iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 310 - Januar/Februar 2009
Rezension zu "Das Unbehagen in der Islamwissenschaft"
Das Recht auf Orchideen
Von Jörg Später
Als eines der unlösbaren Dilemmata des Menschen bestimmte Sigmund Freud, dass dieselben Institutionen, die das Überleben der Menschheit sichern, auch für ihre Unzufriedenheiten verantwortlich sind. Kultur kontrolliere Aggression und Gewalt, unterdrücke jedoch gleichzeitig libidinöse Leidenschaften. Die Menschen könnten ohne Kultur nicht leben, aber sie könnten in ihr nicht glücklich leben. Der Vater der Psychoanalyse ging dieser ambivalenten Conditio humana in seiner kulturtheoretischen Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" (1929) nach.
Auch die Freiburger Islamwissenschaftler Abbas Poya und Maurus Reinkowski hat ein Unbehagen erfasst, wahrscheinlich ausgelöst durch den Umstand, dass ausgerechnet ihr Orchideenfach seit dem 11. September 2001 bevorzugtes Rekrutierungspool des Verfassungsschutzes ist. "Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien" - so heißt der Untertitel des Sammelbandes Das Unbehagen in der Islamwissenschaft, in dem (mit wenigen Ausnahmen) vor allem die engagierte Generation von IslamwissenschaftlerInnen sich Gedanken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Faches macht, die in den 1980er und 90er Jahren studiert hat.
Es ist die Post-"Orientalismus"-Generation, die Edward Saids Kritik an der westlichen Erfindung, Zurichtung und Beherrschung des "Orients" in Kultur, Wissenschaft und Politik aufgenommen und sich gleichwohl vom Said'schen Fundamentalismus emanzipiert hat. Sie weiß, wie Navid Kermani, wie absurd das "Ungetüm" Islamwissenschaft ist - man stelle sich nur das Pendant vor: ein einziges Fach, das die Religion, Kultur, Geschichte, Sprache, Literatur, Philosophie, Politik, Kunst, Wissenschaften etc. nicht nur der europäischen, sondern weltweit aller christlich geprägten Gesellschaften und Gemeinschaften zum Gegenstand hätte. Das Projekt hieße dann "Christentumwissenschaft" und würde dazu neigen, ihre Gegenstände irgendwie in einen Bezug zur Religion zu bringen. Oder sie verweigert sich, wie Reinkowski vorschlägt, der öffentlichen Erwartung, das Geheimnis des eigentlichen Orients, des Islam, zu erklären. Wer über Muslime spricht, muss nicht zwangsläufig über den Islam und den Orient reden.
Worin sich die AutorInnen des Bandes einig sind: Niemand trauert der traditionell theologischen und philologischen, mithin "orientalistischen" Ausrichtung der Islamwissenschaft nach. Und alle möchten den Anschluss an die historischen Sozialwissenschaften schaffen. Niemand will Nahoststudien, also area studies, betreiben, denn alle sehen, dass MuslimInnen auch in westlichen Gesellschaften angekommen sind. Aber angesichts der Erwartungshaltungen von Staat und Öffentlichkeit an die "Islamexperten" wünschen sich die heutigen IslamwissenschaftlerInnen ein Recht auf Orchideen, Irrelevanz und "relevante Redundanz", das heißt das Recht, auf seine Wissenschaftstraditionen zu beharren und eben nicht, auf jede Frage zum Islam eine passende Antwort zu liefern.
Das Unbehagen ist als somit weniger eines an, als in der Islamwissenschaft. Die AutorInnen dieses Bandes - etwa Birgit Schäbler, Ulrike Freitag und Ludwig Amman, aber auch Promis wie Udo Steinbach und Gudrun Krämer - können ohne die Islamwissenschaft offensichtlich nicht leben. Aber sie können in ihr nicht glücklich leben.
Abbas Poya, Maurus Reinkowski (Hg.):
Das Unbehagen in der Islamwissenschaft.
Ein klassisches Fach im Schweinwerferlicht der Politik und Medien.
transcript Verlag, Bielefeld 2008. 336 Seiten, 30,80 Euro.
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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 310 - Januar/Februar 2009
Die Politik des Hungers - Ernährung in der Krise
Produktionssteigerung, Grüne Revolution, Saatgutverbesserung, Brot für die Welt, Ökolandbau in den Tropen, Ernährungssouveränität: Die Konzepte gegen den Hunger sind so widersprüchlich wie die Interessen ihrer jeweiligen AkteurInnen.
Dabei haben sie alle dazu beigetragen, dass fast doppelt so viel Nahrung produziert wird, als für die Abschaffung des Hungers nötig wäre. Trotzdem ist der Hunger in der Welt ein Leiden, das rund ein Sechstel der Weltbevölkerung betrifft. Der aktuelle Themenschwerpunkt der iz3w fragt: Wo liegt das Problem?
Heft - Editorial: Beredtes Verschweigen
Politik und Ökonomie
Kongo: Nachwachsende Warlords
Die Rebellen von der CNDP stellen sich als Opposition dar
von Alex Veit
Gender: Gegen sexualisierte Gewalt
Der Frauenrechtsgipfel in Kapstadt
von Rita Schäfer
Welthandel I: Globales Europa
"WTO plus"-Politik für europäische Konzerne
von Peter Fuchs, Manuel Melzer und Michael Reckordt
No Gender in Global Europe
von Judith Krane
Welthandel II: "Eine neue Form der Plünderung"
Interview mit Raúl Moreno über das EU-Assoziierungsabkommen mit Zentralamerika
(Post-)Kolonialismus: "Eine perfekte Brücke"
Portugal vermischt postkoloniale Identität mit Geostrategie
von Nikolai Brandes
Grenzen I: Im Grenzbereich
Eine Reise nach Costa Rica und Nicaragua führt an die Ränder des amerikanischen Kontinents
von Stefanie Kron und Pablo Hernández
Grenzen II: Umkämpfte Territorien
Die Politisierung von Grenzräumen in Nicaragua, Costa Rica und der Karibik
von Pauline Bachmann, Sophie Esch und Jan Wörlein
Grenzen III: Nica-Ticos
Geschichten aus dem transnationalen Alltag
von Claudia Jaekel, Lisanne Kindermann und Matthias Schreiber
Schwerpunkt: Politik des Hungers
Editorial zum Themenschwerpunkt
Es ist angerichtet
Vorerst behält die Hungerpolitik die Oberhand über Strategien gegen den Hunger
von Martina Backes
Aufplustern am Leid
Die Agrarindustrie festigt mit der Ernährungskrise ihre Stellung
von Rudolf Buntzel
Aus dem Elfenbeinturm
Der UN-Rahmenaktionsplan zur globalen Hungerbekämpfung
von Roman Herre
Ausdauernd und resistent
Agrarkonzerne wollen den Hunger mit Gentechnologie bekämpfen
von Christof Potthof
Europa global - Hunger egal
Warum die Agrarpolitik der EU Nahrungskrisen verschärft
von Armin Paasch
Schöne neue Warenwelt
Die Ausbreitung von Supermärkten in Tunesien und Marokko
von Annalena Edler
Gerissene Spekulanten, arglose Bauern?
Über Terminbörsen für Agrarrohstoffe zirkulieren einige Mythen
von Stefan Frank
Boom, Bust und Biosprit
Die Sorge um den Weltmarkt ist größer als die Kritik an der Agrarproduktion
von Thomas Fritz
Kultur und Debatte
(Post-)Kolonialismus I: Geschichte der Gewalt
Eine Diskussion über Genozide, Kolonialkriege und den Nationalsozialismus
von Birthe Kundrus, Jürgen Zimmerer u.v.m
(Post-)Kolonialismus II: Die Vergangenheit stets präsent
Eine Begegnung mit den Herero in Mahalapye
von Johann Müller
Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet
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Quelle:
iz3w Nr. 310, 310 - Januar/Februar 2009, S. 45
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für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2009