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IZ3W/180: Unabhängigkeit von oben - Eine vorläufige Bilanz der postsowjetischen Systemtransformation in Zentralasien


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 313 - September/Oktober 2009

Unabhängigkeit von oben - Eine vorläufige Bilanz der postsowjetischen Systemtransformation in Zentralasien

Von Tobias Kraudzun, Ellen Nötzel, Yulia und Michael Schulte


Der Begriff Zentralasien ist alles andere als eindeutig. In unterschiedlichen Kontexten und Epochen beinhaltet der Begriff auch die chinesischen Provinzen Xinjiang und Tibet, die Mongolei und Nordafghanistan, während Kasachstan nicht immer einbezogen wird. Heute werden als Zentralasien zumeist Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan bezeichnet. Diese fünf Länder zeichnen sich durch die gemeinsame Geschichte als russische Kolonien und Nachfolgestaaten der Sowjetunion aus. Sie unterscheiden sich darin deutlich von ihren Nachbarregionen.

Neben den historisch gewachsenen Gemeinsamkeiten gibt es jedoch gravierende Unterschiede. Keines der Länder hatte einen Vorgänger im Sinne eines Nationalstaats. Ein historisches Usbekistan oder Kasachstan hat es nie gegeben. Bis zur Erschließung des Seewegs aus Europa nach Indien war die Seidenstraße eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt. Die Oasen Zentralasiens waren ein wichtiger kultureller Umschlagplatz und eines der Zentren der islamischen Welt. Mit dem Verschwinden der Karawanen erlebte die Region für einige Jahrhunderte relativen Stillstand. Erst mit der Eroberung der Region durch das Zarenreich - große Teile des heutigen Kasachstans im Laufe des 18. Jahrhunderts, die südlichen Gebiete Zentralasiens bis Ende des 19. Jahrhunderts - kam es über die Anbindung an Russland zu einer Öffnung. Handel und vor allem der Austausch mit den anderen muslimischen Bevölkerungen des Russischen Reiches führten Ende des 19. Jahrhunderts zum Aufkommen einer Modernisierungsbewegung.

Die feudalstaatlichen Khanate Buchara, Kokand und Khiva, die von den zaristischen Truppen nach und nach erobert wurden, waren nach außen und innen schwach. Die Khane und Emire hatten kaum eigene Macht und waren auf starke regionale Machthaber in den Städten sowie auf Führer nomadischer Stammesverbände angewiesen. Die Grenzen der Khanate waren weder fest noch beständig; sie entsprachen nicht dem heutigen Grenzverlauf.


Die Schaffung ethnischer Identitäten

Die Bevölkerung Zentralasiens war sehr heterogen: Die sesshafte Bevölkerung der Oasen entlang der Flüsse Amudarja, Syrdarja und Serafschan lebte von Landwirtschaft oder ging städtischen Berufen nach. Große Bevölkerungsteile waren bilingual, verbreitet waren verschiedene Turksprachen ebenso wie Persisch. Hinzu kamen zahlreiche Nomadengruppen: Die Wüsten im Südwesten waren von turkmenischen Stämmen besiedelt, die weiten flachen Steppen nördlich der Oasen und des Tian-Shan-Gebirges von kasachischen Gruppen, und in den Hochgebirgen züchteten kirgisische Stämme Vieh. Die Identität der Nomaden war tribal geprägt. Die sesshafte Bevölkerung identifizierte sich über ihren Wohnort, nationale oder ethnische Identitäten gab es kaum. Die wesentliche überregionale Identität all dieser Gruppen war die als Muslime Zentralasiens.

Die von den russischen Eroberern entsandten Ethnologen versuchten, die Bevölkerung Zentralasiens nach ihren mitgebrachten ethnischen Kriterien zu kategorisieren und schufen so erstmals einen Ansatz für eine ethnische Einteilung der Bevölkerung. Gleichzeitig orientierten lokale Reformer, die ihre Region als extrem rückständig empfanden, ihre Modernisierungsbestrebungen an europäischen und türkischen Nationalisten, wodurch auch von dieser Seite der Nationsbegriff nach Zentralasien kam.

Nach der Oktoberrevolution bemühten sich die Bolschewiki um eine begrenzte Dekolonialisierung, auch wenn sie Zentralasien durchaus nicht hergeben wollten. Die Politik der korenizacija (russ.: Indigenisierung) sah vor, die Macht zur Schaffung des homo sovieticus nach und nach in die Hände einer ethnisch definierten lokalen Bevölkerung zu übergeben. Auch aus Angst vor einem Panturkismus der Muslime Zentralasiens und der Tataren wurde die Region 1924 aufgeteilt. Bis 1936 wurden die heutigen Staaten als Sowjetrepubliken mit Unionsstatus etabliert. Die kasachischen, kirgisischen und turkmenischen Stammesverbände bekamen jeweils eine Republik zugeordnet. Die sesshafte turksprachige Bevölkerung wurde unter dem Ethnonym Usbeken, die persischsprachige als Tadschiken zusammengefasst.

Der Prozess der Staatsbildung war angesichts der Heterogenität der Bevölkerung und der historischen Migration extrem schwierig und in jahrelanger Arbeit entsprechender Kommissionen vorbereitet worden. So entstand eine Grenzziehung am Reißbrett, bei der z.B. die beiden wichtigsten Zentren persischer Kultur, Buchara und Samarkand, der Usbekischen SSR zugeschlagen wurden. Die zahlreichen, untereinander verständlichen Dialekte der Turksprache wurden zu den vier Nationalsprachen Kasachisch, Kirgisisch, Turkmenisch und Usbekisch ausdifferenziert. Die gemeinsame Schriftsprache aller Turkdialekte, Turki, wurde damit obsolet.

Mit den nationalen Institutionen und Eliten in den Sowjetrepubliken wurden auch die neu geschaffenen nationalen Identitäten mehr und mehr gefestigt. Die HistorikerInnen der fünf Republiken konkurrierten um die Geschichte der Region. Ganz im Sinne der sowjetischen Nationalitätenideologie, in der dasjenige Volk das größte sei, das die längste Geschichte aufweist, wurden die neuen Ethnien um tausende Jahre zurückprojiziert. Der Kampf darum, wer sich welche Herrscherdynastie und welchen Führer für die eigene glorreiche Geschichte aneignen darf, tobt noch heute zwischen den HistorikerInnen. Diese nationalen Narrative sind zudem ein wichtiges Legitimationsinstrument der autokratischen Regimes.


Vom Zerfall bedroht

Die Politik der korenizacija hatte dazu geführt, dass seit den 1960er Jahren in allen Republiken die Mehrheit der Parteiführung in der Hand der jeweiligen Titularnation lag. Die lokalen Kader verteilten die Ressourcen aus Moskau in ihren jeweiligen Republiken und verfügten über entsprechend große Macht. Insbesondere die Führung der Usbekischen SSR, die in den 80er Jahren mit massiven Korruptionsermittlungen aus Moskau konfrontiert war, war aber immer weniger bereit, Macht und Wohlstand mit Moskau zu teilen. Sie nutzte die Schwäche der Moskauer Zentrale während der Perestroika, um deren Einfluss zurückzudrängen und jegliche Lockerungen zu verhindern. Die Unabhängigkeitsbestrebungen kamen in Zentralasien zu einem großen Teil von oben und basierten nicht wie in den anderen Sowjetrepubliken auf breiten gesellschaftlichen Bewegungen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die staatliche Unabhängigkeit stürzten die fünf zentralasiatischen Staaten in die ökonomische Katastrophe. Für die SU war Zentralasien ein gigantisches Entwicklungsprojekt, es wurde massiv in die Infrastruktur und die Verbesserung der Lebensbedingungen investiert. Ohne die Mittel aus Moskau aber fehlte den Staaten eine wichtige Einnahmequelle. Noch gravierender wog, dass die Republiken ökonomisch und industriell Teil der sowjetischen arbeitsteiligen Produktion waren, in der fast alle industriellen Produktionsprozesse über verschiedene Republiken verteilt waren. Ohne die sowjetische Flugzeugproduktion war die Flugzeugteilefabrik in den Bergen Kirgistans ihre Lieferanten und Abnehmer los, und so erging es vielen zentralasiatischen Industriebetrieben. Es begann eine Zeit von Absturz, Hyperinflation und Deindustrialisierung, von der sich die Region bis heute nicht erholt hat.

Zwanzig Jahre nach Ende der SU ist - bis auf die punktuell mit westlicher Hilfe erneuerte Infrastruktur - vieles vom Zerfall bedroht. Straßen, Kraftwerke, Stromnetze und Wasserversorgung sind marode. Die Gesundheitssysteme sind in erbärmlichem Zustand, behandelt wird nur, wer zahlt. Die Regierungen der fünf Republiken sind unwillig und unfähig zur Kooperation, so dass selbst regionale Wirtschaftsbeziehungen zusammengebrochen sind. Die Ränder des Ferganabeckens etwa, einer eng verflochtenen, dicht besiedelten Region im Herzen Zentralasiens, gehören zu Kirgistan, das Zentrum zu Usbekistan und der Ausgang zu Tadschikistan. Usbekistan hat jedoch die Grenzen immer weiter geschlossen, so dass selbst der Besuch von Verwandten ein paar Kilometer weiter oder der Basarbesuch kompliziert oder unmöglich sind.

Durch den wirtschaftlichen Einbruch fanden sich die leidlich wohlhabenden SowjetbürgerInnen Zentralasiens innerhalb weniger Jahre in Gesellschaften mit großer sozialer Ungleichheit wieder. Viele Menschen beziehen sich daher auf die Sowjetzeit als eine Phase, in der vielleicht nicht alles optimal war, in der es ihnen aber zumindest ökonomisch so gut wie nie zuvor und seither nie mehr ging. Heute gibt es neben einer winzigen, extrem reichen Oberschicht, die vor allem in den Städten wohnt, eine schmale Schicht von Menschen, die einigermaßen auskömmlich leben können, und eine große Masse von Armen. Seit dem Zerfall der SU hat Zentralasien mehrere große Migrationswellen erlebt, in denen zunächst große Teile der slawischen Minderheiten und Hochqualifizierte ihre Länder vor allem Richtung Russland verließen, während zurzeit vor allem ungelernte Kräfte Arbeit in Russland und Kasachstan suchen.


Extrem autokratische Politik

Eine Gemeinsamkeit der fünf Staaten ist, dass sie sich nicht auf eine traditionelle Staatsordnung berufen können. Sie alle sind ein Produkt sowjetischer Politik, ihre Eliten stammen ebenso wie die staatlichen Institutionen zum großen Teil aus der Sowjetzeit. Diese Eliten haben sich alle für teils extrem autokratische Regierungsformen entschieden. Keines der Länder hat eine geordnete Nachfolge für den ersten Präsidenten erlebt. In Usbekistan, Kasachstan und Tadschikistan sind die Präsidenten spätestens seit Anfang der 1990er Jahre im Amt. In Turkmenistan wurde nach dem unerwarteten Tod von Saparmurat Niyazov der bis dahin unbekannte Gurbanguly Berdimuhamedov eingesetzt. Die Vertreibung von Kirgistans Präsident Askar Akaev im März 2005, der bei wütenden Protesten der Bevölkerung von ehemaligen führenden Politikern um Kurmanbek Bakiev gestürzt wurde, war für alle Regimes ein Schock. Einzig in Kirgistan gibt es eine nennenswerte Opposition und eine ausgeprägte Protestkultur. Die Opposition setzt sich aber vorwiegend aus ehemaligen Regierungsmitgliedern zusammen und stellt kaum eine wirkliche Alternative dar.

Hier haben die Repressionen in den letzten Jahren massiv zugenommen. Turkmenistan und Usbekistan dagegen lassen nicht einmal rudimentäre Ansätze von politischer Kritik zu, während Kasachstan mit den Ölmilliarden seiner städtischen Bevölkerung bis vor kurzem ausreichend Wohlstand gewähren konnte, um eine gewisse Zufriedenheit herzustellen.

Alle Länder waren Gegenstand westlicher Demokratisierungspolitik. In allen Ländern gibt es deshalb formal alle Institutionen eines demokratischen Staats, Parlamente, Wahlen, Präsidenten, Regierungen, eine unabhängige Justiz etc.. Es blieb jedoch bei Imitationen demokratischer Institutionen, die innen nach anderen Prinzipien wie Klientelismus funktionieren. Insbesondere Usbekistan und Turkmenistan waren strikt gegen jegliche Demokratisierungsbemühungen, während sich Kirgistan und Kasachstan zunächst offen zeigten. In der Realität gibt es jedoch auch in diesen Ländern nur die Imitation demokratischer Gesellschaften, die Grundstruktur zeigt sich immer offener autoritär.


Mit Geld geht alles

Dramatisch ist die Lage im Bildungssystem: Zwar hat Bildung noch immer einen hohen sozialen Stellenwert, und die Alphabetisierungsrate liegt dank der sowjetischen Bildungspolitik noch immer weit über 95 Prozent. Doch insbesondere auf dem Land zerfallen Schulen so sehr, dass viele Eltern in Kirgistan ihre Kinder auf kostenlose Koranschulen oder andere Privatinstitutionen schicken. Die Bildungssysteme sind hoffnungslos unterfinanziert, wodurch es zu einem Mangel an qualifizierten Lehrkräften an Schulen wie an Hochschulen kommt. Das Bildungssystem ist durch und durch korrupt: Jede Note, jeden Abschluss kann man kaufen, und das entwertet alle Abschlüsse, auch die ehrlich erworbenen.

Korruption ist in den Gesellschaften tief verankert und ihr Ausmaß in allen Ländern extrem. Grund ist eine - teils aus der Sowjetunion geerbte - fehlende Transparenz in allen Belangen öffentlichen Handelns. Inoffizielle Zahlungen werden in allen Lebensbereichen getätigt: für den Arzt, für einen neuen Pass, für Dokumente, auch für ein Gerichtsurteil. Dabei reicht die Korruption von ganz unten bis an die politische Spitze. Jeder erwartet, für Geld alles zu bekommen und sich von jeder Tat freikaufen zu können oder für jede Amtsleistung Geld nehmen zu können. Dies wird ganz offen und ohne Scham eingefordert, und wer nicht mitmachen will, hat gute Chancen, schikaniert zu werden.


Tobias Kraudzun promoviert zu Transformationsprozessen in der Peripherie des postsowjetischen Tadschikistan.
Ellen Nötzel ist Medizinerin in Berlin.
Yulia Schulte beschäftigt sich in ihrer Promotion mit Demokratisierungsprozessen in Kirgistan und organisiert mit
Michael Schulte beim Internationalen Arbeitskreis e.V. (www.politisch-reisen.org) politische Reisen nach Kirgistan.


Länderinformationen:

Usbekistan - Eine zutiefst eingeschüchterte Bevölkerung

In Usbekistan vollzog sich der Machtwechsel nach der Unabhängigkeit 1991 problemlos, als sich Islam Karimov mit überwältigender Mehrheit zum Staatspräsidenten wählen ließ. Doch schon 1992 wurde er im Ferganabecken mit den politischen Forderungen eines nach jahrzehntelanger Unterdrückung wiedererwachten Islam konfrontiert. Dies bestärkte Karimov in einer beispiellos repressiven Politik gegenüber dem politischen Islam. Der Religiosität in den Regionen ihrer größten Verbreitung hat das keinen Abbruch getan, aber eine kritische Zivilgesellschaft ist heute weitgehend zurückgedrängt. Der Vorwurf des islamischen Extremismus dient der Exekutive zur Ausschaltung politischer Gegner. Die gesellschaftliche Opposition kann nur aus dem Ausland agieren.

Das durch Karimov kurz nach seiner Amtseinführung an den Tag gelegte Verständnis von Souveränität, sich im persönlichen Dialog mit Forderungen seiner politischen Gegner im Ferganabecken auseinanderzusetzen, hatte sich 2005 in Andijan gewandelt, als er Armee und Spezialeinheiten schickte, die ein Blutbad anrichteten und nach einer Verfolgungswelle auch in der gesellschaftlichen Diskussion Totenstille hinterließen. Auch wirtschaftlich entschied sich Karimov fast vollständig gegen Liberalisierung. Er versuchte, mit staatlichem Dirigismus und mit Hilfe der Ressourcen- und Infrastrukturausstattung eine Vormachtstellung in Zentralasien zu erlangen. Die Abhängigkeit Kirgistans und Tadschikistans von Usbekistans Gaslieferungen setzte er mehrmals als außenpolitisches Druckmittel ein.

Über drei Viertel des flächenmäßig drittgrößten zentralasiatischen Staates sind Wüste, die sich agrarisch nur in den Bewässerungsoasen entlang der Flüsse nutzen lässt. Der Anteil von Gebirgen ist gering, ein Viertel der zahlenmäßig größten Bevölkerung Zentralasiens lebt auf nur vier Prozent der Landesfläche im Ferganatal, einem von wasserreichen Gebirgszügen umgebenen Becken. Einst war die Region das 'Gewächshaus der Sowjetunion', bis heute versorgt das Ferganabecken die russischen Städte mit Obst und Gemüse. Aber der wichtigste Rohstoff sowohl für die zaristisch-russische, als auch die sowjetische Industrie war die Baumwolle. Die bestehenden Vorkommen an Erdöl und Erdgas decken neben dem eigenen Bedarf den von Kirgistan und Tadschikistan. Neu lokalisierte Reserven werden hauptsächlich durch joint ventures mit russischen und chinesischen Firmen ausgebeutet.

Usbekistan ist wirtschaftlich weitgehend selbstständig, die positive Außenhandelsbilanz wird jedoch größtenteils von Rohstoffexporten getragen. Die dadurch bedingte Abhängigkeit vom Weltmarkt birgt Risiken. Trotz des Potentials der usbekischen Wirtschaft mit einem hohen Industrialisierungsgrad seit sowjetischer Zeit ist deren Anpassungsfähigkeit infolge des staatlichen Dirigismus beschränkt. Karimov hat das erkannt und ist bestrebt, die Wirtschaft zu erneuern. Er steht aber vor dem Problem, dass er Entscheidungsfreudigkeit und Risikobereitschaft von einer zutiefst eingeschüchterten Bevölkerung nicht erwarten kann, eine Öffnung der Gesellschaft aber nicht zulassen will.


Turkmenistan - Beispielloser Personenkult des Turkmenbashi

Nach der Unabhängigkeit wurde auch Turkmenistan zu einer säkularen Präsidialrepublik. Nach einer Zeit relativer Toleranz für seine russophilen Mitstreiter aus sowjetischer Zeit drängte Präsident Saparmurad Nijazov ab Mitte der 1990er Jahre alle potentiellen Konkurrenten aus dem Machtapparat, ersetzte sie mit unerfahrenen Beamten und inthronisierte sich zunehmend als 'Turkmenbashi' ('Haupt der Turkmenen'). Diese Entwicklung mündete in einem beispiellosen Personenkult, abgesichert durch einen repressiven Machtapparat mit Geheimdienst und Polizei. Wie in Usbekistan sind zivilgesellschaftliche Aktivitäten gelähmt. Nach Nijazovs unerwartetem Tod im Dezember 2006 beerbte ihn Gurbanguly Berdimuhamedov, der die Absurditäten des Personenkults zwar nicht weiter beförderte, aber auch Hoffnungen auf eine schnelle gesellschaftliche Öffnung nicht erfüllte.

Menschen siedeln in dem Wüstenstaat hauptsächlich in den ackerbaulich genutzten Bewässerungsoasen entlang des Amudarja und des großen Karakum-Kanals sowie im klimatisch gemäßigten Gebirgsvorland im Süden des Landes. Wie in Usbekistan steht die turkmenische Wirtschaft unter staatlicher Kontrolle und profitiert von gewaltigen Reserven fossiler Brennstoffe. Deren Anteil von 83 Prozent an den Exporteinnahmen führt zu hoher Abhängigkeit von den Weltmarktpreisen. Diese ist momentan noch überlagert von der Preispolitik des russischen Staatsmonopolisten Gazprom, der sich vertraglich fast die gesamten Förderkapazitäten Turkmenistans zu günstigen Preisen gesichert hat, aber nur bei Bedarf abnimmt. Doch Pipelines nach China und in den Iran sind im Bau. Kurz vor der Realisierung steht auch das 'Nabucco'-Projekt.

Die Auswüchse der selbstherrlichen Entwicklungspolitik Nijazovs sind grotesk: während Ressourcen wie Erdgas für die Bevölkerung kostenlos sind, werden andere Güter wie die Gesundheitsversorgung durch Schließung vieler Krankenhäuser im ländlichen Raum künstlich verknappt. Bildung wurde mit der Verkürzung von Ausbildungszeiten in Schule und Universität sowie dem Pflichtstudium von Nijazovs angeblich selbst verfassten Erbauungsepos »Ruhnama« zur Farce. Trotz der durch die Erdgaseinnahmen üppigen Staatsfinanzen kommt bei der Bevölkerung kaum etwas an. Ein Großteil wird für pompöse, dem 'Turkmenbashi' gewidmete Bauprojekte in der Hauptstadt Aschgabad ausgegeben.


Kasachstan - Reichtum nur für wenige

Kasachstan sagte sich als eine der letzten Republiken von der Sowjetunion los, denn 1991 fehlte eine Nationalbewegung. Bereits vor der kasachischen Unabhängigkeit wurde in der Sowjetrepublik ein Präsidentenamt geschaffen, das seitdem der heute noch amtierende Nursultan Nazarbaev bekleidet. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit entwickelte sich zunächst eine bunte Parteienlandschaft, die in der Bevölkerung jedoch wenig Rückhalt hatte. Mitte der 1990er Jahre wurden die Parteien durch strenge Registrierungsvorschriften stark reglementiert und viele VertreterInnen von Oppositionsparteien juristisch verfolgt.

Kasachstan ist etwa so groß wie Westeuropa und damit der größte zentralasiatische Staat. Flache und hügelige Steppen dominieren im Land. Vor allem die Ebenen im Süden sind von Wasserknappheit betroffen. Die Bevölkerung ist vergleichsweise heterogen. In der sowjetischen Zeit waren die mittlerweile 60 Prozent Kasachen noch in der Minderheit. Der Anteil der RussInnen, die im Rahmen sowjetischer Entwicklungstransfers ins Land kamen, ist durch Rückwanderung auf ein Viertel geschrumpft. Die Angehörigen zahlreicher Minderheiten (15 Prozent) wurden größtenteils während des Stalinismus zwangsweise in Kasachstan angesiedelt.

Kasachstan ist eines der rohstoffreichsten Länder der Erde. Im und um das Kaspische Meer finden sich riesige, nur in Teilen ausgebeutete Erdöl- und Erdgasvorkommen. In der Region des fast ausgetrockneten Aralsees wird ähnliches vermutet. Nach Auf- und Abwärtsbewegungen in den 90er Jahren profitierte die kasachische Wirtschaft seit der Jahrtausendwende vom Boom im Energiesektor. Durch die momentane Krise wurde er jäh unterbrochen. Die staatliche Wirtschaftspolitik versucht der einseitigen Ausrichtung der Wirtschaftsstruktur auf Energieexporte durch Förderung des verarbeitenden Gewerbes zu begegnen. Immerhin beträgt der Anteil verarbeiteter Güter am Export 16 Prozent. Die wirtschaftliche Entwicklung ermöglichte einige finanzielle Erleichterungen für die Bevölkerung, wie etwa Steuersenkungen. Doch während in der Hauptstadt ein großer Teil der Staatseinnahmen für Prestigebauten ausgegeben wird und in den Wirtschaftszentren der Reichtum funkelt, hat sich in vielen ländlichen Regionen kaum etwas geändert.


Kirgistan - Enttäuschung nach dem Umsturz

Kirgistan wird oft als liberalstes Land Zentralasiens beschrieben. Das liegt vor allem daran, dass der erste Präsident Kirgistans, Askar Akaev, nach der Ausrufung der Unabhängigkeit eine Politik der Demokratisierung und der Liberalisierung der Märkte verkündete und so internationale Hilfe ins Land holte. Aufgrund der in verhältnismäßig kurzer Zeit umgesetzten marktwirtschaftlichen Reformen erwarb sich das Land den Ruf des Musterschülers der Weltbank. In der Praxis dagegen blieb es in vielen Bereichen bei der Ankündigung von Demokratisierung. Wie in anderen zentralasiatischen Staaten zerfiel mit der Zeit die sowjetische Infrastruktur und soziale und ökonomische Probleme wuchsen.

Die Bevölkerung war zusehends enttäuscht von der Politik des Präsidenten, der seine Versprechungen nicht einhalten konnte, in den letzten Jahren seiner Amtszeit immer autoritärer wurde und sich vor allem um seinen Machterhalt kümmerte. Ihren Höhepunkt erreichte die Unzufriedenheit bei den Parlamentswahlen im Februar 2005, bei denen es besonders viele Fälschungen gab. Im März 2005 kam es in der Folge zu einem friedlichen Umsturz, bei dem Akaev samt seiner Familie das Land verlassen musste. An seine Stelle trat einer der damaligen Führer der Oppositionsbewegung, Kurmanbek Bakiev, der seitdem im Amt ist. Seine Amtszeit gilt als Periode der »Abkehr von demokratischen Werten« hin zu einem institutionalisierten Autoritarismus - trotz aller Versprechen von Bakiev und seinen Mitstreitern, das Land solle demokratisiert werden.

Seit 2005 leidet das Land unter politischer Instabilität, zahlreichen Brüchen innerhalb der ehemaligen Opposition und einer ganzen Reihe großer Demonstrationen. Politische Entscheidungen wurden noch undurchsichtiger, die Korruption wächst weiter, und es kommt vermehrt zu Verfolgungen von MenschenrechtlerInnen und JournalistInnen, wenn diese die Regierung kritisieren. Auch die soziale und wirtschaftliche Lage hat sich verschlechtert: Die Inflation ist massiv, und viele MigrantInnen ziehen auf der Suche nach Arbeit und besserer Bezahlung in die urbanen Zentren oder nach Kasachstan und Russland. Selbst offizielle Zahlen sprechen von einer Arbeitslosenquote von 18 Prozent im Jahr 2008.

Als rohstoffarmes Land konnte Kirgistan den Wegfall sowjetischer Subventionen noch schlechter kompensieren und erlebte einen tiefen Absturz durch die Stilllegung großer Teile der Industrie und die massenhafte Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte. Wichtigste Exportgüter des agrarisch geprägten Lands sind Gold und in kleinem Umfang Baumwolle und Tabak sowie Hydroenergie. Die Landwirtschaft ist zwar in der Lage, einen großen Teil des Nahrungsmittelbedarfs zu decken, doch leidet sie wie andere Branchen unter dem Fachkräftemangel und ausgebliebenen staatlichen Reformen.

Eine gezielte Politik zur Entwicklung des Landes gibt es nicht, und die Regierung hat die Erarbeitung eines gesellschaftlichen Wertekonsenses ebenso wie die Bedürfnisse der Bevölkerung schon lange nicht mehr auf der Agenda. Der Bruch zwischen den Mächtigen und der Bevölkerung ist tief. Insgesamt ist Kirgistan weiterhin ein Land mit einem liberalen Klima, wobei dieser Vorsprung gegenüber seinen zentralasiatischen Nachbarn beständig schmilzt.


Tadschikistan - Bürgerkrieg nach der Unabhängigkeit

Während sich in den benachbarten Republiken die Systemtransformation relativ konfliktfrei vollzog, driftete Tadschikistan in einen verheerenden Bürgerkrieg mit ca. 60.000 Toten. Als Ursachen gelten die ethnolinguistische und religiöse Bevölkerungsvielfalt, gepaart mit regionalen Identitäten, die durch Ämterpatronage verschärft werden. Nicht zu vernachlässigen sind auslösende Momente wie die externe militärische Unterstützung von Konfliktparteien. Etwa eine Million Menschen versuchten sich als Binnenflüchtlinge in Sicherheit zu bringen oder flohen außer Landes, vor allem nach Afghanistan. Die Wirtschaft schrumpfte vergleichsweise stark um 60 Prozent.

Fast die gesamte Geschichte des postsowjetischen Tadschikistans ist verbunden mit einem Namen: Präsident Emomali Rachmon(ov). Zunächst Direktor einer Staatsfarm, wurde er 1992 zum Vertreter der Provinz Kuljab ernannt, um kurze Zeit später in den Wirren des Bürgerkriegs in die Hauptstadt Duschanbe und das höchste Amt Tadschikistans gespült zu werden. Hier versuchte er, ein Land im Krieg zu verwalten, bis im Friedensvertrag 1997 die Beteiligung der Vereinigten Tadschikischen Opposition (einer heterogenen Zusammensetzung von demokratischen Kräften bis hin zur »Partei der islamischen Wiedergeburt«) zu einem Drittel an der Regierung garantiert wurde. Obwohl versucht wurde, Warlords durch Integrierung in die Sicherheitsorgane zu neutralisieren, gibt es immer wieder bewaffneten Widerstand gegen die Staatsmacht, wie die Ereignisse im Tavildaratal, der ehemaligen Hochburg der Opposition, illustrieren. Rachmon konnte seitdem seine Machtbasis immer weiter ausbauen, die Oppositionsparteien sind zerstritten und spielen kaum noch eine Rolle. Diese Entwicklung führt in Verbindung mit einem zunehmend autokratisch regierenden Präsidenten zur Einschränkung demokratischer Freiheiten.

Tadschikistan ist ein Gebirgsland, der gesamte Osten wird vom Pamir, dem höchsten Gebirge der ehemaligen Sowjetunion, eingenommen. Die Bevölkerung siedelt hauptsächlich im hügeligen Gebirgsvorland, der Amudarja-Ebene und dem Ferganabecken.

Die periphere Lage bremste sowjetische Industrialisierungsbestrebungen, was sich in der Wirtschaftsstruktur widerspiegelt. Schon zur Sowjetzeit das sozio-ökonomische Schlusslicht und nach dem Bürgerkrieg von noch niedrigerem Niveau ausgehend, konnte die Wirtschaft in den letzten Jahren jedoch zu den zentralasiatischen Nachbarn aufholen. Diese Entwicklung ist jetzt unterbrochen, denn mit der globalen Krise sind die Preise für Rohstoffe im freien Fall.

Arm sind je nach Definition bis zu vier Fünftel der Bevölkerung, mit leichten Verbesserungen seit der Jahrtausendwende. Angesichts der Infrastruktur- und Ressourcenausstattung des Landes wird sich mittelfristig daran nicht viel ändern. Wie auch in Kirgistan entzieht sich ein großer Teil der männlichen Bevölkerung diesem Schicksal und arbeitet in Russland und Kasachstan. Der Anteil der Rücküberweisungen ist hoch (geschätzte 37 Prozent des BIP).


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 314 - September/Oktober 2009


THEMENSCHWERPUNKT: Alte Zeiten, neue Zeiten - Zentralasien postsowjetisch

Die historische Wende von 1989 ff. und der Siegeszug des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells haben nirgendwo größere Auswirkungen gehabt als in den Staaten und staatsähnlichen Gebilden, die aus der Sowjetunion hervorgingen. Über Russland und die osteuropäischen Länder ist hierzulande inzwischen einiges Wissen verbreitet. Die zentralasiatischen Länder Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan sind hingegen auf unserer Mental Map weitgehend eine terra incognita geblieben.

Ein Zufall ist das wohl kaum. Zentralasien war nicht nur die Peripherie des zaristischen Russlands, sondern auch der (Ex-)Sowjetunion. Hier herrschte jahrzehntelang der russische Kolonialismus und nach der Oktoberrevolution wurde der dort lebenden Bevölkerung erneut Gesellschafts- und Politikmodelle oktroyiert, die in Russland entstanden waren. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die staatliche Unabhängigkeit stellten die fünf zentralasiatischen Staaten vor enorme Herausforderungen. Nach dem Systemwechsel von 1991 waren es dann westliche Vorstellungen von Demokratisierung und Wirtschaftsliberalismus, die eine glorreiche Zukunft versprachen - und weitgehend fehlschlugen. Unser Themenschwerpunkt fragt nach den vielfältigen Problemen, die die diversen Systemwechsel in Zentralasien hervorbrachten, und die massiv die Gegenwart bestimmen.


INHALTSÜBERSICHT

Schwerpunkt: Alte Zeiten, neue Zeiten
Zentralasien postsowjetisch

Hefteditorial: Wüste Pläne


Politik und Ökonomie

Sri Lanka: "Kriegsende ohne Frieden"
In Sri Lanka wird militärisch aufgerüstet
von Fabian Kröger

Peru: Der Hund des Gärtners beißt zurück
In Peru erstarkt eine politische Indígena-Bewegung
von Hildegard Willer

China: Der gute Mensch von Sezuan
Eine kleine Farce über Nothilfe in China
von Wolf Kantelhardt

Mexiko: Femizid: Ein Verbrechen aus Hass
Wenn Morde an Frauen straffrei bleiben
von Mariana Berlanga

Geopolitik: Raum, Macht und Ideologie
Die anhaltende Bedeutung von Geopolitik und Politischer Geographie
von Sören Scholvin


Themenschwerpunkt: Zentralasien

Editorial

Unabhängigkeit von oben
Eine vorläufige Bilanz der postsowjetischen Systemtransformation in Zentralasien
von Tobias Kraudzun, Ellen Nötzel, Yulia und Michael Schulte

Weiße Elefanten sterben nicht aus
Die ökologische Frage in Zentralasien bleibt ungelöst
von Jenniver Sehring

Unser gemeinsames Haus
Kirgistan auf der Suche nach einer Nation
von Alexander Wolters

Peripherie mit starkem Staat
Zentralasien oszilliert zwischen Rohstoffreichtum und nackter Armut
von Tomasz Konicz

Mit der Bahn nach Kasachstan
Die deutsche Außenpolitik nimmt Zentralasien ins Visier    
von Jörg Kronauer

Ungeliebte Nachbarn
In Russland sieht man von oben auf Zentralasien herab
von Ute Weinmann

»Schaut euch unsere Gebäude an«
Die Umbrüche in Zentralasien verändern auch die Gestalt der Städte
von Wladimir Sgibnev

Bauboom für Moscheen
Die Re-Islamisierung in Zentralasien ist nicht mit Islamismus gleichzusetzen
von Sören Scholvin


Kultur und Debatte

Rassismus: 25 Jahre »Marche des Beurs«
Ein Rückblick auf Kämpfe der Migration in Frankreich
von Kolja Lindner

Film: »Das Sektiererische aufbrechen...«
Interview mit der Filmproduzentin Irit Neidhardt über »The One Man Village«

Musical: »Die Geschichte hat mich eingeholt«
Interview mit dem Hiphop-Musiker Yan Gilg über sein Stück »A nos morts«

Debatte: Auf der Suche nach Relativierungen
Eine Antwort auf Réne Wildangels Replik zum Themenschwerpunkt »Nazi-Kollaborateure«
von Karl Rössel

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 314 - September/Oktober 2009, Seite 16-20
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Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2009