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MARXISTISCHE BLÄTTER/567: Die höhere Stufe des chinesischen Reform- und Öffnungskurses


Marxistische Blätter Heft 2-14

Die höhere Stufe des chinesischen Reform- und Öffnungskurses

Von Helmut Peters



Die Kommunistische Partei Chinas hat auf dem 3. Plenum ihres XVIII. Zentralkomitees am 12. November 2013 den "Beschluss über einige wichtige Fragen der allseitigen Vertiefung der Reform" gefasst. Die Bedeutung dieses Dokuments sollte nicht unterschätzt werden. Es enthält die Strategie und Politik der chinesischen Führung unter Xi Jingping für den Übergang von dem anfänglichen marktwirtschaftlichen System zur voll ausgebildeten zeitgenössischen Marktwirtschaft des "Sozialismus chinesischer Prägung" im kommenden Jahrzehnt. Damit organisch verbunden ist eine allseitig vertiefte Umgestaltung aller gesellschaftlichen Bereiche vorgesehen. Im Vergleich zur bisherigen Entwicklung wird damit eine qualitativ höhere Stufe im Prozess der Reform und Öffnung des Landes angestrebt. Dafür braucht es neue gesellschaftliche Triebkräfte, die in erster Linie durch eine umfassendere und effektivere Nutzung des Kapitals erschlossen werden sollen. In seiner historischen Bedeutung steht dieses Dokument damit nicht hinter dem Beschluss des XIV. Parteitages im Jahre 1992 über die Einführung der "sozialistischen Marktwirtschaft" zurück.

Die chinesische Führung verspricht sich von der Verwirklichung dieser Strategie eine Qualifizierung und erneute Beschleunigung des Modernisierungsprozesses im Rahmen der Entwicklung des "Sozialismus chinesischer Prägung", die Realisierung einer kleinen Wohlstandgesellschaft und die Erfüllung des "chinesischen Traums", die Verwirklichung der "Renaissance der chinesischen Nation". Das bedeutet zugleich, den ökonomischen, politischen und kulturellen Einflusses Chinas auf das internationale Kräfteverhältnis auszuweiten.

Zur Geschichte dieser Strategie

Die Geschichte dieser Strategie beginnt bei Deng Xiaoping. Auf der Suche nach einem Weg für die beschleunigte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte des Landes dachte er zunächst an eine "Verbindung von Plan- und Marktwirtschaft". Dann, als er zu der Einschätzung gekommen war, dass der Kapitalismus weiterhin über die Fähigkeit verfügt, sich selbst regulieren, d. h. seine Widersprüche in Triebkräfte zu verwandeln, und sich das in absehbarer Zeit nicht ändern würde, entschied sich Deng und mit ihm die Partei, die Marktwirtschaft, als Methode gesehen, für den Aufbau des "Sozialismus chinesischer Prägung" zu nutzen. Interpretiert wurde diese Wendung im Nachhinein, dass Deng Xiaoping im Unterschied zu Lenin darauf orientierte "den Sozialismus durch Lernen vom Kapitalismus zu errichten".(1) Mit ihrem XIV. Parteitag 1992 begann die KP China, die kapitalistische Marktwirtschaft, angepasst an chinesische Gegebenheiten, als "sozialistische Marktwirtschaft" zu übernehmen und zu entwickeln.

Einen grundlegenden Defekt der damit eingeleiteten Reformen sehe ich darin, dass die klassenmäßigen Akteure, die sich in diesen Prozess gegenüberstehen, bisher nicht nur bewusst ausgeklammert werden, sondern das Kapital zumindest aus pragmatischen Gründen der KP China näher steht als der Werktätige.

Der Übergangsprozess von der so genannten Planwirtschaft der 1950er Jahre zur Marktwirtschaft war von Anfang an zweigleisig angelegt. Einerseits wurden die Peripherie und die schwachen Kettenglieder des traditionellen Systems durch die traditionelle chinesische Methode "loslassen und beleben" durchbrochen. Damit konnten sich hier Faktoren und Kräfte des neuen marktwirtschaftlichen Systems wie die Einzelwirtschaft, die chinesische privatkapitalistische Wirtschaft und die Wirtschaft des internationalen Kapitals heraus- und heranbilden. Andererseits wurden im traditionellen System mit der Methode kleiner Regulierungen ständig Räume für die Entwicklung des neuen Systems und die allmähliche Abschwächung des traditionellen Systems geschaffen. Auf diese Weise sollten sich z. B. die Planung, die Handhabung der Finanzen und Steuern, die Festlegung der Preise, die Regelung der Investitionen und die Funktionen der Regierung allmählich Richtung Marktwirtschaft wandeln. Diese Art zweigleisige Reform sollte den stabilen Übergang vor allem der Hauptkraft des Wirtschaftlichen Wachstums, des staatlichen Sektors, aus der Dominanz des Staates zur Marktwirtschaft ermöglichen und sichern.

Auf diesem Weg ist in den letzten zwei Jahrzehnten eine marktwirtschaftliche Struktur mit ihren Institutionen wie dem Kapitalmarkt, dem Arbeitsmarkt, der Börse, dem Immobilienmarkt und anderen Märkten für wichtige Produktionsfaktoren für die Realisierung des Kapitals entstanden. Die Funktion und Wirkung dieser Marktinstitutionen blieben jedoch vor allem durch Systeme, Mechanismen und die traditionellen Vorgehensweisen aus der Zeit der "Planwirtschaft" eingeschränkt. Die Regierung behielt sich den Einsatz von Ressourcen und wichtige Preisbildungen vor und regierte weiterhin in breitem Maße in die Mikrowirtschaft hinein. Das betraf auch die neuen marktwirtschaftlichen Institutionen. Ökonomisch wirksam wurden nur die Objekte und Transaktionen, die administrativ geprüft und genehmigt worden waren, dazu gehörte auch der Kauf eines neuen Flugzeuges durch die international tätige chinesische Hainan Airlines. Hinzu kam, dass die Reformen keineswegs komplett nach Markterfordernissen konzipiert waren und den lokalen Behörden wie den entstandenen Interessengruppen genügend Raum boten, sie nach eigenen Gutdünken auszulegen und zu praktizieren. Typische Beispiele waren die "36 Punkte" (2005) und die "36 neuen Punkte" (2009), die dem einheimischen Privatkapital neue Räume für seine Expansion boten. Obwohl offiziell an höchster Stelle beschlossen, blieben sie weitgehend Papier. Nicht zuletzt spielte auch eine Rolle, dass sich mit den gesellschaftlichen Problemen und Widersprüchen auch die Auseinandersetzungen um die Reform- und Öffnungskurs verschärften.

In den Reformen der letzten 20 Jahre wurden nicht wenige tragende Gedanken und wegweisende Prinzipien entwickelt, so der Gedanke, die Funktionen der Regierung in Richtung Dienstleistung und makrowirtschaftliche Regulierung und Kontrolle zu verändern, und die Überlegung, dass Regierung von Unternehmen und von Kapital zu trennen ist. Das seit 1997 immer wieder gestellte Ziel, endlich zur vollkommenen Marktwirtschaft überzugehen, konnte jedoch bislang nicht verwirklicht werden.

Das lag wohl nicht zuletzt daran, dass die ersten zehn Jahre dieses Jahrhunderts mit dem gegebenen Modell wirtschaftlicher Entwicklung auf dem Hintergrund des zweigleisigen Wirtschaftssystems eine goldene Zeit gewesen ist. So ist es wohl auch kein Zufall, dass mit dem Auslaufen dieses Modells und der Notwendigkeit, Triebkräfte für eine qualitativ höhere Stufe der Entwicklung der Wirtschaft zu entwickeln, die Frage nach einer "allseitigen Vertiefung der Reform" aufgeworfen worden ist.

Allgemeine Richtung der vertieften Reform und Öffnung in ausgewählten Bereichen

Der "Beschluss über einige wichtige Fragen der allseitigen Vertiefung der Reform"(2) wurde unter der persönlichen Leitung des Generalsekretärs des ZK der Partei, Xi Jingping, erarbeitet. Das Dokument enthält Richtlinien und Maßnahmen für eine umfassende Neu- und Weitergestaltung aller Bereiche der Gesellschaft bis 2022 im Zeichen des "Sozialismus chinesischer Prägung" auf einer stabilen Grundlage und unter Sicherung der bestehenden Machtverhältnisse fest. Es ist mit seinen 60 Punkten zu Einzelfragen in drei große Abschnitte gegliedert: allgemeine Theorie und Generallinie, Disposition der Reform in den Teilbereichen, Führung durch die Partei.

Im Vorfeld war die 468 Seiten umfassende Studie "Development for a Modern, Harmonious, and Creative Society: International Experiences and China's Strategie Choices" (Kurzfassung: China 2030 Report) Ende Februar 2012 in Beijing vorgestellt worden. Sie ist das Produkt einer Zusammenarbeit zwischen Weltbank und Beijing, die der Präsident der Weltbank, Robert B. Zoellick, und Li Keqiang, der heutige chinesische Ministerpräsident, im Sommer 2010 vereinbart hatten. Die in dieser Studie enthaltenen Vorschläge für eine grundsätzliche Reform in China bis 2030 zielen in Richtung auf eine Zurücknahme der Rolle der Regierung, die Entflechtung der Staatsunternehmen, die Förderung des privaten Sektors, eine freie Marktwirtschaft, ein "offenes" Gesellschaftssystem auf der Grundlage des Rechts, auf gleiche Chancen für alle und die stärkere Integration Chinas in die Weltwirtschaft.

Das hier zu besprechende Dokument enthält der Sache nach ähnliche Überlegungen. In der Formulierung seiner Grundgedanken wie auch in größeren Teilen des konkreten Textes folgt es jedoch dem Bericht des ZK an den XVIII. Parteitag vom 8. November 2012.

Xi Jingping konstatiert in seiner Erklärung zum Dokument auf dem Plenum des ZK,(3) dass alle strategischen Ziele und Festlegungen des XVIII. Parteitags nur durch eine allseitige Reform zu verwirklichen seien. Davon hänge das weitere Schicksal Chinas und die Verwirklichung des "chinesischen Traums", die "Renaissance der chinesischen Nation", ab. Er zitiert Deng Xiaoping, dass es ohne Sozialismus, ohne Reform und Öffnung, ohne Entwicklung der Wirtschaft und ohne Verbesserung des Lebens des Volkes keinen Ausweg für China gäbe. Und er sieht und nennt Was bisher gar nicht so üblich gewesen ist: die zunehmenden ökonomischen und sozialen Widersprüche, die die "Interessen der Massen" beeinträchtigen und der Vervollkommnung des "Sozialismus chinesischer Prägung" entgegenstehen würden. Die Reform stehe unter dem Druck dieser Widersprüche. Er schweigt sich jedoch darüber aus, dass eine Reihe dieser gesellschaftlichen Widersprüche nicht der Entwicklung, sondern der bisherigen Entwicklung eben dieses Sozialismus geschuldet sind. Xi hält es für entscheidend, mit der Lösung dieser Widersprüche die faire Konkurrenz weiter herauszubilden, die Effektivität der Regierung zu erhöhen, Fairness, soziale Gerechtigkeit, gesellschaftliche Harmonie und Stabilität zu fördern und die Führungs- und Regierungstätigkeit der Partei zu qualifizieren. Dazu müssten das "Denken befreit", alle ideologischen Auffassungen, Systeme und Mechanismen, die der "wissenschaftlichen Entwicklung" entgegen stehen überwunden und zerschlagen und entsprechend neue Systeme und Ordnungen geschaffen werden. Hinter diesen im amtlichen China üblichen Allgemeinplätzen verbirgt sich z.B. die Forderung, alles zu verwerfen, was dem Übergang zu einer modernen marktwirtschaftlichen Struktur nach dem Beispiel der führenden kapitalistischen Länder entgegensteht. In diesem Sinne erklärt Xi Jingping auch die seit Deng Xiaoping entwickelte gesellschaftspolitische Theorie der KP China zur Leitideologie für die allseitige Vertiefung der Reform. Ob zumal in diesem Sinne Reform und Öffnung als eine "großartige Revolution" verstanden werden kann, erscheint mir mehr als zweifelhaft.

Wirtschaftsreform

Die Wirtschaftsreform ist der Schwerpunkt in der allseitig zu vertiefenden Reform und hat im Kern die Beziehungen zwischen Regierung und Markt neu festzulegen. Der entscheidende Satz lautet: "Dem Markt ist die entscheidende Rolle bei der Aufstellung der Ressourcen zu überlassen." Das soll auch für die öffentlichen Ressourcen gelten. Die bisherige Einmischung der Regierung in diesem Bereich sei "im großen Umfang zu reduzieren". Xi bemerkt dazu, dass Theorie und Praxis (er bezieht sich hier wohl auf die kapitalistischen Industrieländer) beweisen, dass die Aufstellung der Ressourcen durch den Markt die effektivste Form für die Nutzung dieser Ressourcen wäre. Diese Rolle des Marktes fördere den Wandel in der wirtschaftliche Entwicklung des Landes und die Bekämpfung der Korruption. All das werde sich im System der sozialistischen Marktwirtschaft vollziehen.

Die KP China hält weiter an dem grundlegenden Wirtschaftsystem fest, in dem das öffentliche Eigentum die Hauptsache ist und sich gleichzeitig Wirtschaften verschiedener Eigentumsformen gemeinsam entwickeln. Die führende Rolle des staatlichen Eigentums, sein Einfluss und seine Fähigkeit, die wirtschaftliche Entwicklung zu kontrollieren, sollen ständig verstärkt werden. Als Schwerpunkte für den Einsatz des staatlichen Kapitals werden die öffentlichen Dienstleistungen, die strategische Industrie, die Erhaltung der Umwelt, die Unterstützung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und die Gewährleistung der staatlichen Sicherheit genannt.

Angesichts der schwierigen Finanzlage der Sozialfonds soll ein Teil des staatlichen Kapitals zu ihrer Auffüllung verwendet werden. Vorgesehen ist, den Anteil aus den Einnahmen des staatlichen Kapitals, der in die Öffentlichen Finanzen abzuführen ist, bis 2020 auf 30 Prozent zu erhöhen. Diese Mittel sollen stärker für die Sicherung und Verbesserung des Lebensstandards eingesetzt werden.

Augenscheinlich gewinnt das Ende der 1990er aus der Taufe gehobene gemischte Eigentum mit staatlichem, kollektivem und privatem Kapital für die chinesische Führung an Bedeutung. Zwei Aspekte fallen auf: 1. Das gemischte Eigentum als eine "wichtige Form der Realisierung des grundlegenden Wirtschaftssystems" soll aktiv gefördert werden. Das trage in erster Linie dazu bei, die Funktion des staatlichen Eigentums zu erweitern, den Wert des staatlichen Eigentums zu wahren und zu erhöhen sowie seine Konkurrenzkraft zu stärken. Das Privatkapitel erscheint hier als eine Art Vehikel, das die derzeitig verbreitete ökonomische Ineffizienz des staatlichen Kapitals kompensieren und aufbessern soll. 2. Die Beziehung der neuen chinesischen Führung zur Arbeiterklasse und ihrer historischen Rolle: In der Erklärung Xis zum Dokument findet sich die einzige Stelle im Dokument wie in der Erklärung, in der der Begriff "Werktätige" auftaucht. Bei Xi Jingping heißt es: "Es ist erlaubt, das die Beschäftigten in Unternehmen der Wirtschaft des gemischten Eigentums Aktien halten und die Kapitaleigner und die Werktätigen eine Interessengemeinschaft bilden." Die Tendenz, die Arbeiter z.B. in den privatkapitalistischen Unternehmen in solche Interessengemeinschaften zu drängen, findet sich in der wissenschaftlichen chinesischen Literatur. Den Begriff der Arbeiterklasse, deren Interessen zudem unmittelbar und nachhaltig von der Wirtschaftsreform berührt werden, sucht man sowohl im Dokument als auch in der Erklärung Xis vergeblich.

Der Text enthält auch eine neue Aussage zum chinesischen Privateigentum: Der entscheidende Satz lautet: Die Wirtschaften des Gemeineigentums und des Nichtgemeineigentums sind "beide wichtige organische Bestandteile für die sozial-ökonomische Entwicklung unseres Landes". Das Eigentum beider Arten dürfe nicht angetastet werden. Neu ist auch, wie es bei Xi heißt, das Privatkapital zu ermuntern, selbst Unternehmen des gemischten Eigentums zu entwickeln, in denen es die Aktienmehrheit besitzt. Entgegen der Realität wird zugleich behauptet, dass an den gleichen Rechten und Chancen für das Nichtgemeineigentum festgehalten werde, wie sie dem staatlichen Eigentum zustehen. Gleich der nächste Satz lautet nämlich, dass "unvernünftige Festlegungen und latente Barrieren jeglicher Art gegenüber der Wirtschaft des Nichtgemeineigentums abgeschafft werden".

Das Dokument orientiert auf eine schnelle "Vervollkommnung" des modernen Marktsystems. Kurz danach erfährt der Leser, dass jetzt für die Aufstellung der Ressourcen ein "einheitlicher, freier Markt mit geordneter Konkurrenz aufgebaut wird". Vorgesehen ist ein Marktsystem "für die selbständige Bewirtschaftung der Unternehmen, einer fairen Konkurrenz, für die freie Entscheidung der Konsumenten, eine eigenständige Konsumtion, die freie Zirkulation von Waren und wichtigen (Produktions-Faktoren der Waren und wichtiger Faktoren und den gleichwertigen Austausch". Investitionen in- und ausländischer Investoren sollen die gleiche Behandlung erfahren.

Alle Preise, die durch den Markt festgelegt werden können, sollen dem Markt ohne Einmischung durch die Administration überlassen werden. Das gilt auch für miteinander konkurrierende Preise. Der Bereich der Preisbildung durch die Regierung beschränkt sich hauptsächlich auf wichtige öffentliche Dinge und öffentliche Dienstleistungen sowie natürliche Monopole wie das Internet.

In seiner Auswirkung auf die ökonomischen Verhältnisse ist die Festlegung, dass der Kapitalmarkt nach innen und außen zu öffnen ist, bislang nicht genau einzuschätzen. Das betrifft auch die Zulassung von mittleren und kleinen Privatbanken unter verstärkter staatlicher Aufsicht. Ein besonderes Risiko für die sozialistische Perspektive stellt aus meiner Sicht die Ermunterung des Privatkapitals (erscheint im Text als "gesellschaftliches" Kapital) dar, auf dem Dorf zu investieren und Unternehmen aller Art zu betreiben.

Administrative Reform

Die Regierung soll maßgeblich vereinfacht und effektiver organisiert werden. Ihre Funktionen verändern sich grundlegend. Im Maße des Verschwindens der alten Funktionen verliert sie an Macht und Einfluss in diesen Bereichen, für die Ausübung der neuen Funktionen erhält sie die dafür erforderliche neue Macht.

Im Dokument ist festgeschrieben, dass sich die Zentralregierung im größtmöglichem Maße aus dem Mikrobereich zurückzieht und das System der Prüfung und Genehmigung von ökonomischen Aktivitäten im Makrobereich generell wegfallt. Was noch an administrativer Prüfung und Genehmigung verbleibt, muss nach einheitlichen Normen erfolgen. Ökonomisch-soziale Probleme, die lokal besser und effektiver verwaltet werden können, sollen mit den entsprechenden Befugnissen in den Verantwortungsbereich der Regionen und der Basis übergehen.

Die Aufgaben der Regierung bestehen künftig hauptsächlich in der Wahrung der Stabilität der Makrowirtschaft, der Optimierung der öffentlichen Dienstleistungen, in der Sicherung einer fairen Konkurrenz, in der verstärkten Marktaufsicht und -kontrolle, in der Einhaltung der Marktordnung, in der Förderung des gemeinsamen Wohlstands und im Ausgleich bei Marktversagen. Öffentliche Dienstleistungen soll die Regierung künftig von entsprechenden auf dem Markt konkurrierenden Institutionen kaufen. Wie das funktionieren soll, wird abzuwarten sein.

Die Aufgaben der Makroregulierung und -kontrolle werden gesondert ausgeführt: Gewährleistung der Balance der Wirtschaft, Förderung der Koordinierung der wichtigen ökonomischen Strukturen, Optimierung der Standortverteilung der Produktivkräfte, Minderung des Einflusses der zyklischen Schwankungen auf die Wirtschaft, Risiken in den einzelnen Bereichen und im Gesamtsystem zu begegnen, die Prognosen der Marktentwicklung stabilisieren und die anhaltende und gesunde Entwicklung der Wirtschaft zu garantieren. Bei der Lösung dieser Aufgaben sollen hauptsächlich Methoden der Finanz- und Geldpolitik eingesetzt werden. Es geht also im Grunde darum, den zyklischen Charakter im Prozess der Entwertung des Kapitals möglichst zu dämpfen das Kapital optimal für die Entwicklung der materiellen gesellschaftlichen Produktivkräfte einzusetzen.

Reform des Finanz- und Steuersystems

Mit der Reform wird auf die Entwicklung eines "wissenschaftlichen Finanz-und Steuersystems" orientiert. Damit würde eine "System-Garantie" existieren, die die Aufstellung der Ressourcen optimiert, die Einheit des Marktes (die noch nicht hergestellt ist) schützt, die soziale Gerechtigkeit und Fairness gefördert und die Regierung auf lange Zeit sichert.

Im Ergebnis der Reform soll ein transparentes System(4) des Haushalts geschaffen werden. Die Finanzkraft auf zentraler und lokaler Ebene soll stabil bleiben. Die Verteilung der staatlichen Finanzeinnahmen zwischen der Zentrale und den Regionen soll so geregelt werden, dass die Regionen die ihnen übertragenen Aufgaben auch finanziell absichern können.

Die Reform des Systems der Steuereinziehung soll weiter vervollkommnet werden. Der Anteil der direkten Steuern am Steueraufkommen wird erhöht, die individuelle Einkommenssteuer allmählich entwickelt. Hoher Energieverbrauch, hohe Verschmutzung der Umwelt und Konsumgüter hoher Qualität werden entsprechend stärker besteuert. Die Reform der Immobilien- und Ressourcensteuer wird beschleunigt. Das gilt auch für die Normierung der Steuereinziehung nach den Prinzipien einheitliche Steuergesetzgebung, Gerechtigkeit der Steuerlasten und Förderung der fairen Konkurrenz. Auf konkrete Probleme der Steuerbelastung wie die relativ hohe Belastung mittlerer und kleiner Unternehmen und die relativ geringe Belastung hoher Einkommen oder auf die Bekämpfung der Steuerflucht unter der reichen Bevölkerung wird nicht eingegangen.

Aufbau eines neuen Typs landwirtschaftlicher Bewirtschaftung

Vorausgesetzt wird die integrative Entwicklung von Beziehungen neuen Typs zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen Stadt und Land, verbunden mit der Abschaffung des dualen Systems der Haushaltsregistrierung. Durch die Förderung der Landwirtschaft durch die Industrie, des Dorfes durch die Stadt soll die breite Masse der Bauernschaft gleichberechtigt am Prozess der Modernisierung und der Verteilung seiner Ergebnisse teilnehmen. Xi Jingping betont, dass es angesichts der anhaltenden Vergrößerung der Unterschiede zwischen Stadt und Land notwendig sei, die Integration der städtischen und dörflichen Entwicklung zu beschleunigen.

Die chinesische Führung hält am Grundsatz der familiären Bewirtschaftung auf vertraglicher Grundlage fest. Der dörfliche Boden bleibt kollektives Eigentum, es besteht weiterhin nur ein Nutzungsrecht. Der neue Typ der Bewirtschaftung der Landwirtschaft wird als "kooperative Wirtschaft" definiert, die einzeln eine "familiäre, kollektive oder genossenschaftliche" Bewirtschaftung bzw. eine Bewirtschaftung in Unternehmensform sein kann. Unterstützt wird die spezialisierte und moderne Art des Wirtschaftens in großen Einheiten. Das Privatkapital(5) wird ermuntert, "unter Anleitung [durch den Staat - H. P.] auf das Dorf zu gehen und Ackerbau und Viehzucht in moderner Art zu entwickeln, die der Bewirtschaftung von Unternehmen entspricht und in die Landwirtschaft modere Produktionsfaktoren und ein modernes Bewirtschaftungsmodell einführt". An anderer Stelle werden Privatkapital und gesellschaftliche Organisationen dazu ermuntert.(6)

Der Bauer erhält das Recht auf Verfügung des ihm vertraglich übergebenen Bodens, auf seine Nutzung und auf den Ertrag. Er darf das Nutzungsrecht transferieren, verpfänden, in Kaution geben und Vererben. Es ist ihm erlaubt, dieses Recht als Aktie in die Entwicklung einer industriemäßigen Bewirtschaftung der Landwirtschaft einzubringen. Er wird dazu ermuntert, sein Nutzungsrecht "auf dem offenen Markt an spezialisierte große Bauerngehöfte, Familienfarmen, bäuerliche (Aktien-)Genossenschaften und landwirtschaftliche Unternehmen zu überlassen, um die Bewirtschaftung auf großen Flächen in vielfältigen Formen zu entwickeln". Der Bauer erhält das Sachrecht auf den Boden, auf dem sein Wohnhaus steht. Es werden einige Versuchspunkte ausgesucht, um die Verpfändung und die Sicherheitsleistung (Kaution) von Häusern und Vermögen der Bauern auszuprobieren.

Gefördert werden soll die weitere Abstimmung des Aufbaus des neuen Dorfes mit der Urbanisierung, in deren Mittelpunkt jetzt der Mensch mit seinen Bedürfnissen anstelle der sachlichen Prozesse gestellt ist.

Die Bauern sind die einzige soziale Gruppe, die im Dokument überhaupt eine Behandlung erfahren, auch wenn sie nicht als produktive Schöpfer des neuen Typs landwirtschaftlicher Entwicklung behandelt werden. Der Umstand, dass sie diese Behandlung erfahren hat, hat wohl mehrere Gründe. Sie sind bisher "Bürger zweiter Klasse". In der Rückständigkeit des Dorfes reflektieren sich die größten und schärfsten gesellschaftlichen Probleme des Landes. Und die heutige Führungsspitze fühlt sich wohl mit den Bauern aufgrund mehrjähriger Arbeit als jugendliche Rebellen, die 1968 auf das Dorf zur Arbeit geschickt worden waren, besonders vertraut.

Entwicklung eines neuen Systems der geöffneter Wirtschaft

Die chinesische Führung geht davon aus, dass die "neue Situation" der Globalisierung eine noch engere Verzahnung der Öffnung nach innen und außen und eine effektivere Verbindung von "Hereinkommen und Hinausgehen" erfordert. Auf geordnete Weise fördert sie "die freie Zirkulation internationaler und innerer wichtiger Produktionsfaktoren, die effektive Aufstellung der Ressourcen und die Verschmelzung der Märkte". Sie strebt nach neuen Vorteilen für China der internationalen Kooperation und Konkurrenz. "Von der Großmacht des Handels zur Großmacht der Investitionen, vom Export von Handelswaren zum Export des Kapitals geht der unerlässliche Weg des Aufstiegs der Wirtschaft vom Typ der Öffnung." So zeichnet Wang Yang, stellvertretender Ministerpräsident, den weiteren Weg Chinas, den das neue System geöffneter Wirtschaft öffnen soll.(7)

China verfügt dafür über eine relativ feste Grundlage. Gerechnet nach dem BIP nimmt das Land Platz zwei in der Welt ein. Im Export liegt es an erster und im Import an zweiter Stelle. Im Import von Kapital besetzt es Platz zwei. Es verfügt mit über 3 Billionen US-Dollar die meisten Devisen, und im Export von Kapital hat es Rang drei erreicht.(8) Sein Binnenmarkt mit einer sich ständig erweiternden Infrastruktur bietet riesige Möglichkeiten. Nicht zu vergessen sind die reichen Erfahrungen und Fähigkeiten, die China mit seiner Reform- und Öffnungspolitik gesammelt hat.

Nach dem Prinzip "gleiche Behandlung wie der eigene Bürger" sollen die ausländischen Unternehmen in China die gleiche Behandlung erfahren wie die chinesischen. Gefordert wird Stabilität und Transparenz in der Politik gegenüber dem ausländischen Kapital. Die offene Zusammenarbeit mit den administrativen Sondergebieten Xianggang und Aomen sowie mit Taiwan soll erweitert werden. Nicht nur den chinesischen Unternehmen, sondern auch Privatpersonen wird erlaubt, im Ausland zu investieren.

Von wegweisener Bedeutung wird das Versuchsgebiet der Freihandelszone Shanghai sein. Im Dokument heißt es, dass damit "neue Wege und neue Erfahrungen für die allseitige Vertiefung der Reform und der Erweiterung der Öffnung gesucht werden". Weitere Regionen sollen dafür ausgesucht werden. Die Freihandelszonen mit den freien Kapitalzuflüssen, der unmittelbaren Konkurrenz zu gleichen Bedingungen und der Liberalisierung des Yüan sollen ähnlich den ökonomischen Sonderzonen zu Beginn des Reform- und Öffnungsprozesses Erfahrungen für die Gestaltung der ökonomischen Verhältnisse im gesamten Land sammeln und vermitteln.

Das System der konsultativen Demokratie

Der Aufbau des "Systems der sozialistischen demokratischen Politik" soll beschleunigt werden. Dazu müsse "der Grundsatz, das Volk ist der Hausherr, verbürgt" sein, an dem bestehenden politischen System und seiner Vervollkommnung festgehalten und das "System der Demokratie noch mehr beachtet und vervollkommnet" werden. Das eigentlich Neue ist, dass, wie Xi Jingping ausführte, die Entwicklung des Systems der konsultativen Demokratie "zum Hauptinhalt der Reform des politischen Systems" entwickelt werden soll. Dieses System sei eine "besondere Form und ein einzigartiger Vorzug der sozialistischen demokratischen Politik unseres Landes". Sie verkörpere die Massenlinie der Partei, habe auf allen Ebenen die Beratung wichtiger Fragen der ökonomisch-sozialen Entwicklung und Probleme realisierbarer Interessen der Massen zum Inhalt. Betont wird die wichtige Rolle der nationalen Einheitsfront in der konsultativen Demokratie. Der Aufbau dieses Systems wird in enger Verbindung zum Aufbau eines Rechtsstaates gesehen.

Es geht also nicht um den Aufbau eines demokratischen Staates, sondern um den Aufbau einer demokratischen Politik, die zudem nicht erläutert bleibt. Es geht auch nicht um die Entwicklung einer partizipativen Demokratie, sondern "nur" um eine "geordnete" konsultative Demokratie, in der das Sagen der Sache nach nicht beim "Volk als Hausherr" liegt. Immerhin wäre es für mich ein Fortschritt, wenn nun vor allem breite Kreise der Werktätigen, wenn auch nur auf diese Weise, die gesellschaftlichen Probleme debattieren und unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltung der Politik der KP China nehmen könnten. Dazu müsste aber das Wort Demokratie, in erster Linie in der Partei selbst, großgeschrieben werden.

Abschließende Bemerkungen

Dieser Beitrag bot nicht den Rahmen für eine Betrachtung aller sechzehn Abschnitte des Reformpakets. Eine letztliche Einschätzung des "Beschlusses über einige wichtige Fragen der allseitigen Vertiefung der Reform" ist ohnehin erst möglich, wenn er umgesetzt wird. Einige Aussagen lassen sich jedoch schon in dieser Stelle zusammentragen.

Der "Beschluss" ist in seinem Ziel und in seiner Aussage die Fortsetzung des Reform- und Öffnungskurses, wie er unter Deng Xiaoping konzipiert worden war. Für die entscheidende Phase der Modernisierung und des Aufstiegs des Landes zur Weltmacht will die chinesische Führung nunmehr unter verstärkter Absicherung der bestehenden Machtverhältnisse und bei weiterer Ausprägung des "Sozialismus chinesischer Prägung" vollständig und optimal auf die Triebkräfte der Marktwirtschaft der führenden kapitalistischen Länder setzen. Unter den nationalen Gegebenheiten kann sie mit der Realisierung des Reformpakets neuen Spielraum für die Entwicklung des Landes gewinnen, gleichzeitig steigt aber auch das Risiko, dass das Kapital in China die Oberhand gewinnen kann. Das deutet sich vor allem in den Veränderungen auf dem Kapitalmarkt und in der jetzigen Anlage für eine moderne Bewirtschaftung der Landwirtschaft an. Die Voraussetzung für eine Umsetzung des "Beschlusses" ist jedoch erst einmal die grundlegende Lösung der ernsten Probleme und Widersprüche in der chinesischen Gesellschaft.

Helmut Peters, Berlin, Sinologe



Anmerkungen

(1) Wang Zhangyang: "Neue Demokratie und neuer Sozialismus. Eine theoretische und historische Studie über den neuen Sozialismus", Beijing 2004, S. 31, chinesisch

(2) Veröffentlicht in: Renmin Ribao v. 16.11.2013

(3) Veröffentlicht in: Renmin Ribao v. 16.11.2013

(4) Begriffe wie "System", "Mechanismus", "wissenschaftlich" und Verben wie "aufbauen", "vervollkommnen", "verbessern" und "optimieren" bestimmen den Ausdruck und den Stil des Dokuments. Die KP Chinas strebt offensichtlich danach, alles in Systeme zu bringen und mit Mechanismen auszustatten, um das neu Erreichte festzuzurren.

(5) Im Text heißt es wörtlich "Kapital aus Industrie und Handel".

(6) Diesen Abschnitt wiederholt der Text mehrfach. Das könnte darauf hindeuten, dass dieser Abschnitt des Dokuments bis zuletzt umstritten war.

(7) Wang Yang: Konstruktion eines neuen Systems der geöffneten Wirtschaft, in: Renmin Ribao v. 22.11.2013, chinesisch

(8) In den nächsten zehn Jahren sollen die chinesischen Direktinvestitionen im Ausland im jährlichen Durchschnitt um 40 Prozent wachsen und auf über 500 Mrd. US-Dollar ansteigen.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-14, 52. Jahrgang, S. 23-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2014