Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

MARXISTISCHE BLÄTTER/443: Arbeiterbewegung und bürgerlich-humanistisches Erbe



Marxistische Blätter Heft 3-10

Arbeiterbewegung und bürgerlich-humanistisches Erbe

Von Robert Steigerwald

Der Schattenblick veröffentlicht den vollen Wortlaut des Vortrags, wie er auf der Internetseite www.neue-impulse-verlag.de (s.u.) zu finden ist.


Mit unserer Veranstaltung stellen wir uns in eine Tradition, die es seit Beginn der Arbeiterbewegung, gibt. Und so, wie diese im utopischen Sozialismus einen großartigen Vorläufer hatte, so gab es auch in den Literatur- und Kunstdebatten einen solchen, man braucht nur die Namen Heinrich Heines und Georg Büchners zu nennen.

Dessen "Hessischer Landbote" war Marx und Enges zur Zeit der Arbeit am Kommunistischen Manifest wohl nicht bekannt, er sollte dennoch als Vorläufer der Geburtsurkunde des Kommunismus angesehen werden.

Wir können von unterschiedlichen Etappen in dieser Tradition sprechen und auf einige will ich eingehen. Es gibt - dies nur nebenbei - hierzu übrigens eine umfangreiche Literatur, sogar mindestens eine Doktorarbeit. (1)


"Frühgeschichtliches"

Als Friedrich Engels schrieb: Wir deutsche Sozialisten sind stolz darauf, nicht nur abzustammen von Owen, Saint Simon und Fourier, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel, hätte er auch Lessing, Schiller und Goethe nennen können. Von Marx und Engels gibt es, teils auch wegweisende Äußerungen zu Kunst, zu Literatur. In der einer breiteren marxistischen Öffentlichkeit nur wenig bekannten Sickingen-Debatte zwischen Marx und Lassalle ging es um Kunst und Politik, darin waren schon systematisierende Ausführungen zu beidem und zu beider Zusammenhang enthalten. Es wurde auch einige Male versucht - etwa durch Georg Lukacs, den sowjetischen Gelehrten Lifschitz , durch Lu Märten aus alledem so etwas wie eine Theorie der Künste herzustellen. Das führte zu Anbauten am Gebäude der materialistischen Gesellschaftsauffassung. Wahrscheinlich ist auch unter uns nur wenig bekannt, dass auf einem Parteitag der Sozialdemokratie, das war 1896, eine mehrtägige Diskussion über den Naturalismus stattfand. (2) Eher kennt man schon das schöne Wort Rosa Luxemburgs aus einem Brief an Mehring. "Der Sozialismus ist nicht nur eine Messer-und-Gabe-Frage". (3) Und da ich schon bei den Großen unserer Bewegung bin: Lenin - er schrieb umfangreich etwa zu Tolstoi - hat des Öfteren, vor allem in seiner Rede an die Jugend, gesagt, man könne kein ernsthafter Kommunist sein, ohne gründlich studiert zu haben, was der Kulturprozess in seiner Geschichte hervorgebracht habe. (4) Warum ist das alles so?

Die Arbeiterbewegung verstand sich von Anfang an als eine Kulturbewegung. Ich habe da noch aus meiner sozialdemokratischen Frühzeit interessante Erinnerungen. Wir haben, zu Beginn jeder Distrikts-Versammlung, ein Lied gesungen, etwa ein Gedicht von Heine, Schiller, Herweg, Dehmel oder Tucholsky vorgetragen, auch mal aus einem Brief der Rosa Luxemburg vorgelesen. Von Brecht, Becher, Majakowski oder Kuba wussten wir freilich nichts.

Die Arbeiterbewegung war hinsichtlich des Erbes mit dem Problem der Kontinuität und des Bruchs, der Aufhebung, kurzum: Der Dialektik der materiell-gesellschaftlichen Entwicklung, ihrer entsprechenden Widerspiegelung in der Politik, im Überbau überhaupt, also auch in der Kultur konfrontiert. Man wollte bewusst eine Gegenkultur zur bürgerlichen schaffen, war sich in den besten Repräsentanten der Arbeiterbewegung dessen bewusst, dass zur Entwicklung von Klassenbewusstsein eben nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kultur gehört, dass die geistige Aneignung der Welt nicht nur über den Strang der Wissenschaft, der Ratio, der Fassung der Welt nur unter der Form des Objekts ( um eine Feuerbach-These zu zitieren) erfolgt, sondern eben auch unter der Form des Subjekts geschieht, und das schließt die Subjektivität ein, deren ureigenstes Medium die Kunst, die künstlerische Kultur ist. Daran schließen sich zwei Anmerkungen an: Man könnte, um einen Vorgriff zu wagen: An Gramscis Konzeption der Erringung kultureller Hegemonie erinnern. 2. ergibt sich aus solcher Orientierung, dass die Frage, was alles Gegenstand der Kunst sein könne, nicht von den Objekten, sondern vom Subjekt (gemeint ist nicht das individuelle Subjekt) zu beantworten wäre: Gegenstand der Kunst ist die ganze Welt des Menschen!

Die Bourgeoisie hat in ihrer Aufstiegs-, ihrer Revolutionsperiode als Kraft gesellschaftlichen Fortschritts und der Emanzipation gewirkt, und als solche hat sie auch objektiv Interessen des proletarischen Antipoden mit verfochten. Sie hat ein über das Entwicklungsniveau des Kapitalismus hinausweisenden Überschuss produziert. Schillers "Alle Menschen werden Brüder!", die Aufhebung der Mode, der Gesellschaft, welche die Menschen teilt, weist weit über die Klassengesellschaft hinaus, und das Goethe'sche "Mit freiem Volk auf freiem Grund stehend" die Auseinandersetzung mit der Natur im "Gemeindrang" zu vollziehen, das geht weit hinaus in die Zukunft, die nicht mehr eine solche des Kapitalismus sein kann.

Mit der Bourgeoisie zusammen entstand auch ihr unvermeidlicher Antipode, die Arbeiterklasse. Und damit hatte und hat - das wird bisweilen vergessen - es die Arbeiterbewegung mit bürgerlichem Erbe zu tun! Da anzuknüpfen war möglich und nötig. Denn gerade, weil im Schoße der Arbeiterklasse die Arbeiterbewegung entstand, weil diese sich anschickte, den von der Bourgeoisie nicht erfüllten Auftrag der Emanzipation zu übernehmen, gerade darum erstanden in der bürgerlichen Ideologie, Kunst und Politik Absetzbewegungen vom utopischen Überschuss. So wurden Verteidigung des Progressiven und Zurückweisung des Reaktionären, dialektische Aufhebung von der Arbeiter- als einer Kulturbewegung gefordert. Und derjenige, der sich diesem Programm als erster und lebenslang stellte, erste Fundamente für eine marxistische Kunst- und Kulturtheorie legte, war Franz Mehring. Sein Werk in der damaligen Zeit ist wohl nur noch mit jenem Plechanows zu vergleichen, die übrigens beide die gleichen Grundpositionen einnahmen.


Franz Mehrings Wirken.

Schon in diesem Begründungsprozess hatte Mehring seine revisionistischen Gegner! Friedrich Stampfer, Hermann Molkebuer, Lili Braun, Kurt Eisner, Eduard David. Den Revisionismus in der Philosophie und Politik ergänzten sie auf dem Gebiet der Literatur, auf beiden Feldern durch platte Annahme des zeitgenössisch Bürgerlichen, insbesondere des Naturalismus. Und darum ging es, gerade auch angestoßen durch Mehrings Naturalismus-Kritik, auf dem Parteitag 1896. Mehring stritt leidenschaftlich gegen den Naturalismus. In dessen oberflächlicher, ungeschminkter Wiedergabe der Wirklichkeit sah er den Verlust des Künstlerischen. Er kämpfte gegen den nihilistischen Umgang des Naturalismus mit den künstlertischen Mitteln und es empörte ihn, dass der Naturalismus das Volk "als Lumpenproletariat im Bordell und in der Schnapskneipe zeige." (5) Der Naturalismus wolle unter dem "Schmutz" des Alltags die herkömmlichen "ewigen" Werte aufstöbern. Sozial die Fassade, Bürgerlich das Wesen. Dieser Naturalismus sei ein Widerschein, den die immer mächtiger werdende Arbeiterklasse in die Kunst werfe.

Im Naturalismus, denke ich, könnte man den Einbruch des Positivismus in die Literatur sehen.

Aber das war nur einer der Kampfplätze Mehrings. Da gab es die Arbeit zu Lessing - in Wahrheit mittels dieser eine gründliche Widerlegung der preußisch-reaktionäre Friedericus-Legende. Zu nennen wäre weiter seine Schiller Biografie, seine "Ästhetischen Streifzüge", vor allem aber die große Anzahl von Rezensionen oder Aufsätze zur Literatur, nicht nur der deutschen.

Lassen sich ein paar den Weg markierende Steine in diesem Werk ausmachen?

Theoretisch fußt Mehrings Werk auf der Überzeugung, dass sich in der Geschichte der Klassenkämpfe zum Untergang Verurteiltes und Fortschrittliches, Kräfte der Verwesung und solche der Genesung gegenüberstanden und - stehen, es um Kontinuität und Bruch gehe.

Und er sah beides als gegenwärtig wirkend: Das zur Genesung Taugliche in Gestalt der Klassik, das Verwesende im Aufkommen solcher bürgerlicher Ideologie und Kunst, für welche die Klassik allenfalls Ornament war, die sich aber ansonsten dem bereits kritisierten Naturalismus in die Arme warf.

In dieser Kontinuität, durchaus geprägt vom Klassencharakter auch der Überbau-Erscheinungen, nicht nur der Philosophie, auch der Kunst, der Literatur, bildet sich ein Strang des Humanismus, von Homer, der Antigone und der Oresteia über die "Göttliche Komödie" und den "Decamerone" bis hin zur Klassik. Und stets war ein solcher Sprung in der Entwicklung humanistischer Kultur mit derm Auftreten neuer Klassenkräfte verbunden.

Nestle und Thompson zeigten das am Beispiel des Entstehens der Philosophie im alten Griechenland. Und war es denn anders im Hochfeudalismus, als die prägenden sozialen Kräfte nicht nur große steinerne Dome, sondern auch große literarische Dome in Gestalt großartiger Epen schufen? Oder in der Renaissance, von der Klassik gar nicht zu reden, die doch im gleichen Atemzug wie die alt-griechisch Kultur-Revolution zu nennen wäre. Aber, und da wären wir dann bei der Arbeiterklasse und ihrer Bewegung: Was hat sich auf ihrem Boden, im Zusammenhang mit ihr alles herausgebildet? Ich nenne nur einige Namen: Marx und Engels, Lenin und Rosa Luxemburg, Gramsci und und und. Wie groß war der kulturelle Umbruch, den die Oktober-Revolution einleitete. Ich wollte einmal ein Buch herausbringen, nur Positionen der großen Maler des 20. Jahrhunderts enthaltend, wie standen sie zur Oktoberrevolution. Marc Chagalls "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" wäre das Bild auf dem Einband gewesen. Oder die großen Schriftsteller? Und das brach dann mit den Moskauer Prozessen ab. Wo stünden nicht nur wir heute ohne diesen furchtbaren Aderlass und Bruch?

Im Geschichtsprozess reicherte sich der humanistische Grundstrom an, brachte er Zukünftiges zuwege. Deshalb aber ist es auch nötig, sich bei Bewertungen und Orientierungen stets an jene Klasse zu halten, die den Fortschritt über das Bestehende hinaus erstrebt, die dafür kämpft, darum Beiträge zu jenem Strom des Humanismus leistet. In deren Schaffen solche Werke entstehen, die auch uns heute Lebenden das Miterleben, Mitleiden und Mitkämpfen ermöglichen. Die "Emilia Galotti" und "Kabale und Liebe" zieht er - Mehring - Werken vor, die den Widerstand gegen Unrecht scheuen, wie etwa Hebbels "Maria Magdalena". Das sei die Grundlage jener Parteilichkeit, von der keine Literatur, kein Schriftsteller frei sei. Sie lebten in ihrer Zeit, seien durch diese geprägt. Das rechtfertige nicht nur, sondern verlange nach Tendenz in der Literatur. Nicht diese sei zu bekämpfen, wohl aber, wenn sie sich in unkünstlerischer, primitiver Form ausdrücke. Maos Wort, Kunst müsse zwei Kriterien genügen, einem ideologisch-politischen und einem künstlerisch-ästhetischen, das finden wir in solcher Verteidigung der Tendenz in der Kunst, sofern diese mit künstlerischen Mitteln ausgedrückt werde, durch Mehring.

Das ist dann auch das Merkmal nötiger Wahrheit, der Verpflichtung solcher Literatur zur historischen Wahrheit. Auf diesem Feld fand Mehring genügend aktuell wirkende Feinde, und er, der große Polemiker, hat sich dieser Feinde stets mit Leidenschaft angenommen.

Mehring war jedoch überzeugt, dass unter den jetzigen kapitalistischen Verhältnissen keine große bürgerliche Literatur mehr möglich sei, die Arbeiterklasse diese aber vor der Erringung der Macht noch nicht schaffen könne. Darum wohl fand er zu keinem richtigen Verhältnis zu Fontane, und die Gebrüder Mann beachtete er ganz und gar nicht. "Es ist sinnlos, den modernen Proletariern Rückständigkeit oder dergleichen vorzuwerfen, weil sie an unsere klassische Literatur, einer Literatur des Aufsteigenden, größeren Geschmack finden als am modernen Naturalismus, einer Literatur der Absteigenden.Es heißt eben auch hier: Unter den Waffen schweigen die Musen.

Mit anderen Worten: Wenn die absteigende Bürgerklasse keine große Kunst mehr schaffen kann, so kann die aufsteigende Arbeiterklasse noch keine große Kunst schaffen, mag auch immer in den Tiefen ihrer Seele eine heiße Sehnsucht nach der Kunst leben." (6) Obgleich Mehring für die Herausbildung einer proletarischen Literatur unter kapitalistischen Bedingungen große Schwierigkeiten sah, nahm er dennoch Anteil an sich auch schon zu seiner Zeit herausbildende Formen proletarischer Kunst, in ihr nehme man den Herzschlag der Arbeiterklasse wahr.

Freilich steht dem entgegen, dass beispielsweise zusammen mit Lenin sowohl der große nicht-proletarische Autor Tolstoi und der große proletarische Dichter Maxim Gorki wirkten und Lenin zum einen Aufsätze schrieb und mit dem anderen sogar in einer keineswegs konfliktfeien Freundschaft verbunden war.

Mehring konnte noch nicht wissen, dass sich auf dem Boden der Arbeiterklasse, der Arbeiterbewegung das Wirken der Becher und Bredel, Brecht und Seghers, Andersen Nexö und Peter Weiss oder Eislers und Dessaus, um nur sie zu nennen, entfalten würde.

Mehring geht dem Vorurteil zu Leibe, dass Kunst eine autonome Rolle spiele, es "reine Kunst" gebe. Orientierte er sich zunächst noch an den ästhetischen Auffassungen von Kant und Schiller, sein Übergang auf die materialistische Geschichtsauffassung hat diesen Zusammenhang insoweit aufrecht erhalten, als er nun diesen Materialismus mit der Hochachtung vor der klassischen bürgerlichen Kultur verbinden, sich um die Rettung dieses Erbes bemühen konnte. Die klassische bürgerliche Literatur war Bestandteil der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, deren Pflege ihm als Weg sah, an eine entstehende proletarische Literatur heranzuführen. Hier wirkt jene Anthropologie, die sich in dem berühmten Auspruch Marxens ausdrückt, es seien alle Bedingungen umzuwerfen, in denen der Mensch ein versklavtes, niedergedrücktes Wesen sei. Mehring wusste und schrieb es, dass die geschichtliche Wirkung der Kunst und des Kunstgeschmacks im innigsten Zusammenhang und der Wechselwirkung mit der historischen Entwicklung der anderen menschlichen Vermögen bestehen. Dass der Produktionsweise des materiellen Lebens die künstlerische Produktionsweise zugrunde liege. Die Dichter wandelten nicht über den Wolken, lebten vielmehr in den Widersprüchen und Klassenkämpfen ihres Volkes und ihrer Zeit.

Aber er stritt auch gegen die Ästhetik Kants. Und in gewissem Sinne, trotz seiner Hochschätzung für Schiller, gegen dessen Hoffnung, die Befreiung der Menschen durch die Kunst erreichen zu können. "Unsere Wege und unsere Ziele sind andere geworden, und wir wissen wohl, dass wir nicht auf ästhetischen Wegen die politische und soziale Freiheit erreichen werden." (7)


Die linksradikale Wende

Mehring fand Mitstreiter etwa in Karl Kautsky (damals), Clara Zetkin , August Thalheimer, und seine Arbeit sollte bis in die ersten Jahre der Weimarer Republik hinein durch die Kulturarbeit der KPD fortgesetzt werden.

Aber ebenso, wie es in der KPD unter damaligen Bedingungen zur Herausbildung einer linksradikalen Tendenz kam, so auch in der nun betriebenen Auseinandersetzung mit der Kunst. Denn wenn man davon ausging, dass es nicht bei der niedergeschlagenen Revolution bleiben, sondern der nächste historische Akt die proletarische Revolution, die Schaffung eines Räte-Deutschlands sein werde, so bestimmte das auch den Umgang mit der Weimarter Republik - die mit dem Hakenkreuz am Stahlhelm entstanden war - mit der nun staatstragenden Sozialdemokratie. Das alles stand der kommenden Revolution im Weg und damit war auch alles, was auch nur bürgerlich roch, dem Orkus anzuvertrauen. Zumal Ebert zur Eröffnung der Weimarer Nationalversammlung den Geist Goethes missbräuchlich beschwor, so, als würde auf dem Grund der zerschossenen November-Revolution nun die Utopie des sterbenden Faust in Gestalt der Weimarer Republik realisiert werden. Das hat damals heftige Reaktionen der KPD in ihrem Zentralorgan, der "Roten Fahne" ausgelöst. Nicht nur das, Max Hermann-Neiße veröffentlichte eine Arbeit zum Thema "Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat."

Bürgerliche Literatur ziele auf Verewigung des Bestehenden. Hat das, was als verehrungswürdig angesehen wird, Wert für die Arbeiterklasse? Ist dies nicht in Wahrheit Mittel zur Bindung der Arbeiterklasse an die Bourgeoisie? Es war die auf das Gebiet der Literatur übertragene Konzeption des Linkskommunismus von der strikten Gegenüberstellung von Klasse gegen Klasse; hier gehe es nicht um Vermittlung, sondern um klare Trennung. Was nicht für uns ist, ist wider uns, was nicht für das Proletariat Partei ergreift, ist abzulehnen. Und davon ausgehend stellte Max Hermann Neiße einen Kanon abzulehnender Literatur auf, in dem sich solche Autoren befanden wie Villon, Swift, Rabelais, Büchner, Zola, Upton Sinclair. (8) Und es gab damals eine Reihe bedeutender Künstler wie Georg Grosz, John Haertfield, die ihm zustimmten. Proletarische Inhalte bedürften auch proletarischer Formen, deshalb sei die Übernahme tradierten bürgerlicher Formen opportunistisch.

Es war dies der von Lenin in seiner bekannten Schrift kritisierte Linksradikalismus auf dem Gebiet der Literaturpolitik. Man hätte von Lenin auch auf diesem Feld lernen können. Auch er war zu dieser Zeit noch davon überzeugt, dass es einen neuen Aufschwung der Revolution geben werde und gerade darum forderte er nicht die Verwerfung tradierten Kampf- und Organisationsformen, sie seien Brücken zu den Massen und darum unbedingt aufrecht zu erhalten. Analoge Lehren hätte man auch für die Kunst ziehen können.

Solche linksradikale Konzeptionen prägten das Literaturverständnis der kommunistisch orientierten Kräfte damals. Jetzt möchte ich einige der Blüten zeigen, die auf solchem Boden gewachsen sind.

Wichtig ist, dass ein großer Teil der Diskussionen während einer gewissen Periode zu ausgesprochen nihilistischen Wertungen kam. Unter den Diskutanten befand sich keine einzige Arbeiterin, kein Arbeiter. Es waren oft Autoren bürgerliche Herkunft, und in ihrem Urteil waren sie womöglich noch entschiedener feindlich gegen die überkommene bürgerliche Kultur als die Kritiker aus den Reihen der KPD. Natürlich ergab sich das schon aus dem Umstand, dass zunächst aus dem Bildungsgut der Klassik heraus geurteilt wurde und sich sog. normale Menschen da nicht sicher genug fühlen. Die Bilderstürmer, sie kamen und kommen in der Regel nicht aus dem einfachen Volk, das war schon zu Luthers Zeiten so. Und als im Jahre 68 die Frankfurter Studenten auf ihrem Marsch in die Institutionen des Systems erst einmal vom Ludergeruch der Revolution schnuppern wollten, da meinten sie, man müsse den Namen Johann Wolfgang Goethe der Frankfurter Universität entziehen und sie auf Rosa Luxemburgs Namen taufen - na, die hätte den jungen Wilden ganz ordentlich den Marsch geblasen! Aber wir werden sehen, dass das gar nichts Ungewöhnliches war.

Ich will nur einige der Themen und Positionen benennen, um die der Streit ging. Und nicht alle von jenen, die sich an der Debatte beteiligten, darunter recht Berühmte, Kisch und Kurella, Wittvogel, Brecht und Gorki usw. usf. haben sich mit Ruhm bekleckert. Aber sich doch dann auch von beschämenden Positionen abgewandt. Und das geschah aus politischen (!) Gründen. Man konnte doch keine politische antifaschistische Volksfront bilden, nicht mit Bürgern gegen die Nazis zusammengehen, wenn man die Kunst und Kultur des Bürgertums nur einfach pauschal negierte. Man konnte doch nicht gemäß ultralinkem Gehabe Goethe einen kleinbürgerlichen Spießer nennen. Solche Worte kamen beispielsweise von Egon Erwin Kisch.

Berta Lask meinte, bezogen auf Stendhal, Dostojewski, Tolstoi, Rilke, Werfel, Trakl die bürgerliche Kunst diene doch nur der Ablenkung. (9) Friedrich Wolf schrieb: "Gebt den Jungen Arbeit und Brot, Atemraum und ein eigenes Bett. Aber lasst sie mit der Iphigenie und den Wilhelm Tell in Ruhe, die heute für den Jungarbeiter nichts anderes sind als Dunst, Opium und Phrase." (10) Bei unserem Tempo werden Goethe, Beethoven und andere in 500 Jahren keine Rolle mehr spielen. Kisch nannte Goethe einen geschraubten Prosaschriftsteller, einen oft schwache Dramatiker, einen mittelmäßigen Gelehrten, einen mustergültigen Untertan, einen kriecherischen Fürstendiener und eigensüchtigen, neidischen Menschen." (11) Fehlte da noch etwas?

Oder nehmen wir Brecht: Gefragt, wie man es mit dem klassischen Repertoire halten solle, antwortete er: Man kann nicht mehr wagen, es "in seiner alten Form erwachsenen Zeitungslesern anzubieten. Wirklich brauchen kann man nur den Stoff." Manche Stücke seien geradezu ungenießbar. Er sprach sich dagegen aus, mit solchem "schrecklichen Gerümpel" wie Kunstformen abzuarbeiten, und zum Gerümpel zählte er Hebbels "Herodes und Marianne"; Schillers "Wallenstein" und Goethes "Faust". Er verglich sein Traditionsverständnis mit dem der Vandalen, für die altrömische Kunstwerke nur als Brennholz getaugt hätten. (12) Oder man nehme diese Bewertung Thomas Manns zur Kenntnis: Da ist bei Alfred Kurella die Rede von der Dekadenz des Thomas Mann. "Das ist Geist vom Geiste der Henker Deutschlands. Das verkennen heißt nichts vom Wesen des Faschismus und von der Notwendigkeit des kompromisslosen Kampfes gegen ihn verstanden zu haben." (13) Der große Maxim Gorki fand in solchem Erbe nicht nur Honig, sondern auch Gift. Und Becher schrieb: "Nieder mit der Kunst! Denn mit Büchern und Bildern ist diese Welt vergiftet. Wie verspotte ich dieses wertlose Gerümpel. O wartet nur einen Augenblick noch. Schon züngele ich um Galerien und Museen. Die Fackel loht. Nieder mit den Akademien! Nun bekenne ich mich offen zum Aufruhr." (14) Ich könnte noch erheblich mehr solcher Zeugnisse anführen.

Ich möchte mit ihnen nur zeigen, dass, wer über die Kunstdiskussion heute reden will, der muss über die Kunstdiskussion überhaupt in der sozialistisch-kommunistischen Arbeiterbewegung diskutieren! Man sah im Konstruktivismus, Dadaismus, Expressionismus, Futurismus, Kubismus Ausgeburten des Chaos. Keineswegs die Zerstörer der Zerstörung am Werk, sondern den Versuch, durch solche Art Kunst die Massen an der Erkenntnis der Realität zu hindern. Darauf komme es an, diese Zerstörer zu zertrümmern.

Aber wenn ja, mit welchen künstlerischen Formen und Mitteln? In den Auseinandersetzungen kommunistischer Schriftsteller und Kulturpolitiker mit der überkommenen bürgerlichen Kunst ging es um den Versuch, ihr eine konsequente Alternative entgegen zu stellen, die überkommenen ästhetischen Normen zu überwinden, dies durch die Betonung der Priorität des Inhalts vor der Form zu erreichen, zugleich aber in der Ablehnung der Formexperimente sich gegen die bürgerlich Avantgarde zu stellen. Worin aber besteht dann die neue, die proletarische Methode? Im proletarischen Massendrama? In den Gestalten der Stendhal, Tolstoi, Dostojewski, Rilke, Werfel, Trakl und des jungen Becher habe die bürgerlich Literatur die Kunst der Seelenentwicklung der Individuen hoch entwickelt, diene aber damit in gefährlicher Weise der Ablenkung vom Klassenbewusstsein, vom Klassenkampf, vom kollektiven Denken und Handeln, bewirke die Vergiftung mit bürgerlicher, individualistischer Ideologie. Dem müsse nicht durch eine gleiche Individualisierung der Proletarier, sondern durch Massenaufführungen und Massendrama entgegen gewirkt werden. Erst nach der Revolution könne man sich auch daran machen, individuelle und psychologische charakterisierende Literatur zu schaffen. Ein zweiter Strang wurde in der dokumentierenden Literatur gesehen, die im Werk Kischs dieser bürgerlich-individualistischen Kultur entgegen wirke.


Die Volksfront-Periode

Wie kam es zur Überwindung dieses Linksradikalismus in der Kunstdiskussion der Kommunisten? Es bedurfte einer historischen Katastrophe. Es kam nicht zur neuen Proletarischen Revolution, sondern zum Sieg des Faschismus. Und der machte den Kommunisten klar, dass die bürgerliche Republik in ihrer Todesphase gegen den anstürmenden Faschismus zu verteidigen sogar um der Aufrechterhaltung der eigenen legalen Arbeitsmöglichkeiten bitter notwendig gewesen wäre. Mühsam und opferreich war der Weg zum VII. Weltkongress der Komintern, zur Erarbeitung einer Politik der antifaschistischen Volksfront, also des Zusammengehens auch mit den bürgerlichen Antifaschisten. Es lässt sich diese Wendung wohl am kürzesten darstellen mit den Worten Dimitroffs in der "Prawda": Die Kommunisten müssten Vorhut sein in der Vollendung der unvollendet gebliebenen bürgerlichen Revolution, vorangehen im Kampf um den Fortschritt. 15 Es stellte sich bald heraus, dass es da doch wichtige und wertvolle Bündnispartner gebe, dass man Thomas Mann eben doch wohl anders bewerten müsse, als dies Kurella getan hatte. Die Politik prügelte die Kommunisten dazu, sich wirklich vom Linksradikalismus zu befreien. Und bis in Jahr 1937 hinein, bis zu den Moskauer Prozessen, hatte sich um diese Volksfront, in deren Zentrum die Kommunisten wirkten, solche Meister der Kultur versammelt wie Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, André Gide, Romain Rolland und H. G. Wells. Der würdige Konservative , Thomas Mann, ging in seinem "Dr. Faustus" so weit, Serenus Zeitblohm sagen zu lassen, die Rettung der Kultur könne nur noch vom Sozialismus kommen. Und der Preußen-Prinz Luis Ferdinand vertraute im KZ Dachau dem holländischen Kommunisten Nico Rost an, er hoffe, dass die Rote Armee bald in Berlin sei, denn die Bolschewiken hätten die Zarenschlösser nicht zerstört, aber die Nazis würdn's wohl tun. Und tatsächlich schickte die Rote Armee ein Vorkommando nach Sanssouci, es vor der Zerstörung zu bewahren. Die Erwartung, in den Beschlüssen des VII. Weltkongresses der Komintern ausgesprochen, die Volksfront könne bis ins bürgerliche Lager hinein ausstrahlen und Kräften auch in diesem Lager die Bereitschaft wecken, zusammen mit den Kommunisten den Weg in den Sozialismus zu beschreiten, war keine Illusion. Dass hier fürchterliche Einbrüche erfolgten, war eines der Ergebnisse der Moskauer Prozesse - an deren Folgen wir noch heute zu leiden haben - und dann einer erneuten Hinwendung zum Linksradikalismus um die Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts wegen der sog. Tito-Affäre!

Damals verloren wir viele jener Bundesgenossen, die sich in der Volksfront-Periode angeschlossen hatten.


Zurück zum VII. Weltkongress!

Mit ihm traten völlig neue Fragen in den Vordergrund der Debatten. Gefragt wurde, wie schon bei Mehring undPlechanow: Wie ist das Verhältnis der Arbeiterbewegung zum klassischen Erbe? Wie verhalten sich Kontinuität und Bruch? Gibt es über die Zeit hinausweisende Momente und wenn ja, welche sind das? Wie ist das Verhältnis von historischer Wahrheit und Parteinahme für die aufsteigende Klasse? Oder das Verhältnis zwischen Absterbendem und Zukunftsweisendem und woran kann man dies festmachen? Stimmt die These, das späte Bürgertum könne keine große Kunst mehr erzeugen? Oder ist es richtig, dass proletarische Kunst erst nach dem Sieg möglich sei? Kunst ist nach marxistischem Selbstverständnis "Überbau" zur Basis, aber wie ist sie das?

Doch wohl nicht als mechanische Spiegelung. Was hindert die Selbstfindung des Proletariats? Und was heißt Revolutionierung des Geistes, der Köpfe?

Nicht zuletzt ging es um die Frage, ob es inhaltliche und ästhetische Kriterien für diese Debatten oder für die Problematik von Inhalt und Form gebe? Was bedeutet Parteilichkeit der Ideologie, der Kunst, der Wissenschaft? Mein Gott, wie machen wir das mit Goethes "Faust" und dem Problem der Parteilichkeit?

Eine Frage von ganz anderer Art: Hat die Bourgeoisie in ihrer revolutionären Periode nicht doch auch die objektiven Interessen des Proletariats vertreten und kann man daraus Folgerungen ableiten? Darf man die Kunst umstandslos der Politik unterordnen? Wäre das nicht unhistorisch, also unmarxistisch? Ja, und wenn man sagt, wir sollten uns die Waffen der Literatur, der Kunst aus dem bürgerlichen Zeughaus holen und die bürgerliche Kunst überholen, müsste es da nicht einen für beide Kunstarten verbindenden Maßstab geben?

An diesen Debatten (sie fanden zunächst naturgemäß in der Emigration statt) waren sie alle beteiligt. Gerade einige, die sich zuvor bedenklich geäußert hatten, bemühten sich nun um die notwendigen neuen Orientierungen. Brecht, der diese Debatten, insbesondere mit Georg Lukacs geführt hatte, als teilweise gebranntes Kind besonders gut geeignet für die Eingriffe in bereits zu jener Zeit durch Shdanow inspirierte Formalismus-Diskussion.

Beethovens späte Streichquartette, Goethes "Faust" Teil II waren alles andere als im Shdanowchen Sinne volkstümlich. Und es ist eben kein Zufall, dass in der sowjetischen Brecht-Literatur, anders als in jener der DDR - ich nenne Mittenzwei und Ernst Schumacher - beispielsweise auf das Verhältnis Brechts zu Barlach nicht eingegangen wird. Dazu etwas später Einiges.

Doch noch einige Worte zu Shdanow, zur sowjetischen Kunst-Diskussion und deren Wirkung in die DDR hinein. Ich denke, es wären auch da verschiedene Seiten zu beachten. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der Sowjetunion bestand aus analphabetischen Bauern. Kunst kannten diese höchstens in Gestalt der oft kitschigen Kirchenausschmückung. Die modernen Kunstformen, sie waren in den großen Städten und dort eventuell bei kleineren Gebildeten-Schichten bekannt und akzeptiert. Ich habe Theologen in unserem Land kennen gelernt, die ihre theologischen Vorstellungen, obgleich nicht theologisch anfechtbar, nicht von der Kanzel herab kundtun durften, weil diese dem religiösen Fassungsvermögen der Gemeindemitglieder nicht angemessen waren. Das ist zwar kein Beispiel aus dem Kunstbereich, aber als Analogie durchaus verständlich. Damit will ich Shdanows Position nicht klug reden. Dass er - und das heißt ja wohl auch Stalin - meinten, man müsse auch die Kunst benutzen, um möglichst rasch die staatstragenden Vorstellungen im Volk bekannt zu machen und dass sie meinten, dazu bedürfe es einer bestimmten Kunstpraxis, das kann man ja noch nachempfinden. Zu deren Kennzeichnung benutze ich gern den Doppelpack der Begriffe Naturalismus und Positivismus. Darstellung durfte Kritik enthalten, sofern, und hier nun der Positivismus, mögliche Kritik auf jeden Fall mittels eines Bekenntnisses zum Sozialismus aufgehoben wurde. Das wurde dann sozialistischer Realismus geheißen. Nicht alle Künstler hielten sich an diese Vorgabe, man denke an Scholochows "Neuland unter dem Pflug" oder den "Stillen Don". Grigori Melechow kommt am Ende in sein Dorf zurück, er, der Kosak, der Mittelbauer, weiß nicht, wie man ihn empfangen wird, ob man ihn nicht vielleicht sogar erschießen werde. Scholochow lässt die Frage unbeantwortet. Und in der Musik haben sich Schostakowitsch und Prokofjew, von gelegentlichen Pflichtübungen abgesehen, nicht solcher Formen des sog. sozialistischen Realismus bedient.

Und für uns in Deutschland wäre doch das großartige Werk Hanns Eislers oder seines Mitstreiters auf dem Felde der Musik, Paul Dessau zu nennen. Haben sie nicht gezeigt, wie man die Mittel modernen Komponierens auch für das arbeitende Volk nutzbar machen kann? Hat nicht insbesondere Eisler durch solches moderne Komponieren das proletarische Liedgut erneuert? Das Problem war, engstirnige Orientierung an diesem sog. sozialistischen Realismus behinderte das doch auch nötige Experimentieren, Forschen, Ergründen künstlerischer Mittel - wie es analoge Hindernisse ja auch auf wissenschaftlichem, auf politischem Gebiet zum Schaden der gesellschaftlichen Entwicklung gab.

Vielleicht ist es - dies eine methodische Nebenbemerkung - hilfreich, sich anzuschauen, wie Marx und Engels das Mittel der Kritik, des Umgangs mit dem Tradierten behandelten. Als sie im "Kommunistischen Manifest" auf Varianten der Kapitalismus-Kritik zu sprechen kamen, verwiesen sie darauf, dass es einen qualitativen Unterschied ausmacht, ob man den Kapitalismus, wie sie die konservative Kapitalismus-Kritik,von der Vergangenheit her betreibt, oder wie sozialistische Kritik es unternimmt, indem sie den Kapitalismus aus der Perspektive der Zukunft der Gesellschaft beurteilt. Das gilt übrigens - so nebenbei sei es angemerkt - auch für die Art und Weise, wie man Sozialismus-Kritik üben kann (und soll!): Vom Boden der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Bedingungen, ihrer Demokratie aus ist sie reaktionär, jedoch unter dem Gesichtspunkt dessen, was der Sozialismus versprach und hätte einhalten können, ist sie progressiv. Und auch in Bezug auf die bürgerliche Kultur sollten wir es so halten. Vom Boden jener Kräfte aus, die hinter die Aufklärung zurück wollen, diese etwa mittels einer angeblichen Wertegemeinschaft aushebeln wollen, ist sie reaktionär, aber unter dem Gesichtsunkt der Rettung der Menschheit vor der Katastrophe ist das Bündnis mit humanistisch geprägter bürgerlicher Gegenwartskultur eine notwendige humanistische Alternative.

Auseinandersetzungen um Formalismus und Realismus Einwirkungen auf der Grundlage der Shdanowschen Bestimmung des sozialistischen Realismus gab es dann auch in die DDR hinein. Es spiegelte sich dies in einer Brecht Debatte zum Werk Barlachs wider. Der Eindruck, die Debatte sei allein oder gar erst durch Brechts Intervention ausgelöst worden, ist unzutreffend, denn die Barlach-Ausstellung, auf die sich Brechts Intervention bezog, wurde ja vor diesem Eingriff geplant, vorbereitet, durchgeführt und leitete einen neuen Umgang mit dem ein, was man Formalismus geschimpft hatte.


Worum ging es?

Vom Dezember 1951 bis zum Februar 1952 fand in Berlin eine große viel beachtete Barlachausstellung der Akademie der Künste der DDR statt. Wohl unter dem Einfluss damaliger sowjetischer Kulturpolitik gab es dazu zunächst in der Zeitung der Sowjetischen Militärverwaltung, "Tägliche Rundschau" und dann auch im Zentralorgan der SED "Neues Deutschland" Kritik an der Ausstellung und an Barlachs Werk.

Haben wir da nicht diese Gleichung Braun gleich Rot und umgekehrt? Die Nazis waren gegen Barlach, die DDR ebenso. Brecht ärgerte die Barlach-Kritik und wies sie in seinem Arbeitsjournal zurück. Dann aber veröffentlichte er seine Bemerkungen im Heft 1/1952 der Zeitschrift "Sinn und Form". Er wandte sich gegen den ungeduldigen und eifernden Ton, war besorgt, dass die wenigen verbliebenen Künstler in Lethargie geworfen würden. "Ich halte Barlach für einen der größten Bildhauer, die wir Deutschen gehabt haben. Der Wurf, die Bedeutung der Aussage, das handwerkliche Ingenium, Schönheit ohne Beschönigung, Größe ohne Gerecktheit, Harmonie ohne Glätte, Lebenskraft ohne Brutalität machen Barlachs Plastiken zu Meisterwerken."

Und es sollte schon zu denken geben, dass der volle Brecht-Text zeitgleich in der "Berliner Zeitung" erschien, also nicht nur dem kleinen Kreis der künstlerisch Interessierten zugänglich war.

In der DDR kam es nach einer zunächst von Ratlosigkeit und Zurückhaltung geprägten Phase es zu einer durchgreifenden Veränderung. Barlach wurde für viele Künstler der DDR zum Orientierungspunkt. Man hatte im Land als erste und zwar in der Güstrower Gertrudenkappelle Barlach-Erinnerungen veröffentlicht und wurde im Jahre 1976 die "Ernst-Barlach-Gedenkstätte der DDR" geschaffen. Franz Fühmann schrieb eine Erzählung zu Barlach, die der DEFA als Vorlage zu einem Film diente.

Die Frage nach dem zunächst reservierten Umgang der DDR mit Barlachs Werk lässt sich nicht beantworten, ohne auf die langfristige Diskussion zur Kunst einzugehen, die sich, ausgehend von Shdanow und das heißt ja wohl: von Stalin im Umgang mit Kunst ereignete. Hatte sich bis dahin die Formalismus-Diskussion in der Hauptsache auf abstrakte Kunst und den Expressionismus bezogen, so griff sie nunmehr auch in das Schaffen eines so gegenständlich arbeitenden Künstlers wie Barlach - oder Willi Sitte, René Grätz und anderer - ein. Vor diesem Hintergrund muss man die Einsprüche sehen, die ein als Person und Künstler so völlig von Barlach verschiedenen Mann wie Brecht zum Handeln bewogen. Er fürchtete, eine Ästhetik, die sich nur orientiere an großen positiven Beispielen, nehme den Künstlern die Möglichkeit zu differenzierten und differenzierendem Arbeiten. Aber gerade diese zu verteidigen sei in der schwierigen nationalen und internationalen Situation wichtig, man müsse aus dem Dualismus von politischen Forderungen und künstlerischer Praxis herausfinden.

Ich habe nicht ohne Grund etwas mehr zu Brecht und Barlach gesagt, denn die Art, wie der späte Brecht sich zu etwa zehn Werken Barlachs äußerte, ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie man an die Aufgabe herangehen könnte, das Klassenauge des Proletariats - wie es Edwin Hörnle formulierte - zu schulen. Denn von selbst schult es sich ja nicht! Auch dazu sind Lehrerinnen und Lehrer, ist Anschauungsmaterial nötig. Ich könnte mir vorstellen, wir sollten uns umsehen, wo wir solches Lehrmaterial harnziehen können. Ich möchte da vor allem nennen "Die Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss. Die Auseinandersetzung mit dem Pergamon-Altar, das ist geradezu ein Lehrstück der Schulung des Klassenauges. Oder die kunstanalytischen Arbeiten von Hans Heinz Holz.

Kann man aus diesem gedrängten Überblick über Kunst- und Literatur-Debatten von Kommunisten, von Marxisten Schlüsse ableiten?

Thomas Metscher hat zu Problemen der Kunstproduktion heute und des - im Hegel'schen Sinne - Aufhebens solcher Produktion gesprochen. Ich denke, aus der Geschichte der Kunst- und Literatur-Debatten unter und von Marxisten sind auch für das Heute Lehren zu ziehen. Hat es sich nicht gezeigt, dass solche Debatten immer mit Politik zusammenhingen? Um solche Zusammenhänge geht es doch auch heute, Thomas hat es gezeigt. Folgt daraus, dass die Politik, die Politiker die Finger von der Kunst lassen sollen? Aber haben nicht Mehring und Plechanow, - um nur sie zu nennen - auf unvermeidliche Zusammenhänge zwischen Klassen und Klassenkämpfen, nicht nur solchen auf politischem und ideologischem, sondern auch künstlerischem Gebiete hingewiesen? Soll das nun zugunsten eines l'art pou l'art-Standpunkt zurück genommen werden? Ich denke, es geht um die Art und Weise, wie Politik hier zu wirken imstande sein könnte. Es hat sich gezeigt, dass es der Kunst nicht gut bekommt, wenn sie den politischen Orientierungen des Strategisch-Taktisches und seiner häufig nötigen die häufigen Zickzack-Wendungen unterworfen wird. Politische Führungen sind nicht die richtigen Gremien, um über Kunst zu entscheiden, sie haben andere Aufgaben.

Über Kunst und Künstler sollen - soweit es um Marxisten geht - urteilen, die davon Fach- und Sachkenntnisse haben. Und es sollte dabei das humanistische Gipfelgespräch der großen Künstler beachtet werden, das sich durch die Jahrhunderte hindurch zieht und auch uns im Urteil helfen sollte.

Theoretisch formuliert: Auch hier ging und geht es um Orientierung an materialistischer Dialektik.


Robert Steigerwald, Dr. sc. Eschborn, MB-Redaktion


Anmerkungen:

(1) Michael Schwarze, Proletarische Partei und bürgerliches Erbe. Studien zur Geschichte und Theorie des literarischen Erbes in der Volksfrontstrategie der KPD, 1973

(2) vom 11. Bis 16. Oktober 1896

(3) Rosa Luxemburg in einem Brief an Franz Mehring am 27, 2. 1916

(4) W. I. Lenin, Die Aufgaben der Jugendverbände, AW in sechs Bänden, Band 5/679 ff

(5) Franz Mehring, Goethes "Egmont", in: Franz Mehring, G.S. 19/58

(6) ders. In Die Neue Zeit, 28, 1, 1909/10, S. 687

(7) Mehring gesammelte Schriften, Band 11, S. 224 f

(8) Max Hermann Neiße, Lukacs' Liste großer Vertreter enthielt degegen Fielding, Goethe, Balcac, Tolsoi. Ihnen stellte er abzulehnende Autoren der antigestalterischen Art entgegen: Zola, Sue, Flaubert, Hugo, die über den Expressionisus, die Neue Sachlichkeit bis zu Sinclair zu Brecht weiterführe.

(9) Berta Lask, Über die Aufgaben der revolutionären Dichtung, zuletzt in: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten, 133 10 Friedrich Wolf, Kunst ist Waffe, Zuletzt in: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland, S. 48

(11) Egon Erwin Kisch, Westfront - Französische Revolution - Goethe, zuletzt in Kisch, Gesammelte Werke, Berlin und Weimar 1972, S, 551

(12) Bertold Brecht, Wie soll man heute Klassiker spielen?, in: Brecht, Gesammelte Werke, Band 7, S. 111 Brecht: Stirbt das Drama?, ebenda, S. 104, "Materialwert, ebenda, S. 106,

(13) Alfred Kurella, Die Dekadenz Thomas Manns, in: Internationale Literatur 2/1934, S.158

(14) J. R. Becher: "Um Gott", Leipzig 1921, S. 263

(15) G. Dimitroff in der "Prawda" vom 07.11.1936


*


Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-10, 48. Jahrgang, S. 98-103
URL des Vortrages:
www.neue-impulse-verlag.de/mbl/artikel/310/568/arbeiterbewegung-und-bürgerlich-humanistisches-erbe.html
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Tel.: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: Redaktion@Marxistische-Blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de

Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 8,50 Euro, Jahresabonnement 45,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2010