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MARXISTISCHE BLÄTTER/433: Die Rolle der USA in Haiti


Marxistische Blätter Heft 2-10

Die Rolle der USA in Haiti

Von Yves Dorestal


Es ist ein Gemeinplatz geworden, dass Haiti das ärmste Land Lateinamerikas und eines der unterentwickeltsten Länder der abendländischen Hemisphäre ist. Entscheidend ist jedoch, die Faktoren zu untersuchen, die erklären, dass ein Land, das einst die "Perle der Antillen" war und den radikalsten Bruch mit dem damaligen weltkolonialen System durch die Gründung der ersten schwarzen Republik im 19. Jahrhundert vollzogen hat, so tief gesunken ist. Auf der Suche nach Erklärungsmustern kann man nicht daran vorbeigehen, die Rolle der USA als eine der wesentlichen Ursachen dieses historischen Prozesses festzuhalten.

Die nordamerikanische und die haitianische Revolution sind die zwei ältesten Revolutionen des amerikanischen Kontinents im 19. Jahrhundert. 1776 und 1804 sind die jeweiligen Geburtsdaten der nordamerikanischen und der haitianischen Republik, die die zwei ältesten Republiken des amerikanischen Kontinents sind. - Es ist weniger bekannt, dass die Haitianer - damals existierte Haiti als französische Kolonie unter dem Namen Saint Domingue - an dem antikolonialen Kampf gegen England beteiligt waren. 500 Freiwillige standen auf der Seite der Amerikaner. Bei dem entscheidenden Kampf von Savannah (1777) opferten viele Haitianer ihr Leben und vor einigen Jahren wurde in dieser Stadt ein Denkmal zu ihren Ehren errichtet. Einer der Überlebenden, Henri Christophe, wurde einige Jahre nach der Unabhängigkeit von Haiti König. Der berühmte Dichter Aimé Césaire aus Martinique widmete ihm eines seiner Werke mit dem Titel: Die Tragödie des Königs Henri Christophe.

Nach dem militärischen Sieg über die besten Truppen von Napoléon, der durch die Gründung eines Staates gekrönt wurde, rief Haiti die Republik aus.

Obwohl der neue Staat entschied, vielseitige Handelsbeziehungen zu den USA zu unterhalten, blieb die staatliche politische Anerkennung der Unabhängigkeit Haitis durch diese aus. Erst unter Abraham Lincoln wurde 1862 die Existenz von Haiti als souveränem Staat durch die USA anerkannt. In seinem berühmten Text: "Zur Kritik der Dinge in Amerika" lobte Karl Marx Abraham Lincoln für diesen Schritt.

Nach der Formulierung des mächtigsten Ministers unter dem französischen Kaiser Napoleon, Taileyrand, wurden die Ereignisse in Haiti "zum grauenhaften Schauspiel für alle weißen Nationen". Während des ganzen 19. Jahrhunderts, besonders in der zweiten Hälfte, wurde ein Sicherheitsgürtel um Haiti eingerichtet und eine systematische Politik der Großmächte durchgeführt, um die Vorbildfunktion des haitianischen Modells zu beseitigen.

Der Grundunterschied zwischen der nordamerikanischen und der haitianischen Revolution bestand darin, dass nach dem Sieg über England bei der Gründung des neuen Staates der USA die Sklaverei beibehalten wurde, während die haitianische Revolution die Sklaverei abschaffte und aus den damaligen Sklaven freie Menschen und Bürger machte. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts spitzten sich die Rivalitäten der damaligen Großmächte Frankreich, England, Deutschland zu, um die neokoloniale Kontrolle über Haiti zu erlangen. Die USA verstärkten mehr und mehr ihre Position in diesem Konkurrenzkampf.

Gegen 1898 machten sich die USA auf den Weg zur imperialistischen Weltmacht und setzten - entsprechend der Losung der Monroe-Doktrin "Amerika den Amerikanern" - allmählich ihren politischen Willen durch, aus Zentralamerika, der Karibik und Südamerika ihre exklusive Einflusssphäre zu machen.

Sie intervenierten in Puerto Rico und in Kuba (1898), in Nikaragua (1901), in der Dominikanischen Republik (1905). Im Jahr 1915 war Haiti dran.

Die USA besetzten Haiti von 1915 bis 1934. Es war die längste Besatzung während dieser Periode in Lateinamerika. In den ersten Jahren (1915-1919) wurde ein erbitterter Widerstandskampf unter Führung von Charlemagne Peralte geführt, der 13.000 Tote kostete. Er selbst wurde 1919 von den Besatzern ermordet. - Später gründeten die USA eine neue Armee, die die Rolle des effizientesten Instruments ihrer Politik übernahm.

1934 endete die Zeit der direkten Besatzung, aber die USA hinterließen eine politisch-militärische und wirtschaftliche Struktur zur Durchsetzung ihrer Interessen, die noch heute andauert. Die US-amerikanische Besatzung (ab 1915) leitete eine Wende zum Schlimmsten in der Geschichte Haitis ein. Die explosiven politischen Verhältnisse in Frankreich vor 1789, in Russland (vor 1905 und vor 1917) in Deutschland vor 1918 waren die Geburtswehen der Entstehung einer neuen Gesellschaft aus den Widersprüchen der alten.

Jede explosive politische Situation in einem Land findet auf Grund ihrer eigenen Kraft die Lösung der internen Widersprüche, solange der Prozess wirklich national immanent bleibt. Vor der Intervention durch die USA hatte die alte haitianische Gesellschaft, deren Existenz mit der Unabhängigkeit (1804) begann, ihre letzten Überlebensmöglichkeiten erschöpft. Die objektiven und subjektiven Bedingungen zur Schaffung einer neuen Gesellschaft waren gegeben. Der Eingriff der USA blockierte jedoch diesen Prozess.

Die Hegemonie der Macht der USA in Haiti beseitigte endgültig die finanzielle, ökonomische Vormachtstellung Frankreichs und brachte andere ausländische Mächte wie Deutschland außer Konkurrenz.

Die Wirtschaft von Haiti wurde eine Verlängerung der US-Wirtschaft. Die Nationalbank von Haiti ordnete sich der National City Bank unter. Am Vorabend der US-amerikanischen Intervention hatte es die seit langen Jahren kämpfende Bauernbewegung zum ersten Mal in der Geschichte Haitis geschafft, eine Einheit zwischen politischem Programm und militärischer Macht, zwischen progressiven Intellektuellen und einer Armee aus dem Volk herzustellen. Rosaivo Bobo, ehemaliger Chefarzt im Pariser Krankenhaus und Absolvent wissenschaftspolitischer Studien in Paris, der die Unterstützung progressiver Milieus im Inland wie im Ausland genoss, schien der Mann der Stunde zu sein. Er war eine Nationalfigur wie später Sandino in Nikaragua. Er wurde für die Besatzer unakzeptabel und musste ins Exil nach Paris gehen, wo er starb. An seiner Stelle designierten die USA Sudre Dartiguenave, ihren Lakaien, als Präsidenten. Die Amerikaner diktierten die Orientierung der Landwirtschaft, der Schulpolitik, der Außenpolitik. So erklärte zum Beispiel der proamerikanische haitianische Präsident Elie Lescot 1941 Deutschland den Krieg. 1934 gründete Jacques Roumain während der amerikanischen Besatzung die erste kommunistische Partei auf Haiti. Diese wurde schnell verboten und Roumain starb 1944 - nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis - an einer aus der mehrjährigen Haft resultierenden Krankheit. 1946 wurde eine zweite kommunistische Partei gegründet: Die Sozialistische Volkspartei, die aber schon 1950 auf Anweisung der US-Regierung verboten wurde.

1957 kam der proamerikanische Präsident Duvalier an die Macht. Dank der US-amerikanischen Unterstützung blieb er bis zu seinem Tod im Jahr 1971 an der Regierung und nach Absprache mit der US-Botschaft wurde sein Sohn Nachfolger.

Inzwischen siegte 1959 die kubanische Revolution und die Losung aller damaliger US-Regierungen, kein zweites Kuba in der Karibik zuzulassen, war die Erklärung für die vielseitige Unterstützung der Duvalier-Dynastie durch die USA, die mehr als 30.000 Menschenleben kostete.

Die Epoche der direkten amerikanischen Besatzung und die Periode danach zeigen, dass die Politik der USA nicht in der Lage gewesen ist, eine wirkliche Modernisierung der haitianischen Wirtschaft und Politik zu verwirklichen.

Sie hat seit 1915 alle undemokratischen Regierungen unterstützt, die den Untergang der haitianischen Gesellschaft verursacht haben.

1990 wurde der Armenpriester der Befreiungstheologie, Jean Bertrand Aristide, zum Präsidenten gewählt. Er war der Vertreter einer demokratischen Massenbewegung, die die Forderung nach Schaffung einer demokratischen und gerechten neuen Gesellschaft formulierte. Eine radikale politische Wende schien in Sicht. Nach acht Monaten wurde Aristide von der Armee gestürzt, die im Einvernehmen mit der CIA arbeitete. Die neue Politik von Clinton schaffte 1994 die erste Rückkehr von Aristide an die Macht.

Die Repression der Militärregierung hatte die Schlagkraft der Massenbewegung von 1986 bis 1991 erheblich beeinträchtigt. Aristide andererseits hatte sich dem Neoliberalismus gebeugt und bei seiner zweiten Rückkehr an die Macht im Jahr 2001 führte er eine Politik durch, die seine Unterstützung durch die progressiven Kräfte so stark abschwächte, dass seine politische Eliminierung durch die Machenschaften der herrschenden ausländischen Mächte (USA, Kanada, Frankreich) ermöglicht wurde und so zu seinem zweiten Sturz führte.

Obamas Politik gegenüber Lateinamerika ist widersprüchlich, es fehlen Taten, die in eine neue Richtung weisen. Die starke militärische Präsenz der USA in Haiti nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 mit den unausgesprochenen strategischen Überlegungen drückt weiterhin diese Ambivalenz aus. Kann der militärisch-industrielle Komplex in den USA zulassen, dass Obama eine Variante zu der traditionellen US-Politik seit 1915 gegenüber Haiti einleitet?

Die historische Entwicklung allein kann diese Frage beantworten.


Liste der haitianischen Präsidenten von 1915 bis zum Sturz Duvaliers 1986

1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Sudre Dartiguenave
Louis Borno
Stenio Vincent
Elie Lescot
Dumarsais Estime
Paul Magloire
François Duvalier
Jean-Claude Duvalier
(1915-1922)
(1922-1930)
(1931-1940)
(1943-1946)
(1946-1950)
(1951-1956)
(1957-1971)
(1971-1986)

Yves Dorestal, Dr., Hamburg/Port-au-Prince, Haiti, Philosoph


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-10, 48. Jahrgang, S. 12-14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2010