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LICHTBLICK/235: Die Schildbürger der Justiz


der lichtblick - Gefangenenzeitung der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 375 - 2/2018

Die Schildbürger der Justiz


Die Bürger Schildas waren gemeinhin als äußerst klug bekannt, weswegen sie begehrte Ratgeber der Könige und Kaiser dieser Welt waren. Da die Stadt auf diese Weise langsam aber sicher entvölkert wurde, verlegte man sich auf eine List: Die Schildbürger begannen sich dumm zu stellen, so dumm sogar, dass sie begannen, jede Aussage, auch Metaphern, wörtlich zu interpretieren. Dies war so erfolgreich, dass sie mit der Zeit in ihrer Dummheit verblieben und dafür genauso bekannt wurden wie ehedem für ihre Klugheit. Die Legende um Schilda ist bis heute Bestandteil der deutschsprachigen Kultur und hat Einzug gehalten in den deutschen Wortschatz. Der Begriff Schildbürgerstreich findet in der Umgangssprache für aberwitzige und irreführende Regelungen (Beschilderungen) oder eine sich ins Gegenteil verkehrende bürokratische Verwendung.


Bekannte Schildbürgerstreiche

Die Schildbürger bauen ein Rathaus: Als die Schildbürger ein neues, pompöses Rathaus bauen, vergisst der Architekt die Einplanung von Fenstern und das Rathaus ist innen stockfinster. Darauf hin versuchen die Schildbürger, mit Eimern das Sonnenlicht einzufangen und ins Innere zu tragen, was allerdings fehlschlägt.

Baumstämme in die Stadt tragen: Die Schildbürger fällen Bäume und wollen nun die Stämme in ihre Stadt bringen. Sie stellen fest, dass das Stadttor zu schmal ist: Die Baumstämme passen der Breite (eigentlich der Länge, denn sie tragen sie parallel zur Mauer!) nach nicht durch. Also reißen sie links und rechts vom Tor die Stadtmauer ein, bis die Stämme hindurchpassen. Als die Schildbürger fertig sind, merken sie, dass es doch viel einfacher gewesen wäre, die Baumstämme der Länge nach durch das Tor zu tragen. Sie tragen nun also alle Baumstämme wieder aus der Stadt, mauern die Stadtmauer links und rechts wieder zu und tragen die Stämme abermals - nun der Länge nach - durch das Tor in die Stadt.


Uns wurden auch neuere Streiche der Berliner Schildbürger mitgeteilt.

Die Freistunden: Jeder Inhaftierte hatte bisher die Möglichkeit in der JVA Tegel von 16 Uhr bis 17.30 Uhr den Freistundenhof zu besuchen. Aufgrund eines Ausbruches aus der Anstalt, überlegte die Berliner Justiz, wie man die Freistunden besser überwachen kann. Angeblich könnten Inhaftierte über den Zaun des Freistundenhofes springen. So überlegten sie, wer die dümmste Idee für eine Umsetzung hat. Sie kamen zu folgender Entscheidung. Ein Mitarbeiter wird abgestellt, er solle alle Inhaftierten, die in den Hof gehen, zählen. In Abständen von 30 Minuten ist es jetzt möglich, in die Freistunde zu gehen. Jeder kann in dieser Zeit auch wieder ins Haus zurück. Eine spannende Aufgabe für jeden Beamten, wenn im Sommer bis zu 160 Inhaftierte in die Freistunde gehen. Clevere Menschen würden sich überlegen den Zaun höher zu bauen oder einen Gitterzaun zu befestigen. Das aber könne man nicht tun sagen die Schildbürger, denn die Vögel könnten sich ja am Zaun verletzten.

Das Hochsicherheitsband:

Um die JVA Tegel wurde eine hohe Mauer gebaut. Hinter der Mauer wurde ein zusätzlicher Metallzaun hochgezogen. Dahinter steht das Hafthaus 5 und 6 der JVA Tegel. An den beiden Häusern befindet sich ein Freistundenhof. Um den Freistundenhof ist nochmals ein zusätzlicher Zaun angebracht. Bei der Planung hatten die Schildis vergessen, dass böse Menschen weit werfen können und so über die Mauern und Zäune kleine Pakete gelangen können. Schlaue Inhaftierte bauen sich Angeln und fischen so auf dem Hof nach Drogen oder anderen verbotenen Gegenständen. So geht das nicht weiter sagten die Schildis. Eine Lösung für dieses Problem muss her. Wie man das von unseren Schildbürger gewohnt ist, wurde nicht die klügste Idee genommen. Es wurde ein rotes Band, das auch für die Absperrung von Baustellen benutzt wird, über den Hof gespannt. Somit wurde ein Drittel des Hofes im Haus 6 und im Haus 5 abgesperrt. Die bösen Menschen überlegten einige Minuten, was sie jetzt machen sollen. Da sie etwas cleverer wie die Schildis waren, haben sie beschlossen, einfach etwas weiter zu werfen. Und somit angelten die Inhaftierten fröhlich weiter. Zuletzt wurde ein kleines Flugobjekt gesichtet, das sich den Spaß erlaubte einen Salto um das Hochsicherheitsband zu machen.


Der Mitarbeitermangel:

Ein Mitarbeiter wurde vom Senat bestimmt, der die Aufgabe hatte, extreme Sparmaßnahmen in den Berliner Strafanstalten umzusetzen. Gesagt getan. Ruck Zuck wurden Arbeitsplätze gestrichen. Nach kurzer Zeit stellten die Schildis fest, dass jetzt Mitarbeiter an allen Ecken und Enden fehlen. Man kam auf die clevere Idee, neue Mitarbeiter einzustellen. Kaum waren neue Praktikanten in der JVA Tegel, kam ein Schildbürger auf die schlaue Idee, diese wieder abzuziehen und in die JVA Moabit abzustellen, damit ein altes Hafthaus für ca. 80 Häftlinge wieder aufgemacht werden kann. Schlaue Jungs hätten den offenen Vollzug zusammengelegt und Mitarbeiter nach Moabit geschickt, um die Mitarbeiter im geschlossenen Vollzug zu entlasten. Denn jetzt fehlen Mitarbeiter im geschlossenen Vollzug.


Die Überwachungsanlagen:

Einer der Inhaftierten war schlauer als alle Schildbürger. Er legte eine selbst gebastelte Puppe in sein Bett. Als die Freistunde stattfand, sprang er unbemerkt über den Zaun des Freistundenhofes und versteckte sich. An diesem Tag fand der Einkauf in der Anstalt statt. Der Schlingel versteckte sich unter einem Laster und fuhr damit in die Freiheit. Wer gedacht hatte, dass bei jeder Ein- oder Ausfahrt Wärmebildkameras verwendet werden oder Herzdedektoren ist falsch informiert. Überwachungskameras in der Anstalt haben die Schildbürger nicht anbringen lassen. Zu ihren Gunsten muss gesagt werden, dass jemand einen Spiegel unter den LKW gehalten hat. Wahrscheinlich hat der Beamte erkannt, dass der Unterboden des LKW's dreckig ist.


Der Fahrradständer:

Es war einmal... So könnte das Märchen lauten. Ein LKW kam eines Tages angefahren und hielt an der JVA Tegel. Vor der Anstalt waren Fahrradständer angebracht. Diese wurden auf den LKW aufgeladen. Wahrscheinlich haben die Schildbürger gedacht, die müssen repariert werden. Aber sie kamen nicht mehr zurück. "Grübel, Grübel, was machen wir jetzt", überlegten sich die Berliner Schildis. Daraufhin befestigten sie die Fahrradständer in der Anstalt. Damit kann sie niemand mehr klauen. Dazu schrieben sie noch eine Dienstanweisung: "Wer mit einem Fahrrad zur Arbeit kommt, darf zuerst in die Anstalt rein". Wer mit dem Auto kommt, hat eben Pech gehabt und muss warten bis die Fahrradfahrer in der Anstalt sind. Ja, ja die Schildis und ihre Streiche.

Fazit: Die Schildbürger und ihre Streiche. Solange niemand für falsche Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen wird, werden die Streiche weitergehen. Darunter leiden Beamte und Inhaftierte gleichermaßen. Der einzige Unterschied ist, dass viele Inhaftierte für falsche Entscheidungen in Haft sitzen.

Redaktion

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Quelle:
der lichtblick, 50. Jahrgang, Heft Nr. 375 - 2/2018, Seite 36-37
Unzensierte Gefangenenzeitung der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2018

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