgehoben werden muss. López Chávez verfasste ein Manifest an die Unterdrückten und Armen Mexikos:

"Mit welchem Recht haben sich einige Individuen des Landes bemächtigt, das allen gehören müsste? Wir haben gesehen, wie die Großgrundbesitzer, die zunächst Zuflucht in den Rockfalten des Imperiums gesucht haben, nun diese in den Rockfalten der Republikaner finden und dabei immer die Interessen des Volkes mit Füßen treten.

Brüder: Wir wollen den Sozialismus, er ist die perfekteste Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Es lebe der Sozialismus, es lebe die Freiheit!
Chalco, 20. April 1869"(2)


Díaz übernimmt die Macht

Porfirio Díaz hatte dreißig Jahre lang die Präsidentschaft inne. Der Diktator erlegte dem Land einen Friedhofsfrieden mit Blut und Feuer auf. Er entwickelte den mexikanischen Kapitalismus, indem er ihn den imperialen Interessen der USA, Englands und Frankreichs unterwarf, die in unserem Land billige Arbeitskräfte und Privilegien zur Ausbeutung der Bodenschätze vorfanden. Mexiko wurde zur Nachhut des imperialistischen Wachstums.

Das hundertjährige Jubiläum der Unabhängigkeit fiel mit der letzten Wiederwahl von Porfirio Díaz zusammen. Der durchtriebene Diktator profitierte von den Feierlichkeiten, um die Geschichte Mexikos in seinem Licht zu färben und um die Botschaft in die Welt auszusenden, dass in Mexiko "Frieden, Ordnung und Fortschritt" herrschten.


Hundert Jahre Unabhängigkeit

Porfirio Díaz machte viel Aufhebens rund um die Geschichte des Vaterlandes, der er sich bemächtigte. Er ließ Plakate mit den Gesichtern Miguel Hidalgos, Benito Juárez' und von sich selbst aufstellen. Er ließ aus Hidalgos Heimatort dessen Taufbecken kommen und ein Denkmal für Juárez errichten. Feierlichkeiten und Militärparaden gaben einer nationalistischen Kultur, geprägt von der diktatorischen Macht, Nahrung. All das hatte der Diktator bitter nötig, da er sich in einer schwierigen Situation befand. Francisco I. Madero hatte gegen den Wahlbetrug einen Aufstand angezettelt, der von sozialem Unmut getragen war. Es gab auch andere Möglichkeiten, der heldenhaften Vergangenheit zu gedenken, nämlich die des ausgegrenzten Volkes. Hinter von der Polizei aufgestellten Zäunen und Mauern schrie eine Masse von Leprösen und Obdachlosen: "Tod dem alten Saukerl!" Oppositionelle der Partei gegen die Nationale Wiederwahl störten die Feierlichkeiten auf dem Zócalo, dem Hauptplatz von Mexiko Stadt. Sie hielten Bilder Francisco I. Madero und protestierten gegen den Wahlbetrug.


Bewaffneter Aufstand 1910

Während der Feierlichkeiten zum hundertjährigen Jubiläum der Unabhängigkeit erstand eine andere Lesart der Geschichte, die von unten, in Puebla. Das war der Beginn der bewaffneten Bewegung. Zeichen des Unmuts flammten im gesamten Staatsgebiet auf. Die Liberale Partei Mexikos (PLM) war von Ricardo Flores Magón am 1. Juli 1906 gegründet worden; der von Emiliano Zapata am 28. November 1911 unterzeichnete Plan von Ayala und das Agrargesetz vom 24. Mai 1915 von Francisco Villa rufen zu einer Volksnation auf. Zapatas Konzept ist auf eine Nation der Gemeinschaften ausgerichtet, Villa legt den Schwerpunkt auf das Bäuerliche, die PLM ist in ihrer letzten Phase sozialistisch. Für die revolutionären Führer ist es Zeit zu handeln. Erneut begleitet die Jungfrau von Guadelupe Emiliano Zapata bei seinem Einzug in Mexiko Stadt, wo er 1914 auf Francisco Villa trifft. In diesem Jahr war die Volksnation ihrem Sieg sehr nahe.

Die Revolution entwickelt sich in mehreren Etappen. Die erste repräsentiert Francisco I. Madero. Sein Protest gegen den Wahlbetrug trägt ihm den Kerker ein. Nach seiner Flucht in die USA ruft er zum gewaltsamen Sturz des Diktators auf. Díaz musste schließlich das Pariser Exil akzeptieren, Madero übernahm die Präsidentschaft. Die zweite Etappe von 1911 bis 1913 entspricht der Amtszeit Maderos, dem es nicht gelang, die sozialen Verbesserungen umzusetzen, die er vom Exil aus versprochen hatte. Er entzweite sich mit Zapata, der die Aufteilung von Grund und Boden forderte. Zapata weigerte sich, die Waffen abzugeben.

Eine Gruppe von Porfiristen verschwor sich gegen Madero und enthob diesen mithilfe des US-amerikanischen Botschafters seines Amtes. Nach zehntägigen Auseinandersetzungen wurden Madero und der Vizepräsident Pino Suárez gefangen genommen und am 22. Februar 1913 hingerichtet. Durch den Staatsstreich gelangte Victoriano Huerta an die Macht.

Die dritte Etappe ist jene des von Venustiano Carranza angeführten Aufstandes gegen Huerta. Im Plan de Guadelupe rief er zu den Waffen, um den Usurpator zu stürzen. Er wurde von Francisco Villa, Àlvaro Obregón, Emiliano Zapata und anderen unterstützt. Huerta wurde 1914 gestürzt.


Der revolutionäre Konvent

Das vorläufige Ende des bewaffneten Kampfes brachte die Gelegenheit mit sich, dass Tendenzen innerhalb der Bewegung von 1919 klare Formen annahmen. Laut dem Plan de Guadelupe sollte nach dem Sturz von Victoriano Huerta ein Konvent der Anführer der unterschiedlichen bewaffneten Formationen einberufen werden, um die neue Nation zu konzipieren. Großgrundbesitzer, Industrielle und Händler des Kleinbürgertums forderten ihre Anteile an der Macht. Als Wächter des Privateigentums setzten sie sich für den Freihandel ein und unterstützten Venustiano Carranza. Hingegen kämpften die Volksbewegungen, repräsentiert von Villa, Zapata und Flores Magón, für eine grundlegende Neuerung der Organisation des Landbesitzes.

1914 nahmen Zapata und Villa, gestärkt durch ihren Triumph im Nationalkonvent, die Hauptstadt ein. Doch niemand wusste, wie mit der Zentralmacht umzugehen wäre, die sie während der Monate November und Dezember inne hatten. Niemand dachte daran, eine neue Verfassung zu verabschieden, welche die Forderungen der Arbeiter und des Kleinbürgertums miteinschließen würde - Forderungen, die ihnen nicht bekannt waren. Währenddessen machte sich Carranza, der die Beschlüsse des Konventes nicht anerkannte, auf den Weg zum Hafen von Veracruz. Die politischen Schwächen der Volksarmeen waren offenkundig. Eulalio Gutiérrez, der vom Konvent gewählte Präsident, flüchtete mit dem Geld, gefolgt von Militärs und Intellektuellen. Zapata kehrte in den Süden, Villa in den Norden zurück. Ihre Trennung bedeutete das politische Scheitern, die Niederlage der Volksnation.

Carranza erreichte triumphierend die Hauptstadt und berief eine Versammlung in Querétaro ein, zu der die Führer der Volksbewegung nicht eingeladen waren. Am 5. Februar 1917 wurde die Mexikanische Verfassung verabschiedet, die aus der bewaffneten Bewegung hervorging. Die Bourgeoisie war gezwungen die Forderungen des Volkes anzuerkennen, denn obwohl die Volksrevolution geschwächt war, hatte sie dennoch Kampfkraft. Carranza wurde von den USA anerkannt, was die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen einer modernen, kapitalistischen und von den USA abhängigen Nation erneut festigte.

Parallel zur Absicherung seiner Macht entsandte Carranza Obregón, um Villa militärisch zu schlagen. Dies gelang 1915 in Celaya. Aus Rache verübte Villa 1916 eine Invasion in nordamerikanisches Territorium. Er wurde von General Pershing verfolgt, flüchtete jedoch auf die Hacienda de Canutillo in Durango, wo er seine Vorstellung von Landbestellung und Bildung praktizierte. Er wurde am 23. Juni 1923 in einem Hinterhalt ermordet. Carranza und Obregón ließen auch Zapata ermorden. Flores Magón wurde 1922 in einem Gefängnis in den USA getötet. Mit seinem Verschwinden verfällt die radikale revolutionäre Nation.


Die institutionelle Revolution

Die Machthaber schufen einen nationalistischen, antiimperialistischen und populistischen - nicht jedoch tatsächlich volksnahen - Diskurs. Sie bemächtigten sich der Fahnen und Führer der Volksbewegung, ließen sich als legitime Erben von Hidalgo, Morelos, Villa und Zapata feiern. Die Aneignung der Geschichte und der Helden des Volkes war ein langer und widersprüchlicher Prozess. Die Fähigkeit der herrschenden Klasse sich zu organisieren und die Geschichte zu manipulieren war entscheidend, um dem Volk die Hände zu binden. Es wurde in die Staatsmacht eingebunden. Gewerkschaften, Vertretungskörperschaften der Bauern und anderer sozialer Gruppen entstanden, dem Staat untergeordnet, von korrupten Führern, Verteidigern der Interessen der Unternehmerschaft, kontrolliert. Auf diese Weise entstand ein Staat, der in der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) Gestalt annahm. Es folgten siebzig Jahre einer Parteidiktatur, die sich durch die Revolution von 1910 legitimierte und in deren Namen sie regierte.

Die Machthaber schufen einen nationalistischen, antiimperialistischen und populistischen - nicht jedoch tatsächlich volksnahen - Diskurs.

Die offizielle nationalistische Ideologie wurde in Schulen, Büchern, Zeitungen, im Fernsehen und Kino, in der Kunst und Musik reproduziert, so dass alle Aspekte des Alltagslebens von der Vorstellung durchdrungen waren, dass der mexikanische Staat revolutionär sei.

Kämpfer, die außerhalb der geölten PRI-Maschine dachten und arbeiteten, erlitten Gefangenschaft, Verschwinden, Folter und Tod. Doch während des Prozesses der Konstruktion der offiziellen Nation wuchs auch die Volksnation.


1968 - die Studenten holen die Volksnation zurück

Die Studentenbewegung trat mit dem Staat in Konflikt. In jenem Jahr wurden die Feierlichkeiten rund um den "Schrei" der Unabhängigkeit an zwei unterschiedlichen Orten abgehalten, im Nationalpalast mit dem verhassten Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz, der für das Massaker an den Studenten am 2. Oktober verantwortlich war.(3) Währenddessen versammelten sich Studenten und Sympathisanten in der Autonomen Universität Mexikos (UNAM), um die anderen Geschichte, die rebellische und kämpferische, zu feiern. Die offizielle Geschichtsschreibung wurde in Frage gestellt. Der Tod von Hunderten Studenten entblößte das repressive Gesicht des Staates. Studenten und Professoren stellten sich die Aufgabe, eine andere Geschichte zu schreiben, aus der Sicht des Marxismus, der kraftvoll in das universitäre Leben eingetreten war. Unabhängigkeit und Revolution wurden im Lichte des Klassenkampfes und seiner wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Kategorien neu interpretiert.


Bruch mit der Geschichte von unten

1982 fand ein Bruch im Inneren der Macht statt. Präsident Miguel de la Madrid setzte der liberalen Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts ein Ende, indem er Wirtschaftsverträge unterzeichnete, die den Neoliberalismus einläuteten. Unter Salinas de Gortari wurde dieser Prozess beschleunigt. Der Staat verkaufte die Staatsunternehmen, machte Schluss mit dem Recht auf Bildung, Arbeit, Wohnen und Gesundheitsversorgung der unteren Klassen.

Im Jahr 2000 gelangte zum ersten Mal die rechte Partei der Nationalen Aktion (PAN) an die Macht. Unter anderen stellte sie sich die Aufgabe, die nationale Geschichte neu zu schreiben. Die US-amerikanische Invasion verschwand aus den Schulbüchern, Volkshelden wurden aus der offiziellen Geschichtsdarstellung verbannt, das Massaker an den Studenten kaum erwähnt. Von der Regierung gekaufte Intellektuelle erklärten den Tod der Nation. Alles, was nach Nationalismus roch, wurde lächerlich gemacht. Wir waren keine Mexikaner mehr, sondern Weltbürger.


Der Aufstand des EZLN und des EPR

Die Globalisierung des Finanzkapitalismus schritt über den Fall der Berliner Mauer hinweg. Der Imperialismus erklärte sich zum Sieger, zum einzigen Subjekt der Geschichte. Am 1. Jänner 1994 erhob sich in einem Winkel im Südosten des Landes eine indigene Guerilla, die dem illegitimen Präsidenten und der mexikanischen Armee den Krieg erklärte. Das Zapatistische Heer der Nationalen Befreiung (EZLN) nahm militärisch fünf Gemeinden im Bundesstaat Chiapas ein. Die Bilder gingen um die Welt. Das EZLN ging auch ideologisch in die Offensive. Auf seinen Gewehrläufen trug es die Forderung nach der Geschichte von unten, es hisste die Flagge von Zapata und Villa. Die Geschichtsschreibung des Volkes erstand erneut mit Kraft. Die indigene Präsenz ist ein bedeutsamer Beitrag, denn ihre uralte Existenz wird in der liberalen Verfassung nicht anerkannt. Die bewaffneten Bewegungen von 1810 und 1910 beinhalten die Rechte der indigenen Bevölkerung nicht.

Auf seinen Gewehrläufen trug das EZLN die Forderung nach einer Geschichte von unten und es hisste dabei die Flagge von Zapata und Villa.

Am 28. Juli 1996 erhob sich eine andere Guerillabewegung, das Revolutionäre Volksheer (EPR). Im Bundesstaat Guerrero präsentierte sich das EPR mit einem sozialistischen Manifest, es erklärte, die Macht im Staat übernehmen zu wollen. Sein Auftreten war überraschend, da sich das EZLN in Verhandlungen mit dem Staat befand und vorübergehend die Waffen niedergelegt hatte. Das EPR wurde zur bösen Guerilla, eine Hasskampagne ergoss sich gegen die Kämpfer/innen. Am Ende des 20. Jahrhunderts spaltete sich das EPR aufgrund interner Widersprüche. Die Repression in den Zonen, in denen das EPR operierte, war brutal. 2006 wurden zwei Anführer des EPR verhaftet. Sie wurden in Oaxaca gefoltert, wo man sie zum letzten Mal sah. Es bildete sich eine Kommission von Intellektuellen, die ihre Rückkehr forderte, jedoch bislang ohne Erfolg.


Wahlbetrug und Krieg gegen den Drogenhandel

Durch Wahlbetrug übernahm 2006 Felipe Calderón die Präsidentschaft. Sein Gegenkandidat Andrés López Obrador von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) hatte das Nachsehen. Das Land war gespalten. Um sich als Präsident zu legitimieren, erklärte Calderón dem Drogenhandel den Krieg. Die USA boten ihre wirtschaftliche und militärische Unterstützung an, indem sie den Plan Colombia kopierten. In Mexiko heißt er nun Plan Mérida. In vier Jahren Calderón-Regierung hat der angebliche Krieg gegen den Drogenhandel das Land mit Blut überzogen. Die Armee wird schwerer Verbrechen gegen die Menschenrechte angeklagt, doch ist sie durch Sonderprivilegien vor Strafverfolgung geschützt. Der Handel mit Waffen und Drogen geht quer durch den Staat, involviert einige Gouverneure, Bürgermeister, die Armee und Polizei. Im Norden gibt es Bundesstaaten, die von der Drogenmafia kontrolliert werden. Organhandel, Kinderpornographie, Prostitution, Entführung von Migranten und gezielte Frauenmorde sind an der Tagesordnung. Der soziale Zerfall ist skandalös. In den Angaben über die Toten verstecken sich die politischen Aktivisten, Kämpfer von EPR und EZLN, ehrliche Journalisten, Bauernführer, Indigene, Verteidiger der Menschenrechte, Intellektuelle, Umweltschützer, Bergarbeiter, Lehrer ­....


Das Jubiläumsjahr

Was den Neoliberalismus am wenigsten interessiert, ist, die Erinnerung an die Geschichte von unten zu erhalten, geschweige denn die Volksnation wieder zum Leben zu erwecken. Doch das symbolisch überladene Jahr 2010 rückte näher und es blieb der Regierung nichts anderes übrig als zweihundert Jahre Unabhängigkeit und hundert Jahre Revolution zu feiern. Die Feierlichkeiten aktivierten die Diskussion über die Nation, die wir waren, sind und sein wollen. Regierung und ihr hörige Intellektuelle veranstalteten eine Reihe grotesk-lächerlicher Events und unterließen keine Anstrengung, um das Jubiläum seines politischen Gehalts zu entleeren.

Von der Volksnation ist nichts übrig geblieben. Armeeeinheiten verhinderten, dass die Menschen zum Zócalo, dem Hauptplatz von Mexiko Stadt, gelangten, denn die Ehrengäste waren rund um den Nationalpalast platziert. So starb eine Tradition, die diese Feierlichkeiten mit der Fröhlichkeit der Massen verband.

Die Militärparade des 16. September diente dazu das Volk einzuschüchtern. Die Militärs marschierten mit faschistischer Miene. US-Militärs waren eingeladen worden, so als ob es die Invasion von 1846-48 nie gegeben hätte. Auch andere Staaten hatten Armeeeinheiten geschickt, zumal in Zeiten der Globalisierung.

Mit dem Verschwinden der Nation als einem Träger von Werten haben sich Identität und sozialer Zusammenhalt in individueller Verzweiflung aufgelöst.

Was bleibt vom Nationalstaat, der aus den Ereignissen von 1810 und 1910 entstand? Wenig. Es gibt Dörfer, die sich im Widerstand befinden, Arbeiterbewegung, Bergarbeiter, Bauern und Indigene, die um ihr Überleben kämpfen. Zum Neoliberalismus kommt der Krieg gegen den Drogenhandel. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in extremer Armut. Die Kriminalisierung der Migranten in den USA hat deren Rücküberweisungen, von denen die Bauernfamilien, die Indigenen, die Arbeiter und Teile des Kleinbürgertums lebten, stark reduziert. Die Arbeitslosigkeit hat schwindelerregende Höhen erreicht.

Mit dem Verschwinden der Nation als einem Träger von Werten haben sich Identität, Anerkennung, kollektives Gedächtnis, Geschichte von unten und sozialer Zusammenhalt in individueller Verzweiflung aufgelöst.

Ich möchte mit einem hoffnungsfrohen Gedanken schließen, doch ich finde keinen. Der materialistische und dialektische Ansatz erlaubt es, sich an die Überzeugung zu klammern, dass die Reaktion des Volkes wieder einen qualitativ revolutionären Schritt nach vorne machen wird. Wann, weiß ich nicht.

Übersetzung von Margarethe Berger


Anmerkungen

(1) Eigene Übersetzung
(2) Eigene Übersetzung
(3) Am 2. Oktober 1968 schoss die mexikanische Polizei auf eine Versammlung der Studentenbewegung am Tlatelolco-Platz. Die genaue Opferzahl ist bis heute unbekannt. Schätzungen bewegen sich in einer Spannbreite zwischen zwanzig und tausend.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Emiliano Zapata gilt in der Erinnerungskultur als Zentralgestalt der Revolution.
- Das Jubiläum der Revolution wird auch in den Schulen des Landes gefeiert.

Raute

KULTUR

Ein Verlust für die arabische Kultur

Ein Nachruf auf den algerischen Schriftsteller Tahir Wattar

Von Mohammad Aburous

Am 12. August 2010 starb Tahir Wattar im 74. Lebensjahr. Er hat mehrere Romane verfasst, die als Vorbilder des sozialen Realismus in mehr als zehn Sprachen übersetzt wurden.


Wattar schloss sich 1956 der algerischen Revolution an und war Mitglied in der Nationalen Befreiungsfront (FLN), die ihn 1984 wegen der Veröffentlichung der kritischen Kurzgeschichte "Die Negerin und der Offizier" in Frühpension schickte. In der FLN galt er als Kommunist und zählte zur linken Opposition. Als Algerien die Unabhängigkeit erlangte, gründete er mehrere linke Zeitschriften für Politik und Kultur, die sukzessive als "kommunistische Medien" verboten wurden. Er opponierte gegen den Putsch von Houari Boumedienne, gegen Ahmad Ben Bella und trat für Demokratie ein. Auch 1990 war Wattar einer der wenigen nicht-religiösen Intellektuellen, die den Militärputsch ablehnten und die Anerkennung des Wahlergebnisses, d. h. des Sieges der Islamischen Heilsfront (FIS) forderten. Während des algerischen Bürgerkriegs der 1990er Jahre lehnte er den Begriff "Terrorismus" ab und zog die Definition "Gewalt und Gegengewalt" vor. Aus Protest gegen das Militärregime trat er von seinem Posten beim staatlichen Rundfunk zurück.

Tahir Wattars frühe Romane reflektieren die Herausforderungen beim Aufbau des modernen Staates und einer modernen Gesellschaft in Algerien sowie das widersprüchliche Verhältnis zur Moderne. In einem seiner Romanen beschrieb er die neuen Regenten folgendermaßen: "Von der Moderne übernahmen sie einzig Waffen, um den Bürger zu tyrannisieren, und das Radio, um ihm Kopfschmerzen zu verursachen. Und bei beiden sind sie nur Konsumenten."

Mit Wattars Tod hat die gesamte arabische kulturelle Bewegung nicht nur einen Schriftsteller verloren, sondern auch einen unermüdlichen Kämpfer.

Schon im seinem ersten Roman (La'az, 1974) gab er ein entmystifiziertes Bild der algerischen Revolution und schilderte die Kinderkrankheiten der Bewegung, die später zu ihren chronischen Schwächen wurden. In der Kurzgeschichtensammlung "Die Märtyrer kehren diese Woche zurück" nimmt die Kritik einen schärferen, jedoch humoristischen Charakter an. In seinem zweiten Roman "Das Erdbeben" stellte er den hartnäckigen Widerstand des Bürgertums gegen die Landreform dar. Er kritisierte in mehreren Arbeiten die Korruption des aufgeblähten Staatsapparats und warnte vor einer neuen postkolonialen Elite, die er als Handlanger Frankreichs in Algerien betrachtete. In diesem Kampf war Wattar unerbittlich und neigte zu Übertreibungen: 1993 schockierte er die intellektuelle Elite, als er den Mord am frankophonen Schriftsteller Tahir Jaout mit den Worten kommentierte: "Keiner wird ihn vermissen, außer seine Mutter und Frankreich".

In seinen späteren Werken tendierte Wattar zu literarischen Experimenten und befasste sich in einer sehr mutigen Art mit dem Niedergang der Linken sowie mit der neuen islamischen Bewegung. Auf kultureller Ebene kämpfte Wattar gegen die Frankophonie in Algerien und plädierte für eine Rearabisierung des Landes, die auf keinen Fall die kulturellen Besonderheiten der Amazigh (Berber) vernachlässigen dürfe. Er gilt als der Begründer des arabischsprachigen algerischen Romans. 1989 gründete er die Gesellschaft "al-Jahiziyya". Benannt nach dem arabischen Schriftsteller und Linguisten al-Jahiz (ca. 776-868) aus der Abbasiden-Zeit, widmete sich diese Gesellschaft der Förderung der arabischen Sprache und Literatur in Algerien. Dies erklärt die Vernachlässigung seiner Werke in den westlichen Ländern.

Die Beziehung zwischen dem Intellektuellen und dem Regime blieb sein politisches und literarisches Leben lang ein Hauptanliegen. Diesem Thema widmete er auch seinen letzten Roman "Eine Hymne an das Kriechen".

Wattar war ein Musterbeispiel des organischen Intellektuellen im Sinne Gramscis. Mit seinem Tod haben die algerische und die gesamtarabische kulturelle Bewegung nicht nur einen hervorragenden Romanschriftsteller und gewitzten Erzähler verloren, sondern auch einen unermüdlichen Kämpfer für die Erhaltung der fortschrittlichen, emanzipatorischen arabischen Kultur.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Der algerische Schriftsteller Tahir Wattar starb im August 2010 mit 74 Jahren.

Raute

KULTUR

Widerstand in kleinen Geschichten

Ein Interview mit der libanesischen Filmemacherin Arab Loutfi

Die libanesische Filmemacherin Arab Loutfi über die Lage der Palästinenser/innen im Libanon, die Aufgabe von Film und Erinnerungskultur.


intifada: Sie sind eine in Ägypten lebende libanesische Filmemacherin, die sich mit der Palästina-Frage beschäftigt. Welche Identität ist die Ihre?

Arab Loutfi: Ich wurde in eine libanesische Familie in Saida hinein geboren. Heute fühle ich keinen Unterschied, was Identitäten anbelangt: Für mich sind die libanesische, palästinensische und sogar die ägyptische Identität nicht unterschiedlich. Die Palästina-Frage war immer ein integraler Bestandteil und hat mich hinsichtlich der Entwicklung meiner Persönlichkeit und Emotionen beeinflusst. Ich habe immer mit Palästinenser/innen innerhalb und außerhalb des Lagers gearbeitet und war auch im palästinensischen Widerstand aktiv, weil ich erkannt habe, dass die libanesische Bewegung das selbe ist wie die palästinensische. Ägypten hingegen ist für mich wie für alle Araber/innen das Mutterland - das zentrale Land der Arabischen Welt.

intifada: In Ägypten kamen Sie zum Film?

Loutfi: Ich habe in Ägypten studiert, lebte danach für ein paar Jahre im Libanon und danach wieder für ein paar Jahre in Ägypten. Nun pendle ich zwischen Kairo und Beirut - was für mich etwa so ist, als ob ich mich zwischen Hannover und Berlin bewegen würde. In Kairo habe ich am Institute of Cinema Film studiert. Abgeschlossen habe ich mein Filmstudium in den 1970er Jahren - einer politisch sehr bewegten Zeit. Danach schloss ich mich der Widerstandsbewegung an und entdeckte die Politik für mich. Filme machen war in dieser Zeit lediglich ein Hobby. Wir im Widerstand dachten, wir würden Geschichte schreiben und kümmerten uns nicht darum, Geschichte auch zu filmen; wir glaubten vielmehr daran, die Welt verändern zu können und waren uns unseres Sieges sicher. Heute denke ich noch immer, dass wir die Welt verändern können, aber es wird mehr Zeit brauchen. Erst, als ich nach 1982 nach Kairo zurückkehrte, ging ich wieder zum Film.

intifada: Filme zu machen war für Sie also ein weiteres Instrument zur Veränderung der Welt?

Loutfi: Nein, nicht ausschließlich im Film, sondern in politischer Arbeit allgemein. In den 1970er Jahren war die Stimmung überladen und wir gingen in einem leidenschaftlichen Kampf auf. Es war unmöglich, außerhalb des politischen Kampfes zu stehen. Heute ist das anders. Das Filmemachen ist ein Teil des politischen Kampfes geworden, aber eben nur ein Teil. So wie ich in Politik und Film beheimatet bin, so hängen auch meine Filme mit Politik zusammen.

"So wie ich als Persönlichkeit in der Welt der Politik und des Films beheimatet bin, so hängen auch meine Filme mit Politik zusammen."

intifada: Welche Art von Film bevorzugen Sie?

Loutfi: Bis jetzt bevorzuge ich Dokumentationen, da sie mir mehr Raum geben, um mich auszudrücken und ich meine Ziele damit besser erreichen kann. Ich mag Features, aber mit den heutigen Produktionsverhältnissen im Hintergrund ist es sehr schwer, keine Kompromisse einzugehen. Ich mag keine Kompromisse. Ich glaube nicht, dass ein guter Film ein Kompromiss sein sollte. Allerdings sind Dokumentarfilme derzeit schwieriger zu produzieren als Features, solange sie nicht Mainstream-Inhalte behandeln - Features haben den Beigeschmack von Unterhaltung.

intifada: Sie waren auf diesen Gebiet schon sehr erfolgreich, haben Filmpreise gewonnen.

Loutfi: Ja. Am Beginn meiner Laufbahn als Filmemacherin habe ich einige Preise gewonnen. Allerdings reiche ich nicht gerne Filme auf Filmfestivals ein, sondern schicke sie lieber zu Filmwochen, wo nicht miteinander konkurriert wird. Dort nämlich kann intensiv diskutiert werden mit Menschen, die allgemein Interesse am Film haben. Festivals, die Filmpreise vergeben, sind für gewöhnlich institutionalisierter und konkurrieren miteinander in einer Weise, die Menschen aggressiver werden lässt, weil alle gewinnen wollen. Ich mag dieses System nicht, weil man in einer solchen Atmosphäre zu Kompromissen neigt. Das kann dazu führen, dass man Filme einreicht, die man selbst weniger gut findet, von den anderen aber erwartet, dass sie sie lieben. Preise sagen nichts aus über die Qualität eines Films - manchmal sind Preisverleihungen politisch motiviert. Viele europäische Festivals orientieren sich an der gegenwärtigen politischen Situation, was mitunter bedeutet, dass man uns gegenüber nicht gerade freundlich gesinnt ist.

intifada: Wen meinen Sie mit "uns"?

Loutfi: Araber/innen, und im Speziellen Palästinenser/innen, die eine antizionistische Position vertreten. Es wird in Richtung "Normalisierung" mit Israel gedrängt. Von unserem Widerstand wird in diesem Zusammenhang nicht als Widerstand gesprochen, sondern als Terrorismus.

intifada: Sie üben nicht nur Widerstand in Form politischer Filme, sondern auch als feministische Aktivistin. Warum?

Loutfi: Widerständig zu sein bedeutet, gegen all das anzukämpfen, was dich unterdrückt - im Politischen, im Sozialen. Widerstand ist ein sehr weiter Begriff, der passiven Widerstand genauso meint wie auch bewaffneten Kampf.

"Widerständig zu sein bedeutet, gegen alles anzukämpfen, was dich unterdrückt - sowohl im Politischen als auch im Sozialen."

intifada: Was ist Ihr Hauptthema?

Loutfi: Man kann nicht von einem Thema sprechen. Aber vielleicht kann man sagen, dass ich bei jedem einzelnen Film von einem anderen Thema besessen bin. Ein sehr wichtiges Thema für mich ist die Erinnerung. Ich nehme oft die imperialistische Haltung wahr, Unwissenheit zu forcieren. Einher geht der Versuch, Menschen abzulenken und die geschichtliche Erinnerung zu löschen. Das alles wird getan, um den Widerstand zu brechen. Mein erster Film handelt von der Erinnerung an meine Geburtsstadt Saida und davon, den Geschichten der Menschen dort zu lauschen. Einen anderen Film habe ich gemacht über die Erinnerung an den Widerstand von Frauen, Guerilla-Kämpferinnen, und über ihr Verhältnis zu ihrem persönlichen Kampf. Ein anderer Schwerpunkt meiner Arbeit ist, der Palästina-Frage Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

intifada: Warum ist für Sie die Gedächtniskultur so wichtig?

Loutfi: Der Freiheitskampf in unserer Gegend geht zurück bis ans Ende des 19. Jahrhunderts. Immer wieder wurde versucht, die Geschichte zu verbergen und die koloniale Sichtweise zu stärken oder die Sichtweise der Bourgeoisie, die eng mit dem Kolonialismus verknüpft ist. Als ob sie die Weise ändern wollten, wie die Leute einander sehen. Folglich war es wichtig, einen Weg zu finden, das historische Gedächtnis der Menschen zu stärken. Es ist sehr wichtig, dass Menschen ihre Geschichte kennen. Andernfalls ist man nicht imstande, Klassenbewusstsein zu entwickeln. Es geht hier nicht ausschließlich um die Bewahrung von Tradition, sondern darum, wie man die Geschichte in einer Art und Weise verstehen kann, um die Realität der Menschen zu sehen. Geschichte ist ein Garant für die Fähigkeit der Menschen zu Veränderung.

intifada: Die eigene Geschichte wurde also verschwiegen, um den Widerstand zu brechen?

Loutfi: Nehmen wir beispielsweise Izzidin Qassam her, den Begründer der ersten bewaffneten Palästinensischen Organisation in den 1930er-Jahren. Sein Leben und seine Geschichte wurde bis in die 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts völlig ignoriert. Erst die Linke entdeckte ihn wieder und schrieb das erste Buch über ihn, weil seine Geschichte zeigt, dass es die Landarbeiter waren, die gegen die britische Besatzung kämpften. Der Kolonialismus und das reaktionäre Regime versuchten zu vermitteln, dass Palästina verloren wäre, weil die Palästinenser fortzogen und nicht Widerstand geleistet hätten. Sie wollten die Menschen innerlich besiegen und sie auf diese Weise kampfunfähig machen. Das aber entsprach nicht der Wahrheit. Die Menschen kämpften - und unsere Aufgabe ist es, zu zeigen, dass sie kämpften. Für mich bedeutet Gedächtnis, Menschen zu vermitteln, dass sie Teil einer geschichtlichen Revolution sind. Die reaktionären Regime versuchten nicht nur, dies zu vermeiden, sondern sie verhinderten auch, dass darüber gesprochen wurde. Das gilt nicht nur für die palästinensische Revolution, sondern auch für andere arabische Revolutionen.

Nach der algerischen Revolution etwa sprach niemand über die erste arabische Guerilla-Befreiungsbewegung im Golf-Gebiet. Warda, der Roman des ägyptischen Autors Sun'allah Ibrahim, handelt von dieser Revolution. Die Figur Warda ist inspiriert von der historischen Person Leila Fakhro, die verantwortlich war für die Bildung von Erziehungseinrichtungen in von der Guerilla kontrollierten Gebieten. Ihr Deckname war Huda, sie war aus Bahrain und starb vergangenes Jahr.

Ein Film von Heni Srour ist das einzige Dokument über die Revolution. Es handelt von der Involviertheit der Frauen in die Revolution und von einem Mädchen namens Tufoul, die an der Revolution teilnahm und getötet wurde. Viele meiner Freunde in Palästina nannten ihre Töchter daraufhin Tufoul. Diese Geschichte wird komplett ignoriert. Menschen sprechen über das Golf-Gebiet als von einem rückwärts gewandten Gebiet. Sie sprechen nicht über die große Revolution, die dort stattfand. Die Amerikaner und die Briten spielten die Hauptrolle bei der Revolution sowie bei der Folterung und Tötung von Menschen. In Saudi Arabien gab es massig Verhaftungen, Folter und Exekutionen - Oppositionelle wurden aus fliegenden Flugzeugen geworfen. All das ist Teil unserer Geschichte, aber diejenigen, die das Sagen haben, wollen nicht, dass die Menschen darüber Bescheid wissen, weil ansonsten nicht so weitergemacht werden könnte wie bisher.

Menschen wie ich, egal ob sie Filmemacher sind, Literaten, Aktivisten oder was immer, tendieren dazu, diese Geschichte bekannt zu machen. Interessanterweise wissen arme Menschen, sogar Menschen, die als ungebildet gelten, oft besser über die revolutionäre Geschichte ihres Landes Bescheid, als Intellektuelle, die in Europa leben. Die Aufgabe also ist, Geschichte zu schreiben vom Standpunkt des Volkes, nicht der Bourgeoisie oder der Imperialisten.

intifada: Was ist mit dem Standpunkt der Frauen?

Loutfi: Der Punkt ist folgender: Nehmen wir beispielsweise Heni Srour, die einen Film über die Revolution in Oman gemacht hat. Übrigens stammte sie aus einer libanesisch-jüdischen Familie. Sie war von diesem Thema angetan, weil sie entdeckte, dass die Befreiung der Frau für die Revolution ein Hauptthema war. Das bewog sie, in den Oman zu gehen. Dort entdeckte sie einen Bereich, wo Frauen innerhalb der Revolution eine bedeutende Rolle spielten - als Organisatorinnen, als Kämpferinnen, als Führerinnen. In vielen anderen Revolutionen wie beispielsweise den lateinamerikanischen, war die Frauenfrage nicht so gewichtig. Umso erstaunter war Heni Srour darüber, dass die Frauenfrage innerhalb der arabischen Welt so zentral war. Mein Film Tell your tale, little Bird handelt vom selben Thema, über Frauen, die die Hauptrolle im Widerstand spielten - üblicherweise wurden Frauen auf Nebenrollen reduziert.

intifada: Offensichtlich werden Frauen auch heute noch auf Nebenrollen reduziert. Warum beispielsweise gibt es hier im Jugendzentrum in Ain El Hilweh wenige bis gar keine weiblichen Aktivisten und welche Rolle spielt die Arbeit mit Frauen und Mädchen hier?

Loutfi: Ich denke, weil die Organisation Nashet [die vor Ort mit Jugendlichen arbeitet, Anm. d. Red.] neu ist und es Zeit braucht, um eine Tradition rund um den Ort und um eine Struktur aufzubauen. Die Menschen müssen sie erst kennen lernen. Menschen kommen wegen der Aktivitäten, die man anbietet, nicht, weil sie Frauen sind. Wenn man einen Computer-Kurs anbietet, kommen Frauen, weil sie etwas über die Benutzung von Computern lernen möchten - Mädchen, Jungen, alle, die interessiert sind. Es gibt kein Problem, wenn sich Jungen unter Mädchen mischen und umgekehrt. In einigen Bereichen bestehen dahingehend womöglich Probleme, aber hier nicht - weder im Libanon noch in Palästina oder Ägypten. Allerdings braucht es mehr weibliche Rahmenorganisationen, weil es damit einfacher für uns wird, Frauen zu erreichen. Ich kenne das von meiner Arbeit als Filmemacherin. Wenn ich beispielsweise nach Oberägypten komme, bin ich gegenüber Männern privilegiert. Als Frau kann ich mich unter sie mischen, aber ich kann auch mit Frauen ins Innere ihres Hauses gehen - ein männlicher Filmemacher hingegen kann das nicht tun.

Frauenorganisationen haben grundsätzlich besseren Zugang zu Frauen. Das hilft. Die Themenauswahl für soziale Arbeit sollte jedoch eher auf den spezifischen Bedürfnisen der Leute vor Ort passieren als auf einem starren Gender-Fokus. In bäuerlichen Gegenden wird es notwendig sein, Menschen in anderen Dingen zu unterstützen als etwa in Lagern, wo Menschen womöglich ein Job-Training besser gebrauchen können, um später eine bessere Arbeit zu finden.

intifada: Wie können sich Europäer sinnvoll hinsichtlich der Palästina-Frage einbringen?

Loutfi: Genau das, was Sie gegenwärtig tun, nämlich: Versuchen, die Situation von Grund auf zu verstehen und zu sehen, was die Bedürfnisse der Menschen sind. Mehr zu wissen, bedeutet effizienter zu sein in der Solidaritätsarbeit und besser zu wissen, wie man unterstützen kann.

Man muss fähig bleiben, Ideen zu entwickeln und nicht mit einem Rezept kommen, das auf jede Situation angewendet werden kann. Palästinenserlager im Libanon unterscheiden sich von jenen in Syrien. Dort dürfen Palästinenser/innen arbeiten - man kann ihre soziale Lage nicht mit der Lager der Palästinenser/innen im Libanon vergleichen.

Etwas, das ich an europäischen oder westlichen NGOs nicht mag, ist: Sich aufzuführen, als ob man besser weiß, was die Menschen brauchen. Das ist eine koloniale Haltung. Das ist Bullshit! Du hast das Recht, mit den Menschen in Interaktion zu treten, aber du sollst lediglich ein Teil der Interaktion sein und nicht derjenige, der die Entscheidungen trifft.

intifada: Wie wird sich die Situation der Palästinenser/innen in den kommenden Jahren entwickeln?

Loutfi: Ich weiß es nicht. Der Kampf kann sich zum Guten oder zum Schlechten hin entwickeln. Es hängt davon ab, wie sich das Verhältnis mit den Israelis entwickelt, ob es zum Krieg kommt oder nicht und ob der Widerstand erfolgreich ist oder niedergeschlagen wird. Wir hoffen, dass der Widerstand aufrecht bleibt. Wir glauben an radikale Lösungen und wir wollen diese auch. Wir wollen das Ende des zionistischen Staates und die Bildung eines demokratischen säkularen arabischen Palästinas. Zwei Staaten bedeutet, dass man einen kolonialen Staat akzeptieren muss. Nein! Wir wollen Palästina von seiner Besetzung befreien. Jeder Jude, jede Jüdin, der in Palästina bleiben möchte, ist willkommen und kann bleiben, wie die Palästinenser/innen in diesem säkularen, nicht-religiösen Staat. Ebenso wie das in Algerien geschehen ist. Das Konzept von Israel aber ist ein rassistischer Staat. Das können wir nicht akzeptieren.

"Wir hoffen, dass der Widerstand aufrecht bleibt. Wir glauben an eine radikale Lösung und wollen diese auch: das Ende des zionistischen Staates."

intifada: Im Kampf für Gerechtigkeit in der Palästina-Frage bedienen Sie sich Ihrer beider großen Leidenschaften, des Films und der Politik?

Loutfi: Ich wurde in dieser Stadt geboren. Ich muss politisch sein. Unser aller Leben hier ist Politik. Meinen ersten Freund verlor ich aufgrund der Tatsache, dass er Syrer war. Während der israelischen Invasion von 1982 verlor ich zwei meiner besten Freunde. In Saida gibt es ein Massengrab, in dem viertausend Menschen liegen, die alle an einem einzigen Tag starben - am ersten Tag der Invasion. Ich verlor viele Menschen. Unser Leben ist politisch. Wir hatten nie ein normales Leben. Unsere Beziehungen sind davon betroffen. Alles ist von Politik beeinflusst. Sechs Jahre lang war es mir untersagt, Ägypten zu betreten. Meinem Ex-Freund und späterem Ex-Ehemann war es untersagt, den Libanon zu betreten. Wir mussten uns in Italien treffen, um über die Zukunft unserer Beziehung zu sprechen, für den Fall, dass ich nicht zurück nach Kairo dürfe. Hierzulande lebt man immer unter politischem Stress.

Die Menschen sind voller Erinnerungen. Denk zurück an den Workshop, den wir mit den Jungs gemacht haben. Wenn sie über ihre täglichen familiären Probleme sprechen, merkst du, wie politisch unser Leben ist. Es ist nicht die Frage, ob man an Politik interessiert ist. Für uns ist Politik unser Leben. Sie formt unser Denken in einer bestimmten Art und Weise. Sie setzt sich in dir fest. Wenn ich gefragt werde, wie ich mich mit dem Kino identifiziere, sage ich: "Ich bin nur ein politisches Tier und das Kino ist nur ein Werkzeug." Alle meine Leidenschaften sind politisch. Ein politischer Film ist eine Art des Selbstausdrucks und spiegeln unsere kleinen Geschichten wider.

Das Interview führte Anna Maria Steiner.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Für Arab Loutfi war die Palästina-Frage integraler Bestandteil ihrer Entwicklung.
- Arab Loutfi leitete beim Sumud-Einsatz im Libanon einen Filmworkshop.
- In den Filmen Loutfis spielt Politik eine entscheidende Rolle.

Raute

AUTOR/INNEN

Mohammad Aburous geboren 1976 in Palästina, lebt derzeit in Österreich. Studierte technische Chemie an der TU-Wien und dissertierte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Aktivist des Arabischen Palästina-Clubs (APC) und des Österreichisch-Arabischen Kulturzentrums (OKAZ) in Wien.

Sebastian Baryli geboren 1979 in Wien, studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, Aktivist der Antiimperialistischen Koordination.

Margarethe Berger geboren 1968 in Wien, studierte Slawistik an der Universität Wien, wiederholte Reisen in den arabischen Raum und Südamerika.

Gernot Bodner geboren 1974 in Bruck an der Mur, studierte an der Universität für Bodenkultur in Wien, umfassende Reisetätigkeit vor allem nach Südamerika. Aktivist der Antiimperialistischen Koordination.

Jonas Feller geboren 1990 in Berlin, verbringt derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr an der Ostsee.

Stefan Hirsch geboren 1976 in Wien, studierte Geschichte und Geografie an der Universität Wien, arbeitet im Bildungsbereich.

Mustafa Ilhan geboren 1982 in der Türkei/Kurdistan, Mitglied bei Initiativ e.V. Duisburg, journalistisch tätig bei der türkisch- und kurdischsprachigen politischen Tageszeitung Ozgür Politika (Neue Freie Politik).

Wilhelm Langthaler geboren 1969, technischer Angestellter in Wien, Aktivist der Antiimperialistischen Koordination. Zahlreiche Reisen zu den Zentren des Widerstands, insbesondere am Balkan, in den Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent, Koautor des Buches Ami go home, erschienen im Verlag ProMedia.

Oralba Castillo Nájera geboren 1946 in Mexiko-Stadt. Studium der Philosophie an der Universidad Nacional Autónoma de México, Mitbegründerin der Izquierda Democrática Popular. Sie schreibt, Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke.

Albert F. Reiterer geboren 1948 in in Schiefling-Schönberg in Kärnten, arbeitet als freiberuflicher Sozialwissenschafter. Habilitation für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Verschiedene Lehraufträge an den Universitäten Wien und Innsbruck.

Anna Maria Steiner geboren 1976 in Lienz, studierte Theologie, Deutsche Philologie und Philosophie (Schwerpunkt Jüdische Philosophie). Sie lebt in Graz, wo sie u.a. Chefredakteurin einer Zeitschrift ist und Violoncello spielt.


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Die Zeitschrift Intifada ist ein Forum für Information und Diskussion und will damit einen Beitrag zur Zusammenarbeit der mit der palästinensischen Bewegung solidarischen Kräfte im deutschsprachigen Raum leisten.


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Quelle:
Intifada Nummer 32 - Winter 2010
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand
Internet: www.antiimperalista.org/intifada.htm


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2011