Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

MARXISTISCHE BLÄTTER/479: Für einen Deutsch-Chinesischen Gewerkschaftsdialog - 20 Thesen


Marxistische Blätter Heft 1-11

Für einen Deutsch-Chinesischen Gewerkschaftsdialog - 20 Thesen

Von Rolf Geffken


1. Das chinesische Wirtschaftswachstum hat zu einer kontinuierlichen Vergrößerung der Einkommensdisparitäten und zu einer Verschärfung betrieblicher und sozialer Konflikte geführt.

2. Die Zunahme der sozialen und betrieblichen Konflikte hat bislang nicht zu einem Funktionswandel der chinesischen Gewerkschaften geführt. Im Gegenteil: Da die Gründung freier Gewerkschaften nach wie vor rechtlich unterbunden ist und ein Streikrecht nicht existiert, entwickeln sich die zahlreichen unterschiedlichen kollektiven Protestformen in den Betrieben in einer rechtlichen und politischen Grauzone, die sich neben den Gewerkschaften und nicht innerhalb der Gewerkschaften entfaltet. Dies beeinträchtigt letztlich auch die Befriedung von Konflikten im Interesse der Unternehmen: Ihnen fehlen die Ansprechpartner. Die Organisatoren fürchten das chinesische Strafrecht. So treten immer mehr Streiks "kopflos" auf.

3. Nach wie vor sind die chinesischen Gewerkschaften eher Wohlfahrtsorganisationen. Ihr Selbstverständnis ist nach staatlicher Gesetzgebung wie auch nach innerorganisatorischer Satzung ausgerichtet auf den Vollzug des politischen Willens der Kommunistischen Partei und die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, also auch in den Unternehmen des privaten Kapitals.

4. Die fehlende Akzeptanz der chinesischen Gewerkschaften bei den chinesischen Arbeitern beruht nicht nur auf eigenen Erfahrungen, sondern insbesondere auch auf dem nach wie vor anzutreffenden Phänomen, dass immer noch in weiten Bereichen Unternehmensleitungen direkt mit den Gewerkschaften verbunden sind, zumal die Gewerkschaften in China betriebliche Gewerkschaften sind und in ihrer formalen Struktur eher mit deutschen Betriebsräten verglichen werden müssen.

5. Wenngleich durch entsprechende Gesetzesänderungen diese Art von struktureller Interessenkollision nunmehr auch in China quasi "illegal" ist, so sind dennoch nach wie vor viele Gewerkschafter selbst Manager. Dieser Umstand führt dazu, dass die ohnehin rechtlich domestizierten Gewerkschaften auch aufgrund ihrer innerorganisatorischen Struktur auf die Unternehmensinteressen und nicht auf die effektive Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer ausgerichtet sind.

6. Die Annahme, einen Manager als Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaft zu haben sei für die Arbeiter nützlich, widerspricht allen Erfahrungen der Gewerkschaftsgeschichte und auch den empirischen Verhältnissen in China: Solange die Gewerkschaften nicht authentisch das kollektive Handeln der Arbeiter vertreten oder widerspiegeln, sondern umgekehrt den Willen des Managements, der staatlichen Wirtschaftspolitik beziehungsweise der Partei (und dieses heißt vor allem: Der regionalen oder Provinz-Parteiorganisationen) durchsetzen, kann von einer gewerkschaftlichen Organisation im klassischen Sinne keine Rede sein.

7. Daran ändert auch nichts der unbestreitbare Wille der KP-Führung und der politischen Zentrale, mehr Effizienz in der Interessenvertretung durch die Gewerkschaften zu erreichen. Die Führung der Partei weiß sehr wohl um das massive politische Risiko ausufernder betrieblicher Konflikte: So ist die Zahl kollektiver Konflikte in China auch nach offizieller Statistik kontinuierlich angewachsen und hat schon im Jahre 2007 die stattliche Zahl von 100.000 Konflikten pro Jahr (gerechnet ab 300 Beteiligten!) erreicht. Angesichts dieser Situation war und ist es für die politische Zentrale von größtem Interesse gewesen, eine halbwegs effiziente Arbeitsgesetzgebung durchzusetzen, um den betroffenen Arbeitnehmern die individuelle Rechtsdurchsetzung als Alternative für kollektives Handeln aufzuzeigen. Gerade in diesem Bereich fällt den Gewerkschaften zwar eine besondere Funktion zu, jedoch ist das Individualarbeitsrecht kein Kollektivarbeitsrecht. Und die Rolle der Gewerkschaften kann sich nicht in einer individuellen Rechtsberatung erschöpfen.

8. Es kommt hinzu, dass die Gewerkschaften kurioser Weise bislang ihre Aufgabe der individuellen Rechtsberatung nur zum Teil gerecht werden. Immer noch werden in vielen Fällen nicht Gewerkschaften als Rechtsberater tätig, sondern Arbeiter, Anwälte, Professoren, sogar Verwaltungsbeamte oder Studenten.(1)

9. Tatsächlich steht diese mangelhafte Erfüllung einfacher gewerkschaftlicher Funktionen in deutlichem Gegensatz zu der ständig wachsenden Vielfalt unorganisierter kollektiver Konflikte: So schilderte der freie Publizist Zhong, dass in einer Vielzahl von Fällen auch in größeren Unternehmen illegale Streiks auf dem Wege der elektronischen Kommunikation vorbereitet, organisiert und durchgeführt wurden, ohne dass die betrieblichen Gewerkschaften in irgend einer Weise beteiligt wären.(2)

10. Solange die betrieblichen Gewerkschaften (nicht nur der gewerkschaftliche Dachverband!) von diesen Entwicklungen getrennt sind und sie diese nicht selbst in sich aufnehmen, können sie auch auf Dauer nicht zu gewerkschaftlichen Organisationen im klassischen Sinne werden. Erste Ansätze gibt es dort, wo die Ergebnisse kollektiven Handelns ihren Niederschlag in Kollektivverträgen finden, die dann nur von den betrieblichen Gewerkschaften abgeschlossen werden können. Dies ist aber nur ein formaler Zusammenhang und noch keine unmittelbare Widerspiegelung kollektiven Handelns in der gewerkschaftlichen Organisation.

11. Auch der Fall "Wal-Mart" beweist nichts anderes. Im Gegenteil: Die Installierung von Gewerkschaftsgruppen bei Wal-Mart erfolgte nicht etwa aufgrund von Initiativen der Belegschaft beziehungsweise von der betrieblichen Basis aus, sondern geschah aufgrund unmittelbarer Anordnung von Hu Jintao.(3)

12. Vor diesem Hintergrund repräsentieren die chinesischen Gewerkschaften eben nicht eine vermeintlich wachsende "Gegenmacht", sondern enthalten allenfalls die Möglichkeit einer Adaption kollektiver Handlungsformen. Es wird darauf ankommen, die Gewerkschaften in diesem Prozess aktiv zu unterstützen.

13. Unterstützung heißt in diesem Zusammenhang zunächst: Dialog auf breiter Grundlage. Erst durch einen Dialog mit allen Initiativen, Gruppen und Organisationen, die in China tatsächlich oder vorgeblich die Interessen abhängig Beschäftigter vertreten, kann eine Zusammenarbeit beziehungsweise eine aktive Unterstützung entstehen. Da in vielen Bereichen die Gewerkschaften nicht oder noch nicht die Interessen der abhängig Beschäftigten in China aktiv vertreten, muss sich der Dialog auch auf jene erstrecken, die nicht zum offiziellen Spektrum des AFCTU gehören.

14. Die für einen solchen Dialog zuständigen europäischen Gewerkschaften betreiben ihre bisherigen Kontakte weitgehend unkoordiniert, kaum strategisch, oft nur zufällig und vielfach halbherzig. Für die Deutschland besuchenden chinesischen Gewerkschaftsdelegationen gibt es kein klares Konzept. Erst recht gibt es kein Konzept für weitergehende Kontakte, Dialoge, Konferenzen und Beziehungen. Was für westliche Firmen seit jetzt über 30 Jahren (!) selbstverständlich ist: Die Pflege intensiver persönlicher Beziehungen (chinesisch: "Guanxi") und Kontakte nach und in China, ist für hiesige Gewerkschafter noch ein Fremdwort. Dies gilt auch für die unerlässliche Kontinuität - auch die personelle Kontinuität! - begonnener Projekte und Expertenarbeiten. Als im Jahre 2004 der Verfasser eine Auswertung der 1. Deutsch-Chinesischen Konferenz zum Arbeitsrecht vorgenommen und dazu vielfach publiziert hatte, erhielt er zwar ein Echo in der China-Literatur, und unter China-Experten, ja sogar unter Unternehmen, aber die hiesigen Gewerkschaften nahmen davon kaum Kenntnis.

15. Gerade bei gewerkschaftsnahen Projekten sind immer wieder Vereinzelung, Abkapselung und oft sogar bewusst unterlassene Vernetzung anzutreffen. Das Motto lautet dann etwa: "Ich will mein China. "Statt von den Erfahrungen anderer zu lernen und darauf aufzubauen oder möglichst die Träger dieser Erfahrung in eigene Projekte einzubauen - ein wichtiges Element auch zur Herstellung des in China besonders wichtigen persönlichen Vertrauens - macht man "lieber selbst auch einmal Erfahrungen", holt sich "blutige Nasen" und wacht eifersüchtig über das dem eigenen Kreis jeweils zugeteilte Budget. Der Verfasser hat dieses vielfach bei diversen Projekten beobachtet, wobei bestimmte Projektträger sogar offensichtlich jede Transparenz ihrer Arbeit abzulehnen scheinen (so zum Beispiel die Friedrich-Ebert-Stiftung).(4)

16. Am Anfang jeglicher weiterer China-Aktivitäten gewerkschaftsnaher Autoren, Publizisten und Experten sollte also vor allem eines stehen: Die Vernetzung aller existierenden Initiativen und Personen ohne jede Ausgrenzung. Ferner die Nutzung aller bestehenden Kontakte, Transparenz der jeweiligen Projekte und die Auswertung aller bisherigen Kontakte und Erfahrungen. Schließlich die zaghafte, aber notwendige Abstimmung für einen umfassenden Dialog mit den chinesischen Gewerkschaften und gewerkschaftsnahen beziehungsweise gewerkschaftlich orientierten Initiativen und Personen.

17. Ein solcher Dialog setzt zugleich die systematische Vorbereitung und Durchführung von Konferenzen vor Ort voraus, an denen vor allem auch Aktivisten oder für solche Aktivisten sprechende Publizisten und Experten auf chinesischer Seite teilnehmen sollten. Erst danach erscheinen koordinierte Besuche von chinesischer Seite zum Beispiel bei gewerkschaftsnahen Institutionen im europäischen Ausland sinnvoll.

18. Zugleich verlangt dies aber auch die Vermittlung wichtiger Grundkenntnisse der Ökonomie Chinas und Gewerkschaften Chinas in der hiesigen gewerkschaftlichen Bildungsarbeit! Hierzu existieren bis heute (!) so gut wie keine Angebote. Entsprechende Veranstaltungen sind meist rein zufällig und regional beschränkt. Der Rückstand gegenüber dem Vorsprung der Unternehmen könnte in diesem Bereich nicht größer sein. Mit anderen Worten: China muss in den Gewerkschaften zum Thema werden.

19. Im Dialog mit der chinesischen Seite muss andererseits berücksichtigt werden, dass die Praxis der deutschen Gewerkschaften sich erheblich von der zunehmenden Konflikt-Orientierung einer wachsenden Zahl chinesischer Arbeiter unterscheidet. Anders als die französischen Gewerkschaften sind die deutschen Gewerkschaften in der kollektiven Wahrnehmung ihrer Interessen eher defensiv und "wirtschaftsfriedlich". Anders als noch in den 60er und 70er Jahren entspricht das auf mächtigen Gewerkschaften basierende Modell der "Sozialpartnerschaft" inzwischen kaum noch dem offiziellen politischen Konsens. Der "Anspruch" deutscher Gewerkschaften gegenüber der chinesischen Wirklichkeit verblasst also vor dem Hintergrund der eigenen Praxis. Deutsche Gewerkschaften können auch von aktiven chinesischen Arbeitern lernen!

20. Deutsche und chinesische Gewerkschaften sollten sich zunächst der historischen Wurzeln der Gewerkschaften bewusst werden: Sie waren nie etwas anderes als das organisatorische Ergebnis der spontanen Kämpfe der Arbeiter. Sobald sie sich von diesen entfernen, erleiden sie deshalb auch in der Gegenwart einen Funktionsverlust.


Rolf Geffken, Dr., Hamburg, Institut ICOLAIR


Anmerkungen:

(1) Vgl. Geffken, Gewerkschaften in China, in: Arbeit und Recht 2005, S. 97

(2) http://www.labournet.de/internationales/cn/geffken_zhong.pdf

(3) Geffken, Chinese Unions and the limits of Wal-Mart's Anti-Unionsm, in: Education, Labour & Science, Frankfurt 2008. S. 405 ff.

(4) vgl. die Denkschrift "Der Lange Weg Chinas zum Recht" (Geffken/Bornemann), 2005, S. 33


*


Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-11, 49. Jahrgang, S. 98-100
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Tel.: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: redaktion@marxistische-blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de

Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 9,50 Euro, Jahresabonnement 48,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2011