Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/174: Editorial von Ausgabe 312 - Solidarität ist Selbsthilfe


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 312 - Mai/Juni 2009

Editorial
Solidarität ist Selbsthilfe


»Horst Köhler macht den Deutschen Mut«. Ja, es war schon eine bemerkenswerte »Berliner Rede«, die die Schwäbische Zeitung so wie fast alle anderen Medien Ende März bejubelte. Der Bundespräsident fand in Zeiten der Krise klare Worte: »Jetzt erleben wir, dass es der Markt allein nicht richtet.« Weshalb man nun im reichen Norden ein Problem habe: »Heute stellt die Welt uns die Globale Soziale Frage.«

Doch wo Leiden ist, naht die Katharsis, vorangetrieben vom mutigen Köhler: »Die internationalen Finanzmärkte brauchen eine neue Ordnung durch bessere Regeln, effektive Aufsicht und wirksame Haftung.« An konstruktiven Vorschlägen mangelt es dem Bundespräsidenten nicht. Es brauche eine neue Weltfinanzordnung, ein Bretton Woods II unter dem Dach der Vereinten Nationen, um so »eine grundsätzliche Reform der internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung voranzutreiben.« Köhlers hochgestecktes Ziel: »Globale öffentliche Güter wie internationale Finanzstabilität, Begrenzung der Erderwärmung und die Gewährleistung freien, fairen Handels« sollen »gemeinsam definiert und bereitgestellt werden.«

Wer so spricht wie Attac und die Linkspartei, bekommt den entsprechenden Beifall. »Wir können die Forderungen des Bundespräsidenten nur unterstützen«, lobte Oskar Lafontaine. Ob es ihn irritierte, dass auch Guido Westerwelle ganz begeistert war von der Köhlerschen Rede? Köhler habe mit seiner Rede »die Meinungsführerschaft« bei den Strategien zur Überwindung der Krise übernommen, so der FDP-Chef. Hinter dieser Rede könne sich »die übergroße Mehrheit der Deutschen versammeln«. Wie zum Beispiel der Schleyer-Nachfolger Dieter Hundt, der Köhler sekundierte: »Der zügellose Kapitalismus ist gescheitert«, weshalb man nun »eine Finanzmarktarchitektur mit strengen internationalen Regelungen und entsprechender Überwachung« benötige.

Wie kommt es, dass nun schon Arbeitgeberpräsidenten Töne hören lassen, wie sie bislang vor allem von Attac kamen? Um darüber Aufschluss zu erlangen, lohnt es, der Rede Köhlers ein wenig länger zu lauschen. Der deutschen Nation oberster Banker, der dem IWF von 2000 bis 2004 vorstand, hatte nämlich in aller Offenheit dargelegt, wie er und andere Vertreter der Elite den Markt zu zügeln gedenken: Nach neoliberalen Vorgaben, gepanzert mit der starken Hand des deutschen Staates, und vor allem zum eigenen Wohl.

Was Köhler nämlich auch sagte, geht so: »Als Exportnation sind wir auf freien Handel und möglichst viele Nationen angewiesen, die daran teilnehmen.« Weshalb der Bundespräsident auf die baldige Fortführung der Verhandlungen über Freihandel drängt. Damit deutsche Unternehmen endlich wieder mehr exportieren können. Denn, wie Köhler ganz richtig feststellt: »Es wäre ein geringeres Risiko gewesen, eine Eisenbahnlinie quer durch Afrika zu bauen, als in eine angesehene New Yorker Investmentbank zu investieren.« Und wäre vor allem auch Siemens zugute gekommen statt den Lehman Brothers. In diesem Zusammenhang gab Köhler auch eine interessante Definition des Solidaritätsgedankens: »Solidarität ist Selbsthilfe.« Für deutsche Unternehmen? Nicht auszuschließen, denn: »Eigennutz im 21. Jahrhundert heißt: sich umeinander kümmern.« Etwa indem man Eisenbahnlinien baut, nach einem nachhaltigen Public Private Partnership-Modell, dessen gänzlich uneigennützige Ausarbeitung Siemens schon in der Schublade liegen haben dürfte.

Noch weitere Bonmots von Köhler gefällig? »Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt.« Genau, insbesondere ALG II-EmpfängerInnen und andere Verschwendungssüchtige, die nun die Globale Soziale Frage stellen. »Auch vorübergehende staatliche Beteiligungen können nicht ausgeschlossen werden. Der Schutz des Privateigentums, das konstitutiv ist für Freiheit und Wohlstand, wird dadurch nicht berührt.« Soll heißen: Für Verluste haftet der Staat zu Lasten der Sozialausgaben, Gewinne streichen wie bisher die UnternehmerInnen ein. »Es braucht einen starken Staat, der dem Markt Regeln setzt und für ihre Durchsetzung sorgt.« Wenn Meinungsführer Köhler den Deutschen und ihrem Staat Mut macht, ist das für alle anderen eine schlechte Nachricht.

Oskar Lafontaine hat mit einem starken Staat bekanntlich kein Problem. Und er möchte die Deutschen vor »Fremdarbeitern« schützen. Viele AntiFas nehmen ihm das bis heute übel. Just, als er bei der Krisen-Kundgebung in Frankfurt einen »Schutzschirm« forderte, musste er sich hinter einem solchen ducken, weil er mit Eiern beworfen wurde. Den Falschen hat es damit nicht getroffen. Noch richtiger wäre es aber, Köhler, Westerwelle und alle anderen Krisengewinnler, die auf den Hundt gekommen sind, mit dem Dreck zu bewerfen, den sie täglich in die Welt setzen.

die redaktion


*


Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 312 - Mai/Juni 2009


Treueschwüre für die Nazis - Kollaborateure in der Dritten Welt

Eine Artikelreihe von Karl Rössel (Rheinisches JournalistInenbüro Köln)

Die hiesige eurozentrische Geschichtsschreibung übersieht, dass der Zweite Weltkrieg auch in Ländern der Dritten Welt geführt wurde und dort Millionen Opfer forderte. Ebenso negiert wird die Tatsache, dass in einigen Dritte-Welt-Ländern Teile der Bevölkerung und hochrangige Politiker mit den Nazis kollaborierten: in Palästina der höchste religiöse und politische Repräsentant der AraberInnen (Hadj Amin el-Husseini), in Indien der zeitweilige Präsident des Indischen Nationalkongresses (Subhas Chandra Bose) und in Argentinien der Staatspräsident (Juan Domingo Perón). Obwohl deren Kollaboration mit den Achsenmächten bekannt und vielfach belegt ist, werden sie in den jeweiligen Ländern bis heute von vielen als "Helden" verehrt.

Die Beschäftigung mit diesem Aspekt der Geschichte ist um so dringlicher, da es eine wachsende Tendenz unter deutschen WissenschaftlerInnen und PublizistInnen gibt, die Kollaboration von Nazi-Sympathisanten aus anderen Kontinenten zu verharmlosen, zu verleugnen oder umzudeuten. Die allesamt von Karl Rössel verfassten Texte in diesem Themenschwerpunkt erinnern daher nicht nur an wenig bekannte historische Fakten, sondern fordern auch zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Geschichtsrevisionismus auf.


Schwerpunkt: Kollaborateure in der dritten Welt

Politik und Ökonomie

Heft - Editorial: Solidarität ist Selbsthilfe

Kambodscha: Im Schatten der Geschichte
Warum Transitional Justice fast 30 Jahre auf sich warten ließ
von Wolfgang Form

Sri Lanka: Why?
Selbstverbrennungen als Mittel des Protests
von Lorenz Graitl

Abtreibungspolitik I: Wie im Vatikan
Lateinamerikas linke Regierungen und ihre Abtreibungspolitik
von Eva Bahl und Judith Götz

Abtreibungspolitik II: »Frauen werden pathologisiert«
Interview mit Sarah Diehl über Abtreibungspolitik und Selbstbestimmung

Außenpolitik: Politik mit Stellvertretern
Neuere außenpolitische Konzepte setzen auf Core States und Ankerländer
von Sören Scholvin

Weltwirtschaft: Shopping in Paris
Korruption und französische Interessen in Afrika
von Bernhard Schmid


Editorial zum Themenschwerpunkt

»Die Fahne hoch...!«
Die faschistische »Internationale« von Buenos Aires bis Shanghai

Bloß nicht dämonisieren!
Deutsche WissenschaftlerInnen verharmlosen arabische Kriegsverbrecher

Auf Seiten der Waffen-SS
Wie indische Kollaborateure zu Freiheitskämpfern umgedeutet werden

Peróns deutsche Freunde
Die Fluchthilfe der argentinischen Regierung für Naziverbrecher

Notwendige Unterscheidungen
Thesen wider den Geschichtsrevisionismus in Sachen Kollaboration


Kultur und Debatte

Film I: Im Schatten der großen Filme
Das afrikanische Filmfestival FESPACO feiert Jubiläum
von Marc-André Schmachtel und Theresa Enders

Film II: Menschen in Bewegung
Das freiburger film forum präsentiert 2009: Geschichten der Migration
von Ulrike Mattern

Literatur: Keine Rückkehr in den Süden
Nachruf auf den Schriftsteller Tajjib Salich
von Thomas Schmidinger

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


*


Quelle:
iz3w Nr. 312, Mai/Juni 2009, S. 3
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Tel. 0761/740 03, Fax 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org

iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2009