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MARXISTISCHE BLÄTTER/512: Die Leidensgeschichte der Freiheit in Deutschland


Marxistische Blätter Heft 1-12

Die Leidensgeschichte der Freiheit in Deutschland

von Ludwig Elm


Auszug aus dem Editorial zum Heftschwerpunkt:

Strategien des deutschen Kapitals
Zur Erinnerung an Reinhard Opitz

Am 3. April 1986 verstarb der marxistische Sozialwissenschaftler und Faschismusforscher Reinhard Opitz. Die Marx-Engels-Stiftung und die VVN - Bund der Antifaschisten NRW haben Opitz' 25. Todestag zum Anlass genommen, in einer gemeinsamen Konferenz im November 2011 an sein Werk zu erinnern. [...]

Das Spektrum der von Opitz behandelten Themen umfasst die Themen der Linken: Demokratie, Frieden, Imperialismus, Faschismus. Sein Ansatz, den er selbstbewusst als "Demokratische Politikwissenschaft" bezeichnete, beruht darauf, den Inhalt der jeweiligen spezifischen Klasseninteressen erkennbar zu machen, die sich in politischen Erscheinungen ausdrücken. Anstatt sich mit der Unbestimmtheit einer "relativen Unabhängigkeit der Politik von der ökonomischen Basis" abzufinden, forderte Opitz, dieses Verhältnis exakt in seiner je konkreten Bestimmtheit zu verstehen. [...]

Auch 25 Jahre nach Opitz' Tod bleibt die Beschäftigung mit seinem Werk und die Aneignung seiner "Demokratischen Politikwissenschaft" ein wissenschaftlicher und politischer Schatz, der zu großen Teilen für die heutige marxistische Linke neu oder auch erneut zu heben ist. Für den in Kurt Heilers Referat dargestellten Anspruch von Opitz, seine theoretische Arbeit zum Werkzeug konkreter Politikentwicklung zu machen, gibt es angesichts staatlich geförderter neofaschistischer Terrorgruppen aktuellen Anlass.


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Die Leidensgeschichte der Freiheit in Deutschland

von Ludwig Elm


Der Beitrag berührt Themenfelder von Reinhard Opitz, zu denen er Wesentliches und weiterhin äußerst Lesenswertes erarbeitet, vorgetragen und publiziert hat. Die Ausführungen sind zugleich an eigenen Arbeitsgebieten sowie an aktuellen Herausforderungen orientiert. Sie betreffen den Konservatismus wie den historischen Liberalismus, der bis heute insgesamt eine zu geringe Berücksichtigung in linken Analysen und Darstellungen findet. Es wirkt wohl nach, dass er in der kommunistischen Weltbewegung und im Marxismus-Leninismus des vergangenen Jahrhunderts, aber auch in weiteren Formationen der sozialistischen, antikapitalistischen und radikaldemokratischen Strömungen weitgehend vernachlässigt oder herabgesetzt wurde. Das erweist sich heute als theoretische Schwäche in der Kritik am Neoliberalismus. Die kritische Analyse und daraus hervorgehende Folgerungen haben zwischen bleibend Gültigem und Irrigen, gar Destruktivem und Unheilvollem, zu unterscheiden. Beispielhaft und äußerst anregend ist, von Hermann Kopp aus dem Italienischen übertragen: Domenico Losurdo: Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus, PapyRossa Verlag, Köln 2010. Schließlich geht es auch darum, den Freiheitsbegriff nicht umstandslos oder weithin den Neoliberalen und Konservativen zu überlassen.


Fragen nach dem Konservatismus

Der Begriff des Konservatismus findet sich - überblickt man das Gesamtwerk von Opitz - selten. Das mag überraschen, da die Geschichte des Deutschen Reiches sowie der Ideologien und Strategien seiner großkapitalistischen und feudalaristokratischen Oberschichten bei ihm einen herausragenden Platz einnehmen. Der Konservatismus war nach den Zäsuren von 1918/1919 und 1945 in der deutschen Geschichte und Gesellschaft aus naheliegenden und erkennbaren Gründen jeweils tiefgreifend und langfristig diskreditiert. Carl von Ossietzky wies 1930 darauf hin, als - ein Symptom fortschreitender gesamtgesellschaftlicher Rechtsradikalisierung - auch dieses verrufene Banner erneut offen erhoben wurde. Nach 1948/1949 vermieden die tonangebenden Kräfte der Restauration wiederum die belastende Etikettierung. Der geschichtliche Ballast entscheidender, wiederholter Mitschuld an Großverbrechen von weltgeschichtlichen Dimensionen wirkt bis in die Gegenwart nach. Beim zweiten Blick zeigt sich allerdings auch, dass in den differenzierenden Analysen von Opitz zur Rechten seit dem Kaiserreich die konservative Strömung, ihre Organisationen, Programmatik und Wortführer durchaus berücksichtigt werden.

Es gibt allerdings auch einen weiteren Grund für die angedeuteten Leerstellen: Die Erfahrungen mit den faschistischen Bewegungen und Diktaturen seit 1919 sowie ihrer zuvor unvorstellbaren kriminellen Potentiale und tatsächlichen Verbrechen beherrschte - zumal in Deutschland - das Bild der deutschen Rechten. Das trug dazu bei, dass die Gesamtheit ihrer ideologischen Quellen, sozialen Einzugsbereiche sowie ihrer inneren Differenziertheit vielfach vernachlässigt wurden. Daran waren einflussreiche Kräfte durchaus interessiert. Dies erwies sich vor 1933 und nach 1945 jedoch nicht nur als eine Ursache von politisch fehlerhaften Einschätzungen und Konsequenzen, sondern auch als theoretisch defizitär. Nicht zufällig kam es seit Ende der sechziger Jahre im linkssozialdemokratischen und überhaupt im kapitalismuskritisch-sozialistischen Spektrum zu einer neuen Zuwendung zum Konservatismus-Problem. (z. B. H. Grebing, M. Greiffenhagen, K. Lenk, K. Sontheimer, Autoren in der DDR und anderen Ländern). Motivierend wirkten die umstrittenen Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik, die Fragen nach dem Charakter der Restauration in der Bundesrepublik sowie die seit 1966/67 aufkommende erste Welle offener Bestrebungen, die seit 1871 in Staat und Gesellschaft dominierende konservative Grundströmung zu entlasten, zu rehabilitieren und zu modernisieren. Parallel mit Rechtstendenzen in den USA, Großbritannien, Frankreich u. a. wurden diese Erörterungen unter Neokonservatismus oder Neue Rechte geführt.

Die kritischen Thesen von Opitz zur Formierten Gesellschaft, deren Entwurf im Umkreis von Ludwig Erhard entstanden war und mit denen sein Name auch interessierten Zeitgenossen in der DDR bekannt wurde, bestätigten sich mit dem Scheitern des Konzepts. Es war der Versuch konservativer Kräfte - voran der CDU und ihr verbundener Intellektueller -, die geistige Dürftigkeit der Rechten in der Nachkriegsperiode sowie den anachronistischen Ballast ideeller Mobilisierungsversuche unter abendländisch-konfessionellen Vorzeichen zu überwinden. Zugleich sollten die verrufenen Traditionen des Jungkonservatismus oder der Konservativen Revolution der zwanziger und frühen dreißiger Jahre weiterhin verleugnet werden. Unter der Oberfläche lebte jedoch im Umkreis der Anhänger von Ernst Jünger, Friedrich Nietzsche, Carl Schmitt, Hans Zehrer u. a. die von den gröbsten nazistischen Entgleisungen gesäuberte Geisteswelt fort.

Opitz nahm sich in einem Vortrag "Ist die CDU eine konservative Partei?" am 12. Juni 1980 vor der Sektion Marburg des BdWi dieser Probleme an. Es war Wahlkampfzeit mit Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidaten der Unionsparteien. Nach kritischen Anmerkungen zum offiziösen Verständnis des Begriffspaars konservativ-sozialliberal wandte er sich der Frage zu, was denn konservativ sei: "Es ist klar: da steigt allen leidgeprüften Kennern der Konservativismus-Diskussion der nackte Schauer den Rücken hoch - welch weites Feld, welche Diskussionsfronten, welche Uneinigkeit"(1) Es folgt eine historisch-politische Skizze des Konservatismus in Deutschland von etwa 1830 bis 1933-45 und bis in die Nachkriegsgeschichte. Diskutabel erscheint der Ansatz, Adenauer und seine CDU als rechten Sozialliberalismus zu charakterisieren. In der nach 1945 "personell bruchlos" aus der Bayerischen Volkspartei (BVP) hervorgegangenen CSU sah Opitz unter ihrem Vorsitzenden Strauß den Übergang zu einer neuen Strategie, nämlich "zum jungkonservativen Mobilisierungstypus". Dabei handele es sich "um eine tatsächlich qualitativ neue Rechte", der sich die sozialliberalen Teile der CDU zunehmend unterwerfen würden.(2)

In seinem - in der Gesamtbibliographie nachgewiesenen - Beitrag auf dem I. Internationalen Konservatismus-Kolloquium in Jena im Mai 1981 widmete sich Opitz der Konservatismus-Diskussion in der Bundesrepublik und setzte faktisch die eben skizzierten Marburger Erörterungen fort. Er ging von den Bemühungen um eine konservative Trendwende seit Beginn der siebziger Jahre aus, die durch das gewachsene internationale Gewicht der Bundesrepublik - "Modell Deutschland" - und die internationale Wirtschaftskrise um 1973 Auftrieb erhalten hatten. Er nannte als Problem der öffentlichen Debatten, dass es an einem marxistischen Konservatismusbegriff mangele. Die vorherrschende Deutung dieser Strömung leugne ihre reaktionär-verändernden, aggressiven und imperialistischen Züge. Das wirke bis in sozialliberale und ökologische Richtungen und Bewegungen. Die weitgehende Verdrängung der tatsächlichen Entwicklungsgeschichte des deutschen Konservatismus aus dem öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik beträfe auch seinen Richtungsbruch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am Beispiel der Erfahrungen vom Niedergang der Weimarer Republik erörterte Opitz die andauernden oder wiederauflebenden Phänomene des Wechselverhältnisses von Konservatismus und Faschismus.


Steter Niedergang des Liberalismus

Die konservative Prägung des deutschen bürgerlich-aristokratischen, militaristischen Nationalstaates seit 1871 wirkt - zeitbedingt modifiziert - bis in die Grundlagen sowie herrschenden Strukturen und Ideologeme der Bundesrepublik. Sie bildet eine dialektische Einheit mit dem unablässigen Niedergang des Liberalismus. Darin liegen sicher auch Gründe, dass sich R. Opitz in materialreich fundierter und in gedanklich stringenter Weise dem einen wie dem anderen Hauptstrang der Politik, politischen Ideologie und Theorie zugewandt hat. Ausgangspunkt sind der Vormärz und die gescheiterte Revolution von 1848/1849 sowie die damit eingeleitete unumkehrbare Verfilzung von Großbourgeoisie, Feudalismus/Aristokratie und Militarismus.

Kürzlich beging die Friedrich-Naumann-Stiftung den 150. Jahrestag der Gründung der Deutschen Fortschrittspartei (DFP) im Jahre 1861 als eigentlichen Beginn der deutschen liberalen Parteiengeschichte. Nach Opitz war die DFP "die politische Organisation und Gesamtvertretung des deutschen Wirtschaftsbürgertums." Sie sollte Preußen bei der kleindeutschen Einigungskonzeption "eine den wirtschaftsbürgerlichen Interessen optimal entsprechende Konstitution" abringen. "Die erste auf deutschem Boden gegründete 'liberale Partei' befindet sich mithin im Augenblicke ihrer Gründung schon weit jenseits aller tatsächlichen Liberalität. Sie verdankt nicht nur die hohe Zahl ihrer Mandate, die ihr bei den Wahlen von 1861 auf Anhieb zufällt, dem Dreiklassenwahlrecht, sondern verteidigt auch programmatisch die ihr außerordentlich vorteilhafte Idee des Ausschlusses der Unbegüterten vom Wahlrecht. Sie ist, wie der Nationalverein, antidemokratisch und nationalliberalistisch und hat nur noch nicht begriffen, dass sich außenpolitischer Nationalismus ohne kostspieligen Militarismus nicht in die Tat umsetzen lässt."(3)

Bereits 1867 signalisierte die Gründung der Nationalliberalen Partei eine wegweisende Zäsur. Sie erweist sich bald als zuverlässige Stütze des Bismarckstaates. Nationalliberalismus wird zu einer Richtung innerhalb der Rechten. Es folgen wiederholte Umgruppierungen und ständige Positionsverluste im verbliebenen Lager des Linksliberalismus oder Freisinns. Die Verluste betreffen Mitglieder und Wähler ebenso wie die liberaldemokratische Substanz ihrer Programmatik und Politik. Unter der Regie von Reichskanzler Bernhard von Bülow bilden die drei freisinnigen Parteien mit den Konservativen unter entschieden antisozialistischen und imperialen Prämissen einen von 1907 bis 1909 wirksamen politisch-parlamentarischen Block. Ihr Zusammenschluss am 6. März 1910 in Berlin zur Fortschrittlichen Volkspartei (1910-1918) verhärtete auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg die längst eingeleitete Rechtsentwicklung.

Zu Linksliberalismus sei angemerkt: Der Begriff ist in der Geschichtsschreibung weithin synonym mit Freisinn und als Sammelbegriff oder Eigenname für das neben dem Nationalliberalismus verbliebene heterogene liberale Lager eingebürgert. Spätestens seit den 1890er Jahren ist es mehrheitlich nicht mehr als linksliberal im eigentlichen Wortsinn anzusehen. Begrifflich bleibt dies jedoch für Differenzierungen im politischen Spektrum gültig und sinnvoll. Es ist aufschlussreich, dass die Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) in einem Interview Ende Oktober 2011 geradezu empört zurückwies, als linksliberal verortet zu werden: "Haben Sie gerade linksliberal gesagt? Das ist doch nicht Ihr Ernst!"(4)

Während der verschärften Wahlrechtskämpfe in Preußen setzte sich Rosa Luxemburg am 17. April 1910 in Frankfurt a. M. grundsätzlich mit dem historisch-politischen Weg der deutschen Bourgeoisie und ihrer Parteien auseinander. Angesichts der "Spottgeburt", die Konservative und Zentrum - die "beiden reaktionärsten Parteien Preußen-Deutschlands" - als "Wahlreform" anboten, fragte sie: "Wo ist der bürgerliche Liberalismus geblieben, dessen Mission es war, in Deutschland, wie in jedem modernen Staat, dafür zu sorgen, dass wir es im 20. Jahrhundert nicht mit einem Stück mittelalterlichen Feudalismus zu tun haben?"(5) Sie antwortete mit einem kritischen Abriss der "Geschichte des deutschen Liberalismus" seit 1848/1849. Seither habe jedes weitere Jahrzehnt dessen tieferen Verfall gebracht, darunter die Unterwerfung unter den Militarismus. Die "Wiederverheiratung der drei freisinnigen Fraktiönchen", die kurz zuvor erfolgt war, wurde möglich, "weil keiner heute dem anderen eigentlich etwas zu Vergeben hat, weil sie alle drei gleich tief in den Sumpf geraten sind".(6)

Wir wissen heute: Die Nachfolgeparteien der damaligen antidemokratischen Akteure - CDU/CSU und FDP - sorgten ab 1949 in der Bundesrepublik und nach 1990 im Beitrittsgebiet dafür, dass noch im 21. Jahrhundert feudal-aristokratische Privilegien und Relikte - sozioökonomischer wie ideologischer Art - weitergeschleppt und gepäppelt werden. Die Analysen Rosa Luxemburgs gehören ebenso zum liberalismuskritischen Erbe wie die Visionen von Karl Marx im 18. Brumaire des Louis Bonaparte zur Dialektik von Liberalismus, Konterrevolution und Staatsterrorismus, die Beiträge von Franz Mehring um und nach 1900 in der Neuen Zeit sowie die Leninsche Kritik am russischen Liberalismus.

Ein kaum bekanntes Symptom jenes Weges war, dass die Politiker der Fortschrittlichen Volkspartei sich hasserfüllt und aggressiv gegen demokratische Dissidenten wandten. Das betraf vor allem die Demokratische Vereinigung (DV, 1908-1918), die als Abspaltung aus der Freisinnigen Vereinigung und aus Protest gegen den antiliberalen und antidemokratischen Kurs der damaligen linksliberalen Fraktionsgemeinschaft entstanden war. Für ihre liberaldemokratischen und antimilitaristischen Bestrebungen stehen Namen wie Rudolf und Tony Breitscheid, Regine Deutsch, Hellmut von Gerlach, Heinrich Mann, Carl von Ossietzky u. a.. Ossietzky war Vorsitzender der Hamburger Gruppe der DV und begann mit Beiträgen in ihrer Wochenzeitung Das Freie Volk seine journalistische Karriere. Im Zentrum der Angriffe gegen sie stand ihre Bereitschaft, für Demokratisierung - z. B. in den preußischen Wahlrechtskämpfen - sowie gegen Hochrüstung und Militarismus auch mit der SPD zusammenzugehen.

Isoliert und angefeindet vom etablierten Bürgertum scheiterte die DV in der Reichstagswahl 1912 als Versuch, im Deutschen Reich gegen den Mainstream eine liberaldemokratische und pazifistische Partei neu zu schaffen. Das Fiasko wiederholte sich wesensgleich zweimal in den zwanziger Jahren. Die Anfang 1924 gegründete Republikanische Partei Deutschlands löste sich nach 0,2 % in der Reichstagswahl (Mai) bereits im Juni wieder auf. Für sie hatten sich u. a. Emil Ludwig, Walter Mehring, Fritz von Unruh und Carl von Ossietzky, der im Wahlkreis Potsdam II kandidierte, engagiert. Mit dem Eintritt in die akute Kreis der Republik sammelten sich liberale Demokraten und Pazifisten - darunter Hellmut von Gerlach, Ludwig Quidde und Paul Freiherr von Schoenaich - in der Radikal-Demokratischen Partei (1930-1933), die in Wahlen das Schicksal ihrer linksbürgerlichen Vorgängerinnen teilte. Kurz vor ihrem Ende appellierte sie im Aufruf zur Reichstagswahl am 5. März 1933: "Wählt links! Wählt antifaschistisch!"


Symbolhaft: Friedrich Naumann

Eine Personalie veranschaulicht die antiliberale Auszehrung. Die Rede ist von Friedrich Naumann, bis heute Namenspatron der FDP-nahen Stiftung. Der Pfarrer, Publizist, Herausgeber und politische Schriftsteller hatte 1896 den Nationalsozialen Verein gegründet. Sein Leitmotiv war, die Arbeiterschaft und ihre Organisationen mit dem Kaisertum zu Versöhnen, ihnen begrenzte politische und soziale Zugeständnisse zu machen und sie für die Rüstungs-, Kolonial- und imperiale Weltpolitik zu gewinnen. Im Reichstagswahlkampf 1898 warb er für die Flottenrüstung. Im gleichen Jahr reiste er im Gefolge Wilhelms Il. in den Nahen Osten und bekannte sich zu dieser Hauptexpansionslinie des Kaisers und der Reichsregierung, der Deutschen Bank, der Fa. Krupp u. a. Ungeachtet der Proteste seiner christlichen Anhänger weigerte sich Naumann, die Repressalien und Massaker des osmanischen Regimes gegen die christlich-armenische Minderheit zu verurteilen. Seine vor allem gegen die Sozialdemokratie gerichtete Strategie scheiterte in der Reichstagswahl 1903. Er löste seinen Verein auf, ging in die Freisinnige Vereinigung und wirkte an der weiteren Rechtsentwicklung des Freisinns mit. Als Autor und Propagandist unterstützte er die Kriegspolitik der Jahre 1914 bis 1918 (Mitteleuropa-Buch 1915). Naumann wurde Vorsitzender der Ende 1918 aus dem liberalen Lager hervorgehenden Deutschen Demokratischen Partei (DDP), starb jedoch bereits im folgenden Jahr. Die Exkurse von Opitz zu Naumann, seinem Umkreis und seinen Wirkungen bereichern unser heutiges Bild und Urteil.

Der Bundespräsident der Jahre 1949 bis 1959, Theodor Heuss (FDP), hatte seine journalistische und politische Karriere als Schüler und Mitarbeiter Naumanns begonnen und seine spätere Frau Elly Knapp auch als dessen Anhängerin kennengelernt. Heuss verklärte nach 1945 die Rolle Naumanns und beeinflusste maßgeblich die Namensgebung der FDP-nahen Stiftung. Es ist bezeichnend, dass daran bis heute kritiklos festgehalten wird. Ein reales Moment ist unzweifelhaft, dass diese Tradition eine Quelle der heutigen Feindschaft gegenüber der Linken sowie zunehmend auch für die Unterstützung gegenwärtiger wie künftiger deutscher Rüstungs- und auswärtiger Interventionspolitik ist.

Die Novemberrevolution 1918 führte - obgleich weithin halbherzig - zu der zuvor vom deutschen Bürgertum mehrheitlich längst nicht mehr angestrebten Beseitigung der Monarchien und Adelsprivilegien und zur Republik. Die Auflösung der durch die Kriegspolitik diskreditierten bürgerlichen Parteien und ein Neubeginn waren - mit Ausnahme des Zentrums - unvermeidlich geworden. Keine der bürgerlichen Parteien im Reichstag hatte vor 1914 bzw. 1918 die Republik oder auch nur die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frauen - voran ihr Wahlrecht! - gefordert. Aus der Hinterlassenschaft des Linksliberalismus und einigen bisherigen Nationalliberalen ging die Deutsche Demokratische Partei (DDP) hervor. Sie schien die eigentliche und chancenreichste Partei der parlamentarischen Republik zu sein. Das wurde von hohen Erwartungen begleitet und in einer kurzen Anfangsphase vorübergehend auch von den Wählern bestätigt. Sie gewann 1919 fast ein Fünftel der Stimmen und 75 Mandate in der Nationalversammlung. Das Ergebnis wurde bereits im folgenden Jahr mit der ersten Reichstagswahl etwa halbiert. Von Mai 1928 bis Juli 1932 schmolz die Reichstagsfraktion der DDP von 25 (4,8 %) auf 4 (1,0 %). Im Dezember 1932 saßen noch zwei Abgeordnete für die bezeichnenderweise inzwischen in Deutsche Staatspartei umbenannte, angeblich liberale Partei im Reichstag. Die verbliebenen Parlamentarier wählten mit allen bürgerlichen Parteien im August und Dezember 1932 jeweils Hermann Göring (NSDAP) zum Präsidenten des Reichstags. Sie stimmten am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz für Hitler zu - darunter Theodor Heuss und Reinhold Maier.

Halten wir fest: Beim Niedergang und in der Schlussphase der Weimarer Republik sowie im antifaschistischen Widerstand vor und nach 1933 spielte der Liberalismus als Bewegung und organisierte politische Kraft keine Rolle mehr. Gemessen an seiner Herkunft, seinen Ansprüchen und Leitbildern hätten es jedoch Stunden, Wochen und Jahre seiner außerordentlichen historisch-politischen Bewährung sein müssen. Opitz hat in exzellenten Studien zum deutschen Liberalismus zwischen 1830 und 1930 die Widersprüchlichkeit dieses Weges, den Niedergang, die geschichtliche und sozioökonomische Bedingtheit liberaler Programmatik und Politik sowie die wechselnden Ausprägungen und Differenzierungen nachgezeichnet und bewertet. Immer wieder finden sich dabei seine Reflexionen über die Begriffe von Freiheit in Wechselwirkung zur konkret-historischen Situation, zu Eigentum, Interessen, Chancen und jeweiligen Gegnern.


Unfreiheit in der Bundesrepublik

Erneut und noch katastrophaler gescheitert und diskreditiert kam es auch für Liberale 1945 zu einem parteipolitischem Neubeginn, aus dem nach lokalen und regionalen Variationen die FDP hervorging. Sie stand mehrheitlich und in ihrer Führung jahrelang rechts von der Union, mit der sie in den Bonner Mitte-Rechts-Koalitionen verbunden war: Vielfach Sammelbecken und Tummelplatz auch für unbelehrbare NS-Täter, Hort zur P der Wehrmachtstraditionen, Initiator und Partner für die Verdrängung der Nazivergangenheit und die frühestmögliche Generalamnestie für NS-Verbrechen - bei alledem mit einem auf verwandte Interessen gründenden, weitgehendem Rückhalt in der Wirtschaft. Ein Ritterkreuzträger als Parteivorsitzender - Erich Mende (1960-68) - war symptomatisch für das, was in der Bundesrepublik als vermeintlich liberale Partei, als selbsternannter Erbe und Fortsetzer des deutschen Liberalismus durchgehen konnte. Einschlägiges ist auch von Insidern zu erfahren, beispielsweise in den Erinnerungen von Hildegard Hamm-Brücher und der Dokumentation eines parteiinternen Aufbegehrens gegen Altnazismus und Rechtsextremismus in der FDP um 1960.(7)

Endete die "Leidensgeschichte der Freiheit in Deutschland" mit der Gründung der Bundesrepublik? Diese mit der Freiheit an sich zu identifizieren - wie es seit langem vorherrschenden Selbstdarstellungen und Sprachregelungen entspricht -, gebietet, die Frage uneingeschränkt zu bejahen. Aber tatsächlich handelt es sich hierbei mehr um den Standort der Urteilenden und die von ihnen bevorzugten - oder auch: ausgelassenen - Kriterien ihrer Wertungen. Die gegenüber dem vorangegangenen Verbrecherstaat gewonnenen politischen und persönlichen Freiheiten sowie antiliberale Wesenszüge des alternativen staatssozialistischen Systems erleichterten es, die restaurierten kapitalistischen Verhältnisse weithin als freiheitlich zu firmieren. Die Methode des Entweder-oder, wie sie für Freiheit oder Sozialismus, überhaupt für rechtsgerichtete Totalitarismuskonzepte charakteristisch ist, erleichtert diese Apologie, indem grob simplifiziert und pauschalisiert wird. Die Masse realer und alltäglicher, auch erheblicher und massenhafter Unfreiheiten oder beeinträchtigter und beschädigter Freiheiten, wird großspurig beiseitegeschoben.

Außerhalb der erklärten Linken gab es jahrzehntelang und gibt es erst recht heute kaum Stimmen von Gewicht, die antiliberale Grundzüge der bundesrepublikanischen Verfassungswirklichkeit beim Namen nennen.

Zu den Ausnahmeerscheinungen gehört Karl Jaspers, seit den zwanziger Jahren als liberaler Staatsbürger und Hochschullehrer ein Sonderfall in den Gefilden des Deutschen Reiches. 1960 skizzierte der kommunismuskritische und zugleich liberal-antifaschistische Philosoph den freiheitsfeindlichen und gewaltbereiten Weg sowie das antidemokratische Selbstverständnis der deutschen Bourgeoisie. Grundsätzlich kritisch charakterisierte er die restaurative Gründungs- und Frühgeschichte der Bundesrepublik und widersprach den Legenden ihrer politischen und intellektuellen Apologeten. Dazu gehören Aussagen von Jaspers wie: Den Westdeutschen wurde "unter dem Namen der Freiheit die Herrschaft politisch diskreditierter Parteiorganisationen und ihrer alten Parlamentarier" aufgezwungen. Diese "durch das Schicksal der Weimarer Republik kompromittierten Politiker der Weimarer Zeit konnten nun wieder mit dem geistig heute so arm gewordenen Parteiwesen das politische Treiben fortsetzen"; das Grundgesetz war "kein aus dem Volk entspringendes, demokratisch gewachsenes" Gebilde; es blieb künstlich und bedeutete "die Wiederherstellung des parlamentarischen Zustandes vor Hitler". "Eine Wandlung des politischen Geistes war nicht vollzogen." Der Wunsch nach nationaler Kontinuität sei stärker gewesen als "die Kraft zur Neugründung": "Man verwechselte Veränderungen, die als technische Sicherungen gegen eine Wiederholung eines totalitären Systems gemeint waren, mit einer Neuschaffung, die nur unter lebendiger Beteiligung des Volkes möglich ist."(8)

Zur fortgesetzten erheblichen Beschädigung der Freiheit und zu unerfüllten liberalen Erwartungen gehören in der Gründungs- und Frühgeschichte der Bundesrepublik sowie vielfach bis heute fortwirkend:

• Die Verdrängung der NS-Vergangenheit und der Schuldfragen sowie langfristig ausbleibende, gravierende Defizite der Sühne und Wiedergutmachung; nicht zuletzt: belastete NS-Täter in Führungspositionen der Politik, Wirtschaft, Justiz, Verwaltung, Bundeswehr und Nachrichtendiensten, Schule und Hochschule, Kultur und Sport, Verlagen und Medien, Sozial- und Gesundheitswesen;

• die Bewahrung und der Ausbau der Macht und des Eines von Banken und Versicherungen, Konzernen und Großunternehmen, Unternehmer-Verbänden, Verlagen u. a., die vielfach seit dem Kaiserreich als Teilhaber von Rüstung, Krieg und Expansion, Arisierung und Zwangsarbeit gewirkt hatten; ohne über das Vorausgegangene Rechenschaft abzulegen oder nennenswerte Eingriffe zu erleiden, konnten sie - ab September 1949 neu begünstigt - ihre Kapitalverwertung und -vermehrung fortsetzen;

• die ab 1950 wieder aufgenommene Verfolgung der kämpferischen Linken und Oppositionellen, die erneute Ausgrenzung Linksliberaler und Pazifisten und überhaupt eine weitreichende Diskriminierung des antifaschistischen und antimilitaristischen Widerstandes - also der eigentlichen Freiheitsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte;

• die Situation insbesondere von Frauen, Kindern und Jugendlichen unter den Bedingungen einer patriarchalisch-stockkonservativen Familien-, Bildungs- und Erziehungspolitik - einschließlich ihrer Wirkungen in Schule und Hochschule, Rechtsprechung und Strafvollzug, Heimwesen u. a.;

• die fortgesetzte Diskriminierung von Minderheiten, darunter solche der sozialen oder ethnischen Herkunft oder der sexuellen Orientierung;

• die Herausbildung von Medien- und Meinungsmonopolen auf der weiterhin dominierenden Grundlage eines illiberalen Antikommunismus und gesellschaftspolitischen Konformismus;

• die fortbestehende oder erneuerte privilegierte gesellschaftliche Stellung und Rolle von klerikalkonservativen und feudalaristokratischen Hierarchien;

• die Duldung bis Begünstigung eines bundesweiten Netzes neonazistisch-rassistischer Organisationen, Vereine, Verlage, Periodika usw. als Droh- und Druckpotential gegen linke, nicht zuletzt engagiert antifaschistische und pazifistische Richtungen und Gruppen;

• die Wiederaufrüstung und NATO-Bindung als Staatsdoktrin einschließlich der billigenden Hinnahme oder gar Unterstützung zahlreicher verbrecherischer Interventionen und Regimes in verschiedenen Regionen der Welt;

• die politische Wiederkehr des vermeintlich Liberalen in Gestalt einer Partei, die sich als zur historisch-politischen Selbstkritik und radikalen Umkehr unfähig erwies, vielmehr als Stütze und Akteur der Restauration ihren Platz suchte und fand.

Als wesentlich ist festzuhalten: Die ideell-moralische Selbstfindung und Identitätsbestimmung der Mehrheitsgesellschaft im "CDU-Staat" erfolgten nicht auf der Basis antifaschistischer Intentionen des Grundgesetzes und mit der formellen Konstituierung von Parlament und Regierung im September 1949 - also immerhin vorwiegend liberaler und republikanischer Werte. Sie erfolgten angesichts des 17. Juni 1953 in der DDR und des Gewinns der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 - somit im Geiste des überkommenen Antikommunismus und Nationalismus. Sie wurden mit dem Wirtschaftswunder und dem NATO-Beitritt bestätigt und gefestigt.

Mein Widerspruch zur Legende vom Antitotalitären Gründungskonsens der Bundesrepublik führte schon vor mehr als zehn Jahren zu einem Eintrag in den Verfassungsschutzbericht.(9) Diese nunmehr wiederum höchst umstrittene Behörde entscheidet bislang amtlich darüber, wie der vielgelobte Pluralismus jeweils auszulegen und zu domestizieren ist. Im Beitrittsgebiet wurden Spezialbehörden und Institutionen geschaffen sowie grundgesetzwidriges Sonderrecht eingeführt, um die vorgegebenen Ziele flächendeckend zu realisieren. Sie sind wahre Zeugen und Zierden des spezifisch bundesdeutschen Verständnisses von Liberalität und Rechts-Staatlichkeit.

Abschließend: Ist es nicht paradox, den steten Niedergang und das Ende des Liberalismus nachzuweisen und zugleich der Linken die Aufmerksamkeit für das bewahrenswerte und unverzichtbare liberale Erbe nahe zu legen? Heute erleichtern Analogien mit den Erfahrungen des staatssozialistischen Weges und seiner Bilanz die Antwort: Halbheiten und Irrwege, Versagen und Verbrechen bei Versuchen und Bestrebungen, weltgeschichtlich kreative Ideen und Entwürfe zu verwirklichen, beweisen nicht, dass sie für die Zukunftsgestaltung überhaupt verbraucht, untauglich und entbehrlich seien. Übereinstimmend mit Reinhard Opitz ist die ursprünglich fortschrittliche Rolle des historischen, antifeudalen und antiabsolutistischen Liberalismus zu bejahen. Sie ist gegen den späteren propagandistischen Missbrauch - beispielsweise seitens des Neoliberalismus - zu verteidigen. Die Impulse zugunsten von Gleichheitsideen, zu den Persönlichkeits- und politischen sowie überhaupt den Menschenrechten, zur Rolle des Rechts und der Notwendigkeit der Gewaltenteilung gehören zum Erbe demokratischer und sozialistischer Bewegungen. Sie sind unverzichtbar für künftige Alternativen bei der Gestaltung der Eigentums- und Verteilungsverhältnisse, der politischen Gemeinwesen und zwischenstaatlichen Beziehungen sowie des freien und gleichen Umgangs aller Menschen miteinander.


Ludwig Elm, Prof. Dr., Jena, Historiker



Anmerkungen:

(1) Reinhard Opitz: Liberalismus - Faschismus - Integration. Edition in drei Bänden. Hrsg. von Ilina Fach und Rainer Rilling, Marburg 1999; Bd. Il, S. 534

(2) Ebenda, S. 550

(3) Ebenda, Bd. I, S. 429

(4) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 43, 30. November 2011.

(5) Rosa Luxemburg: Der preussische Wahlrechtskampf und seine Lehren, in: Dies.: Gesammelte Werke. Bd. 2, Berlin 1972, S. 315

(6) Ebenda, S. 320

(7) Vgl. Hildegard Hamm-Brücher: Freiheit ist mehr als ein Wort. Eine Lebensbilanz 1921-1996, 2. Aufl. Köln 1996; Ulrich Keitel: "Sehr geehrter Parteifreund ..." Parteiinterne Rundbriefe gegen alte Nazis, Frankfurt a. M. 2001

(8) Karl Jaspers: Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik, München 1960, S. 60 f. Seine Schriften von 1965/66 gegen die Verjährung aller NS-Verbrechen bestätigten den herausragenden Rang seiner Analysen und Urteile.

(9) Vgl. Antitotalitärer Gründungskonsens, R. Opitz u. a. verwandte Stichworte in: L. Elm: Der Mantel der Geschichte und andere deutsche Denkwürdigkeiten. Ein kleines Lexikon zur Zeitgeschichte, Köln 2011


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-12, 49. Jahrgang, S. 40-48
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2012