Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/234: Rezension - Demokratie lokal


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 321 - November/Dezember 2010

Demokratie lokal

Von Henrik Lebuhn


Hilary Wainwrights neuer 470-Seiten Wälzer handelt von der Demokratie. Doch anders als die meisten Bücher, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, beginnt Reclaim the State nicht im antiken Griechenland, sondern im brasilianischen Porto Alegre der Gegenwart. Seit 1989 entscheiden die BürgerInnen dort Jahr für Jahr über einen Teil 'ihres' Stadthaushaltes. Von Porto Alegre aus führt Wainwright ihre LeserInnen nach England, Norwegen, Italien und Spanien, um dort ähnliche Modelle partizipativer Mitbestimmung und Haushaltsverfahren auf lokaler Ebene zu erkunden. »Reclaim the State« fragt nach aktuellen Formen direkter Demokratie, nach Gerechtigkeit, Umverteilung und dem Zugang zu (öffentlichen und privaten) Ressourcen. Und es beschäftigt sich mit den alltagspraktischen Problemen von Demokratie jenseits der Wahlurne.

Dabei geht die britische Soziologin, die auch das linke Magazin Red Pepper mit herausgibt, in dreierlei Hinsicht über den bloßen Vergleich verschiedener Fallstudien hinaus: Erstens stellt Wainwright den empirischen Kapiteln einen ausgezeichneten historischen und theoretischen Teil voran. Neben grundlegenden Überlegungen zu Macht, Herrschaft und Demokratie geht es ihr um die Kritik an Formen lokaler BürgerInnenbeteiligung, wie sie in der zweiten Phase des Neoliberalismus, also ab etwa Mitte der 1990er Jahre, entwickelt worden sind: in Deutschland zum Beispiel im Rahmen des Bundesprogramms »Soziale Stadt« und in England unter Tony Blair als »New Deal for Communities«. Zweitens beruht Wainwrights empirische Analyse auf zwei langen Feldforschungsphasen. Eine erste Ausgabe von »Reclaim the State« erschien bereits und enthielt Material aus den 1990er und frühen 2000er Jahren. Für die überarbeitete zweite Ausgabe von 2009 besuchte Wainwright vier der Städte in Brasilien und England ein zweites Mal und ergänzte das Buch um weitere Fallstudien aus anderen Ländern. Daher leistet die Neuausgabe nun auch einen Zeitvergleich. Im Fall von Porto Alegre etwa fragt die Autorin, wie sich die Abwahl des linken Bürgermeisters im Jahr 2004 auf den BürgerInnenhaushalt ausgewirkt hat und diskutiert die lokalen Veränderungen nach dem Amtsantritt von Lula im Jahr 2002.

Drittens ist das Buch nicht nur gut recherchiert, sondern auch ausgezeichnet geschrieben. Über weite Strecken liest es sich wie eine Reportage. Die LeserInnen begleiten Wainwright zu brasilianischen Nachbarschaftsworkshops, zu Interviews mit GewerkschaftsaktivistInnen in Newcastle und auf Stadtspaziergänge im italienischen Grottammare. Dabei werden die alltäglichen Probleme bei der Einführung und Weiterentwicklung partizipativer demokratischer Verfahren anschaulich. Für alle, die sich mit BürgerInnenhaushalten und lokaler Demokratie beschäftigen, ist »Reclaim the State« ein Muss. Es bietet eine theoretisch fundierte und empirisch dichte Analyse aktueller und praxisrelevanter Beispiele. Einziges Manko: Obwohl das Buch bereits in mehrere Sprachen übersetzt worden ist, gibt es immer noch keine deutsche Fassung.

Hilary Wainwright:
Reclaim the State. Experiments in Popular Democracy.
New Revised Edition, Seagull, London/New York/Calcutta 2009.
470 Seiten, 17,99 Euro.


*


Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 321 - November/Dezember 2010


Dossier:
Corpus delicti - umkämpftes Recht auf Gesundheit

Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Sie umfasst sowohl körperliches als auch psychisches und soziales Wohlbefinden. Doch das insbesondere Menschenrecht von Frauen auf Gesundheit ist stetig umkämpft und wird oft verletzt. Der Frauenkörper gilt weithin als Ware, er wird als begehrens- und besitzenswertes Objekt ge- und misshandelt. Spätestens mit Geburt des neuzeitlichen Staates war die Verwaltung und Kontrolle des Frauenkörpers auch ein wichtiges Instrument der Bevölkerungsregulierung.

Das hierarchische Verhältnis zwischen Nord und Süd kommt beim Zugriff auf Frauenkörper ebenfalls zum Tragen - in allen Aspekten wie race, class, gender, disability und identity. Das Dossier zeichnet die vielfältigen Eingriffe, Angriffe und Übergriffe auf Frauenkörper nach, präsentiert aber auch Ansätze zur Veränderung. Im Mittelpunkt steht dabei das Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit.

Themen des Schwerpunkts:
Jungfräulich, nackt, unrein - Eine Reise in die Porno-Tropen + Untergeben und erobert - Der Schwarze Frauenkörper in Südafrika + Gespendet, gehandelt, getauscht - Interview über die Globalisierung der Eizellmärkte + Kinderlos, unfruchtbar, nutzlos - Unerwünschte Kinderlosigkeit in Brasilien + Umkämpft und verteidigt - Streit um (un-)sichere Abtreibungen in Lateinamerika + Symptomatisch verkannt - Gegen Müttersterblichkeit helfen keine einfachen medizinischen Lösungen + "Weg vom Albert-Schweizer-Modell" - Interview über medizinische Entwicklungszusammenarbeit + Verletzt, verstümmelt, verkannt - Genitalverstümmelung im Nordirak + Ausgebeutet oder ausgeschlossen? - Recht auf Gesundheit im Kontext migrantischer Prostitution


INHALTSÜBERSICHT


Hefteditorial: Hurra wir sind erwachsen!


POLITIK UND ÖKONOMIE

Swaziland: Die Tyrannei des Löwen
Ein besonders repressives Patriarchat fördert die Ausbreitung von Aids
von Thomas Schmidinger

Ruanda: Kagame, wer sonst?
Tagebuchnotizen zur Präsidentenwahl in Ruanda
von Stefan Sommer

Namibia: Entlang der Roten Linie
Die Landreform ist mehr als eine Frage der Umverteilung
von Sören Scholvin

Aserbaidschan: Regiert wie geschmiert
Was bedeuten Wahlen im Erdölstaat Aserbaidschan?
von Ismail Küpeli

Zypern: Kalter Krieg im Mittelmeer
Die Lösung des Zypernkonflikts rückt in die Ferne
von Sabine Hagemann-Ünlüsoy

Ausstellung: Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg
Das iz3w präsentiert umfangreiches Begleitprogramm zur Ausstellung in Freiburg
von Jan Keetman


DOSSIER: AFRIKA POSTKOLONIAL

Editorial: "Your body is a battleground"

Was ist neu am Neokolonialismus?
Formelle und informelle Herrschaft im unabhängigen Afrika
von Reinhart Kößler

Jungfräulich, nackt, unrein
Eine Reise in die Porno-Tropen
von Alice Rombach

Untergeben und erobert
Der Schwarze Frauenkörper in Südafrika
von Rita Schäfer

Gespendet - gehandelt - getauscht
Interview mit Erika Feyerabend über die Gobalisierung der Eizellmärkte

Umkämpft und verteidigt
Streit um (un-)sichere Abtreibungen in Lateinamerika
von Kirsten Achtelik

Symptomatisch verkannt
Gegen Müttersterblichkeit helfen keine einfachen medizinischen Lösungen
von Martina Backes

»Weg vom Albert-Schweitzer-Modell«
Interview mit dem Arzt Michael Runge über medizinische Entwicklungszusammenarbeit

Verletzt - verstümmelt - verkannt
Genitalverstümmelung im Nordirak
von Arvid Vormann

Ausgebeutet oder ausgeschlossen?
Gesundheit im Kontext migrantischer Prostitution
von Veronika Ott


KULTUR UND DEBATTE

Sklaverei: Wettstreit der Erinnerungen
Ein neues Buch facht die Debatte über den arabischen Sklavenhandel an
von Simon Brüggemann

Medien: »Wir sind offen für Kontroversen«
Interview mit Tidiane Kassé über die panafrikanische Internetplattform Pambazuka News

Kunst: Die Versprechen der Moderne
Lateinamerikas abstrakte Kunst
von Katja Behrens

Film: Das »Coca-Cola der Fruchtsäfte«
Eine Doku über Jaffa-Orangen zeichnet palästinensisch-israelische Geschichte nach
von Ulrike Mattern

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


*


Quelle:
iz3w Nr. 321 - November/Dezember 2010
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Tel. 0761/740 03, Fax 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org

iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 5,30 Euro plus Porto.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2010